Das Spiel des Patriarchen - Andrea Camilleri - E-Book

Das Spiel des Patriarchen E-Book

Andrea Camilleri

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Beschreibung

Commissario Montalbano sind moderne Errungenschaften wie Computer und Internet hochgradig suspekt - auch wenn dieses Teufelszeug mittlerweile selbst das Kommissariat von Vigàta erreicht hat. Als ein junger Mann ermordet aufgefunden wird und ein altes Ehepaar zeitgleich verschwindet, beweist der Commissario, dass man auch mit altbewährten Methoden modernen Kriminellen auf die Schliche kommt. Andiamo! Commissario Montalbano löst seinen fünften Fall.

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Anmerkung des Autors

Anmerkungen der Übersetzerin

Im Text erwähnte kulinarische Köstlichkeiten

Über den Autor

Andrea Camilleri, 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle geboren, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur und lehrt seit über zwanzig Jahren an der Accademia d’arte drammatica Silvio D’Amico in Rom. Mit seinem vielfach ausgezeichneten literarischen Werk löste er in Italien eine Begeisterung aus, die DIE WELT treffend als »Camillerimania« bezeichnete. Vor allem die Kriminalromane um Commissario Salvo Montalbano haben Andrea Camilleri mittlerweile auch in Deutschland eine große Fangemeinde beschert.

Andrea Camilleri

Das Spiel des Patriarchen

Commissario Montalbanosfünfter Fall

Aus dem Italienischen vonChristiane von Bechtolsheim

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der italienischen Originalausgabe:

LA GITA A TINDARI,

erschienen bei Sellerio Editore, Via Siracusa 50, Palermo

© 2000 by Sellerio Editore

© für die deutschsprachige Ausgabe 2001 by:

Bastei Lübbe AG, Köln

Copyright Cover © corbis/A. Belov

Umschlaggestaltung: Marina Boda

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-1255-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Eins

Er war wach, was er daran merkte, dass sein Kopf bei klarem Verstand war und nicht dem absurden Labyrinth des Traums folgte, dass er das gleichmäßige Schwappen des Meeres hörte, dass der leichte Wind des frühen Morgens durch das offene Fenster hereinzog. Aber er hielt hartnäckig die Augen geschlossen, denn er wusste, die ganze schlechte Laune, die in ihm rumorte, würde sich entladen, sobald er die Augen öffnete, und ihn dann Schwachsinn tun oder reden lassen, den er hinterher nur wieder bereute.

Er hörte jemanden, der am Strand entlanglief, vor sich hin pfeifen. Um diese Uhrzeit sicher jemand, der nach Vigàta zur Arbeit ging. Montalbano kannte die Melodie, aber er erinnerte sich weder an den Titel noch an den Text. Wozu auch? Er hatte noch nie pfeifen können, nicht mal, wenn er sich einen Finger in den Hintern steckte. »Da sitzt er auf dem Klo / steckt sich den Finger in den Po / sein schriller Pfiff ist das Signal / für die Polizisten überall …« Dieses alberne Liedchen hatte ihm ein Mailänder Freund aus der Polizeischule manchmal vorgeträllert, und es war ihm im Gedächtnis geblieben. Und eben weil er nicht pfeifen konnte, war er in der Volksschule das bevorzugte Opfer seiner Schulkameraden gewesen, die wahre Meister darin waren, wie ein Schäfer, ein Matrose, ein Bergbewohner zu pfeifen, und groteske Variationen dazu boten. Seine Kameraden! Jetzt wusste er, was ihm die schlechte Nacht beschert hatte! Die Erinnerung an die Genossen und die Zeitungsmeldung, die er kurz vor dem Schlafengehen gelesen hatte, dass Dottor Carlo Militello, noch keine fünfzig Jahre alt, zum Direktor der zweitwichtigsten Bank der Insel ernannt worden war. Die Zeitung sprach dem neuen Direktor die herzlichsten Glückwünsche aus und brachte auch ein Foto von ihm: die Brille bestimmt aus Gold, Designeranzug, tadelloses Hemd, erlesene Krawatte. Ein arrivierter Mann, ein Mann der Ordnung, Hüter der großen Werte (sowohl der Börse als auch der Familie, des Vaterlandes, der Freiheit). Montalbano erinnerte sich gut an ihn, der nicht sein Klassenkamerad, sondern sein lieber Genosse von 68 gewesen war!

»Wir werden die Feinde des Volkes an ihren Krawatten aufhängen!«

»Die Banken sind nur zum Ausrauben da!«

Carlo Militello, genannt »Karl Martell«, der Hammer, in primisi weil er sich als Anführer aufspielte, in secundisi weil er seine Gegner mit Worten wie Hammerschläge und mit Hieben schlimmer als Hammerschläge bedachte. Er war so unnachgiebig, so stur wie kein anderer, verglichen mit ihm hätte der bei den Demos so viel beschworene Ho Chi Minh wie ein sozialdemokratischer Reformist gewirkt. Er hatte alle gezwungen, keine Zigaretten zu rauchen, um das Staatsmonopol nicht zu bereichern, Joints und Tüten schon, nach Belieben. Er erklärte, Genosse Stalin habe nur einmal in seinem Leben richtig gehandelt: als er anfing, Banken auszurauben, um die Partei zu finanzieren. »Staat« war ein Wort, bei dem allen schlecht wurde, das sie in Rage versetzte wie einen Stier das rote Tuch. Aus jenen Tagen erinnerte sich Montalbano vor allem an ein Gedicht von Pasolini, das die Polizei gegen die Studenten von Valle Giulia in Rom in Schutz nahm. Alle seine Genossen hatten diese Verse verachtet, er hatte versucht, sie zu verteidigen: »Aber es ist ein schönes Gedicht.« Beinah hätte Karl Martell, wenn sie ihn nicht festgehalten hätten, ihm mit einem seiner mörderischen Faustschläge das Gesicht zertrümmert. Warum missfiel ihm dieses Gedicht damals nicht? Sah er in ihm schon sein Schicksal als Bulle vorgezeichnet? Wie auch immer, im Lauf der Jahre hatte er zugesehen, wie seine Genossen, diese legendären Genossen von 68, anfingen, »vernünftig« zu werden. Sie waren immer vernünftiger geworden, und so war ihre abstrakte Wut dahingeschwunden und hatte sich in konkrete Angepasstheit verwandelt. Und jetzt hatten sich die, die noch übrig waren – abgesehen von einem, der seit über zehn Jahren mit großer Würde Prozesse und Haft wegen eines Verbrechens durchstand, das er bekanntlich weder begangen noch in Auftrag gegeben hatte, und abgesehen von einem weiteren, der unter ungeklärten Umständen ermordet worden war – fabelhaft eingerichtet, wobei sie von links nach rechts, dann wieder nach links und dann wieder nach rechts sprangen, man gab eine Zeitung heraus, leitete einen Fernsehsender, war Manager in einem staatlichen Unternehmen geworden, Abgeordneter oder Senator. Da es ihnen nicht gelungen war, die Gesellschaft zu verändern, hatten sie sich selbst geändert. Oder sie hatten sich gar nicht zu ändern brauchen, weil sie 68 nur Theater gespielt hatten und in die Kostüme und Masken von Revolutionären geschlüpft waren. Die Ernennung von Carlo, dem ehemaligen Hammer, war Montalbano gar nicht gut bekommen. Vor allem weil sie ihn auf einen weiteren Gedanken gebracht hatte, und der war sicherlich der unangenehmste von allen:

Bist du nicht vom gleichen Schlag wie die, die du kritisierst? Dienst du nicht auch diesem Staat, den du als Achtzehnjähriger so grimmig bekämpft hast? Oder quält dich der Neid, weil du nur ein paar Kröten verdienst und die anderen Milliarden scheffeln?

Ein Windstoß, der Fensterladen schlug. Nein, nicht mal auf Befehl von Gottvater würde er ihn schließen. Fazio, die Nervensäge, sagte immer:

»Dottore, mi perdonasse, verzeihen Sie, aber Sie legen es wirklich darauf an! Sie wohnen nicht nur in einem einsamen Haus und parterre, Sie lassen nachts auch noch das Fenster offen! Wenn einer kommt, der was Böses vorhat, und solche gibt’s, dann geht der doch einfach rein, wann und wie’s ihm passt!«

Es gab noch eine Nervensäge, und die hieß Livia:

»Nein, Salvo, nachts das Fenster offen, nein!«

»Aber schläfst du in Boccadasse denn nicht bei offenem Fenster?«

»Das ist doch etwas ganz anderes! Ich wohne schließlich im dritten Stock, außerdem haben wir in Boccadasse nicht solche Einbrecher wie ihr hier.«

Als Livia dann eines Nachts verstört angerufen und erzählt hatte, in ihrer Wohnung in Boccadasse sei eingebrochen worden, während sie fort war, hatte er erst den genuesischen Einbrechern im Stillen gedankt und es dann fertig gebracht, sein Bedauern auszudrücken, allerdings nicht so deutlich, wie er es hätte tun sollen.

Das Telefon läutete.

Als erste Reaktion schloss er die Augen noch fester, aber das funktionierte nicht, bekanntlich sind die Augen nicht die Ohren. Er hätte sich die Ohren zuhalten sollen, aber er steckte lieber den Kopf unter das Kissen. Nichts zu machen: Das Klingeln, schwach, fern, ließ nicht locker. Fluchend stand er auf, ging ins Nebenzimmer und nahm ab. »Hier Montalbano. Ich müsste guten Morgen sagen, aber ich sage es nicht. Ich bin nämlich noch nicht so weit.«

Tiefes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann wurde mit einem Klacken wieder aufgelegt. Und was sollte er jetzt tun, nachdem er diese glorreiche Idee gehabt hatte? Sich wieder ins Bett legen und an den neuen Direktor des Interbanco denken, der, als er noch der Genosse Hammer war, öffentlich auf ein Tablett voller Zehntausend-Lire-Scheine gekackt hatte? Oder die Badehose anziehen und im eiskalten Wasser ausgiebig schwimmen? Er entschied sich für die zweite Lösung, das Bad würde ihm vielleicht helfen, sich zu beruhigen. Er ging ins Wasser und war halb gelähmt. Begriff er das denn nie, dass ihm das mit seinen fast fünfzig Jahren nicht mehr gut bekam? Die Zeiten solchen Leichtsinns waren vorbei. Niedergeschlagen kehrte er um und hörte schon zehn Meter vor dem Haus das Telefon klingeln. Das Beste war, die Dinge hinzunehmen, wie sie waren. Und gleich mal an den Apparat zu gehen.

Es war Fazio.

»Sag mal, hast du vor einer Viertelstunde angerufen?«

»Nonsi, Dottore. Das war Catarella. Aber er hat gesagt, Sie hätten geantwortet, Sie wären noch nicht so weit. Da hab ich ein bisschen gewartet und dann selber angerufen. Sind Sie jetzt so weit, Dottore?«

»Fazio, wie machst du das, dass du in aller Frühe schon so witzig bist? Bist du im Büro?«

»Nonsi, Dottore. Ein Mann ist umgebracht worden. Pumm!«

»Was heißt das, pumm?«

»Dass er erschossen wurde.«

»Nein. Eine Pistole macht peng, eine Lupara macht wamm, eine Maschinenpistole macht ratatatatatà, ein Messer macht fffft.«

»Peng war’s, Dottore. Ein einziger Schuss. Ins Gesicht.«

»Wo bist du?«

»Am Tatort. Sagt man das so? Via Cavour 44. Wissen Sie, wo das ist?«

»Ja, weiß ich. Wurde er zu Hause erschossen?«

»Da wollte er gerade hin. Er hatte schon den Schlüssel ins Schloss gesteckt. Und dann lag er auf dem Bürgersteig.«

Kann man sagen, dass ein Mensch im richtigen Augenblick umgebracht wird? Nein, niemals: Ein Tod ist und bleibt ein Tod. Doch es war eindeutig nicht zu leugnen, dass Montalbano, während er Richtung Via Cavour 44 fuhr, merkte, wie seine schlechte Laune verflog. Sich in Ermittlungen zu stürzen würde ihm helfen, die trüben Gedanken loszuwerden, die er beim Aufwachen gehabt hatte.

