Der Teufel trägt Bollenhut - Martina Bauer - E-Book

Der Teufel trägt Bollenhut E-Book

Martina Bauer

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Beschreibung

Neuauflage des Titels »Morden für Fortgeschrittene« von Martina Bauer Die junge Krimiautorin Maria kann ihr Glück kaum fassen, als sie einen der heißbegehrten Plätze im Schreibseminar bei Rufus Brecht, dem Meister der Dunkelheit, ergattert. Doch statt des erhofften Karrieresprungs sieht sie sich auf dem Anwesen des gefeierten Bestsellerautors mit mysteriösen Vorkommnissen konfrontiert. Warum verhalten sich einige der anderen Teilnehmer so seltsam? Wer beobachtet sie durch die Löcher, die sie unter einem Wandteppich entdeckt? Als das Jagdschloss eingeschneit und von der Außenwelt abgeschnitten wird, verschwindet eine ihrer Mitstreiterinnen spurlos. Schließlich taucht die erste Leiche auf! Ein Autor nach dem anderen kommt auf schreckliche Weise ums Leben. Ein Mörder weilt unter ihnen: Ist es Ivan, der grobschlächtige Koch? Der streitlustige Andreas? Oder Ann, die freundliche ältere Dame, die von Maria beim Lügen erwischt wird? Maria erkennt die Spur, die der Täter legt: Er mordet nach einem alten Kinderreim. Verzweifelt versucht sich Maria an die Strophen zu erinnern, um einen Hinweis auf das nächste Opfer zu finden und weitere Morde zu verhindern. Schließlich erkennt sie, dass sie nicht zufällig für das Schreibseminar ausgewählt wurde. Doch Maria hat ein Geheimnis, das ihr beim Überleben helfen könnte …

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Der Teufel trägt Bollenhut

Der Teufel trägt Bollenhut

Ein Krimi von Martina Bauer 

Alle Rechte liegen bei der Autorin Martina Bauer

Copyright:

© 2022 Martina Bauer www.martinabauer.jimdo.com

Impressum:

Martina Bauer

Guttenbergstr. 1

76889 Schweigen-Rechtenbach

Covergestaltung:

Jacqueline Spieweg, FarbRaum4 (http://www.jspieweg.de/)

Lektorat: Christine Bendik

(http://www.lektorat-giegerich.de/)

Über die Autorin

Schon als Kind liebte Martina Bauer gruselige und packende Geschichten und schlich sich heimlich ins Wohnzimmer oder ließ sich ins Kino schmuggeln, um sich spannende Filme anzusehen. Heute schreibt sie mit Erfolg Thriller, Krimis und Horrorgeschichten. Mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt sie an der Südlichen Weinstraße und arbeitet als Fachkrankenschwester für Intensivpflege und Anästhesie.

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Alle Personen im nachfolgenden Text sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. 

Alles ändert sich im Leben, wenn man jemanden umgebracht hat. Zum Besseren, wenn man den Richtigen erwischt. Dazu muss man kein geborener Killer sein. Bis dato hätte ich mich als friedfertigen Menschen bezeichnet; stets freundlich und zuvorkommend, verabscheute ich jede Art von Gewalt in meinem Umfeld. Trotzdem verfügte ich über einschlägige Vorkenntnisse, als es tödlicher Ernst wurde und ich zur Tat schreiten musste.

Beim Schreiben von Kriminalromanen hatte ich das Töten in der Theorie gelernt. Auf dem Papier trachtete ich bedauernswerten Menschen nach dem Leben. In einer Geschichte überfiel ich eine junge Frau in einer dunklen Gasse und würgte sie bis zur Bewusstlosigkeit; in einer anderen sperrte ich einen Familienvater in eine Holzkiste und ließ ihn elendig verdursten, während seine Ehefrau und die Kinder verzweifelt nach ihm suchten. Bevor ich einer Romanfigur den Garaus machte, recherchierte ich gründlich die Todesart. Wie lange konnte ein Mensch ohne Sauerstoff auskommen, wie lange ohne Flüssigkeit oder Nahrung, und so weiter. Als ich von der Theorie in die Praxis wechselte, konnte ich mich durchaus als Fortgeschrittene in Sachen Morden bezeichnen.

Und, ich muss sagen, ich habe einen guten Job gemacht. Mein Opfer ist tot. Und niemand ist mir auf die Schliche gekommen.

Als die Mail eintraf, in deren Folge mein Leben auf den Kopf gestellt werden sollte, saß ich an der Kasse des Supermarktes, in dem ich als stellvertretende Filialleiterin arbeitete. Das klingt schrecklich unkreativ für jemanden, der gerne sein Hobby zum Beruf gemacht hätte. Mein Traum, vom Schreiben zu leben, war bisher leider nicht wahr geworden; im Gegenteil, ich war weit davon entfernt. Die Krimis verkauften sich schleppend.

Nach dem Abitur wusste ich nicht so recht etwas mit mir anzufangen und schloss ein Studium der Betriebswirtschaft ab. Ein Studium der Germanistik oder Literaturwissenschaften schien mir zu verkopft. Mir grauste davor, mich mit den schwülstigen Klassikern der Weltliteratur oder mit Poetik zu befassen.

Meine Mutter hatte einen Spruch parat: Wer nichts wird, wird Wirt. Ich mochte diesen Spruch nie, aber irgendwann dachte ich: Wer nichts wird, wird Betriebswirt.

Mein Studium finanzierte ich mit verschiedenen Jobs. Samstags half ich in einem kleinen Supermarkt wenige hundert Meter von meiner Wohnung entfernt aus. Ich befüllte die Regale mit Waren, saß an der Kasse, beriet Kunden zu ihrem Einkauf. Dort fühlte ich mich wohler als beim Kellnern in einer Kneipe, wo mir Betrunkene an den Hintern grapschten und der Chef kurz vor Feierabend auftauchte, um mein Trinkgeld einzukassieren. Herr Fitz, der Marktleiter des Supermarktes, bot mir eine Festanstellung an, und ich sagte zu. Der Verdienst war natürlich nicht berauschend, aber ich brauchte nicht viel Geld zum Leben. Es war ein gemütlicher Supermarkt im Stadtzentrum Karlsruhes, nicht zu vergleichen mit den dicken Brummern von Einkaufszentren, die vergesellschaftet mit einem Baumarkt und einem Drogeriemarkt und vielleicht noch einem Discounter ein halbes Gewerbegebiet bilden und in denen die Filialleiter mit weißem Hemd oder schwarzem Kostüm in ihren lichtdurchfluteten Büros sitzen. Unsere Angestellten trugen blaue Kittel, auch Herr Fitz und ich.

Unter dem Supermarkt befand sich eine kleine, nach Pipi stinkende Tiefgarage mit viel zu engen Parklücken, aus der man mit einem altersschwachen, asthmatisch keuchenden Fahrstuhl zu den Verkaufsräumen fuhr. In diesem Fahrstuhl war gerade genug Platz für eine schmächtige Person nebst Einkaufswagen. Das Geschäft lief gut. Und ich mochte die Mitarbeiter. Mein Brotjob war ganz okay, und ich versuchte nie, mich auf eine andere, besser bezahlte Stelle zu bewerben. Doch ich hörte nicht auf, von einer Karriere als Schriftstellerin zu träumen.

Obwohl es nicht zu meinen Aufgaben gehörte, machte es mir nichts aus, an der Kasse zu sitzen. In so einem kleinen Markt packt man an, wo es gerade etwas zu tun gibt. Herr Fitz hockte in seinem Büro und kümmerte sich um die Bestellungen beim Großhandel. Judith sortierte Obst und Gemüse in die vorgesehenen Fächer und schlief fast ein dabei. Es hielten sich nicht viele Kunden im Laden auf, aber jedes Mal, wenn ich die Kasse schließen wollte, legte jemand eine Dose Limo oder eine Tüte Chips auf das Band. Als hätten sie sich abgesprochen, dafür zu sorgen, dass ich für alle Zeit hier sitzen bleiben musste. Mein iPhone lag neben mir, und ich checkte zwischendurch die Neuigkeiten auf Instagram und Twitter, als ein Newsletter von Rufus Brecht einging.

