Die Tränen der Toten - Martina Bauer - E-Book

Die Tränen der Toten E-Book

Martina Bauer

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Beschreibung

Bei einem Drogendeal verschwindet eine junge Bodypackerin spurlos mit der Ware. Als der Ex-Dealer Tom Merten die Leiche der Verunglückten findet, steckt er in einem Zwiespalt. Nach der Geburt seiner Tochter hat er der Kriminalität abgeschworen, doch für die Behandlung des kranken Mädchens braucht er dringend Geld. Als sich Tom gegen das Kokain entscheidet, ist es zu spät: Er ist bereits in den Plänen des mächtigen Drogenbarons verstrickt wie im Netz einer giftigen Spinne.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhaltsverzeichnis

Die Tränen der Toten

Über die Autorin

1

Tom

2

Harry

3

Tom und Harry

4

Harry

5

Tom

6

Tom

7

Jenny

8

Tom

9

Tom

10

Harry

11

Tom

12

Ray Szabo

13

Tom

14

Tom

Die Tränen der Toten

Ein Roman von Martina Bauer 

Alle Rechte liegen bei der Autorin Martina Bauer

Copyright: © 2016

Martina Bauer

Guttenbergstr. 1

76889 Schweigen-Rechtenbach

www.martinabauer.jimdo.com

Covergestaltung: Jacqueline Spieweg, FarbRaum4 (http://www.jspieweg.de/)

Lektorat: Christine Bendik

(http://www.c-bendik.de/)

Über die Autorin

Martina Bauer, geb. 1968, ist ausgebildete Industriekauffrau und Fachkrankenschwester für Intensivpflege und Anästhesiepflege. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn an der Südlichen Weinstraße. Mit dem Schreiben hat sie vor einigen Jahren begonnen, ihre bevorzugten Genres sind Crime, Mystery und Horror.

Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen.

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Alle Personen im nachfolgenden Text sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Tom

Die Leiche lag in einem Bett aus Moos. Herabgefallene Blätter bedeckten die wächserne Haut wie ein löchriges Grabtuch. Zweige umrankten sie, schienen sie zu streicheln wie knorrige Finger. Fast harmonisch fügte sie sich in die Landschaft ein. Ein natürlicher Verwesungsprozess in einer Umgebung, in der eine Moderschicht aus Laub und totem Geäst die Geburt einer neuen Vegetation hervorbrachte und die heimische Tierwelt ernährte.

Auf den ersten Blick wirkte sie auf ihrem grünbraunen Lager nahezu friedlich. Nur die roten Shorts störten diesen Eindruck. Die Farbe bildete einen Fremdkörper im Gehölz, wegen ihr hatte Tom Merten die Tote überhaupt entdeckt. Und weil er gezielt in ihre Richtung geblickt hatte, denn sie lag an seiner Lieblingsstelle in diesem Wald.

Ihr Anblick brachte die rhythmische Bewegung seiner Beine aus dem Konzept. Tom bremste ab und joggte auf der Stelle weiter, während er auf den leblosen Körper starrte. Sein hektisch keuchender Atem klang laut in seinen Ohren, und der Schweiß auf seiner Haut fühlte sich kalt und klamm an. Toms Hand fuhr in die vordere Tasche seiner Hose, aber er trug nicht seine Jeans, sondern Laufshorts, und das vertraute Gehäuse seines Smartphones war nicht zu spüren. Er war auf sich alleine gestellt.

Reiß dich zusammen, sagte er sich. Beruhige dich und sieh dir das erstmal an.

Es handelte sich um einen Frauenkörper, das konnte Tom deutlich erkennen. Sie lag am Fuße einer Böschung auf dem Rücken, die Beine gespreizt, ihr Kopf leicht zur Seite geneigt, mit Blick auf das Gefälle, das zu einer Landstraße hinaufführte. Als hoffte sie, der Fahrer eines der vorbeirauschenden Autos würde auf ihr unfreiwilliges Versteck aufmerksam werden. Eines war klar: Diese Frau war weder unglücklich bei einem Spaziergang gestürzt, noch hatte sie einen Herzanfall erlitten. Dafür befand sie sich zu weit abseits des Weges.

Ihr Grab wurde umrankt von Holunderbüschen und eingesäumt von Kastanienbäumen. Genau hier, unter diesem grünen Baldachin aus Blattwerk, war einmal Toms und Jennys Liebesnest gewesen.

Tom schloss die Augen, hoffte, die Erscheinung würde verschwinden, aber das tat sie nicht. Als er die Augen öffnete, lag sie immer noch da. Er zwang sich, auf den reglosen Körper zuzugehen. Ein Traum fiel ihm ein, in dem er vor einer unbestimmten Gefahr fliehen wollte, aber wegen eines stark erhöhten Luftwiderstandes kaum vorwärtskam. Genauso fühlte er sich jetzt. Am liebsten hätte er die Tote einfach ignoriert, wäre weitergelaufen, den Waldweg entlang nach Hause gerannt, schwitzend und mit pfeifendem Atem: nur weg von hier. In seiner Werkstatt im Schuppen wollte er sich Kopfhörer über die Ohren ziehen und die Welt ausklammern, wollte den schrecklichen Anblick mit dem massiven Sound von Rockmusik aus seinem Gehirn schmettern. AC/DC, Hard as a Rock, bei voller Lautstärke. Aber seine Beine bewegten sich langsam vorwärts. Laub raschelte unter seinen Laufschuhen.

Vor wenigen Monaten hatte Tom am Sterbebett seiner Mutter nach ihrem letzten Atemzug stundenlang auf den Bestatter gewartet und ausreichend Zeit gehabt, das Antlitz des Todes zu studieren. Nicht zum ersten Mal sah er die Farben vor sich, mit denen der Sensenmann seine Opfer kennzeichnet. Die marmorierte, wächserne Haut, die bläulich-schwarzen Leichenflecken an den Unterseiten der langen, schlanken Beine. Die Frau im Wald lebte definitiv nicht mehr. Kastanienbraunes Haar lag wie ein Fächer um ihren Kopf ausgebreitet wie die Schlangen auf dem Haupt der Medusa. Sieh mich nicht an, sonst wirst du es bereuen. Tom konnte nicht anders. Er umrundete die Leiche und betrachtete ihr Gesicht. Er erkannte die Frau. Sie hieß Vanessa Kramer und war die Gespielin Rajnald Szabos, Besitzer einer Kneipenkette, Lebemann und stadtbekannter Millionär.

Der Tod höhlt die Wangen der Menschen aus, als hätte dort ihre Seele gesessen. Die eingefallenen Wangen ließen Vanessas Nase und das Kinn spitz hervorstehen. Trotzdem war ihre Schönheit auch jetzt noch deutlich zu sehen. Dichte, lange Wimpern umkränzten gebrochene Augen, die zu fragen schienen: Warum? Wie konnte das geschehen? Kleine, feste Brüste wölbten sich unter der Kleidung. Vanessa besaß die Maße eines Models. Langgliedrige Arme endeten in langen und schlanken Fingern. Die Beine waren nicht dürr, sondern wohlgeformt. Volle Lippen, herzförmig, im Tode aufgesprungen und purpurn verfärbt. Der Mund stand leicht offen. Tom wandte den Blick ab; er wusste, dass Käfer und Fliegen gerne in Körperöffnungen krochen, um sich am toten Fleisch zu laben. Er hätte es nicht ertragen, zu sehen, wie sich in der dunklen Höhle ihres Mundes etwas bewegte.

Vanessa trug ein braungraues Shirt mit ausgefranstem Saum und Pailletten-Schriftzug auf der Vorderseite: Rich & Royal. Tom kannte die Marke. Er hatte sich einmal in Unkosten gestürzt, weil er Jenny ein ähnliches Shirt gekauft hatte: Glamouröser Gammel-Look, wie er derzeit in war. Damals hatte er scherzhaft zu Jenny gesagt, dass seine Shirts nach jahrelangem Tragen genauso aussahen, aber nur ein Zehntel von Jennys kosteten.

Dazu die roten, auffallenden Shorts. Ein goldener Armreif schmückte Vanessas Handgelenk. Elegante Riemchensandalen steckten an ihren Füßen mit den rot lackierten Zehennägeln. Nichts, was man bei einem Spaziergang im Wald trug.

Jetzt sah Tom den Koffer. Er lag etwa zwei Meter entfernt halb verdeckt unter einem Holunderbusch. Es war ein kleiner, neu aussehender Damenkoffer aus hellbraunem Leder. Am Griff hing ein Gepäckanhänger. Tom trat näher und konnte Vanessas Namen und ihre Adresse entziffern.

Tom lehnte sich an einen Baumstamm und atmete tief durch, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass sein Gehirn einigermaßen klar funktionierte.

Er konnte den Fund der Leiche nicht ignorieren. Der Waldweg gehörte nicht zu den ausgeschilderten Wanderwegen, die an Sommertagen von Wanderern und Spaziergängern genutzt wurden. Hier kamen allemal Forstarbeiter an wenigen Tagen im Jahr durch. Er konnte Vanessa Kramer nicht einfach ihrem Schicksal überlassen und hoffen, dass sie schnellstmöglich gefunden wurde. Von jemand anderem. Von jemandem, den die Polizei nicht auf Anhieb verdächtigen würde. Denn das würden sie tun, sobald sie Toms Namen hörten. Tom Merten war kein unbeschriebenes Blatt und bei der hiesigen Polizei bekannt. Und die interessierte es einen feuchten Dreck, dass Gewalt nicht sein Ding war, schon gar nicht gegen Frauen. Dass er nie eine Frau belästigt hatte. Wenn die Bullen jemanden kannten, wenn sie einen erst mal auf dem Radar hatten, war es ihnen egal, ob er ein Taschendieb war, ein mickriger kleiner Dealer, der ein bisschen Hasch und Speed im Bekanntenkreis verteilte, oder ein brutaler Vergewaltiger und Sexualmörder. Denn danach sah es hier aus, so, wie Vanessa Kramer dalag, mit ihren ausgestreckten, gespreizten Beinen. Die Bullen würden jemanden einlochen wollen, vor allem, wenn ihnen ein Typ wie Rajnald Szabo im Nacken saß, ein einflussreicher und vermögender Drecksack, der dem Kriminaldirektor Feuer unterm Hinterteil machen würde, um denjenigen zu finden, der hierfür verantwortlich war. Wer käme ihnen da gelegener als Tom Merten, der frühmorgens um kurz nach sechs mitten im Wald in der Nähe von Vanessas Leiche herumlungerte?