Als er an Ort und Stelle eintraf, musste er sich einen Weg durch die Menge bahnen. Wie Fliegen auf der Hundescheiße verstopften aufgeregte Männer und Frauen trotz der frühen Morgenstunde die Straße. Sogar ein Mädchen mit einem kleinen Kind auf dem Arm war da und betrachtete die Szene mit aufgerissenen Augen. Die Erziehungsmethode der jungen Mutter brachte den Commissario zur Weißglut.

»Alle weg hier!«, brüllte er.

Einige entfernten sich sofort, andere wurden von Galluzzo weggeschoben. Ein anhaltendes Klagen, eine Art Winseln war zu hören. Es kam von einer etwa fünfzigjährigen Frau ganz in Trauerschwarz; zwei Männer hielten sie mit Gewalt fest, damit sie sich nicht auf den Leichnam warf; dieser lag rücklings auf dem Bürgersteig, die Gesichtszüge durch einen Schuss zwischen die Augen bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

»Bringt die Frau da weg.«

»Aber sie ist die Mutter, Dottore.«

»Soll sie zu Hause heulen. Hier ist sie nur im Weg. Wer hat sie verständigt? Hat sie den Schuss gehört und ist runtergekommen?«

»Nonsi, Dottore. Den Schuss konnte die Signora gar nicht hören, weil sie in der Via Autonomia Siciliana 12 wohnt. Anscheinend hat jemand sie verständigt.«

»Und sie war startbereit und hatte ihre schwarzen Klamotten schon an?«

»Sie ist Witwe, Dottore.«

»Also gut, seid nett zu ihr, aber schafft sie fort.«

Wenn Montalbano so sprach, hieß es aufpassen. Fazio ging zu den beiden Männern, flüsterte ihnen etwas zu, die beiden schleppten die Frau weg.

Der Commissario trat zu Dottor Pasquano, der neben dem Kopf des Toten hockte.

»Und?«, fragte er.

»Und, und!«, gab der Dottore zurück. Und fuhr, noch ruppiger als Montalbano, fort: »Muss ich Ihnen erklären, was passiert ist? Ein einziger Schuss wurde auf ihn abgefeuert. Exakt mitten in die Stirn. Hinten wurde beim Austritt die halbe Schädeldecke mitgerissen. Sehen Sie diese Klümpchen? Sie stammen vom Gehirn. Reicht das?«

»Wann ist es Ihrer Meinung nach passiert?«

»Vor ein paar Stunden. Etwa um vier oder fünf.«

In der Nähe untersuchte Vanni Arquà mit dem Blick eines Archäologen, der ein Fundstück aus dem Paläolithikum entdeckt hat, einen ganz gewöhnlichen Stein. Montalbano mochte den neuen Chef der Spurensicherung nicht, und die Antipathie wurde deutlich erwidert.

»Wurde er damit getötet?«, fragte der Commissario und zeigte mit Unschuldsmiene auf den Stein.

Vanni Arquà blickte ihn mit unverhohlener Verachtung an.

»Reden Sie doch keinen Blödsinn! Er wurde erschossen.« »Haben Sie die Kugel sichergestellt?«

»Ja. Sie war im Holz der Haustür, die noch geschlossen war, stecken geblieben.«

»Die Hülse?«

»Wissen Sie, Commissario, ich bin nicht verpflichtet, Ihre Fragen zu beantworten. Die Ermittlungen wird auf Anweisung des Questore der Chef der Mordkommission leiten. Sie werden ihm nur zur Hand gehen.«

»Zur Hand gehen! Am Ende muss doch ich meinen Kopf hinhalten!«

Dottor Tommaseo, der Staatsanwalt, war nirgends zu sehen. Man konnte den Ermordeten also noch nicht wegbringen.

»Fazio, wieso ist Dottor Augello nicht hier?«

»Er ist unterwegs. Er hat bei Freunden geschlafen, in Fela. Wir haben ihn über Handy erreicht.«

In Fela? Er würde eine Stunde brauchen, bis er in Vigàta war. Und dann der Zustand, in dem er erscheinen würde! Todmüde und fix und fertig! Von wegen Freunde! Bestimmt hatte er die Nacht mit einer verbracht, deren Mann sich anderswo die Hörner abwetzte.

Galluzzo trat zu ihnen.

»Staatsanwalt Tommaseo hat gerade angerufen. Er hat gesagt, wir sollen ihn mit dem Auto abholen. Er ist drei Kilometer vor Montelusa gegen einen Pfosten gefahren. Was sollen wir machen?«

»Fahr hin.«

Nicolò Tommaseo schaffte es nur selten, mit seinem Wagen an einem bestimmten Ort anzukommen. Er fuhr wie ein gedopter Hund. Der Commissario hatte keine Lust, auf ihn zu warten. Bevor er ging, sah er sich den Toten noch mal an.

Ein junger Mann Anfang zwanzig, Jeans, Anorak, Nackenschwänzchen, Ohrring. Die Schuhe mussten ein Vermögen gekostet haben.

»Fazio, ich geh ins Büro. Warte du auf den Staatsanwalt und den Chef der Mordkommission. Bis später.«

Doch er beschloss, zum Hafen zu fahren. Er ließ sein Auto am Kai stehen und ging langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, auf der östlichen Mole Richtung Leuchtturm. Die Sonne war strahlend aufgegangen, offenbar froh, dass sie es wieder mal geschafft hatte. Am Horizont sah man drei schwarze Pünktchen: Motorfischerboote, die verspätet zurückkehrten. Er öffnete weit den Mund und holte tief Atem. Er mochte den Geruch des Hafens von Vigàta. »Was redest du da? Alle Häfen stinken gleich«, hatte Livia eines Tages entgegnet.

Das stimmte nicht, jeder Ort am Meer hatte einen anderen Geruch. Der von Vigàta war eine perfekte Mischung aus nassem Tauwerk, in der Sonne getrockneten Netzen, Jod, verfaultem Fisch, lebenden und toten Algen, Teer. Und ganz im Hintergrund ein Hauch von Dieselöl. Unverwechselbar. Bevor er den flachen Felsen unterhalb des Leuchtturms erreichte, bückte er sich und hob eine Hand voll Kiesel auf.