Eine Tiefkühlpizza landete auf dem Laufband. Keine Markenware, sondern die billigste aus dem Sortiment. Der Typ, der sie kaufen wollte, hielt die Hände in den Hosentaschen vergraben und kaute Kaugummi mit offenem Mund. Ich beachtete ihn kaum, während ich die Pizza abrechnete, obwohl ich spürte, wie er mich anstarrte. Ich konnte meine Augen nicht vom Display lassen. Rufus Brecht. Der erfolgreichste Thrillerautor Deutschlands, dessen Bücher in zig Sprachen übersetzt wurden und in Ländern erschienen, von denen ich noch nicht einmal gehört hatte. Mein schriftstellerisches Vorbild. Wenn ein Buch von Rufus Brecht neu erschien, blieb ich am Erscheinungstag wach bis Mitternacht, damit ich es direkt herunterladen konnte. Ich verschlang das E-Book bis in den nächsten Tag hinein und nahm mir dafür einen Tag Urlaub. Natürlich leistete ich mir später das Paperback und stellte es ins Regal wie eine Trophäe.

Der Tiefkühlpizzatyp sagte irgendwas. Ich tat, als hätte ich ihn nicht gehört. Der Newsletter von Rufus Brecht lenkte mich zu sehr ab und ließ mich meine guten Manieren vergessen. Denn hier stand …

»Judith, übernimmst du mal eben für mich?«, rief ich.

Ich stand auf, um das Kassenhäuschen zu verlassen. Ein älteres Paar warf indessen seine Waren auf das Laufband, fest entschlossen, die Kasse zu entern. Ich wartete Judiths Antwort nicht ab. Sie würde schon kommen. Ich verdrückte mich auf den Ort, wo man am ehesten seine Ruhe hatte: die Toilette. Dort setzte ich mich auf den heruntergeklappten Toilettendeckel und las gebannt Rufus Brechts Newsletter. Heute informierte er nicht über sein aktuelles Romanprojekt, sondern es gab eine Ausschreibung. Eine ganz besondere.

Schreibseminar

Rufus Brecht, Autor von »Blut in deinem Atem« und »Deine Hölle ist mein Himmel«, bietet ein kostenfreies zehntägiges Seminar für Autoren der Spannungsliteratur an.

Schwerpunkte werden sein:

Entwicklung und Aufbau eines Spannungsbogens

Figurenpsychologie, Figurenentwicklung

Lektionen mit Anleitungen, Übungen und gemeinsamen Besprechungen in der Gruppe und in Einzelsitzungen

Voraussetzung für eine Bewerbung ist mindestens eine Romanveröffentlichung (Krimi, Thriller) in der Vergangenheit. Unter allen Einsendungen werden zehn Teilnehmer bestimmt.

Der Besuch dieses Seminars ist eine hervorragende Methode, literarisch auf sich aufmerksam zu machen!

Veranstaltungsort: Schloss Eisenstein, Kaltenbronn, nördlicher Schwarzwald.

Veranstaltungszeitraum: 10 Tage, 02.11.-12.11. dieses Jahres.

Bewerbungsschluss ist der 10. Oktober.

Der 10. Oktober war schon in drei Wochen.

Mein Herz raste. Natürlich würden sich Tausende Autoren bewerben. Mit Ausnahme des Nachweises über bisherige Veröffentlichungen gab es keinerlei Hinweise, nach welchen Kriterien die Teilnehmer ausgewählt wurden. Mit fünf Krimis auf dem Buchmarkt erfüllte ich zumindest diese Voraussetzung. Wenn Ladenhüter mitzählten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde Rufus Brecht Schriftsteller mit Rang und Namen auswählen. Ein Stelldichein der Crème de la Crème; die Elite der deutschsprachigen Kriminalliteratur blieb gerne unter sich, wo sie in schnieker Umgebung fachsimpeln und Champagner schlürfen konnte.

Die Chance auf eine Zusage war verschwindend gering für ein kleines Licht wie mich. Trotzdem! Ich würde mich bewerben. Die winzig kleine Möglichkeit, mein Idol live zu erleben, ein paar Worte mit ihm zu wechseln und von ihm aus erster Hand zu lernen, würde ich mit beiden Händen fest ergreifen.

Jemand hämmerte gegen die Toilettentür. Judith rief:

»Alles okay bei dir dadrinnen?« Was so viel heißen sollte wie: Komm gefälligst heraus und erledige deinen Job.

»Bin sofort da.« Ich öffnete die Tür und eilte an die Kasse, wo sich eine Schlange von der Länge der Chinesischen Mauer gebildet hatte. Es war siebzehn Uhr, die Leute machten Feierabend und hatten es eilig, einzukaufen und nach Hause zu kommen. Mit einer gemurmelten Entschuldigung schlüpfte ich hinter die Kasse.

»Der Typ, der die Pizza gekauft hat, hat sein Kaugummi an die Plexiglasscheibe geklebt«, beschwerte sich Judith. Ich warf einen Blick auf die Scheibe. Tatsächlich, da klebte es. Ich ließ es hängen. Die meisten Kunden waren friedlich und nett, aber von einigen musste man einstecken. Ich war daran gewöhnt. Als der Feierabendtrubel nachließ, fragte ich die Mitarbeiter, ob sie alleine zurechtkämen, und machte mich auf den Weg nach Hause.

*

Zurück in meiner kleinen Wohnung, wärmte ich eine Portion chinesisches Hühnchen süßsauer mit Gemüse und Reis in der Mikrowelle, während ich das Bewerbungsformular für das Schreibseminar herunterlud. Name, Adresse, Familienstand, Beruf. Links zur eigenen Homepage sowie zu Autorenseiten auf sozialen Netzwerken. Hier sank mein Mut. Wären meine Autorenseiten Kinder, hätte das Jugendamt mir schon längst wegen Vernachlässigung das Sorgerecht entzogen. Ich postete nur sporadisch etwas, und mein Privatleben breitete ich schon gar nicht im Internet aus. Wobei es da nicht viel auszubreiten gab. Sollten meine Leser wirklich wissen, dass ich hin und wieder angetrocknete Kaugummis von einer Plexiglasscheibe putzte? Autoren, die ihre Taschenbuchausgaben neben einem süßen Kätzchen oder einer Latte macchiato platzierten und davon Fotos verbreiteten, nervten mich eher. Wenn Rufus Brecht meine Autorenseiten aufrief und feststellte, wie es um meine Kompetenz in den sozialen Medien bestellt war – oder, noch schlimmer, die Verkaufsränge auf den Plattformen checkte -, war ich sofort raus aus dem Auswahlverfahren.

Mein Hochgefühl sank langsam und stetig, genau wie die Temperatur des unangetasteten chinesischen Hühnchens, auf das mir der Appetit verging, während ich meine Angaben hoch und runter prüfte und überlegte, was ich tun könnte, um Rufus Brechts Aufmerksamkeit zu erringen. Stellen Sie sich vor, Sie stehen mit einem Literaturagenten in einem Fahrstuhl und haben nur wenige Sekunden Zeit, ihn von Ihrem Manuskript zu überzeugen – was sagen Sie? Ja, was gab es über mich zu sagen? Ich schummelte ein bisschen und gab mich als Filialleiterin aus statt als Stellvertretung. Hobbys: schreiben. Ich überlegte, ob ich Bergsteigen oder eine andere aufregende Freizeitbeschäftigung dazudichten sollte, um ein wenig interessanter zu erscheinen. Mir fiel auf, wie eintönig mein Leben für andere aussehen musste. Aber es gab nichts zu beschönigen. Ich war schlicht und einfach ein nichtssagender Irgendjemand, eine junge Frau von vielen in einer großen Stadt, deren Leben vor sich hin plätscherte. Eine von vielen unbekannten Autorinnen.

Am Ende der Liste gab es ein kleines Feld für Anmerkungen. Mitternacht war längst vorbei, als ich nach langem Hin und Her tippte: Ich will unbedingt an diesem Schreibseminar teilnehmen. Bitte, Rufus, wähle mich aus. Dann unterschrieb ich mit meinem Namen, schickte die Bewerbung ab und bereute es im nächsten Moment zutiefst. Dieses billige Anbiedern entsprach in keiner Weise der stolzen Schriftstellerin, die ich sein wollte. Aber nun war es zu spät.