Tom war nichts nachzuweisen, und er hatte nichts angerichtet, als eine Tote zu finden, aber sie würden ihn stundenlang verhören, und wenn Jenny das irgendwie mitkriegte, konnte er den nächsten Besuch ihrer gemeinsamen Tochter Yasmin vergessen. Ob sie Tom am Ende laufen ließen oder nicht, würde für Jenny keinen Unterschied machen.

Tom steckte in einer schlimmen Zwickmühle. Hier lag ein toter Mensch, eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, und angesichts ihrer Schönheit konnte er kaum glauben, dass alles Leben aus ihr gewichen war. Es fiel ihm nicht leicht, sich umzudrehen und sie zurückzulassen. Irgendwie hatte er das Bedürfnis, sich bei ihr zu entschuldigen für das, was ihr angetan worden war. Er hätte ihr gerne versprochen, wiederzukommen, beziehungsweise jemanden herzuschicken, der sich um sie kümmerte, der dafür sorgte, dass der Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen wurde, und dass sie eine anständige Beerdigung erfuhr und nicht einfach in den Wald geworfen wurde wie ein Sack Müll. Er war für sie verantwortlich. Er hatte die Tote gefunden, ihr Bild würde ihn auf ewig verfolgen, wenn er jetzt nach Hause ging und so tat, als wäre nichts gewesen.

Tom rannte los.

Seit er sein Elternhaus übernommen hatte, pflegte er gleich nach dem Aufstehen im Wald zu joggen. Sobald es hell genug war, machte er sich auf den Weg, bei Wind und Wetter, es spielte für ihn keine Rolle, ob es stürmte oder schneite oder über dreißig Grad heiß war, so wie heute. Täglich nahm er die gleiche Strecke von sechs Kilometern, die er mittlerweile in- und auswendig kannte, und auf der er in Ruhe seinen Gedanken nachhing. Sein Haus stand als letztes an der Straße, die nach etwa zweihundert Metern in einen breiten Waldweg mündete.

Die Hälfte der Runde lag noch vor Tom, und er rannte durchweg, ohne auf seinen sonstigen gemächlichen Rhythmus zu achten. Sein Herz raste, die Füße trommelten auf den Waldboden. Ein Zweig schlug ihm ins Gesicht wie eine Krallenhand, die ihn zurückzuhalten versuchte. Bleib hier, lass mich nicht alleine im Wald zurück. Den Kratzer in seinem Gesicht spürte er kaum.

Fünfzehn Minuten später kam er am Waldrand an. Eine kreisrunde Öffnung aus klarem blauem Morgenlicht bildete das Ende des Weges und führte an die Ausläufer der Stadt, vorbei an einer Wiese voll mit wild wucherndem Unkraut und bunten Sommerblumen. Dahinter begann der weiße Lattengartenzaun, der Toms Grundstück eingrenzte.

Er erreichte die Rückseite des Grundstückes, eilte vorbei an dem alten Schuppen, in dem sein Vater früher Schnaps gebrannt hatte, bevor er abgehauen war und den kleinen Tom und seine Mutter alleine zurückgelassen hatte, und in dem sich mittlerweile Toms Werkstatt befand. Hinter der Werkstatt begann ein leicht verwildertes, aber hübsches Gartenstück. Dahinter ragte das windschiefe Haus auf, in dem Tom bereits seine Kindheit verbracht hatte und danach seine Jugend, sofern er zu Hause gewesen war und nicht irgendwo auf der Straße herumlungert hatte. Tom flankte über den Zaun in den Vorgarten und schloss mit zitternden Fingern die Haustür auf.

Der Flur führte geradewegs in die Küche, die an der gegenüberliegenden Wand durch eine Hintertür mit der Veranda verbunden war. An den eingesetzten Glasscheiben dieser Tür sowie an den Fenstern hingen blau-weiß karierte Gardinen. Die Fensterbänke standen voll mit Salzteigfiguren und mit Kaffeetassen, für die in den hellblau gestrichenen Küchenschränken kein Platz mehr gewesen war. Man konnte an einigen Stellen blaue Nasen am lackierten Holz erkennen. Als säßen dort kleine blaue Kobolde, die beobachteten, wie sich Tom in dieser schwierigen Situation verhalten würde.

Eine cremefarbene Wachstischdecke überzog den kleinen, hölzernen Küchentisch. Es war deutlich zu erkennen, dass die Küche von einer Frau eingerichtet worden war. Toms Mutter hatte diesen Raum geliebt und häufig abends hier mit einem Buch gesessen, obwohl die Wohnzimmercouch geeigneter zum Lesen wäre als die kleinen, harten Küchenstühle aus Holz, von denen drei wackelten. Auch Tom liebte diesen Raum. Hier hielt er seine Mutter in Erinnerung.

In der Mitte des Tisches, neben einer leeren Kaffeetasse, lag Toms Smartphone. Aber er würde nicht die Polizei anrufen.

*

Tom wählte die Nummer eines alten Freundes. Er kannte Harry Roeder seit der Schulzeit, war mit ihm durch dick und dünn gegangen, und Harry war der einzige Mensch, dem Tom sich momentan anvertrauen wollte. Und Harry Roeder kannte Rajnald Szabo, weil er für den Barbesitzer arbeitete. Harry fungierte in Szabos Kneipen als Barkeeper, Rausschmeißer, wo er gerade gebraucht wurde und was gerade zu tun war. Er erledigte alle möglichen Jobs. Zwielichtige Jobs. Wickelte irgendwelche Geschäfte für Szabo ab. Durch Harry kannte Tom Vanessa, zumindest vom Sehen. Harry konnte sich darum kümmern, würde Szabo die Info zukommen lassen, dass seinem Mädchen etwas Schreckliches zugestoßen war.

Harry meldete sich nach dem zweiten Klingeln. »Guten Morgen, mein kleiner Freund. Wie läuft's bei dir?«

»Vanessa ist tot«, sagte Tom mit schriller Stimme. »Vanessa Kramer. Szabos Freundin. Ihre Leiche liegt im Wald. Ich habe sie beim Joggen gefunden.«

Am Ende der Leitung blieb es lange still. Tom hörte Harrys Atem. Er konnte regelrecht spüren, wie Harry überlegte. Dann sagte er: »Erzähl mir alles. Ganz langsam und von vorne.«

»Es gibt nichts zu erzählen. Ich war joggen wie üblich, und sie lag da. Ich bin ziemlich sicher, dass es Vanessa ist.«

»Ich bin in fünf Minuten bei dir.« Harry legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.

2

Harry

Harry Roeder hasste es, Mädchen für alles für seinen Boss zu spielen.

Entgegen jeder Erwartung entdeckte er eine freie Parklücke direkt vor dem Eingang des Golden Shot und hielt mit quietschenden Reifen an. Der Fahrer hinter ihm hupte; Harry hätte mit seiner Bremsaktion beinahe einen Auffahrunfall riskiert. Harry ignorierte ihn und setzte zum Einscheren an. Geschickt lenkte er den Audi in die Lücke. Er registrierte, dass das Auto neben ihm anhielt. Der Fahrer gestikulierte wütend. Harry beachtete ihn nicht. Er war mies gelaunt. Er hatte es satt, zu springen, wenn Szabo ihn rief wie einen Hund, der schwanzwedelnd neben seinem Herrchen her spaziert und nur darauf wartet, dass der Knochen geworfen wird. Szabo hatte angerufen und verlangt, ihn zum Frühstück zu treffen. In einer Viertelstunde. Um neun, für Langschläfer Harry viel zu früh am Tag.

Die Einladung ins Golden Shot war natürlich nur ein Vorwand. Wahrscheinlich hatte Szabo einen Auftrag für ihn. Der Boss hatte nicht mit der Sprache herausgerückt, und Harry hatte keinen blassen Schimmer, worum es sich handelte.

Harry öffnete die Tür und trat ein. Schummrige Beleuchtung empfing ihn. In den neunziger Jahren war das Golden Shot eine Absteige gewesen, und die Atmosphäre eines abgefuckten Puffs war für Harry noch deutlich spürbar. Dunkles Holz, mit rotem Plüsch bezogene Stühle, Tiffany-Lampen. Szabo hatte den Laden zu einer Bar umfunktioniert, aber die altmodische und kitschige Atmosphäre erhalten. Trotzdem war das Golden Shot abends und an Wochenenden stets gerammelt voll. Wie alle von Szabos Etablissements. An diesem Donnerstagmorgen herrschte gähnende Leere. Harry entdeckte den Boss sofort.

Szabo saß an einem Tisch mit Blick zur Eingangstür. Er studierte die Frühstückskarte, während ihm der Kellner ein Glas Orangensaft servierte. Auf Szabos Schoß lag eine Stoffserviette. Harry fand das lächerlich, aber er würde sich hüten, es anzusprechen. Er setzte sich auf den Stuhl neben Szabo.