Er kam zu dem Felsen und setzte sich. Er blickte aufs Wasser, und es war ihm, als sähe er verschwommen das Gesicht von Karl Martell. Mit aller Kraft schmiss er mit den Kieseln nach ihm. Das Bild zerriss, zitterte und verschwand. Montalbano steckte sich eine Zigarette an.

»Dottori Dottori, ah, Dottori!«, bestürmte ihn Catarella, als er ihn durch die Tür des Kommissariats kommen sah. »Dreimal hat der Dottori Latte angerufen, der mit dem s am Ende! Er will Sie persönlich selber sprechen! Er hat gesagt, dass es ganz furchtbar dringend ist!«

Montalbano konnte sich schon denken, was Dottor Lattes, der Chef des Stabes in der Questura, ihm sagen wollte; der Mann trug den Spitznamen »lattes e mieles«, weil er so salbungsvoll und frömmlerisch war.

Questore Luca Bonetti-Alderighi aus dem Geschlecht der Marchesi di Villabella war deutlich und streng gewesen. Montalbano sah ihm nie in die Augen, sondern auf eine Stelle etwas oberhalb; er war jedes Mal wieder fasziniert von der Frisur seines Chefs, die sehr üppig und von einem dicken Büschel gekrönt war, einem Kringel wie ein Scheißhaufen, den jemand irgendwo in der Landschaft hinterlassen hatte. Da Montalbano ihn nicht ansah, hatte der Questore damals missverstanden und geglaubt, er habe den Commissario endlich eingeschüchtert.

»Montalbano, wir erwarten den neuen Chef der Mordkommission, Dottor Ernesto Gribaudo, und ich sage es Ihnen bei dieser Gelegenheit ein für alle Mal. Sie werden ihm zur Hand gehen. In Ihrem Kommissariat werden Sie sich nur mit Kleinigkeiten befassen und große Sachen der Mordkommission in Person des Dottor Gribaudo und seines Vice überlassen.«

Ernesto Gribaudo. Der sagenhafte Gribaudo. Einmal hatte er sich den Brustkorb eines Mannes angesehen, der durch die Garbe einer Kalaschnikow getötet worden war, und verkündet, er sei durch zwölf rasch aufeinander erfolgte Dolchstiche gestorben.

»Verzeihen Sie, Signor Questore, könnten Sie mir ein paar Beispiele aus der Praxis nennen?«

Luca Bonetti-Alderighi spürte, wie Stolz und Befriedigung ihn durchfluteten. Montalbano stand auf der anderen Seite des Schreibtisches vor ihm, leicht nach vorn geneigt, ein untertäniges Lächeln auf den Lippen. Und sein Ton war fast flehend gewesen. Er hatte ihn in der Hand!

»Drücken Sie sich klarer aus, Montalbano. Ich verstehe nicht, was für Beispiele Sie meinen.«

»Ich wüsste gern, was ich als Kleinigkeit und was ich als große Sache zu betrachten habe.«

Auch Montalbano beglückwünschte sich selbst: Er imitierte Paolo Villaggios unsterblichen Fantozzi, dass es eine wahre Freude war.

»Was für eine Frage, Montalbano! Kleine Diebstähle, Streitigkeiten, Kleindealer, Schlägereien, Kontrolle der Ausländer, das sind Kleinigkeiten. Mord nicht, das ist eine große Sache.«

»Darf ich mir ein paar Notizen machen?«, fragte Montalbano und holte einen Zettel und einen Kugelschreiber aus der Tasche.

Der Questore sah ihn irritiert an. Und der Commissario war einen Augenblick lang verunsichert: Vielleicht hatte er es mit der Verarschung zu weit getrieben, und der andere hatte ihn durchschaut.

Doch nein. Der Questore rümpfte die Nase.

»Machen Sie nur.«

Und nun würde Lattes die ausdrücklichen Anweisungen des Questore bestätigen. Mord gehörte nicht zu seinen Befugnissen, das war Sache der Mordkommission. Er rief den Chef des Stabes in der Questura an.

»Montalbano, mein Teuerster! Wie geht’s? Wie geht es Ihnen? Und der Familie?«

Welcher Familie? Er war Waise und auch nicht verheiratet.

»Allen sehr gut, danke, Dottor Lattes. Und Ihrer?«

»Alles in Ordnung, der Madonna sei Dank. Hören Sie, Montalbano, es geht um den Mord, der heute Nacht in Vigàta geschehen ist, Signor Questore hat …«

»Das weiß ich schon, Dottore. Ich soll den Fall nicht übernehmen.«

»Aber nein! Wo denken Sie hin? Ich wollte Sie sprechen, weil Signor Questore wünscht, dass Sie ihn übernehmen.«

Montalbano wurde es leicht schwindlig. Was hatte denn das zu bedeuten?

Er wusste nicht mal die Personalien des Erschossenen. Sollte sich am Ende etwa herausstellen, dass der ermordete Junge der Sohn einer wichtigen Persönlichkeit war? Halste man ihm da gewaltige Scherereien auf? Keine heißen Kartoffeln, sondern glühende Kohlen?

»Entschuldigen Sie, Dottore. Ich habe mich an Ort und Stelle begeben, aber die Ermittlungen nicht aufgenommen. Sie verstehen schon, ich wollte niemandem zuvorkommen.«

»Ich verstehe das sehr gut, Montalbano! Der Madonna sei Dank haben wir es in unserer Questura mit hochsensiblen Leuten zu tun!«

»Warum übernimmt nicht Dottor Gribaudo den Fall?«

»Sie wissen wohl gar nichts?«

»Überhaupt nichts.«

»Nun, Dottor Gribaudo musste letzte Woche nach Beirut zu einer wichtigen Tagung über …«

»Ich weiß. Wurde er in Beirut aufgehalten?«

»Nein, nein, er ist zurück, aber kaum war er wieder da, hat er eine furchtbare Diarrhöe bekommen. Wir hatten irgendeine Form der Cholera befürchtet, wissen Sie, die tritt in solchen Gegenden nicht selten auf, aber es war dann, der Madonna sei Dank, doch keine.«

Montalbano dankte der Madonna dafür, dass sie Gribaudo gezwungen hatte, sich nicht weiter als einen halben Meter von einem Klo zu entfernen.