»Vielen Dank für deine Bewerbung«, die Bestätigungsmail trudelte ein. Ich wärmte das Hühnchen noch einmal auf. Es schmeckte nicht besser als die Pappschachtel, in der es steckte.

*

In den nächsten Tagen hatte ich die Zuversicht auf eine Zusage nahezu verloren. Ich hätte den Newsletter ignorieren sollen. So, wie ich die Werbemails von irgendwelchen Lotterien und Glücksspielen ignorierte. Dort standen die Chancen auf einen nennenswerten Gewinn genauso schlecht.

Um mich abzulenken, arbeitete ich bis Ladenschluss um 22 Uhr. Nur am Samstag machte ich etwas früher Schluss, um mich von meinen Freundinnen aus der Schulzeit durch die Bars in der City zerren zu lassen. Obwohl ich viel lieber alleine war – alleine mit meinen Manuskripten -, zwang ich mich, wenigstens diese gesellschaftliche Aktivität aufrechtzuerhalten. Oft saß ich dabei auf glühenden Kohlen, weil ich mir einredete, meine Protagonisten würden zu Hause auf mich warten: Anspruchsvoll wie Divas, die sich über meine fehlende Aufmerksamkeit ärgerten, die warteten, dass ich an ihnen feilte, ihnen zu Füßen lag, meine Zeit für sie opferte. Die darauf warteten, berühmt zu werden, dass die Leute in Scharen in die Buchhandlungen strömten, um zu lesen, was sie so trieben.

Im Foyer des Kinos erzählte ich schüchtern von meiner Bewerbung, während ich an meinem alkoholfreien Cocktail nippte, einem Virgin Sunrise, weil ich Alkohol nicht viel abgewinnen konnte. Die Mädels hatten es nicht so mit Literatur, aber sie reagierten vollauf begeistert. »Wer weiß, vielleicht lernst du dort einen gut aussehenden Schriftsteller kennen?«, fragten sie. Ich seufzte. Sie meinten es ja nur gut, aber ihre Naivität und Unwissenheit frustrierten mich nur noch mehr. Sie hatten keine Ahnung, wie es sich anfühlte, monatelang an einer Romanvorlage zu feilen und zuzuschauen, wie das Buchbaby in der nicht enden wollenden Flut an Einsendungen von den Verlegern aussortiert wurde.

Nach einem Bummel durch die Innenstadt waren die Mädels ziemlich betrunken, und wir gingen endlich nach Hause. Hundemüde fiel ich ins Bett. Schlafen konnte ich trotzdem nicht. Das Schreibseminar ging mir nicht aus dem Kopf. Und meine Bewerbung mit diesem peinlichen, unterwürfigen Satz.

»Ich will unbedingt teilnehmen, bitte wähle mich aus, Rufus«, äffte ich mich selbst, ins Kopfkissen murmelnd, nach. »Unbedingt, bitte, bitte, bitte.« Wie hatte ich einen derartigen Schwachsinn schreiben können? Ich versuchte, mir Rufus Brechts abschätziges Schnauben vorzustellen, seine vor Belustigung hochgezogenen Mundwinkel, wenn er das las. Falls ich ihm eines Tages tatsächlich persönlich begegnete, wie sollte ich ihm in die Augen sehen?

Vielleicht war es das Beste, in meinem Supermarkt zu versauern. Bis in alle Ewigkeit.

*

Die Mail trudelte an einem Mittwochabend ein.

Ich streamte gerade irgendeine langweilige Serie auf Netflix, als mein iPhone vibrierte. Rufus Brechts Mailadresse wurde in der Vorschau angezeigt, darunter stand »Deine Bewerbung«. Ich tippte den Code zum Entsperren ein.

Ich rechnete fest mit einer Absage. Zuerst wollte ich die Mail gar nicht lesen, sondern sie direkt in den Papierkorb verschieben. Aber dann las ich: Herzlichen Glückwunsch, liebe Maria!

Ich hatte es tatsächlich geschafft! Ich warf meine Kaffeetasse durch das Zimmer, das gleichermaßen als Küche, Esszimmer und Wohnzimmer diente. Sie landete in der Spüle und zerbrach. Volltreffer! Scherben bringen Glück! Wieder und wieder las ich die Mail, weil ich das Gefühl hatte, zu träumen.

Ich freue mich sehr, dir mitzuteilen, dass du vom 2. – 12. November an meinem Seminar teilnehmen wirst.

Die Teilnehmer wurden mit großer Sorgfalt ausgewählt. Deine Bewerbung hat mich und mein Team sofort angesprochen.

Hä? Mit großer Sorgfalt ausgewählt? Deine Bewerbung hat mich und mein Team sofort angesprochen? Trotz meines Fauxpas, »bitte bitte, ich will das unbedingt«?

Das Seminar beginnt am 2. November morgens um 9 Uhr. Damit wir pünktlich starten können, besteht die Möglichkeit, am Nachmittag des 1. November anzureisen. Dein Zimmer auf Schloss Eisenstein ist in jedem Fall bezugsfertig. Bitte halte auf dem Bahnhof Kaltenbronn gegen 16 Uhr Ausschau nach dem Schloss-Shuttle.

Mitzubringen sind …«

Es folgte eine Aufzählung, die mich an die Checkliste einer Klassenfahrt auf dem Gymnasium erinnerte. »Persönliche Gegenstände … Kosmetikartikel …«

Der letzte Satz bildete das ultimative Sahnehäubchen.

Im Laufe des Seminars wird Rufus Brecht einen Seminarteilnehmer oder eine Teilnehmerin auswählen und dessen/deren nächstes Romanprojekt coachen.

Meine Kinnlade klappte nach unten. Das war einfach der Hammer! Aber ich durfte nicht zu viel erwarten. Die Teilnahme an dem Seminar war schon ein riesengroßes Glück. Ich durfte nicht frustriert sein, wenn Rufus jemand anderen als mich bestimmte. Die Chance lag bei eins zu zehn.

Im Anhang der Mail befand sich eine Datei mit Infos zu unserer Unterbringung während des Seminars. Wie gebannt hing mein Blick auf den Fotos von Rufus Brechts Wohnstätte. Jagdschloss Eisenstein war ein Schwarzwälder Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert, das er von seinen Tantiemen gekauft und renoviert hatte. Schon mehrere Dutzend Male war ich auf der Homepage des Schlosses gewesen und hatte mir gewünscht, es eines Tages zu betreten. Nun war es so weit.

Einen Handyempfang gab es nicht, dazu lag das Schloss zu tief im Wald. Die umgebenden Wälder befanden sich ebenfalls in Rufus‘ Privatbesitz, durch die eine mit einer Schranke gesicherte Straße führte. Einige Wanderwege führten zum Schloss, aber man musste richtig gut zu Fuß sein, um es zu erreichen. In der Mail war die Rede von einem Shuttle, das anscheinend nur am Anreise- und am Abreisetag zur Verfügung stand. Einkaufsmöglichkeiten gab es auf dem Schloss nicht. Die Teilnehmer waren also mehr oder weniger zehn Tage lang eingesperrt.

Eingesperrt mit Deutschlands Starautor in seinem Schloss? Why not?

Nun gut. Kost und Logis waren inklusive. Rufus würde es seinen Gästen an nichts fehlen lassen, schätzte ich. Eine Service-E-Mail-Adresse für Rückfragen war angegeben, aber ich würde den Teufel tun und Rufus und seinem Team gleich mit hundert Fragen auf die Nerven zu gehen. Ich würde schon zurechtkommen. Meine Freundinnen brachten es ja auch fertig, ihren Urlaub in schicken Hotels in Ägypten innerhalb einer Hotelanlage zu genießen, die man wegen lokaler Unruhen nicht verlassen sollte. Eine Art Gefängnis mit fünf Sternen und beheiztem Pool, sozusagen. Auf diese Annehmlichkeiten würde ich verzichten müssen, aber welcher Autor, der Zeit mit seinem Lieblingsschriftsteller verbringen darf, braucht dafür schon eine Wellness-Oase? Ich hatte mein Schreibseminar, meinen Laptop sowie die Gesellschaft von neun weiteren Teilnehmern. Und ich hatte Rufus Brecht. Genau genommen träumte ich doch hin und wieder von einem Häuschen inmitten der Natur, abgeschieden von der Außenwelt, wo ich in Ruhe schreiben konnte.