Szabo nickte kurz, ohne aufzusehen. Harry schaute unauffällig auf seine Uhr: Acht Uhr achtundfünfzig. Seit Szabos Anruf waren vierzehn Minuten vergangen. Szabo duldete keine Verspätung, keine Trödelei. Pünktlichkeit ging ihm über alles.

»Guten Morgen«, sagte Harry.

»Guten Morgen, Harry«, sagte Szabo und nippte an seinem Orangensaft. »Wie schön, dass Sie so schnell kommen konnten.«

Als würdest du mir eine Wahl lassen, dachte Harry. »Das ist doch selbstverständlich.« Er griff nach der Frühstückskarte.

»Wird wieder ein heißer Tag heute, was?«, sagte Szabo. Smalltalk. Normalerweise kam Szabo direkt zur Sache. Heute sah es nicht danach aus.

»Ich schätze schon«, sagte Harry.

Der Kellner kam erneut an ihren Tisch. Szabo ignorierte die Karte in Harrys Hand und orderte für sie beide American Breakfast. Harry gab dem Kellner die Karte zurück. Er hätte gerne selbst gewählt, aber er beschwerte sich nicht. Über solche Kleinigkeiten verlor man bei Szabo kein Wort, wenn man es sich nicht verscherzen wollte. So war der Boss eben. American Breakfast war schon okay.

Der Kellner wirkte steif und nervös, als er ihnen ein Glas Champagner anbot. Szabo schaute kurz zu ihm auf und winkte ab. Fehler, dachte Harry. Szabo trank nicht tagsüber, und er ging davon aus, dass seine Angestellten das wussten. Es konnte gut sein, dass dieser Neuling heute Nachmittag auf der Straße saß.

Das Essen wurde serviert. Szabo kaute schweigend. Harry war klar, dass er nicht hierherbestellt worden war, weil sich der Boss nach Gesellschaft sehnte. Wie hatte sich Szabo am Telefon noch einmal ausgedrückt? Hatte er überhaupt von einem Job gesprochen? Warum die Geheimniskrämerei?

Harry genoss seine Scrambled Eggs und wartete gespannt. Es schmeckte hervorragend. Die Küche war in jeder Kneipe und in jedem Klub, den Szabo betrieb, ausgezeichnet. Szabo liebte gutes Essen und würde sofort einen Koch feuern, der ihm ein zu hart gekochtes Frühstücksei oder Tomatensalat aus wässrigen, geschmacklosen Gewächshaustomaten servierte.

Szabo legte seine Gabel beiseite und pulte sein iPhone aus der Hosentasche. Er tippte umständlich auf dem Display herum, mit dicken, kräftigen Fingern, die dafür nicht geschaffen zu sein schienen.

»Mein Kontaktmann in Düsseldorf hat sich das Bein gebrochen«, fing er plötzlich an.

Harry war bei der gegrillten Tomate angekommen. Er tunkte den auslaufenden Saft mit Baguette auf und schob sich ein Stück davon in den Mund. »Ach ja? Ich erinnere mich an ihn. Er heißt Adam, nicht wahr? Was ist passiert?«

»Adam hat einen Hund«, erzählte Szabo. »Einen Beagle. Es klingelte an der Tür, der dumme Köter rannte hin. Vor der Tür stand ein Freund mit einem Deutschen Schäferhund. Beim Anblick des Schäferhundes raste der Beagle erschrocken ins Haus zurück, direkt in Adams Beine hinein. Der stolperte über seinen eigenen Hund. Und schwupps, Bein kaputt.« Szabo schüttelte den Kopf.

Harry lachte pflichtschuldig. »Shit happens«, sagte er.

»Er musste mit dem Notdienst ins Krankenhaus. Eigentlich hätte er an diesem Tag ein Rendezvous mit einer schönen Dame gehabt.«

Harry bemerkte den veränderten Unterton in Szabos Stimme. Interessiert schaute er auf. »So ein Pech aber auch. «

»Adam sollte Vanessa am Flughafen abholen und sich um sie kümmern. Wie immer, wenn sie mit frischer Ware in Düsseldorf landete. Während sie in der Eingangshalle Ausschau nach ihm hielt, lag Adam auf dem Operationstisch, und die Chirurgen brachten einen Knochennagel in seinen Oberschenkel ein.«

Harry wartete. Szabo hatte ihn sicherlich nicht ins Golden Shot zitiert, um ihm von Adams Missgeschick zu erzählen.

»Für diesen Fall gab es einen Plan B. Vanessa sollte mit dem nächsten Zug nach Hause kommen. Aber hier ist sie nicht aufgetaucht. Ich habe keine Ahnung, wo sie zwischenzeitlich abgeblieben ist.«

»Wann ist ihr Flieger gelandet?«, fragte Harry.

»Montagabend.«

Harry nahm einen Schluck frischgepressten Orangensaft. Er hätte Lust auf den Champagner gehabt, traute sich aber keinen zu bestellen. »Ihr Telefon?«

»Die Mailbox geht an. Wenn es ausgeschaltet ist, kann ich es nicht orten lassen.«

»Hmm.«

»Hmm«, antwortete Szabo, schaute Harry aber an.

»Vertrauen Sie Adam?«, fragte Harry.

»Ich vertraue ihm.«

Mehr, als er anscheinend Vanessa vertraut, dachte Harry.

»Und was glauben Sie, wo Vanessa stecken könnte?«, fragte Harry vorsichtig.

»Ich kann nur spekulieren.«

Harry dachte, dass Szabo nicht die ganze Wahrheit sagte. Sein Boss hatte eine Vermutung. Eine Idee, irgendetwas.

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Szabo. »Erstens, Vanessa hatte einen Unfall.«

»Aber wenn sie mit dem Zug …«

»Ich rede nicht von einem Verkehrsunfall.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Harry irritiert.

»Ich meine damit, dass das Leben nicht ungefährlich ist. Schon gar nicht für eine junge, betörend schöne Frau, die alleine unterwegs ist.«

Und noch viel gefährlicher ist es, wenn diese Frau Kokain im Wert von zigtausend Euro in ihrem Leib trägt, dachte Harry. Er schob den Tomatenstrunk mit der Gabel auf dem Teller hin und her und grübelte, wie er seine Überlegungen am besten formulieren sollte.

»Wer wusste noch von dem Kokain? Außer Adam, Vanessa und Ihnen?«

»Niemand.«

Harry konnte sich das nicht vorstellen. »Trotzdem. Nehmen wir einmal an, jemand wollte an das Kokain herankommen. Wo wäre da die Schwachstelle? Könnte nicht Adam …«

»Es gibt keine Schwachstelle in meiner Kette«, sagte Szabo barsch. »Das wissen Sie. Eine Schwachstelle würde ich nicht dulden. Ich sage Ihnen, was ich denke: Entweder, Vanessa ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen – was ich nicht hoffe -, oder sie hat die Gelegenheit gewittert, sich abzusetzen. Mit meiner Ware, was heißen soll, mit meinem Geld.«

»Das tut mir leid«, sagte Harry. Er fragte sich, was schlimmer für Szabo war: der Verlust seiner Gespielin oder der des Geldes. Oder kränkte der Verrat Szabos Ego? Harrys Mund war trocken, trotz des Orangensaftes. Das Gespräch nahm eine Wendung, die ihm nicht gefiel. Er arbeitete für Szabo, aber mit dessen Beziehungsproblemen wollte er nichts zu tun haben. Das war gefährliches Terrain.

»Ich tendiere zur zweiten Möglichkeit. Vielleicht, weil die erste einfach zu schrecklich wäre.« Szabo betrachtete seine Hände. »Ich muss wissen, warum sie das getan hat.«

»Vielleicht könnte ein Detektiv weiterhelfen?«, schlug Harry vor.

»Sicher könnte er das.« Szabo nickte. »Das Problem ist nur: Ich setze ungern einen Detektiv auf eine Frau an, die eine derart heiße Ware mit sich herumträgt, beziehungsweise in einem solchen Auftrag unterwegs ist. Detektive sind oftmals ehemalige Polizisten und unterhalten gute Kontakte zur Polizei. Diese Möglichkeit lassen wir besser außen vor.«

»Natürlich. Das hatte ich nicht bedacht.«

»Ein gewiefter Detektiv könnte Vanessa schneller ausfindig machen. Aber einem fremden Menschen wird sie nicht erzählen, warum sie sich absetzen will. Einem alten Bekannten würde sie ihr Herz womöglich ausschütten.« Er schaute Harry erwartungsvoll an. »Vanessa hat Sie übrigens immer gemocht. «

»So gut kenne ich Vanessa nun auch wieder nicht.« Harry schwante etwas.

Szabo sprach weiter. »Sie sind der richtige Mann für diesen Job. Vanessa mag Sie gut leiden. Sie wird Ihnen vertrauen. Sie sind der Typ Mann, an dessen Schulter sich die Menschen ausweinen.«

Das stimmte. Harry wickelte diverse Geschäfte für Szabo ab, aber Szabo setzte ihn hin und wieder am Zapfhahn ein. Dort lernte man die Leute kennen und erfuhr so einiges. Sie saßen an der Theke, tranken ihr Bier und wurden gesprächig. Gelegentlich beklagte sich jemand bei ihm über Szabo. Ein unzufriedener Kunde, ein Kleindealer, der sich geprellt fühlte. Sie schienen dem Kerl zu vertrauen, der mit seinem Achtzigerjahre-Look, den Cowboystiefeln und der Vokuhila-Frisur aus einer beständigeren Epoche zu stammen schien. Harry hörte sich die Klagen an, suggerierte Verständnis, heuchelte Mitgefühl und berichtete Szabo später alles. Szabo wusste gern über die Dinge Bescheid. Er wusste gern, woran er war, und was die Leute über ihn dachten.