»Und Foti, sein Vice?«

»Er war in New York auf dieser Tagung, die Rudolph Giuliani veranstaltet hat, Sie wissen schon, der Bürgermeister der ›Nulltoleranz‹. Bei der Tagung ging es um die Möglichkeiten, wie in einer Metropole am besten für Ruhe und Ordnung gesorgt werden kann …«

»Ist sie nicht seit zwei Tagen zu Ende?«

»Natürlich, natürlich. Aber sehen Sie, bevor Dottor Foti nach Italien zurückkehrte, ist er in New York ein bisschen spazieren gegangen. Man hat ihm ins Bein geschossen und die Brieftasche gestohlen. Er liegt im Krankenhaus. Der Madonna sei Dank nichts Schlimmes.«

Es war schon zehn Uhr vorbei, als Fazio erschien.

»Warum habt ihr so lange gebraucht?«

»Dottore, um Himmels willen, hören Sie mir auf! Erst mussten wir auf den stellvertretenden Staatsanwalt warten! Dann …«

»Warte. Erklär mir das genauer.«

Fazio verdrehte die Augen zum Himmel, erneut davon reden zu müssen ließ seinen ganzen Ärger wieder hochschwappen.

»Also, Galluzzo hat Staatsanwalt Tommaseo abgeholt, der gegen einen Baum gefahren war …«

»War es denn kein Pfosten?«

»Nonsi, Dottore, er dachte, es wäre ein Pfosten, aber es war ein Baum. Jedenfalls hat sich Tommaseo die Stirn angehauen, und er blutete. Da hat Galluzzo ihn nach Montelusa in die Notaufnahme gebracht. Von dort hat Tommaseo telefoniert, weil er wegen seiner Kopfschmerzen vertreten werden wollte. Aber es war noch zu früh, und im Justizpalast war niemand. Tommaseo hat einen Kollegen zu Hause angerufen, Dottor Nicotra. Wir mussten also warten, bis Dottor Nicotra aufgewacht ist, sich angezogen hat, seinen Kaffee getrunken hat, sich ins Auto gesetzt hat und gekommen ist. Aber Dottor Gribaudo hat sich unterdessen immer noch nicht blicken lassen. Und sein Vice auch nicht. Als endlich der Krankenwagen kam und die Leiche mitnahm, hab ich noch zehn Minuten auf die Mordkommission gewartet. Und weil niemand kam, bin ich dann gegangen. Wenn Dottor Gribaudo was von mir will, soll er mich hier anrufen.«

»Was hast du über den Mord erfahren?«

»Dottore, mit Verlaub, das kann Ihnen doch scheißegal sein. Die von der Mordkommission müssen sich drum kümmern.«

»Gribaudo wird nicht kommen, Fazio. Er hockt auf dem Klo und scheißt sich die Seele aus dem Leib. Foti wurde in New York angeschossen. Lattes hat mich angerufen. Den Fall übernehmen wir.«

Fazio setzte sich, seine Augen glitzerten vor Zufriedenheit. Und sofort zog er einen eng beschriebenen Zettel aus der Jackentasche. Er fing an vorzulesen.

»Sanfilippo Emanuele beziehungsweise Nenè, Sohn des verstorbenen Gerlando Sanfilippo und von Patò Natalina …«

»Das reicht«, sagte Montalbano.

Er hatte sich über den – wie er das nannte – »Einwohnermeldeamt-Komplex« geärgert, an dem Fazio litt. Aber noch mehr ärgerte ihn der Tonfall, in dem Fazio Geburtsdaten, Verwandtschaftsgrade, Eheschließungen aufzählte. Fazio verstand augenblicklich. »Mi scusasse, entschuldigen Sie, Dottore.«

Aber er steckte den Zettel nicht wieder ein.

»Den behalte ich als Spickzettel«, rechtfertigte er sich.

»Wie alt war dieser Sanfilippo?«

»Einundzwanzig Jahre und drei Monate.«

»Nahm er Drogen? Hat er gedealt?«

»Davon ist nichts bekannt.«

»Hat er gearbeitet?«

»Nein.«

»Wohnte er in der Via Cavour?«

»Sissi. In einer Wohnung im dritten Stock, Wohnzimmer, zwei Zimmer, Küche und Bad. Er lebte allein.«

»War die Wohnung gekauft oder gemietet?«

»Gemietet. Achthunderttausend Lire im Monat.«

»Hat seine Mutter ihm das Geld gegeben?«

»Die? Die ist arm wie eine Kirchenmaus. Sie lebt von ihrer Rente, fünfhunderttausend Lire im Monat. Meiner Meinung nach war es so: Nenè Sanfilippo parkt etwa um vier Uhr heute Morgen direkt gegenüber der Haustür, überquert die Straße und …«

»Was für ein Auto ist es?«

»Ein Fiat Punto. Aber er hatte noch ein anderes in der Garage. Einen Alfa Spider, einen Sportwagen. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ein Nichtstuer?«

»So ist es. Und Sie müssten mal sehen, was er alles in seiner Wohnung hatte! Von allem das neueste Modell, Fernseher, er hatte sich eine Satellitenschüssel auf dem Dach installieren lassen, Computer, Videogerät, Videokamera, Fax, Kühlschrank … Dabei habe ich mir gar nicht alles angesehen. Da sind Videokassetten, Disketten und CD-ROM für den Computer … Das muss man noch überprüfen.«

»Weißt du was von Mimì?«

Fazio hatte sich in Fahrt geredet und war verwirrt.

»Wer? Ach ja. Dottor Augello? Er ist aufgetaucht, kurz bevor der stellvertretende Staatsanwalt kam. Er hat sich umgeschaut und ist dann wieder gegangen.«

»Weißt du wohin?«

»Keine Ahnung. Um auf vorhin zurückzukommen, Nenè Sanfilippo steckt den Schlüssel ins Schloss, und in diesem Augenblick ruft ihn jemand.«

»Woher weißt du das?«

»Weil man ihm ins Gesicht geschossen hat, Dottore. Sanfilippo hört, wie jemand seinen Namen ruft, er dreht sich um und geht ein paar Schritte auf den, der gerufen hat, zu. Er denkt, die Sache sei schnell erledigt, denn er lässt den Schlüssel im Schloss, er steckt ihn nicht wieder ein.«

»Kam es zu Handgreiflichkeiten?«

»Sieht nicht danach aus.«

»Hast du die Schlüssel überprüft?«

»Es waren fünf, Dottore. Zwei von der Via Cavour, Haustür und Wohnungstür. Zwei von der Wohnung der Mutter, Haustür und Wohnungstür. Der fünfte ist einer dieser ganz neuen Schlüssel, von denen man, wie die Hersteller versichern, kein Duplikat machen kann. Wir wissen nicht, zu welcher Tür er gehört.«

»Interessanter Junge, dieser Sanfilippo. Gibt es Zeugen?« Fazio lachte.