Ich rief Google Earth auf und gab, nicht zum ersten Mal, die Adresse des Schlosses in die Suchleiste ein. Die Privatstraße schlängelte sich kilometerweit durch ein Gebiet, in dem sich weitläufige Hochmoore mit dichten Wäldern abwechselten. Als ich ganz nah heranzoomte, konnte ich sogar die Schranke erkennen.

Ich wandte mich wieder dem Infomaterial zu. Auf dem Bild wirkte die Fassade des Schlosses düster und abweisend. Vom Inneren gab es weder auf der Homepage noch in der Informationsdatei irgendwelche Fotos. Ich wusste, dass es in den Achtzigern von einem Hotelier aufgekauft worden war, der den Betrieb nach kurzer Zeit eingestellt hatte. War die Kundschaft ausgeblieben? Oder spukte es, eine gar nicht so alberne Vorstellung in diesem unheimlichen Gemäuer inmitten des dunklen Waldes? Schloss Eisenstein erinnerte mich an das Overlook Hotel aus Stephen Kings Shining-Geschichte. Eisenstein war wesentlich kleiner als das Overlook. Dennoch gab es einige Parallelen, wie die endlos lange Zufahrtsstraße und die Einsamkeit. Eisenstein hatte lange Jahre leer gestanden, bis Rufus Brecht es erworben hatte und eingezogen war.

Anschließend rief ich Rufus Brechts Homepage auf und suchte die Liste mit den Namen der Gewinner des Seminars. Oder, datenschutzkonform, den Vermerk »Die Teilnehmer stehen fest.« Doch so viel ich auch durch die Seiten scrollte: Das Schreibseminar wurde nicht einmal erwähnt.

Schade.

Und ziemlich seltsam.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war gleich zehn. Eigentlich zu spät, um Mom noch anzurufen. Sie war zwar noch wach, aber sie mochte keine Anrufe »spät am Abend«, ihre Beschreibung für alles, was nach zwanzig Uhr passierte. Heute musste sie da durch. Ich wählte ihre Nummer. Ich sah sie vor mir, wie sie in ihrem abgewetzten Fernsehsessel saß, eine Tasse gesüßten Kamillentee auf dem Couchtisch und an den Beinen ihre gehäkelten Fußwärmer.

»Ja?«, sagte sie, ihre Stimme so laut, als würde sie mir direkt ins Ohr schreien.

»Ich bin’s, Mom. Maria.«

»Ich weiß. Ich sehe doch deine Nummer. Sonst hätte ich gar nicht abgenommen. Ist etwas passiert? Es ist schon spät am Abend …«

»Keine Sorge, es ist nichts passiert. Na ja, eigentlich schon, aber nichts Schlimmes, sondern etwas total Schönes!«

»Wie heißt er?« Moms Atem blies laut wie ein Föhn. »Bring ihn am Sonntag zum Mittagessen.«

»Es geht nicht um einen Typen! Ich habe mich bei Rufus Brecht um einen Platz in einem Schreibseminar beworben. Heute kam die Zusage!«

Mom schwieg. Nach einer Weile sagte sie: »Ach, Liebes. Was soll das nützen?«

»Was das nützen soll? Ich werde zehn Tage und Nächte auf Schloss Eisenstein im Schwarzwald verbringen und gemeinsam mit neun anderen Autoren Vorträge von Rufus Brecht über Spannungsbögen und Plotpläne anhören.«

»Ja kannst du denn einfach so der Arbeit fernbleiben?«

»Ich nehme Urlaub.«

»Liebes, du weißt, ich wünsche mir nur das Beste für dich, aber das sind doch Flausen in deinem Kopf. Du setzt viel zu hohe Erwartungen in etwas, das zu nichts führt. Du wirst enttäuscht werden. Glaub mir.«

Ich seufzte. Ich hätte gar nicht erst anrufen sollen. Mom konnte meine »Schreiberei«, wie sie es nannte, nicht leiden, schon gar nicht die Krimisparte, die war ihr viel zu blutrünstig und zu mörderisch. Sie las schnulzige Liebesromane wie meine Freundinnen, und sie las so langsam, dass sie für ein vierhundert Seiten langes Taschenbuch ein ganzes Jahr brauchte.

»Ich wollte es dir einfach erzählen, Mom. Du hast mitbekommen, dass es von Rufus Brecht geleitet wird?«

»Aha.«

»Tut mir leid, dass ich dich so spät noch gestört habe. Gute Nacht.« Ich drückte das Gespräch weg.

*

Herr Fitz genehmigte meinen Urlaubsantrag ohne großes Aufheben.

»Wollen Sie verreisen? Zu dieser Jahreszeit? Fahren Sie neuerdings Ski?«, fragte er.

»Tue ich nicht. Ich besuche ein Schreibseminar.«

»Wozu soll das gut sein? Sie können doch schon schreiben.«

Diese vollkommene Unwissenheit der Leute, die mit der Schriftstellerei so gar nichts am Hut hatten, ertrug ich manchmal nur schwer. »Ja, schon, es ist wie eine Art Fortbildung, Vertiefung speziellen Wissens. Rufus Brecht leitet das Seminar.«

»Ach so?«, sagte er höflich. Es klang wie eine Frage. Es gab tatsächlich Leute, die noch nichts von Rufus Brecht gehört, geschweige denn ein Buch von ihm gelesen hatten. Viele Leute waren das allerdings nicht. »So etwas wie … Morden für Fortgeschrittene also, ja?« Er zwinkerte mir zu.

»Ich wurde als eine von zehn TeilnehmerInnen ausgewählt«, sagte ich stolz.

»Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg beim Töten.«

Die nächsten Tage vergingen wie in Zeitlupe. Ich war viel zu hibbelig, um schreiben zu können, und wusste an den Abenden nichts mit mir anzufangen. Zum Lesen und Fernsehen fehlte mir die Konzentration. Ich nahm mir einen Nachmittag frei, um in der Karlsruher Innenstadt zu shoppen. Von einer Kleiderordnung war in der Mail nicht die Rede gewesen, aber es handelte sich um ein schickes Schloss, und zwei neue Blusen und eine Chino-Hose im Gepäck würden kein Schaden sein. Ich trug sonst nur Jeans und wollte seriös auf Rufus wirken. Schließlich schlich ich um einen preisreduzierten Blazer herum und kaufte ihn, obwohl ich knapp bei Kasse war. Am Ende setzte ich einen drauf und gönnte mir ein Paar schwarze Pumps. Nun war mein Konto leergefegt, aber ich fühlte mich gut ausgestattet für das Seminar auf Schloss Eisenstein.

*

Das Angebot, am Donnerstag anzureisen, nahm ich gerne an. Schließlich war es ein zusätzlicher Tag mit meinem Idol. Ich hatte beschlossen, mit der Bahn zu fahren. Mein Kleinwagen war altersschwach und launisch, und ich wollte nicht riskieren, dass er unterwegs den Geist aufgab. Mein Zug ruckelte durch den Schwarzwald und hielt gefühlt an jedem Ameisenhaufen. Mit einer halben Stunde Verspätung erreichte ich um fünfzehn Uhr achtundvierzig den kleinen Bahnhof von Kaltenbronn.

Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhofsgebäude stand ein Grüppchen mit Koffern und Reisetaschen zusammen. Da der Bahnhof, von ihnen abgesehen, wie ausgestorben dalag, ging ich davon aus, dass es sich um die anderen Teilnehmer des Seminars handeln musste, und trat vorsichtig auf sie zu. Sie steckten die Köpfe zusammen, als würden sie sich schon länger kennen.

Ein Mann um die vierzig schaute auf und musterte mich unverhohlen von oben bis unten. »Da ist sie ja endlich«, sagte er. Ich erschrak und sah auf die Uhr. Ich hatte es doch trotz Verspätung gerade noch rechtzeitig geschafft, oder? War das Shuttle nicht für sechzehn Uhr geplant? Hatte ich mich etwa verlesen?