Szabo sprach weiter. »Fahren Sie nach Düsseldorf, Harry. Hören Sie sich um, wo Vanessa abgeblieben sein könnte. Wenn Sie sie gefunden haben, versuchen Sie, aus ihr herauszukriegen, warum sie das getan hat.«

»Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll, zu suchen. Vermutlich hält sie sich längst nicht mehr in Düsseldorf auf.« Wie stellte Szabo sich das vor? Harry hatte keinerlei Erfahrung mit dem Auffinden vermisster Personen. Vanessa konnte Gott weiß was zugestoßen sein.

»Wie wäre es mit dem Flughafen? Sie hat ihr Gepäck abgeholt und eine Zeitlang auf Adam gewartet. Als er nicht kam und sie ihn telefonisch nicht erreichen konnte, hat sie mich angerufen und mir mitgeteilt, dass sie auf unseren Ausweichplan zurückgreift. Dieses Telefongespräch war das letzte Lebenszeichen von ihr. Vielleicht hat sie zunächst nach einer Übernachtungsmöglichkeit gesucht. Klappern Sie die Hotels in Flughafennähe ab. Die Schalter am Hauptbahnhof. Sie kriegen das schon hin, Harry.«

»Selbst wenn ich sie finde. Ich glaube nicht, dass ich sie überreden kann, mit mir zurückzukommen.«

»Das brauchen Sie nicht. Ich will wissen, wo Vanessa steckt. Und ich will wissen, was sie sich dabei gedacht hat.«

Harry setzte zu einer Antwort an, doch jeder Satz, den er sagen wollte, begann mit einem »Aber«. Und er ahnte, dass der Boss kein »Aber« akzeptierte. Wenn Szabo sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht umzustimmen.

»Enttäuschen Sie mich nicht.« Damit war die Sache für Szabo erledigt. Er nahm die Serviette vom Schoß und tupfte geziert seinen Mund ab, was zu seiner robusten Statur überhaupt nicht passte.

»Finden Sie heraus, dass Vanessa wohlauf ist. Schon diese Information wird mich ruhiger schlafen lassen.«

»Ich werde Auslagen haben.«

»Natürlich. Das hier ist für Spesen.« Szabo zog einen Umschlag aus seiner Brieftasche und schob ihn über den Tisch. »Sie kriegen zehntausend, wenn Sie Vanessa finden oder mir glaubhaft versichern können, dass es ihr gut geht.«

Harry nahm den Umschlag entgegen. »Ich fahre noch heute Vormittag.«

»Tun Sie das.« Szabo blickte auf seine Armbanduhr. »Ich muss los. Ich habe einen wichtigen Termin. Die Geschäfte nehmen keine Rücksicht auf meinen Kummer.«

»Wie viel Zeit habe ich, sie zu finden?«, fragte Harry schnell.

Szabo zögerte kurz. »Eine Woche? Wenn Sie bis dahin keine Spur von ihr haben, kommen Sie zurück.«

»Okay. Ich melde mich, sobald ich etwas herausgefunden habe.«

Harry schaute Szabo hinterher. Der Boss hielt im Eingangsbereich kurz an und wechselte ein paar Worte mit dem Kellner. Harry wartete, bis er zur Tür hinaus war, dann schob er den Umschlag unter den Tisch und öffnete ihn, um das Geld zu zählen. Es würde reichen für eine Woche Hotelunterkunft, Kost und Logis und um den einen oder anderen Barkeeper zu schmieren, um sein Erinnerungsvermögen aufzufrischen. In dem Umschlag befanden sich auch Fotos von der schönen Vanessa. Die würde er brauchen, wenn er jemanden nach ihr fragte. Im Prinzip war der Auftrag nicht schlecht. In Kneipen abhängen, auf Szabos Kosten essen und trinken. Dann kam er wenigstens ein paar Tage raus aus der Stadt. Weg von den Geldeintreibern. Düsseldorf kam gut. Er glaubte nicht, dass er eine Chance hatte, Vanessa zu finden. Aber die Zehntausend brauchte er dringend.

Der Kellner schaute wenig interessiert zu ihm herüber.

»Ist der Schampus noch da, den der Boss nicht trinken wollte?«, fragte Harry.

Der Kellner guckte pikiert, gab aber keine Antwort.

War wohl besser so. Harry hatte schließlich einen Job zu erledigen und musste heute noch mehrere hundert Kilometer weit fahren. Er würde die Koffer packen, sich auf den Weg machen und am späten Nachmittag in Düsseldorf ankommen. Dort würde er etwas zu Abend essen und noch heute mit der Suche nach Vanessa beginnen.

Harry nickte dem Kellner zu. Der glotzte nur zurück. Harry stand ihm in der Hackordnung der Angestellten des Bosses wohl nicht weit genug oben. War nur der Handlanger vom Boss. Warte nur ab, du bist schneller draußen, als du den nächsten Drink abgeliefert hast, dachte Harry. Wenn du dir nicht merken kannst, worauf der Boss Wert legt, bist du blitzschnell weg vom Fenster.

Er verließ das Golden Shot und setzte sich in seinen Wagen. Den Umschlag mit dem Geld verstaute er im Handschuhfach. Erstmal nach Hause und die Reise planen, dachte er. Er stieß die Luft aus, schloss die Augen und überlegte, was er alles brauchte für eine Woche, und ob er irgendwelche Termine absagen musste. Da klingelte sein Smartphone. Er holte es aus der Jeanstasche und schaute aufs Display.

Sein bester Freund rief an.

3

Tom und Harry

Harry stand zehn Minuten später vor der Tür. Haargel hielt seine Vokuhila-Frisur in Form. Der eitle Gockel stylte sich jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen ausgiebig, was ihn nicht davon abhielt, die längst überholte Mode der Achtziger zu bevorzugen. Sein knallbuntes Hemd trug er in die Jeans gestopft. Die Füße steckten in mit Nieten beschlagenen Cowboystiefeln. Harry sah nicht schlecht aus, aber sein Modegeschmack war katastrophal. An einem anderen Tag hätte sich Tom eine Bemerkung wegen Harrys Aufzug nicht verkneifen können. Heute registrierte er diese Dinge nur am Rande.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte er. »Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollte.«

»Gut, dass du mich angerufen hast, mein kleiner Freund.« Harry war zwei Monate älter als Tom und ritt seit ihrer Kindheit darauf herum, als wären es zwanzig Jahre. Mit zehn hatte es einen Unterschied gemacht; heute war es eine Floskel, die Tom nicht mehr hören konnte.

Harry marschierte direkt an ihm vorbei in die Küche und nahm Platz. »Setz dich«, sagte er, als wäre er selbst der Gastgeber. Er verschränkte die Hände auf dem Küchentisch und sah Tom erwartungsvoll an. Tom setzte sich ihm gegenüber.

»Jetzt erzähl mal. Was ist passiert?«

»Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Sie liegt einfach da.«

»Wo?«

»Mitten im Wald, ich kann dich hinführen.«

»Was hast du eigentlich so früh im Wald getrieben?«

»Ich war joggen, wie jeden Morgen«, sagte Tom. »Das weißt du doch. Ich laufe täglich dieselbe Strecke. Gestern war die Leiche noch nicht da. Sie liegt ein Stück abseits des Weges im Unterholz.«

Harry forderte ihn mit einer Handbewegung auf, weiterzusprechen.

»Zwischen den Bäumen habe ich etwas Rotes gesehen und bin darauf zugegangen. Es waren ihre Shorts. Ich habe Vanessa nicht angefasst, aber ich habe deutlich gesehen, dass sie tot ist.«

»Bist du sicher, dass sie nicht nur bewusstlos ist? Du bist kein Arzt. Sie könnte noch am Leben sein.«

»Sie hat nicht geatmet. Mensch, Harry, ich habe meine eigene Mutter sterben sehen. Ich weiß, wie ein toter Mensch aussieht.«

»Ist sie verletzt? Hast du Wunden gesehen, Blut, Knochenbrüche … Ich meine, einen Grund, warum sie gestorben ist.«

»Mir ist nichts aufgefallen.«

»Wie ist sie angezogen?«

»Wieso fragst du?« Tom massierte seine Schläfen. »Rote Shorts, braunes T-Shirt … ein goldenes Armband.« Jedes Detail der Toten hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. »Und Sandalen.«

Harry zuckte die Schultern. Er hätte Szabo fragen sollen, welche Garderobe Vanessa in ihren Koffer gepackt hatte, als sie nach Curaçao losgezogen war. Oder wohin auch immer. Einen lausigen Detektiv gab er ab.

»Es ist zweifellos Vanessa Kramer. Ich habe sie deutlich erkannt. Ich bringe dich hin, damit du dich selbst überzeugen kannst. Und dann …« Er schwieg kurz. »Ich wollte die Bullen nicht anrufen. Du weißt schon.«

Es war weit hergeholt. Tom Merten war ein Jogger, der eine Tote im Laub entdeckt hatte. Ihm war nichts nachzuweisen. Aber er wusste aus leidlicher Erfahrung, wie die Bullen tickten. Vanessa Kramer war eine Person des öffentlichen Lebens, eine VIP; der Druck der Öffentlichkeit würde die Bullen dazu zwingen, den Fall schnell aufzuklären, und wenn da ein vorbestrafter Bürger wie Tom Merten involviert war, hatten sie ihren Verdächtigen auf dem Silbertablett. Ein stundenlanges Verhör oder die Vorstellung, dass er mit einem Mordfall in Zusammenhang gebracht wurde, konnte er sich nicht leisten.