»Sehr witzig, Dottore!«

Zwei

Sie wurden von erregten Stimmen im Vorzimmer unterbrochen. Da wurde eindeutig gestritten.

»Schau mal rüber.«

Fazio ging hinaus, die Stimmen beruhigten sich, nach einer Weile kam er zurück.

»Da ist ein Signore, der auf Catarella sauer ist, weil er ihn nicht vorlassen wollte. Er will unbedingt mit Ihnen sprechen.«

»Er soll warten.«

»Er wirkt ziemlich aufgeregt, Dottore.«

»Er soll reinkommen.«

Ein Mann um die vierzig erschien: Brille, ordentlich gekleidet, Seitenscheitel, Gesicht eines braven Angestellten. »Danke, dass Sie mich empfangen. Sie sind Commissario Montalbano, nicht wahr? Ich heiße Davide Griffo, es tut mir sehr leid, dass ich laut werden musste, aber ich konnte nicht verstehen, was Ihr Beamter zu mir sagte. Ist er Ausländer?« Das überging Montalbano lieber.

»Ich höre.«

»Wissen Sie, ich wohne in Messina, ich arbeite im Rathaus. Ich bin verheiratet. Hier leben meine Eltern, ich bin ihr einziges Kind. Ich mache mir Sorgen um sie.«

»Warum?«

»Ich rufe sie zweimal in der Woche aus Messina an, donnerstags und sonntags. Vorgestern Abend, am Sonntag, ging niemand ans Telefon. Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Ich habe in diesen Stunden Höllenqualen gelitten, dann sagte meine Frau, ich solle mich ins Auto setzen und nach Vigàta fahren. Gestern Abend rief ich die Pförtnerin an und fragte, ob sie den Schlüssel zur Wohnung meiner Eltern habe. Sie verneinte. Meine Frau hat mir geraten, mich an Sie zu wenden. Sie hat Sie zweimal im Fernsehen gesehen.«

»Wollen Sie Vermisstenanzeige erstatten?«

»Ich möchte vorher die Genehmigung, die Tür aufbrechen zu lassen.«

Seine Stimme wurde brüchig.

»Es kann etwas Schlimmes passiert sein, Commissario.« »In Ordnung. Fazio, hol Gallo her.«

Fazio ging hinaus und kam mit dem Kollegen wieder.

»Gallo, begleite den Signore. Er muss die Wohnung seiner Eltern aufbrechen lassen. Seit letztem Sonntag hat er nichts mehr von ihnen gehört. Was sagten Sie, wo sie wohnen?«

»Ich habe es noch nicht gesagt. In der Via Cavour 44.«

Montalbano verschlug es die Sprache.

»Madunnuzza santa!«, rief Fazio.

Gallo bekam einen heftigen Hustenanfall und verließ auf der Suche nach einem Glas Wasser das Zimmer.

Davide Griffo, blass und über die Wirkung seiner Worte erschrocken, sah um sich.

»Was habe ich denn gesagt?«, fragte er mit dünner Stimme.

Als Fazio in der Via Cavour vor der Nummer 44 hielt, öffnete Davide Griffo sofort die Autotür und stürzte in den Hauseingang.

»Womit fangen wir an?«, fragte Fazio, während er den Wagen zumachte.

»Mit den verschwundenen Alten. Der Tote ist tot und kann warten.«

In der Haustür stießen sie mit Griffo zusammen, der schnell wie ein Gummiball wieder herausgesaust kam.

»Die Pförtnerin hat gesagt, dass heute Nacht ein Mord passiert ist! Jemand, der hier im Haus gewohnt hat!«

Erst da bemerkte er die Umrisslinie von Nenè Sanfilippos Körper, die weiß auf den Bürgersteig gezeichnet war. Er begann heftig zu zittern.

»Ganz ruhig«, sagte der Commissario und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Nein … aber ich fürchte …«

»Signor Griffo, glauben Sie, dass Ihre Eltern in einen Mordfall verwickelt sein könnten?«

»Soll das ein Witz sein? Meine Eltern sind …«

»Na also. Vergessen Sie, dass hier heute Morgen jemand umgebracht wurde. Gehen wir lieber rein.«

Signora Ciccina Recupero, die Pförtnerin, war in den zwei mal zwei Metern der Portiersloge unterwegs wie ein Bär, der im Käfig verrückt geworden ist und von einem Bein auf das andere wankt. Sie konnte sich das erlauben, denn sie war nur Haut und Knochen, und das bisschen Platz, das sie zur Verfügung hatte, war mehr als genug, um sich zu bewegen.

»O Gott o Gott o Gott! Madonnuzza santa! Was ist nur los in diesem Haus? Was ist da los? Wer hat uns verhext? Wir müssen sofort den Pfarrer mit seinem Weihwasser holen!«

Montalbano packte sie am Arm, vielmehr an ihrem Armknochen, und zwang sie, sich zu setzen.

»Stellen Sie sich nicht so an. Hören Sie auf, sich zu bekreuzigen, und beantworten Sie meine Fragen. Seit wann haben Sie das Ehepaar Griffo nicht mehr gesehen?«

»Seit letztem Samstagvormittag, als die Signora vom Einkaufen zurückkam.«

»Mittlerweile ist Dienstag, und da haben Sie sich keine Sorgen gemacht?«

Die Pförtnerin wurde ungehalten.