»Sie nehmen doch bestimmt auch am Seminar auf Schloss Eisenstein teil?«, fragte eine ältere Dame freundlich. »Ein Mitspieler oder eine Mitspielerin fehlt noch in unserer Runde.«

»Ja, das bin ich. Wollten wir uns nicht um sechzehn Uhr treffen?«

»Ich wüsste nichts davon, dass wir uns treffen wollten«, sagte der Mann. »Ich kenne Sie doch gar nicht.«

Oh Mann, dachte ich, der Schwätzer geht mir jetzt schon auf die Nerven.

»Einige von uns sind schon zeitig angereist. Wenn wir vollzählig gewesen wären, hätten wir angerufen und gefragt, ob der Shuttlefahrer vielleicht etwas früher kommen kann«, sagte die ältere Dame beschwichtigend.

»Tut mir leid«, sagte ich. Ich spürte, wie meine Wangen puterrot wurden, obwohl das nun wirklich nicht meine Schuld war. »Stehen Sie schon lange hier?«

»Seit gut drei Stunden«, sagte der Mann.

»Nun übertreiben Sie es mal nicht«, sagte die Dame und streckte mir die Hand entgegen. »Ich bin auch erst vor zwanzig Minuten angekommen. Mein Name ist Ann Zutau.«

Ich schüttelte ihre Hand, die sich weich und warm anfühlte. Die anderen Seminarteilnehmer musterten mich unverhohlen.

»Spaß muss sein«, sagte der Schwätzer grinsend. „Nichts für ungut. Norbert Schlenz.« Er streckte mir die Hand entgegen. Ich stellte meinen Koffer ab, um ihn begrüßen zu können. Der Koffer fiel mit lautem Krach um. Mühsam wuchtete ich ihn wieder auf und spürte dabei die Blicke der anderen auf mir.

»Da kommt das Shuttle«, sagte jemand.

Ein weißer Kleinbus bog auf den Bahnhofsvorplatz ein. Die Geschwindigkeit meines Herzschlags schoss in den roten Bereich. Ich war tatsächlich hier, es ging tatsächlich los, ich war unsäglich aufgeregt!

Mit quietschenden Bremsen hielt der Kleinbus neben uns an. Die Teilnehmer stellten sich artig in einer Reihe auf, jeder sein Gepäck neben sich wie Grundschulkinder beim Einsteigen in den Schulbus. Ich stand als Letzte in der Reihe und verrenkte den Hals, um zu sehen, wer ausstieg. Rufus Brecht war nicht selbst gekommen, er hatte einen Fahrer geschickt. Einen Hünen mit kahlem Kopf und Unterarmen, breit wie Paddel. Er sagte kein Wort. Mit einem Nicken wies er die Wartenden an, einzusteigen, während er den Laderaum des Busses öffnete und zwei Koffer auf einmal darin verfrachtete, als hätten sie kein Gewicht.

»Hallo?«, sagte eine Frau mit herzförmigem Gesicht und braunem Lockenkopf. »Gibt es im Bus eine Sitzordnung?«

Der Fahrer ignorierte ihre Frage. Jemand fing an zu drängeln und schob Lockenköpfchen in den Kleinbus. Ich wunderte mich, dass der Fahrer keinen von uns kontrollierte. Weder fragte er nach der Bestätigung für die Teilnahme am Schreibseminar noch nach dem Personalausweis. Jedes x-beliebige Kasperle hätte mit uns einsteigen können.

Und dann saß ich im Bus. Meinen kleinen Rucksack legte ich auf den Sitz neben meinem, damit niemand auf die Idee kam, sich zu mir zu setzen und mich vollzuquatschen. Ich wollte einfach nur die Fahrt genießen und mich freuen wie eine Schneekönigin, weil ich kurz davorstand, meinem großen Vorbild gegenüberzutreten und aus erster Hand von ihm zu lernen. Weil künftig in meiner Autorenvita prangen würde:

November 2019, Schreibseminar bei Rufus Brecht, Schloss Eisenstein.

Trotzdem war ich neugierig auf die anderen. Schließlich würde ich mit ihnen die nächsten zehn Tage verbringen. Verstohlen schaute ich mich um.

Norbert Schlenz saß in der ersten Reihe. Eifrig redete er auf den Rücken des Fahrers ein. Auf Buchmessen hatte ich festgestellt, dass es zwei Arten von Autoren gab: Die meisten waren zurückhaltend und öffentlichkeitsscheu und gaben sich lieber mit ihren Manuskripten ab als mit echten Menschen – zu ihnen gehörte ich. Die anderen taten enorm wichtig und spielten sich auf und ließen einen nicht in Ruhe, bis man ihre Bücher kaufte. Norbert Schlenz gehörte zur zweiten Gruppe. Da! Schon holte er ein Taschenbuch aus seiner Jacke und hielt es dem Fahrer unter die Nase. Die Antwort des Fahrers konnte ich nicht verstehen, aber Schlenz packte sein Buch wieder ein und sank resigniert in den Sitz zurück.

Ich konnte mir gut vorstellen, dass er permanent um die Aufmerksamkeit unseres Kursleiters buhlen würde.

Im hinteren Teil des Busses plapperte es pausenlos. Die hohe kieksende Stimme einer Frau, einer aufgetakelten Blondine im engen roten Kostüm und mit knallrotem Lippenstift und einer zentimeterdicken Schicht Make-up, stach besonders hervor. Ein älterer, dicklicher Herr mit schütterem Haar und vorstehenden Schneidezähnen hing an ihren Lippen und schmachtete sie an, während sie sich mit Lockenköpfchen über irgendeine Modezeitschrift unterhielt.

Eine Sitzreihe davor: Zwei Männer, einer schätzungsweise Mitte dreißig und einer in meinem Alter, steckten die Köpfe zusammen und schienen etwas zu besprechen. Ihnen gegenüber saß Ann Zutau, wie ich alleine. Gedankenverloren sah sie aus dem Fenster. Dann traf mein Blick auf einen gut aussehenden Typen. Er zwinkerte mir zu. Schnell schaute ich in die andere Richtung.

Eine hübsche junge Frau wirkte kühl und unnahbar, aber ihre Hände zerfledderten nervös ein Papiertaschentuch. Und die Augenbrauen eines Kerls zuckten die ganze Zeit, als hätte er einen Tic.

Wir fuhren durch hübsche Schwarzwälder Dörfchen mit viel Fachwerk und Holzhäusern mit schräg bis fast zum Boden abfallenden Dächern. Es wurde langsam dunkel. Ich konnte mir bildlich vorstellen, dass hier jeden Moment die Bürgersteige hochgeklappt würden. Schon begann ich die quirligen, hell beleuchteten Straßen Karlsruhes zu vermissen. Die Hügel drängten sich in die Täler wie finstere Gestalten, die ein Opfer umringten, und ich ahnte, wie der Schwarzwald zu seinem Namen gekommen war.

Die Straße schlängelte sich durch dunkle Nadelwälder immer höher in die Berge. Unter uns, in den Tälern, schimmerten die Lichter in den Städtchen wie ferne Sterne, von denen wir uns immer weiter entfernten wie ein Raumschiff auf dem Weg in eine ferne Galaxie. Nur sehr wenige Autos kamen uns entgegen. Mittlerweile war es ruhig im Bus geworden. Einige hatten sogar die Augen geschlossen.

Wir erreichten die Schranke, und der Fahrer hielt an und stieg aus. Auf einem Display tippte er eine Zahlenkombination, und die Schranke hob sich. Er stieg wieder ein und wir fuhren hindurch. Es fühlte sich an, als würden wir die Zivilisation hinter uns lassen.

Die Landschaft wandelte sich. Wir waren im Hochmoor angekommen, einer traumartigen, gottverlassenen Gegend. Die Bäume hier waren kleiner und wirkten verkrümmt. Wie Missgestalten, die sich vor etwas duckten.

»Ist das ein Naturschutzgebiet?«, rief Lockenköpfchen nach vorne. »Wegen der Schranke, meine ich.«

»Die Ländereien gehören Rufus Brecht. Sie sind Privatbesitz«, antwortete der Fahrer durch sein Mikrofon.