»Klar«, sagte Harry. »Weiß ich. Ich will die Bullen aber auch nicht anrufen. Ruckzuck finden die heraus, dass ich Vanessa kenne. Und wie soll ich erklären, was ich im Wald zu suchen hatte?«

»Du kannst Szabo informieren. Dann kann er sich darum kümmern.«

»Szabo wird ebenfalls wissen wollen, wann, wie und wo wir sein Mädchen gefunden haben. Er hat keinen Grund, dich zu decken, und ist genauso interessiert daran, herauszufinden, was passiert ist. Am Ende würden die Bullen doch vor deiner Tür stehen.«

»Natürlich«, sagte Tom resigniert. »So weit hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich wusste nicht, was ich sonst tun soll. Ich kann sie ja nicht einfach da liegen lassen.«

»Es wäre die am wenigsten komplizierte Lösung«, sagte Harry.

»Es wäre nicht richtig.«

»Tom Merten, du bist zu gut für diese Welt«, sagte Harry. «Ich erzähle dir jetzt mal was. Als du angerufen hast, kam ich gerade von einem Gespräch mit meinem Boss aus dem Golden Shot. Szabo vermisst Vanessa seit zwei Tagen.«

»Und das sagst du mir erst jetzt?«, fragte Tom ungläubig.

»Ich wollte mich zunächst vergewissern. Mir das hier selbst anschauen.«

»Du musst es Szabo sagen.«

»Vanessa ist nicht einfach nur Szabos Mädchen«, sagte Harry. »Sie arbeitet für ihn. Macht Kurierdienste. Sie ist ein Muli. Eine Schluckerin.«

»Eine was?«

»Vanessa fliegt regelmäßig in die Karibik. Offiziell gibt sie vor, Urlaub zu machen, mietet sich in einem hübschen Hotel mit vier oder fünf Sternen und allem Firlefanz ein. Tut so, als würde sie Cocktails an der Poolbar trinken und am Strand nach Muscheln suchen. In Wahrheit trifft sie sich mit Szabos Leuten. Schluckt Päckchen mit Kokain und bringt sie unbemerkt auf dem Rückflug nach Deutschland.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Tom.

»Woher auch? So etwas posaunt man schließlich nicht in der Gegend herum. Szabo hat mir erzählt, dass er Vanessa vorgestern zurückerwartet hatte. Sie hat ihren Mittelsmann verpasst, der sie sonst am Flughafen abgeholt und sich um alles Weitere gekümmert hat. Das Zeug muss ja wieder raus, verstehst du? Also ist sie in den Zug gestiegen und direkt nach Hause gefahren.«

Toms Mund wurde trocken. »Willst du etwa sagen, dass …«

»Ja, will ich. Vanessa hat eine ordentliche Ladung Kokain im Bauch. Sie muss bis oben hin damit vollgestopft sein.« Er neigte abwägend den Kopf. »Das Zeug ist vermutlich hundertfünfzigtausend wert.«

Tom verschlug es die Sprache. Er hatte wenig Ahnung von diesen Drogenkurierdiensten. Er wusste, dass Szabo in Drogengeschäfte involviert war – das hatte Harry schon einmal angedeutet -, aber ihm war nicht klar gewesen, dass es diese Ausmaße erreichte. Und schon gar nicht hätte er gedacht, dass sich eine derart schöne Frau in dieses schmutzige Geschäft verwickeln ließ. Drogenpakete verschlucken und schmuggeln, das hatte er sich nicht als Job für jemanden wie Vanessa vorgestellt. Er hatte sie für eine Diva gehalten. Er stellte sich vor, wie sie sich auf einer Couch aus Veloursleder räkelte, Szabo bei Laune hielt, teure Geschenke von ihm annahm und herumzickte, wenn ihr eine Kleinigkeit nicht passte. Sich vorzustellen, wie Vanessa mühsam ein Päckchen mit Kokain nach dem anderen hinunterwürgte, fiel ihm schwer.

Harry stand auf. »Ich will mir das jetzt ansehen. Hast du irgendwo Gummihandschuhe?«

*

Es war mittlerweile elf Uhr vormittags. Die Hundebesitzer waren mit ihrer morgendlichen Gassi-Runde durch. An Wochentagen hielt sich die Schar der Wanderer in Grenzen, anders als samstags oder sonntags. Dennoch bestand eine geringe Chance, dass ein Spaziergänger oder Tagesausflügler die Stelle passierte, von der aus Tom Vanessas Leichnam erblickt hatte. Jeden Moment konnte ihnen jemand begegnen. Oder selbst die Tote finden.

Ein älterer, grimmig dreinblickender Mann kam ihnen als Einziger entgegen. Sie grüßten ihn freundlich. Misstrauisch starrte er Tom und Harry an, ohne zu antworten. Tom beschlich sofort ein ungutes Gefühl. Er war mit seinem Freund zusammen unterwegs zu einer Leiche und wollte niemanden sehen, und schon gar nicht dabei gesehen werden. Viel lieber hätte er Harry den Weg beschrieben und ihn alleine losgeschickt. Er selbst kannte den Wald wie seine Westentasche, aber aus dem Stegreif war er nicht in der Lage, Harry die schmalen Pfade und Abzweigungen zu erklären, die man nehmen musste, um zur Fundstelle der Leiche zu gelangen. Zumal sich Harry, Stadtmensch mit Leib und Seele, im Wald nicht die Bohne auskannte.

Die Luft war merklich kühler und angenehmer als in der sengenden Junisonne in Toms Garten. Toms Haut juckte am ganzen Körper. Er hatte beim Joggen stark geschwitzt, und das Entsetzen über den Leichenfund regte seine Schweißproduktion zusätzlich an. Er stank regelrecht, das konnte er riechen. Er fühlte sich nicht wohl in seinem eigenen Körper, hätte seine juckende Haut am liebsten abgestreift, wie eine Schlange es tat.

Beide Männer schwiegen beim Gehen. Nur ihr Atem war zu hören inmitten der Geräusche des Waldes, dem Vogelgezwitscher und dem Flüstern der Blätter, dem Knacken der Zweige. Ein Eichhörnchen huschte verstohlen über den Weg, hielt kurz inne, witterte mit schief gelegtem Kopf in ihre Richtung und verschwand blitzschnell im Gebüsch. Harry bemerkte es nicht. Er betrachtete beim Laufen den Boden und schien tief in Gedanken versunken.

Auch Tom grübelte. Was würde er tun, wenn die Leiche mitsamt den Drogen mittlerweile von jemand anderem gefunden worden war? Wenn es im Wald von Polizisten und Spürhunden nur so wimmelte? Wenn plötzlich ein Beamter auf dem Weg stand und begann, sie auszufragen: Was tun Sie hier, wir haben Schuhabdrücke in der Nähe der Leiche gefunden, vom Profil her Sportschuhe, könnte Ihre Größe sein, wir müssen Sie bitten, mitzukommen aufs Revier. Tom versuchte, die Ohren zu spitzen wie ein Terrier. Aber er konnte keine ungewöhnlichen Geräusche vernehmen, kein aufgeregtes Stimmengewirr, keine heulende Polizeisirene. Der Wald war verlassen.

Dreißig Minuten später erreichten sie die Stelle, an der Tom das rote Stück Stoff zwischen den Bäumen aufgefallen war. Die Shorts leuchteten ihm entgegen wie ein trauriges Fähnchen.

Er blieb stehen. »Da ist sie.«

Harry hielt inne und starrte angestrengt in den Wald. »Ich hätte sie glatt übersehen, wenn du nichts gesagt hättest. Du hast verdammt gute Augen, weißt du das?«

Tom wusste nur, dass er Angst hatte. Er bereute seinen Entschluss, noch einmal zurückzukehren, aber nun war es zu spät für einen Rückzieher.

»Ich bin hier einmal mit Jenny gewesen«, sagte er. »Deswegen habe ich genauer hingeschaut. Alte Erinnerungen.«

»Du bleibst hier stehen«, sagte Harry. »Falls jemand vorbeikommt.«

»Nein, ich gehe mit dir.«

Harry widersprach nicht. Nervös schaute er nach links und nach rechts. Niemand war zu sehen. Sie verließen den Weg und steuerten durch das Dickicht auf die tote Frau zu.

Harry stemmte die Fäuste in die Hüften und betrachtete schweigend die Leiche. Er wirkte wie ein Kommissar, der die Atmosphäre eines Tatortes in sich aufsaugte. Tom stand daneben und warf immer wieder unruhige Blicke zurück zum Weg. Niemand zeigte sich.

»Okay«, sagte Harry. »Okay. Es ist zweifelsfrei Vanessa, und sie ist zweifellos tot. Verdammt noch mal.« Sein Blick schweifte durch den Wald und blieb an dem Koffer hängen. »Schau mal, was da drüben liegt.«

»Ein Koffer. Hatte ich vergessen, zu erwähnen.« Tom knetete nervös seine Hände.

»Sie wird nicht wieder lebendig, egal, was du tust«, sagte Harry. »Aber die Bullen werden dir keine Ruhe lassen, wenn du sie rufst, das weißt du doch?«

Tom wusste das. Trotzdem hatte er sich insgeheim gewünscht, dass Harry ihn darin bestärkte, das einzig Richtige zu tun: den Fund zu melden. Aber er würde sich eine Menge Ärger einhandeln, denn die Bullen würden einem kleinen Gauner wie ihm nicht glauben. Sie würden auf Herz und Nieren überprüfen, was er die letzten Tage getan hatte. Tom war viel alleine gewesen und hatte in seiner Werkstatt vor sich hin gewerkelt, wie meistens, und es gab niemanden, der das bezeugen konnte. Vanessa war tot, daran gab es nichts zu rütteln; sie würde mit Sicherheit früher oder später gefunden werden.