»Warum sollte ich? Die wollen doch mit niemand was zu tun haben. Hochnäsig sind die! Und es ist mir scheißegal, wenn der Sohn das hört! Die gehen aus dem Haus, kommen mit ihren Einkäufen zurück, schließen sich in der Wohnung ein und lassen sich dann drei Tage nicht mehr blicken! Sie haben meine Telefonnummer: Wenn sie was gebraucht hätten, hätten sie mich anrufen können!«

»Und ist das vorgekommen?«

»Was ist vorgekommen?«

»Dass sie Sie angerufen haben.«

»Ja, manchmal schon. Als Signor Fofò, der Mann, krank war, hat er mich angerufen, dass ich bei ihm bleiben soll, solang sie in der Apotheke war. Dann war mal der Schlauch von der Waschmaschine kaputt, und alles stand unter Wasser. Und das dritte Mal, da …«

»Danke, das genügt. Sie sagten, Sie hätten keinen Schlüssel?«

»Gesagt hab ich das nicht, ich habe keinen! Letzten Sommer hat mir Signora Griffo mal den Schlüssel gegeben, da sind sie zu ihrem Sohn nach Messina gefahren. Ich sollte die Blumen auf ihrem Balkon gießen. Dann wollten sie den Schlüssel zurückhaben und haben sich nicht mal bedankt, né scu né passiddrà, keinen Ton haben sie gesagt, als wäre ich ihr Dienstmädchen, ihre Magd! Und Sie erzählen mir was von Sorgen machen? Wenn ich in den vierten Stock hoch wäre und gefragt hätte, ob sie was brauchen, hätten die doch gesagt, ich soll mich zum Teufel scheren!«

»Fahren wir rauf?«, fragte der Commissario Davide Griffo, der an der Wand lehnte. Er machte den Eindruck, als könnte er sich kaum auf den Beinen halten.

Sie nahmen den Aufzug und fuhren in den vierten Stock. Davide schoss sofort hinaus. Fazio flüsterte dem Commissario etwas ins Ohr.

»Jedes Stockwerk hat vier Wohnungen. Nenè Sanfilippo wohnte direkt unter den Griffos«, sagte er und wies mit dem Kinn auf Davide, der mit seinem ganzen Körper an der Tür der Wohnung Nummer siebzehn lehnte und vergebens klingelte.

»Gehen Sie bitte zur Seite.«

Davide schien ihn nicht zu hören, er drückte immer noch auf die Klingel. Man hörte sie schellen, nutzlos und leise. Fazio trat vor, packte den Mann an den Schultern und schob ihn beiseite. Der Commissario holte einen dicken Schlüsselbund aus der Hosentasche, an dem ein Dutzend unterschiedlicher Dietriche hing. Das Geschenk eines Einbrechers, mit dem er befreundet war. Er hantierte keine fünf Minuten an dem Schloss herum. Es war nicht nur zugeschnappt, der Schlüssel war auch noch dreimal umgedreht gewesen.

Die Tür öffnete sich. Montalbano und Fazio dehnten ihre Nasenlöcher so weit wie möglich, um den Geruch wahrzunehmen, der von innen kam. Fazio hielt Davide, der hineinstürzen wollte, am Arm fest. Der Tod fängt nach zwei Tagen an zu stinken. Aber da war nichts, die Wohnung roch nur nach abgestandener Luft. Fazio ließ Davide los, der rannte hinein und schrie sofort:

»Papà! Mamà!«

Es herrschte vollkommene Ordnung. Die Fenster waren geschlossen, das Bett gemacht, die Küche aufgeräumt, kein schmutziges Geschirr in der Spüle. Im Kühlschrank Käse, eine Packung Schinken, Oliven, eine halb volle Flasche Weißwein. Im Gefrierfach vier Scheiben Fleisch, zwei Meerbarben. Wenn sie weggefahren waren, hatten sie bestimmt vor, bald wiederzukommen.

»Haben Ihre Eltern Verwandte?«

Davide hatte sich auf einen Küchenstuhl gesetzt und stützte den Kopf in die Hände.

»Papà nicht. Mamà schon. Einen Bruder in Comiso und eine Schwester in Trapani, die nicht mehr lebt.«

»Könnte es nicht sein, dass sie zu dem Bruder …«

»Nein, Dottore, das ist ausgeschlossen. Der hat seit vier Wochen nichts von ihnen gehört. Sie haben nicht viel Kontakt.«

»Sie haben also keine Ahnung, wo sie hingefahren sein könnten?«

»Nein. Sonst hätte ich ja versucht, sie zu finden.«

»Zum letzten Mal haben Sie Donnerstagabend vergangener Woche mit ihnen gesprochen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Haben sie nichts zu Ihnen gesagt, was …«

»Absolut nichts.«

»Worum ging es bei dem Gespräch?«

»Um das Übliche, die Gesundheit, die Enkel … Ich habe zwei Jungen, Alfonso wie Papà und Giovanni, der eine ist sechs, der andere vier. Meine Eltern hängen sehr an ihnen. Wenn wir sie in Vigàta besuchen, überhäufen sie die Kinder immer mit Geschenken.«

Er tat nichts, um seine Tränen zurückzuhalten.

Fazio hatte sich in der Wohnung umgesehen und breitete die Arme aus, als er zurückkam.

»Signor Griffo, es ist zwecklos, noch hier zu bleiben. Ich hoffe, ich kann Ihnen möglichst bald etwas sagen.«

»Commissario, ich habe ein paar Tage Urlaub genommen. Ich kann mindestens bis morgen Abend in Vigàta bleiben.«

»Meinetwegen können Sie bleiben, so lange Sie wollen.« »Nein, ich meine etwas anderes: Kann ich heute Nacht hier schlafen?«

Montalbano dachte einen Augenblick nach. Im Esszimmer, das zugleich als Wohnzimmer diente, stand ein kleiner Schreibtisch, auf dem Papiere lagen. Die wollte er sich in Ruhe ansehen.

»Nein, schlafen können Sie hier in der Wohnung nicht. Tut mir leid.«

»Aber wenn zufällig jemand anruft …«

»Wer denn? Ihre Eltern? Aus welchem Grund sollten Ihre Eltern bei sich zu Hause anrufen, wo sie doch wissen, dass niemand da ist?«

»Nein, ich meine: Wenn jemand anruft, der irgendwas weiß …«

»Das stimmt. Wir lassen sofort das Telefon überwachen. Fazio, kümmer du dich darum. Signor Griffo, ich bräuchte ein Foto Ihrer Eltern.«

»Ich habe eines dabei, Commissario. Ich habe Fotos gemacht, als sie in Messina waren. Sie heißen Alfonso und Margherita.«

Er begann zu schluchzen, als er Montalbano das Foto reichte.