Schließlich erreichten wir wieder ein Waldstück. Nach einiger Zeit bildete die Straße eine langgezogene Kurve, hinter der Schloss Eisenstein in Sicht kam.

*

Natürlich war Schloss Eisenstein nicht zu vergleichen mit Neuschwanstein oder mit einem Bilderbuchschloss wie bei Cinderella. Die Fotos auf der Homepage sowie in der Infomail, bei Sonnenschein am helllichten Tag aufgenommen, erinnerten an das Herrenhaus eines hochnäsigen Grafen, der Tanzbälle für den schnieke gekleideten Adel veranstaltete. In der Wirklichkeit der hereinbrechenden Nacht wirkte der Backsteinbau abweisend und unfreundlich wie ein Sanatorium für Geisteskranke. Eisengitter an den Fenstern im unteren Stockwerk verstärkten diesen Eindruck zusätzlich.

Die Wandlaterne am Eingang sorgte nur für eine spärliche Beleuchtung, sodass ich auf dem Dach des Gebäudes gerade noch die spitzen Türmchen erahnen konnte. Als der Fahrer die Scheinwerfer des Busses ausmachte, hätte ich ihn am liebsten gebeten, sie wieder einzuschalten.

Genau die richtige Location für ein Krimiseminar. Und trotzdem hatte ich es mir etwas heimeliger erhofft.

Die Eingangstür ging auf. Im herausfallenden Licht erkannte ich die kohlrabenschwarzen Umrisse einer großen Gestalt. Als hätte ein Kind den Schwarzen Mann gemalt. Ich dachte, dass es ein gutes Autorenfoto für Deutschlands größten Krimiautor abgegeben hätte.

Rufus Brecht, der Meister der Dunkelheit, schritt die Treppe herab auf unsere Gruppe zu. Wir verfielen in ehrfürchtiges Schweigen.

Rufus sah genauso aus wie auf den seltenen Fotos, die von ihm im Netz kursierten. Diese wirren, rötlichen, halblangen Haare, der durchdringende, stechende Blick aus eisblauen Augen. Nur mit seiner Körpergröße von fast zwei Metern hatte ich nicht gerechnet. Rufus galt als medienscheu. Man las in der Literaturwelt viel über seine Bücher, aber er selbst vermied das Rampenlicht so gut wie möglich.

Angemessen beeindruckt, vielleicht auch etwas eingeschüchtert, rückten wir am Fuß der Eingangstreppe zusammen wie eine Herde Schafe, die von einem Border Collie zusammengetrieben wurde.

»Herzlich willkommen auf Schloss Eisenstein!«, sagte Rufus und breitete die Arme aus. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise. Ivan wird Ihre Koffer hineinbringen.«

Schon eilte der Fahrer mit den ersten Reisetaschen die Eingangstreppe hoch.

Ich fröstelte. Es war wesentlich kälter als in Karlsruhe, wo der Oktober recht mild verlaufen war. Hier in den Gipfeln des Schwarzwaldes fühlte es sich eher an wie ein Herbst auf Grönland. Ich hätte Handschuhe mitnehmen sollen und eine Mütze, beides befand sich nicht in meinem Gepäck. Ich dachte an die schicken neuen Blusen, den Blazer und die Pumps. Hier bräuchte ich eher warme Stiefel und einen gefütterten Mantel. Schließlich war ich keine hundert Kilometer von zu Hause entfernt, ich war gar nicht auf die Idee gekommen, die Wettervorhersage dieser Gegend zu checken. Und doch war ich anscheinend in einer anderen Klimazone gelandet.

Jemand berührte meinen Arm. »Ist alles in Ordnung, Liebes?«, fragte Ann Zutau. Ich mochte sie. Sie hatte etwas Mütterliches an sich.

»Ja, ich denke schon«, sagte ich.

»Ihnen ist kalt«, sagte sie mit prüfendem Blick. »Die Höhen des Schwarzwaldes werden gerne unterschätzt, aber sie haben es in sich. Hier kann es ganz schön unangenehm werden. Sie haben hoffentlich ein paar wärmere Sachen eingesteckt? Sonst leihe ich Ihnen gerne etwas aus.«

»Ich habe einige Pullover dabei«, erwiderte ich ausweichend. Ich versuchte, mein Zittern zu unterdrücken. Mir war, gelinde gesagt, schweinekalt in meinen Skinny Jeans, dem dünnen Sweatshirt und der gefütterten Lederjacke, die mir gewöhnlich im Winter ausreichende Dienste tat. Ich stellte mich schon mal moralisch auf einen Erfrierungstod ein.

Rufus hatte unser Gespräch mitbekommen. »Wie unaufmerksam von mir! Kommen Sie herein, im Schloss ist es schön warm.«

Ann Zutau schob mich nach vorne. »Rein mit Ihnen, bevor Sie sich eine Erkältung holen.« Erleichtert erklomm ich die Treppe.

*

Ich trat durch die Eingangstür und dachte, Maria, hier bist du fehl am Platz.

Hohe Decken, eine breite, geschwungene Treppe und ein goldfarbener, prachtvoller Kronleuchter gaben mir das Gefühl, es müsste jeden Moment eine vornehme Schönheit im Reifrock und mit Hochsteckfrisur hereinschweben und zum Tanz bitten. Als wären wir in der Zeit zurückgereist, und, vor allem, in einer anderen Gesellschaftsschicht gelandet. Zehn Tage lang würde ich mit abgespreiztem kleinem Finger an Teetässchen aus feinstem Chinaporzellan nippen, anstatt wie zu Hause meinen Kaffee aus einem Becher mit abgeschlagenem Rand hinunterzustürzen. Die anderen Teilnehmer des Seminars schienen ähnlich fasziniert. Mit offenen Mündern staunten sie über die kunstvollen Schnitzereien am Treppengeländer und über die teuer aussehenden Läufer auf dem Steinboden. Wie in den Villen der Hollywoodstars, die man hin und wieder im Fernsehen sah.

»Beängstigend, nicht wahr?«, raunte mir der junge Mann ins Ohr, der mir im Bus zugezwinkert hatte. Fragend schaute ich ihn an.

»Ich überlege gerade, ob ich beim Abendessen das Besteck von außen nach innen aufnehmen muss, oder von innen nach außen. Können Sie mir helfen?«

»Das weiß ich auch nicht«, flüsterte ich lächelnd zurück, erleichtert, dass ich nicht die Einzige war, die sich in der High Society nicht zurechtfand.

»Eure Zimmer werden gerade bezugsfertig gemacht«, sagte Rufus. »Ayse, die mich bei Empfängen und bei der Betreuung meiner Gäste unterstützt, ist noch damit beschäftigt. In einer halben Stunde sollte sie fertig sein. Bis dahin bitte ich euch zu einem kleinen Umtrunk an die Bar.« Er schaute in die Runde, betrachtete jeden von uns. »Ach ja«, sagte er. »Zu den Umgangsformen. Ich fände es schön, wenn wir uns duzen. Ist das für alle in Ordnung?«

»Ja«, tönte es wie im Chor. Ab sofort waren wir also mit Rufus Brecht per Du. Mit Rufus Brecht! Wer würde sich das entgehen lassen?

Wir ließen unser Gepäck in der Eingangshalle stehen und folgten Rufus in den Speisesaal. Diese Räumlichkeiten waren nicht weniger exquisit, aber moderner und für meinen Geschmack ansprechender gestaltet. Die Wände zierten Schwarz-Weiß-Drucke mit historischen Jagdmotiven sowie von Diana, der Jagdgöttin. Es gab bequem aussehende Sitzgruppen und Abstelltischchen mit Aschenbechern aus schwerem Kristallglas. Alles war in heimeligen Naturtönen gehalten und aus hochwertigen Materialien gefertigt. Die Instandhaltung eines solchen Anwesens musste Unsummen verschlingen, aber Rufus Brecht verdiente Millionen mit seinen Krimis, die allesamt die Bestsellerlisten anführten.

»Genau, wie ich es mir vorgestellt habe!«, quietschte eine Frauenstimme direkt neben meinem Ohr. Es war die Blondine mit dem knalligen Lippenstift und den rot lackierten Fingernägeln. Sie hieß Natascha Kissel. »Kissel wie the Kiss«, hatte sie in der Eingangshalle gehaucht und einen Kussmund gezogen, als sie nach ihrem Namen gefragt worden war. Theatralisch legte sie die Hände links und rechts ans Gesicht.