Auch Harry war bei der Polizei kein unbeschriebenes Blatt. Er konnte es sich genauso wenig leisten, mit einer Leiche in Verbindung gebracht zu werden.

Dennoch. Tom wollte etwas für sie tun. Eine junge Frau lag tot im Wald. Käfer krochen über ihren Körper, Fliegen legten Eier hinein. In jeder Sekunde, in der sie da lag. So etwas hatte niemand verdient.

»Harry, ich denke, jemand hat Vanessa vergewaltigt«, sagte Tom mit belegter Stimme. »Dann hat er sie umgebracht und in den Wald geworfen. Ein Sexualverbrechen.«

»Nein«, sagte Harry. »Das glaube ich weniger.« Er legte den Kopf schief und lauschte. »Hörst du das?«

Tom schaute sich erschrocken um. »Kommt jemand?« Dann vernahm er das leise Brummen eines weit entfernten Autos.

Harry spähte angestrengt zwischen die Bäume in Richtung der Böschung. »Was ist da oben?«, fragte er.

»Die Straße.«

»Dann kommt Vanessa von dort, oder?«

Im dichten Blattwerk konnte man das obere Ende der Böschung nicht erkennen. Sie führte zu einer schlecht ausgebauten und wenig frequentierten Straße. Die Stadt breitete sich wie ein U um dieses Waldstück herum aus, und diese Straße bildete eine Abkürzung zwischen den beiden Ausläufern wie das rissig gewordene Gummiband einer Steinschleuder. Enge Kurven schlängelten sich durch den Wald, Wild wechselte rege von einer Seite zur anderen. Ein Zusammenstoß zwischen einem Wildschwein und einem Motorradfahrer im letzten Jahr, der für beide Parteien tödlich geendet hatte, hatte schließlich das Verkehrsaufkommen auf dieser Strecke auf wenige Autos täglich heruntergeschraubt. Die Einwohner bevorzugten die sicherere, längere Strecke durch die Stadt.

»Sie ist oben an der Straße entlanggegangen«, sagte Harry. »Sie wurde angefahren und ist abgestürzt.«

»Von wem?«

Harry rollte die Augen. »Du stellst Fragen. Woher soll ich denn das wissen?« Er machte sich auf, die Böschung zu besteigen. »Kommst du?«

Tom folgte ihm. Mücken schwirrten hektisch um sein Gesicht, angezogen von seinem klebrigen Gesichtsschweiß. Das Erklimmen der steilen Böschung erwies sich auch für den gut trainierten Tom als anstrengend. Die angenehm kühle Waldluft wich einer drückenden Hitze, je höher sie kamen. Die Hitze staute sich in Toms Körper wie ein Fieber, entfachte eine innere Panik und weckte den Wunsch, weit wegzulaufen. Immer wieder stiegen sie über umgestürzte Bäume und struppiges Gebüsch. Er war erleichtert, als sie den Waldrand mit der Straße erreichten, fühlte sich aber auch wie auf dem Präsentierteller und wäre am liebsten ins schützende Gebüsch zurück geflüchtet.

Harry holte ein Taschentuch aus seiner Jeanstasche und tupfte geziert den Schweiß von seiner Stirn. Anschließend zupfte er gewissenhaft seine Frisur in Form.

Die Straße bildete hier eine langgezogene Kurve. Rot-weiße Hinweisschilder warnten Autofahrer vor der scharfen Biegung: Genau hier passierten die meisten Autounfälle, das wusste Tom. Es gab keinen Radweg, den ein Fußgänger hätte benutzen können. Unmittelbar hinter den Leitplanken führte die Böschung steil nach unten.

»Es ist eine unübersichtliche Stelle«, sagte Harry. »An die Geschwindigkeitsbegrenzung von siebzig Stundenkilometern halten sich trotzdem die wenigsten. Wenn einer angerauscht kommt und einen Fußgänger erwischt, wird er – oder sie - die Böschung hinuntergeschleudert.«

»Warum sollte Vanessa diese Straße entlanglaufen?«, fragte Tom.

»Vielleicht, weil sie in der Stadt nicht gesehen werden wollte.«

Tom spähte die Böschung hinunter. Wenn ein Fußgänger mit Wucht von einem Auto gerammt wurde, konnte es gut sein, dass er über die Leitplanke in den Wald geschleudert wurde und den Abhang hinunterstürzte. Die Stelle mit den Holunderbüschen und den Kastanienbäumen und mit Vanessa war von hier aus nicht zu sehen, dazu war das Gestrüpp zu dicht.

»Er hat Fahrerflucht begangen«, sagte Harry.

»Wenn es sich so zugetragen hat, wie du sagst«, sagte Tom. »Du kannst das nicht wissen.«

»Wie soll es sonst gewesen sein? Wenn Vanessa überfallen und weggeschleppt worden wäre, läge doch nicht ihr Koffer da unten. Sie ist irgendwo gegengeknallt und hat sich das Genick gebrochen oder irgendwelche inneren Verletzungen zugezogen, was weiß ich.«

Tom überlegte. Dieses Szenario war gut möglich. Der Fahrer war nach dem Aufprall panisch weitergefahren. Vielleicht war er auch ausgestiegen und hatte nach Vanessa geschaut. Vielleicht hatte er sie in seiner Verzweiflung sogar noch tiefer in den Wald hineingetragen, als er feststellte, dass sie tot oder schwer verletzt war. Damit man ihm nicht auf die Schliche kam.

Verstohlen blickte er die Straße entlang. »Lass uns verschwinden. Jeden Moment kann ein Fahrzeug kommen.«

»Es ist nicht verboten, hier zu stehen.«

»Der Fahrer könnte zurückkommen, wenn ihm aufgeht, was er getan hat. Wenn ihn sein Gewissen quält. Vielleicht sogar mit der Polizei. Dann möchte ich nicht hier herumstehen.«

»Okay, du hast recht.« Harry nickte.

Sie stiegen die Böschung wieder hinab. Obwohl Tom darauf achtete, sich nicht allzu sehr die Beine zu zerkratzen, konnte er die eine oder andere Schramme nicht vermeiden. Die Zweige schienen nach ihm zu greifen, ihn festzuhalten, ihre Dornen in sein Fleisch zu graben: Hiergeblieben! Du gehörst zu uns. Vanessa lag einsam in ihrem Bett aus Moos wie eine Schwerstkranke in einem vergessenen, grün gestrichenen Zimmer am Ende des Krankenhausflurs. Tom betrachtete ihre langen, glatten Beine. Sie waren perfekt, trotz der Leichenflecke an den Unterseiten. Tom konnte keine Kratzer an ihnen entdecken.

»Ich verstehe nicht, was sie auf dieser Straße zu suchen hatte«, sagte er. »Meinst du, jemand hat ihr das Kokain abgenommen und sie anschließend getötet? Dann hat er ihre Leiche hier abgelegt …«

»So läuft das doch nicht, Tom. Du guckst zu viele Krimis im Fernsehen. Rauschgifthändler schmeißen Leichen nicht in den Wald, wo jeder sie finden kann und in ihrem Körper Spuren von Drogen nachgewiesen werden können. Die sorgen dafür, dass die Leiche nicht wieder auftaucht. Außerdem ist da der Koffer. Den hätten sie mit ihr verschwinden lassen.«

Tom musste an Betonklötze denken, die man an leblose Füße band und das ganze Paket in einem tiefen See oder Fluss versenkte. Das war eine ganz andere Geschichte als das bisschen Marihuana, mit dem er seinerzeit mit Harry zusammen gedealt hatte.

»Okay«, sagte er. »Das reicht. Wir gehen jetzt zurück und ich rufe anonym die Polizei an.«

»Und denen fällt natürlich nichts Besseres ein, als den Anruf zurückzuverfolgen.«

»Von einer öffentlichen Telefonzelle aus vielleicht.« Tom überlegte fieberhaft, wo es in der Stadt noch eine gab.

»Willst du das Geld ernsthaft den Bullen schenken?«

Tom bekam langsam eine Ahnung davon, was sein alter Kumpel vorhatte. Sein Magen verknotete sich. »Du meinst, wir holen das Zeug aus ihr heraus, und rufen dann erst an?«, fragte er aufgebracht.

»Nein. Ich meine, wir holen es aus ihr heraus und rufen gar niemanden an. Wir verticken das Zeug. Basta.«

»Ich mache nicht mit«, sagte Tom.

»Wir teilen uns das Geld.«

»Nein.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Harry. »Deine Hände bleiben sauber. Du bekommst dein Geld, den Rest erledige ich. Ich kenne da jemanden, der uns helfen kann. Ich lasse mich nicht erwischen. Und selbst wenn: Dein Name wird nicht fallen.«

»Das glaube ich dir sogar«, sagte Tom. »Du bist der loyalste Freund, den man sich denken kann. Trotzdem. Auf mich kannst du nicht zählen.«

Harry griff in seine Hosentasche und förderte die Gummihandschuhe zutage. »Vielleicht überzeugt dich eine kleine Kostprobe«, sagte er.

»Das willst du nicht wirklich tun, oder?«, fragte Tom panisch.

»Nein«, sagte Harry. »Ich will das nicht tun. Aber ich wäre blöde, wenn ich es nicht tun würde.«

»Harry, nein!«

Harry ignorierte ihn. Er kniete sich neben Vanessa und streckte vorsichtig seine Hand nach ihrem Schoß aus. Er zögerte, und Tom hoffte, dass er es sich anders überlegte. Aber dann schien Harry über seinen Schatten zu springen. Beherzt schob er seine Hand unter ihr Gesäß und bohrte zwei Finger in ihren Anus.

»Verdammt«, keuchte Tom. Er trat einen Schritt zur Seite und übergab sich ins Gebüsch.