«Fünf mal vier ist zwanzig, zwanzig minus zwei macht achtzehn«, sagte Montalbano auf dem Treppenabsatz, nachdem Griffo, mehr durcheinander als überzeugt, gegangen war.

»Was faseln Sie da?«, fragte Fazio.

»Da das Haus fünf Stockwerke hat, gibt es hier logischerweise zwanzig Wohnungen. Aber eigentlich sind es achtzehn, wenn man die von den Griffos und die von Nenè Sanfilippo ausklammert. Das heißt schlicht und einfach, dass wir das Vergnügen haben, achtzehn Familien zu befragen. Und jeder Familie zwei Fragen zu stellen. Was wissen Sie von den Griffos? Was wissen Sie von Nenè Sanfilippo? Wenn dieser Scheißkerl Mimì da wäre und uns helfen würde …«

Wenn man vom Teufel spricht … In diesem Augenblick klingelte Fazios Handy.

»Dottor Augello ist dran. Er fragt, ob Sie ihn brauchen.«

Montalbano lief rot an vor Wut.

»Er soll auf der Stelle kommen. In fünf Minuten ist er hier, sonst reiß ich ihm den Kopf ab.«

Fazio gab das weiter.

»Bis er kommt«, schlug der Commissario vor, »gehen wir einen Kaffee trinken.«

Als sie in die Via Cavour zurückkehrten, erwartete Mimì sie bereits. Fazio entfernte sich diskret.

»Mimì«, fing Montalbano an, »ich weiß wirklich nicht, was ich noch mit dir machen soll. Ich bin einfach sprachlos. Was fällt dir eigentlich ein? Weißt du oder weißt du nicht, dass …«

»Ich weiß es«, unterbrach Augello ihn.

»Was weißt du, verdammt noch mal?«

»Was ich wissen muss. Dass ich einen Fehler gemacht habe. Das Problem ist, dass ich mich so seltsam fühle und durcheinander bin.«

Die Wut des Commissario verpuffte. Mimì stand mit einem Gesichtsausdruck vor ihm, wie er ihn noch nie gehabt hatte. Nicht das übliche Mir-doch-scheißegal. Ganz im Gegenteil. Er hatte etwas Resigniertes, Demütiges an sich.

»Mimì, sagst du mir vielleicht, was los ist?«

»Ich erzähl’s dir später, Salvo.«

Montalbano wollte ihm schon eine tröstliche Hand auf die Schulter legen, als ihn ein plötzlicher Verdacht innehalten ließ. Und wenn dieser verfluchte Hund Mimì sich genauso benahm, wie er selbst es gegenüber Bonetti-Alderighi gemacht hatte, und sich servil gab, während er ihn in Wirklichkeit nach Strich und Faden verarschte? Augello war ein dreister Schauspieler, dem alles zuzutrauen war. In diesem Zweifel nahm er Abstand von der freundlichen Geste. Er informierte ihn über das Verschwinden der Griffos.

»Du machst die Mieter vom ersten und zweiten Stock, Fazio die vom fünften und vom Erdgeschoss, ich kümmere mich um den dritten und vierten.«

Dritter Stock, Wohnung Nummer zwölf. Signora Burgio Concetta verwitwete Lo Mascolo, um die fünfzig, trug einen überaus beeindruckenden Monolog vor.

»Commissario, hören Sie mir auf mit diesem Nenè Sanfilippo! Hören Sie mir bloß auf mit dem! Sie haben ihn umgebracht, den armen Kerl, Friede seiner Seele! Aber er hat mich fertig gemacht, fertig gemacht hat er mich! Tagsüber war er nie da. Aber nachts schon. Und das war die Hölle für mich! Jede zweite Nacht! Die Hölle! Schauen Sie, Signor Commissario, mein Schlafzimmer ist Wand an Wand mit dem Schlafzimmer von Sanfilippo. Die Wände in diesem Haus sind aus Papier! Man hört alles, den kleinsten Mucks hört man! Erst haben sie die Musik aufgedreht, dass mir fast das Trommelfell geplatzt ist, dann haben sie sie ausgemacht, und dann hat eine andere Musik angefangen! Ein Konzert! Zùnkiti zùnkiti zùnkiti zù! Das Bett ist an die Wand gerumpelt und hat so einen Lärm gemacht! Und dann hat die Nutte, die grad dran war, ah ah ah ah gemacht. Und dann ging’s von vorn los mit zùnkiti zùnkiti zùnkiti zù! Und dann hab ich böse Gedanken gehabt. Ich hab einen Rosenkranz gebetet. Zwei Rosenkränze. Drei Rosenkränze. Nenti, es hat nichts geholfen! Die Gedanken waren immer noch da. Ich bin noch jung, Commissario! Der hat mich fertig gemacht! Nonsi, von den Griffos weiß ich nichts. Die wollten mit niemand was zu tun haben. Wenn die nicht wollen, warum soll ich dann? Stimmt doch, oder?«

Dritter Stock, Wohnung Nummer vierzehn. Familie Crucillà. Ehemann: Crucillà Stefano, Rentner, früher Buchhalter des Fischmarktes. Ehefrau: De Carlo Antonietta. Der ältere Sohn: Calogero, Bergbauingenieur, arbeitet in Bolivien. Die jüngere Tochter: Samanta ohne h zwischen dem t und dem a, Mathematiklehrerin, ledig, lebt bei den Eltern. Samanta sprach für alle.

»Also, Signor Commissario, nur zur Erklärung, wie kratzbürstig die Griffos sind. Einmal traf ich die Signora, als sie mit ihrem voll gestopften Einkaufsrollwagen und zwei Plastiktüten in jeder Hand unten ins Haus kam. Man muss drei Stufen bis zum Fahrstuhl raufgehen, da habe ich sie gefragt, ob ich ihr helfen kann. Sie hat nur grob ›nein‹ gesagt. Und ihr Mann ist auch nicht besser.«