Ich schob meinen Hintern auf einen mit hellem Leder bezogenen Barhocker. Rufus werkelte hinter der Bar geschickt wie ein Barkeeper. Er füllte Schälchen mit Erdnüssen und stellte sie auf den Tresen. »Für mich bitte nicht«, sagte Irina Petrowna alias Lockenköpfchen. »Ich habe eine Allergie gegen Erdnüsse.« Rufus reichte ihr daraufhin Salzbrezeln, die sie dankbar annahm.

»He, Rufus, wo ist dein Küchenpersonal?«, rief Norbert Schlenz.

»Ivan bereitet einen Imbiss vor«, sagte Rufus. »Was darf ich euch zu trinken anbieten?«

Die Bar war ausnehmend gut bestückt. Als wäre Schloss Eisenstein immer noch ein Hotelbetrieb. Mit ziemlich durstigen Gästen. Alle bestellten alkoholhaltige Getränke. Sie baten um Cocktails, deren Zusammensetzung ich nicht kannte. Rufus hatte damit kein Problem und mixte stoisch die gewünschten Drinks. Ich hätte gerne eine Cola gehabt. Ich vertrug Alkohol nicht gut, schon gar nicht auf leeren Magen. Aber ich wollte keine Extrawurst sein. Das Einzige, was mir auf die Schnelle einfiel und mir einigermaßen schmeckte, war: »Wodka Lemon. Bitte nicht so stark.«

Rufus nahm ein Longdrinkglas, benetzte den Rand mit Limettensaft und drückte das Glas umgedreht in eine flache Schale.

»Was wird das?«, fragte ich.

»Ein Zuckerrand. Das sieht hübsch aus.« Er füllte Eiswürfel in das Glas, suchte die Reihe der Flaschen ab, wählte Wodka Smirnoff und goss ordentlich ein. Als ich zum Protestieren ansetzte, erwiderte er: »Eiswürfel müssen schwimmen.«

Er gab Limettensaft dazu und reichte mir das Glas. Als ich es entgegennahm, berührten sich unsere Finger. Beinahe hätte ich vor Nervosität das Glas fallen lassen.

»Ich habe eine Frage«, rief Norbert Schlenz. »Nach welchen Kriterien wird der Glückliche bestimmt, dessen nächstes Romanprojekt du coachen wirst?«

Alle starrten erwartungsvoll auf Rufus. Der blieb ganz entspannt und stand mit lässig verschränkten Armen an den Tresen gelehnt.

»Der Gewinner steht bereits fest«, sagte er. Einige Schultern sackten enttäuscht nach unten.

Eine junge Frau betrat den Raum. Sie trug eine Uniform wie ein Zimmermädchen, ein Kopftuch verdeckte ihr Haar. Mit großen, dunklen Augen blickte sie uns scheu an. »Ihre Zimmer sind bereit«, sagte sie.

»Danke, Ayse. Ein paar Sätze zum Ablauf«, sagte Rufus. »Für morgen früh hatte ich eine kurze Kennenlernrunde geplant. Da alle bereits angereist sind, schlage ich vor, das auf heute Abend vorzuverlegen. Wir treffen uns um zwanzig Uhr hier an der Bar und gehen gemeinsam rüber in den Seminarraum, wo euer Unterricht in den nächsten Tagen stattfinden wird. Ihr habt noch eine gute Stunde Zeit, um euch ein bisschen auszuruhen und frisch zu machen.«

Gläser wurden geleert, ex-und-hopp. Von meinem Wodka Lemon hatte ich nur wenig getrunken. Wenn ich den Rest auf einmal hinunterkippte, würde mir übel werden. Ich bildete mir ein, dass sich in meinem Kopf jetzt schon alles anfing zu drehen. Ich ärgerte mich, dass ich nicht doch die Cola bestellt hatte.

Rufus schien meine Misere zu bemerken. »Bist du fertig?«, fragte er und griff nach meinem Glas.

»Ja«, sagte ich dankbar. »Ich schaff das nicht so schnell.«

»Kein Problem.« Er leerte den Inhalt des Glases in die Spüle. Erleichtert rutschte ich vom Barhocker und folgte den anderen in die Eingangshalle, wo wir uns unsere Koffer schnappten.

Wir folgten Ayse die Treppe hinauf. Ivan war weit und breit nicht zu sehen. Gott, war mein Koffer schwer!

»Was ist mit einem Lift?«, fragte die junge Frau, die im Shuttlebus ein Taschentuch zerpflückt hatte, außer Atem.

»Der Fahrstuhl ist außer Betrieb«, sagte Ayse.

Die Taschentuchkillerin fluchte leise. Meine Arme schmerzten von dem Gewicht des Koffers, die neuen Schuhe drückten unangenehm und ich war sicher, dass sich eine Blase am kleinen Zeh gebildet hatte. Ein Teil der Seminarteilnehmer war im ersten Stock untergebracht.

»Sie sind im zweiten Stock«, sagte Ayse zu uns Übriggebliebenen. »Gehen Sie bitte vor. Ich komme gleich nach.« Endlich war ich mit vier anderen, unter anderem der Taschentuchkillerin, oben angelangt. Außer Atem standen wir auf dem Flur.

Wenige Minuten später kam Ayse und teilte uns die Zimmer zu. Ich wohnte in der 220. Das Zimmer war nicht besonders groß, aber hübsch eingerichtet, mit hochwertigen Materialien und mit vielen Elementen der Jagd und des Waldes: zum Beispiel einem Kerzenhalter, der einem Geweih nachgebildet war oder Flanellbettwäsche mit dem Fotomotiv eines Fuchses inmitten einer Schneelandschaft. Das extrabreite Bett nahm einen Großteil des Raumes ein. An der Wand stand ein Tischchen, auf dem ich gleich meinen Laptop ablegte. Er hatte gerade noch Platz neben dem Tablett mit dem Trinkglas und der Wasserflasche. Über dem Tischchen hing ein Wandteppich mit dem Druckmotiv eines Hirschkopfes.

Das Bett war genial. Weich und einladend, mit dicken Kissen und stylishen Nachttischlampen links und rechts, die Lampenfüße bildeten verschachtelte Äste nach. Ich warf mich auf das Bett und schaltete die Lampen ein, sie spendeten ein warmes, gemütliches Licht. Ich hatte eine ganze Stunde Zeit. Ich würde fünf Minuten liegen bleiben, dann meine Sachen in den Schrank räumen und mit der Bürste durchs Haar fahren, dann wäre schon wieder Zeit, nach unten zu gehen. Ich schloss die Augen. Nur ganz kurz.

Als ich sie eine Sekunde später, wie ich glaubte, wieder aufschlug, war mein Mund klebrig, und ich hatte Hunger und Durst. Ich schaute auf die Uhr und traute meinen Augen nicht.

Es war 22:13 Uhr.

*

Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett. Panisch eilte ich ins Bad, warf einen Blick in den Spiegel, stellte zwei Dinge fest: Einmal, dass ich grauenhaft aussah; blass und zerknittert und mit verschmierter Mascara um die Augen; zweitens, dass meine Haarbürste ganz unten im Koffer in meiner Waschtasche vergraben sein musste. Eilig fuhr ich mit den Fingern durchs Haar, wodurch es nur noch unordentlicher vom Kopf abstand. Ich verzichtete aufs Händewaschen und stürmte aus der Tür auf den düsteren Flur hinaus.

Shit! Shit, Shit, Shit!

Ich rannte die Treppe hinunter. Vor lauter Aufregung wurde mir schwindelig, und ich entging nur knapp einem Sturz. Wo wollten wir uns noch mal treffen? Im Seminarraum, hatte Rufus gesagt. Und wo war der? Ich konnte nur hoffen, dass die Tür beschriftet war. Bis jetzt kannte ich nur die Eingangshalle und die Bar mit dem dahinterliegenden Speisesaal. Dort probierte ich es als Erstes. Beide Räume waren verwaist. Niemand zu sehen. Unschlüssig stand ich auf dem Flur und wusste nicht, wo ich hinsollte.