»Um Himmels willen, Tom! Du Idiot!« Harry sprang auf.

Tom keuchte und wischte sich mit der Hand über den Mund. Vor dem Joggen gönnte er sich nur ein paar Tassen Kaffee. Er hatte eine wässrige, braune Brühe erbrochen. Sein Magen versuchte krampfhaft, etwas loszuwerden, was gar nicht darin war, und Tom würgte mehrmals heftig. Es schmerzte. Die saure Flüssigkeit brannte ätzend in seinem Hals.

»Ein Haufen Erbrochenes neben einer Leiche«, zeterte Harry herum. »Dümmer geht's wohl nicht. Warum stellst du nicht gleich ein Selfie von uns dreien ins Netz?« Er zerrte die Gummihandschuhe von den Händen und stopfte sie in seine Hosentasche. »Wir waren hier! Harry Roeder, Tom Merten und Vanessa, die Leiche.«

Unglücklich wischte sich Tom mit der Hand über den Mund. »Ich hätte nicht geglaubt, dass du zu so etwas fähig bist«, stammelte er.

»Was hast du denn gedacht? Dass das Kokain herauskriecht wie eine Kobra, während ich die Blockflöte spiele wie ein Schlangenbeschwörer?« Harry schnaubte. »Okay. Tut mir leid. Wir müssen deine Schweinerei wegmachen, so gut es geht.« Er hob einen Zweig vom Boden auf und wischte damit in den Büschen herum, auf die sich Tom übergeben hatte.

»Hier neben deiner gesammelten DNA können wir Vanessa eigentlich gar nicht liegen lassen.«

»Du willst sie von hier wegbringen?«

»Schon mal was von Spurensicherung gehört? Wenn Vanessa gefunden wird, wird jedes Blatt am Tatort untersucht.«

Tom wurde erneut übel. Er drehte sich um und ging zum Weg zurück. »Das ist nichts für mich«, sagte er. »Ich kann das nicht. Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht herbringen sollen.«

Harry schob mit den Füßen das Laub hin und her, versuchte Toms Mageninhalt so gut wie möglich in den Waldboden einzureiben. Er raffte loses Blattwerk und Zweige zusammen und häufte beides über die Leiche. Bald war Vanessa vom Weg aus kaum noch zu sehen.

»Ich kümmere mich um alles Weitere«, sagte Harry. »Wir warten, bis es dunkel ist, dann komme ich wieder und bringe Vanessa von hier weg. Irgendwohin, wo ich in Ruhe den Stoff aus ihr herausholen kann.«

»Und was wird dann aus ihr?«, fragte Tom fahrig.

Harry schwieg lange, bevor er antwortete. Dann sagte er: »Vielleicht werfe ich Vanessa in den Fluss. Das Wasser wird alle Spuren verwischt haben, bis sie an Land gespült und gefunden wird.« Er klopfte Tom sanft auf den Rücken. »Gehen wir.«

Tom warf einen letzten Blick zurück auf die Tote. Wie wunderschön sie war. Und er dachte an das unbarmherzige Wasser, das diesen exquisiten Körper auftreiben und in eine widerwärtige Wasserleiche verwandeln würde.

*

Die Sonne stand hoch am Himmel. Ihre Strahlen durchdrangen das Blätterdach und warfen bizarre Lichtfiguren auf den Waldboden, die zu tanzen schienen und ständig ihre Umrisse veränderten. Sie erinnerten Tom an einen verrückten Rorschach-Test aus Schattenklecksen. Überall glaubte er, Formen und Figuren in ihnen zu erkennen. Die Kühle des Waldes war einer drückenden, feuchten Schwüle gewichen. Kein Mensch begegnete ihnen auf dem Rückweg, worüber Tom sehr erleichtert war.

Sein Haus begrüßte die beiden Männer still und leer und mit von der Sonne aufgeheizten Räumen. Sie begaben sich in die Küche, wo Harry an den Kühlschrank trat und eine Flasche Mineralwasser herausnahm. Er setzte sie an den Mund und trank sie in einem Zug aus.

»Gott, habe ich einen Durst«, sagte er. »Scheiß-Hitze.« Er öffnete die Tür zur Veranda einen Spalt. Die hereinströmende Luft war noch wärmer, aber Tom beschwerte sich nicht.

»Kann ich vorerst bei dir bleiben?«, fragte Harry. »Szabo soll denken, ich wäre in Düsseldorf.«

»Sicher«, sagte Tom geistesabwesend. Er blickte aus dem Fenster. Über dem Dach des Schuppens ragten die Wipfel der Bäume auf, wippten ihm grüßend zu. Wir wissen etwas, was du nicht weißt. Wir wissen, was mit Vanessa geschehen ist. Der Wald war ihm immer freundlich erschienen, dunkelgrün, ein Kraft spendender Ort zum Auftanken, zum Sorgen abstreifen. Jetzt wirkte er geheimnisvoll und undurchdringlich.

»Meinst du, sie hat noch gelebt, nachdem sie abstürzte?«, fragte er mit belegter Stimme.

»Das muss uns egal sein, hörst du?«, sagte Harry.

»Ist es aber nicht.«

»Trinken wir erstmal einen Kaffee, und dann überlegen wir in aller Ruhe, was zu tun ist.« Harry trat an die Kaffeemaschine und hantierte ungeschickt daran herum. »Wie geht die?«

Tom holte zwei Tassen von der Fensterbank und zeigte Harry, wie man den Automaten bediente. Schnell erfüllte der aromatische Geruch von Kaffee die Küche. Tom schielte nach seinem Smartphone, das auf dem Fensterbrett lag. Er fühlte sich unwohl und dachte, dass er doch besser die Polizei gerufen hätte. Allerdings wollte er jetzt, wo er von dem Kokain wusste, noch weniger in die Geschichte hineingezogen werden als zuvor.

»Woher weißt du eigentlich von den Drogen?«, fragte er.

»Schon vergessen, warum du mich angerufen hast? Ich arbeite für Szabo, Mann.« Harry pustete in seinen Kaffee. »Vanessa ist von ihrer Tour nicht zurückgekehrt. Szabo will, dass ich nach ihr suche. Ich sollte herausfinden, ob sie die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und sich mit der Ware aus dem Staub gemacht hat – oder ob es unterwegs einen Zwischenfall gab, gleich welcher Art.«

»Eins der Päckchen könnte geplatzt sein, oder?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ich hoffe, dass die Ware bei ihrem Absturz nicht beschädigt wurde.«

Seine Kaltschnäuzigkeit irritierte Tom. Ihm entging jedoch nicht, wie Harrys hervorstehender Adamsapfel beim Schlucken auf und ab hüpfte wie ein Jo-Jo. Bei Harry war das ein Zeichen von Nervosität. Wenn er etwas in Angriff nahm, das eigentlich eine Nummer zu groß für ihn war. Tom vermutete, dass Harry mit seiner schroffen Art seine Anspannung überspielte.

»Was hat dir Szabo dafür geboten, Vanessa mitsamt dem Kokain zurückzubringen?«, fragte er.

»Nicht genug.« Harry spie die Worte aus.

»Nimm es. Er wird bezahlen, wenn du ihn zu ihrer Leiche führst. Und dann habe ich kein Problem, einen kleinen Anteil zu nehmen, wenn du Geld von ihm bekommst.«

»Ich sagte: Er bezahlt nicht genug. Es wäre ein Klacks gegen den Erlös aus dem Verkauf des Kokains.«

»Aber Vanessa wird vermisst werden.«

»Von wem denn? Von Szabo? Der vermisst sein Geld, sonst nichts. Glaub mir.«

»Mir gefällt das nicht.«

»Vanessa war eine Bitch. Sie hätte keine Bedenken gehabt, das Zeug irgendwelchen Vierzehnjährigen anzudrehen, wenn sie dafür Kohle gekriegt hätte.« Harry fischte eine zerknüllte Packung Zigaretten aus der Brusttasche seines Jeanshemdes. »Verdammt, ich brauche eine Kippe. Hast du einen Aschenbecher?«

»In meiner Küche wird nicht geraucht.«

Harry zündete eine Zigarette an und schnippte die Asche in seine leere Kaffeetasse, als hätte er Tom nicht gehört. Tom dachte daran, dass Harry und er zwar nicht mit vierzehn mit Dope zu tun gehabt hatten, aber mit knapp sechzehn. Sie hatten das Zeug selbst genommen und ein bisschen damit gehandelt. Er konnte sich nicht erinnern, was er getan hätte, wenn ein Vierzehnjähriger etwas hätte kaufen wollen. Vermutlich hätte er ihm bedenkenlos den Stoff angedreht. Aber das war Jahre her. Mittlerweile war er Vater und dachte ganz anders darüber.

Und hier ging es nicht um ein bisschen Haschisch und Speed, sondern, wenn er Harry Glauben schenkte, um eine beträchtliche Ladung astreines Kokain.

Harry blies den Rauch durch die Nüstern wie ein wütender Drache. »Wie geht es eigentlich deiner Tochter?«, fragte er.

Tom seufzte. Er hatte geahnt, dass Harry früher oder später darauf zu sprechen kommen würde. Harry wusste genau, welche Knöpfe er drücken musste, um Tom weichzuklopfen.