Womöglich befand sich der Seminarraum in einem der oberen Stockwerke. Egal, Maria, mach hin jetzt, geh einfach alles absuchen! Kurz überlegte ich, die Servicenummer anzurufen in der Hoffnung, dass sich jemand meldete. Hallo, ich habe das erste Treffen verschlafen und nun finde ich mich im Hotel nicht zurecht … Nein, bloß nicht!

Linker Hand ging ein Flur ab, und ich betrat ihn zögerlich. Türen links und rechts, aber ohne Zimmernummern darauf. Ich ging ein paar Schritte weiter, lauschte, hörte aber keinen Laut. Lagen denn alle schon im Bett? Um zwanzig Uhr hatten sie sich getroffen. Wie wahrscheinlich war es, dass sie immer noch im Seminarraum beisammensaßen? Eher unwahrscheinlich. Im Bus hatten alle erschöpft gewirkt, schließlich hatten die meisten eine weitere Anreise gehabt als ich; an der Bar hatte ich aufgeschnappt, dass auch Teilnehmer aus Norddeutschland anwesend waren, die schon frühmorgens Richtung Schwarzwald aufgebrochen waren. Andererseits war halb elf am Abend noch nicht allzu spät. Irgendjemand musste doch wach sein.

So sehr ich die Ohren spitzte, ich hörte keinen Mucks. Zaghaft öffnete ich eine der vielen Türen. Im schummrigen Licht, das von den Flurlampen hineinfiel, erkannte ich mit Planen abgedeckte Möbel und ausrangierte Küchengeräte.

Auf der nächsten Tür stand ein Schild: Wäscherei. Ich war im Versorgungstrakt gelandet. Unwahrscheinlich, dass die Besucher durch diesen Trakt gehen mussten, wenn sie in den Seminarraum wollten. Er musste ganz woanders liegen.

Das Licht ging aus.

Ich stand inmitten tiefer Schwärze. Unwillkürlich schob ich die Hand in die vordere Jeanstasche, aber mein iPhone mit der Taschenlampen-App war nicht da. In der Hektik hatte ich es in meinem Zimmer liegen lassen. Okay, Maria, ruhig bleiben! Ich tastete mich an der Wand entlang bis zu der Tür zu dem Zimmer voller Ramsch, öffnete sie und suchte einen Lichtschalter, konnte ihn aber nicht finden. Es blieb mir nichts anderes übrig, als das ultimativ Peinliche zu tun: um Hilfe zu rufen. Das geschah mir nur recht, wie blöd musste man sein, um ein Seminar zu verschlafen, dessen Teilnahme einem alles bedeutete? Also holte ich tief Luft und rief: »Halloooo?«

Natürlich kam keine Antwort. Vom Flügel mit unseren Zimmern hatte ich mich weit genug entfernt.

Panik machte sich in mir breit. Ich rief lauter. »Hallo? Ist da jemand?«

Hörte ich etwas? Irgendwo klappte eine Tür. Hinter mir. Die Orientierung hatte ich völlig verloren, aber ich konnte einen schwachen Lichtschein ausmachen und beeilte mich, darauf zuzulaufen, in der Hoffnung, in der Dunkelheit nicht zu stolpern.

»Na, so was«, sagte eine Stimme. Sie gehörte Norbert Schlenz. Ausgerechnet. Und trotzdem war ich froh, sie zu hören. »Sag bloß, du hast dich verlaufen!«, meinte er spöttisch.

»So ähnlich«, erwiderte ich.

Norbert Schlenz beleuchtete mir mit der Taschenlampen-App seines Smartphones den Weg. Erleichtert trat ich auf ihn zu. Ich hatte schon befürchtet, die halbe Nacht durch die Dunkelheit irren zu müssen, von Zimmer zu Zimmer, wie ein kleiner blonder Poltergeist.

»Ich sitze im Jagdzimmer mit ein paar Leuten zusammen«, sagte Norbert Schlenz. »Möchtest du uns Gesellschaft leisten?«

Und ob ich das wollte. Ich folgte Schlenz in das Jagdzimmer. In einem Kamin flackerte ein Feuer, das orangefarbenes Licht über die Wände tanzen ließ. Zwei Frauen hatten es sich in bequem aussehenden Ledersesseln gemütlich gemacht: Ann Zutau und die Taschentuchkillerin. Beide setzten sich kerzengerade hin, als sie mich erblickten. Als wäre ich die Hauptattraktion des Abends. »Komm her, komm!«, rief Ann und winkte mich zum Sofa. »Ist alles in Ordnung mit dir? Wir haben dich vermisst.«

Gar nichts war in Ordnung. Ich war sauer auf mich selbst, weil mein erster Abend auf Schloss Eisenstein so was von schiefgelaufen war. »Es geht mir gut«, sagte ich. »Ich nehme an, die Kennenlernrunde ist vorbei?«

»Du kommst eine halbe Stunde zu spät«, sagte Norbert Schlenz und trat zu einem kleinen Tisch. »Die meisten sind bereits zu Bett gegangen. Darf ich dir einen Whisky anbieten?« Er hielt eine Flasche in die Höhe. »Hat Rufus mir aus der Bar überlassen.«

»Nein, bloß nicht, vielen Dank auch.« Wenn mich schon wenige Schlucke Wodka Lemon außer Gefecht setzten, was würde dann ein Glas Whisky mit mir anrichten?

»Wo hast du bloß gesteckt?«, fragte Ann.

»Ich muss eingeschlafen sein«, sagte ich. »Es wäre hilfreich gewesen, wenn jemand an meine Tür geklopft hätte.«

»Das haben wir, Liebes, das haben wir!«, rief Ann. »Alles war still, niemand hat aufgemacht. Du warst wie vom Erdboden verschluckt. Wir haben uns Sorgen gemacht!«

Mein schlechtes Gewissen regte sich. Nun fühlte ich mich noch mieser als zuvor, obwohl ich mich freute, dass meine Mitstreiter sich wenigstens Gedanken über meinen Verbleib gemacht hatten. »Ist Rufus Brecht noch irgendwo hier?«, fragte ich. »Ich möchte mich entschuldigen. Das Ganze ist mir schrecklich peinlich.«

»Er hat sich zurückgezogen in seinen privaten Flügel.«

Natürlich. Hatte ich mir etwa eingebildet, er würde auf mich warten? Ich würde die halbe Nacht wach im Bett liegen und mich krumm und buckelig ärgern über mich selbst. Wie hatte ich nur so dumm sein können, mich ins Bett zu legen? Morgen würde ich mit Augenringen wie LKW-Reifen am Seminar teilnehmen. Die Chance, von Rufus bei meinem nächsten Manuskript gecoacht zu werden, war davongeweht wie ein Fetzen Butterbrotpapier im Wind. Was sollte er mit so einer Schnarchnase wie mir anfangen?

»Ich habe schrecklichen Hunger«, gestand ich. »Meint ihr, im Speisesaal finde ich etwas Essbares?«

»Es gab Schnittchen, aber die waren ruckzuck weg«, sagte Ann. »Unter uns: Wir waren etwas enttäuscht. Alle hatten ein richtiges Abendessen erwartet. Schließlich sind Kost und Logis inbegriffen, und ich bezweifle, dass der Pizzaservice hier herauskommt.«

»Wir sollten den anrufen«, sagte Schlenz.

»Um diese Uhrzeit liefern die nicht mehr«, sagte Ann.

»Die kämen nicht durch die Schranke«, sagte die Taschentuchkillerin.

»Also, wenn ich hier wohnen würde, bekäme der Pizzabote als Erstes den Code von mir«, sagte ich.

»Ich habe Kekse in meinem Zimmer«, sagte Norbert Schlenz. »Ich hole dir gerne welche.«

Das war mir zwar auch unangenehm, vor allem, weil ich Schlenz, bis vor wenigen Minuten, nicht besonders gemocht hatte. Aber mein Magen knurrte so aufdringlich, dass ich nicht Nein sagen konnte. »Wenn es dir nichts ausmacht. Ein paar Kekse wären echt mega«, sagte ich dankbar.

»Es ist mir ein Vergnügen. Bin gleich wieder da.

---ENDE DER LESEPROBE---