»Nicht so gut«, sagte er. »Sie sieht nur noch in Schwarzweiß-Schattierungen. Die Sehkraft ihres linken Auges beträgt gerade einmal dreißig Prozent. Jenny und ich warten verzweifelt auf den Anruf aus der Klinik. Wegen der Hornhauttransplantation.«

»Wollt ihr Yasmin das nicht ersparen? Ich dachte, sie hätte solche Angst davor.« Harry beugte sich vor. »Sie hat doch Albträume deswegen, oder nicht? Weil sie Angst hat, die Augen eines Toten zu bekommen?«

»Ja, sie hat große Angst«, sagte Tom resigniert. »Aber wir haben keine andere Wahl. Ohne die Transplantation würde Yasmin erblinden.«

»Ich dachte, es gäbe eine Alternativbehandlung.«

»Ich habe das Geld dafür nicht.«

Yasmin litt an einer seltenen Verformung der Hornhaut beider Augen. Ihre Mutter hatte eine Odyssee von Augenarzt zu Augenarzt hinter sich, bis die endgültige Diagnose gestellt worden war: Keratokonus. Die Krankenkasse genehmigte eine Hornhauttransplantation und lehnte den Antrag auf Kostenübernahme für die elegantere Verdickung der Hornhaut mittels Vitaminen und UV-Licht, Crosslinking genannt, ab. Weder Tom noch Jenny besaßen genügend Geld, um diese kostspielige Behandlung aus eigener Tasche zu bezahlen. Tom hatte das Harry schon mindestens fünfmal erzählt. Er wusste, warum sein Freund sich dumm stellte und jetzt auf diesem Thema herumkaute. Harry versuchte, ihn mit beiläufiger Grausamkeit daran zu erinnern, dass er dringend Geld brauchte.

»Ich kümmere mich darum, dass Yasmin die Transplantation erspart bleibt«, sagte Harry. »Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut werden. Vertrau mir.«

»Ich will nichts mehr davon hören. Ich gehe duschen«, sagte Tom und stand abrupt auf.

»Und ich gehe einkaufen. Dein Kühlschrank ist leer.« Harry erhob sich ebenfalls. »Worauf hast du Appetit?«

»Momentan auf gar nichts.«

»Ich bin gleich wieder zurück. Bleib anständig.«

Tom stellte den Wasserstrahl in der Dusche so heiß ein, wie er es gerade noch aushalten konnte. Er schrubbte sich zweimal gründlich von Kopf bis Fuß ab, wusch die hässlichen Ereignisse des Tages von seinem Körper. Anschließend fühlte er sich nicht erfrischt, sondern wie erschlagen. Seine Haut war dunkelrosa und brannte. Besser fühlte er sich nicht, aber wenigstens war er sauber. Tom kämmte seine blonde Mähne mit den Fingern durch, zog Arbeitsklamotten an und ging durch den Garten zum Schuppen. Er musste etwas tun, um sich abzulenken. Der Zaun musste gestrichen werden.

*

Der Schuppen war im Stil eines skandinavischen Hauses gebaut, mit falunrot lasierten Blockbohlen verkleidet und weißen Sprossenfenstern versehen. Vor der Tür standen eine Gießkanne und Gummistiefel. Bullerbü-Charme, hatte Jenny es stets scherzhaft genannt.

Innen herrschte pedantische Ordnung. Rechterhand auf dem Eisenregal lagerten Toms Werkzeuge und Arbeitsmaterialien. Am hinteren Ende stand eine große Werkbank. Es gab eine Stereo-Kompaktanlage und einen kleinen Kühlschrank, in dem Tom Getränke und Snacks aufbewahrte, wenn er sich stundenlang hier aufhielt. Er erledigte fast alle Reparaturen in und am Haus selbst, die Werkstatt war bestens ausgestattet, und wenn er in seinem Schuppen vor sich hin werkeln konnte, gelang es ihm immer, die Welt auszusperren.

Hinter der Tür bewahrte er die Eimer mit Farbe auf. In einem von Yasmins Bilderbüchern gab es einen weißen Lattenzaun, der das Haus einer glücklichen, sorglosen Familie umgrenzte, und Yasmin fand diesen Zaun so hübsch. Die weiße Farbe musste Tom jedes Jahr erneuern, aber das machte ihm nichts aus. Für Yasmin tat er das gern.

Tom schnappte sich einen Eimer und einen Pinsel und konzentrierte sich auf seinen Zaun. Die Arbeit tat ihm gut. Sie gab ihm das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun: sein Heim zu verschönern, damit Yasmin sich bei ihrem nächsten Besuch wohl fühlte. Es gelang ihm, sich abzulenken.

*

Harry blieb geschlagene zwei Stunden weg. Nachdem er die Einkäufe im Kühlschrank verstaut hatte, setzte er sich in den Schaukelstuhl auf der Veranda und legte gemütlich die Beine hoch.

»Wenn du versprichst, keine Nasen zu malen, kannst du mir helfen«, sagte Tom.

Harry zeigte die Zähne. »Du weißt doch, ich hab's nicht so mit Heimwerken.« Harry bewohnte in der Innenstadt eine geräumige Dachwohnung und ließ selbst die kleinste Reparatur durch einen Hausmeisterservice erledigen. Er schaukelte gemächlich vor sich hin und schaute Tom bei der Arbeit zu. Das war schon okay. Dann hatte Tom wenigstens seine Ruhe.

Irgendwann stand Harry neben ihm. »Feierabend«, sagte er. »Ich habe Sandwiches gemacht.«

Tom hätte ewig am Zaun weiterarbeiten können. Die einfache mechanische Arbeit hielt ihn beschäftigt, ordnete seine Gedanken, die sich zuvor so wirr gedreht hatten. Die Aussicht auf ein kaltes Bier überzeugte ihn schließlich. Er hatte den ganzen Nachmittag in der prallen Sonne gestanden und Farbdämpfe eingeatmet. Sein Kopf begann zu schmerzen, und es wurde Zeit, ein schattiges Plätzchen aufzusuchen.

»Wie spät ist es?«

»Halb sechs. Du musst etwas essen.«

»In Ordnung.«

Tom verstaute seine Arbeitsmaterialien und duschte noch einmal ausgiebig. Jetzt merkte er, wie durstig und hungrig er war. Harry bot Tom bereitwillig den Schaukelstuhl an. Tom setzte sich hinein und griff nach dem Bier, das Harry in einem Eimer mit gecrushtem Eis bereitgestellt hatte. Kühl und beruhigend, wie das Wasser eines Gebirgsbachs, rann es durch seine Kehle. Heilend. Reinigend. Die Schinken-Käse-Sandwiches sahen gut aus. Harry hatte sich richtig Mühe gegeben und sie herzhaft mit Frühlingszwiebeln, Tomaten und Radicchio belegt. Tom biss hinein und legte den Kopf in den Nacken. Er war so müde, dass er auf der Stelle einschlafen könnte, aber sobald er die Augen schloss, sah er die tote Vanessa vor sich, wie sie da im Wald gelegen hatte. Einsam, erniedrigt. Er wollte nicht von ihr träumen, aber er fürchtete, dass das heute Nacht der Fall sein würde.

Er verfluchte sich dafür, dass er die Leiche entdeckt hatte. Und er verfluchte sich für seinen Anruf bei Harry. Er hätte einfach abwarten sollen, bis Vanessa von irgendjemandem ohne Vorstrafenregister gefunden wurde.

Aber andererseits: Harry hatte Recht. Mit dem Geld wäre er einige seiner Sorgen los. Er könnte damit das Augenlicht seiner Tochter zurückkaufen. Mit dem Kokain zu handeln, wäre ein Verbrechen, das einem guten Zweck diente. Vanessa würde es nicht mehr wehtun. Aber es würde ein erkranktes Kind zu einem glücklichen, gesunden kleinen Menschen machen.

Tom schaukelte langsam vor und zurück. Er und Harry redeten nicht viel, sie saßen einfach nur da, tranken Bier und lauschten dem Zirpen der Grillen, die den Abend begrüßten.

4

Harry

Toms Augen fielen immer wieder zu. Als Harry ihn ansprach, dauerte es eine ganze Weile, bis Tom antwortete, und seine Stimme klang verwaschen.

»Du solltest ins Bett gehen«, sagte Harry.

Brav erhob sich Tom, aber er wirkte unsicher und wackelig auf den Beinen. Als er versuchte, sich an der Lehne des Schaukelstuhles abzustützen, wäre er beinahe gestürzt. Harry hakte ihn unter und half seinem Freund die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Er hatte ein starkes Schlafmittel in Toms Badezimmerschränkchen gefunden und es in Toms zweitem Bier aufgelöst. Auf keinen Fall wollte er, dass sein Freund sich verletzte.

Tom fiel ins Bett wie ein nasser Sack. Er würde schlafen wie ein Toter. Hoffentlich.

Harry lehnte die Schlafzimmertür an und ging erneut nach draußen auf die Veranda, wo er einfach nur dasaß und wartete. Es war friedlich hier draußen am Waldrand. Friedlich, leise, dunkel und einsam. Genau das, was Harry heute Nacht brauchte. Im entfernten Nachbarsgarten sah man hin und wieder eine verstohlene Bewegung, als jemand die Beete goss, aber niemand achtete auf ihn oder auf Toms Haus. Die Leute hier draußen wollten ihre Ruhe haben. Es war genial. Der perfekte Ort für seinen Plan.

Um Mitternacht erhob sich Harry aus seinem Korbstuhl. Am Fuß der Treppe hielt er inne und lauschte nach oben, aber Tom schlief, wie zu erwarten war, tief und fest. Harry hörte keinen Mucks. Er nahm den Schlüssel vom Schlüsselbrett und zog leise die Haustür hinter sich zu. Sein Audi stand draußen am Straßenrand; es war unwahrscheinlich, dass Szabo oder einer seiner Männer hier vorbeikamen und den Wagen vor Toms Haus entdeckten, aber Harry wollte auf Nummer Sicher gehen. Er stieg in den Wagen, wendete und fuhr in die nächste Seitenstraße, wo er ihn in einer öffentlichen Parkbucht abstellte. Hier in diesem Wohngebiet würde der Audi nicht auffallen.