Der Tod des Kapitän Cook - Marshall Sahlins - E-Book

Der Tod des Kapitän Cook E-Book

Marshall Sahlins

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Beschreibung

Die atemberaubende Schilderung eines tödlichen Missverständnisses: Wie Kapitän Cook auf Hawaii zum Gott wurde und dafür mit seinem Leben bezahlte. Ein anthropologisches Meisterstück über Glück und Tragik der Begegnung zweier fremder Kulturen. Als Kapitän Cook mit seiner Crew am 17. Januar 1779 auf der Suche nach der Nordwestpassage in Hawaii anlangt, wird er von den Inselbewohnern frenetisch empfangen. Zu dieser Zeit feiern die Einheimischen die turnusmäßige Ankunft und Herrschaftsübernahme des Friedensgottes Lono, der nun in Gestalt Cooks leibhaftig einzutreffen scheint. Das Missverständnis endet tödlich. In seinem 1981 zuerst veröffentlichten und heute zu den Klassikern der Anthropologie und der Kulturgeschichte zählenden Forschungsbericht zeigt Marshall Sahlins, wie die einander Fremden in dem nun einsetzenden intensiven materiellen und sexuellen Austausch Tabus überschreiten und Mythen umgestalten, um die große überlieferte Erzählung zu bewahren. Marshall Sahlins' legendäre Studie, die in der Anthropologie eine Grundsatzdebatte über die Verstehbarkeit ›fremder‹ Kulturen auslöste, liefert fundamentale Überlegungen zum Verhältnis von Struktur und Geschichte, die auch in den derzeitigen Diskussionen um transkulturelle Verflechtungen und Wandel in der (post-)kolonialen Welt von größter Bedeutung sind.

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1 Federkopfbild des hawaiischen Kriegsgottes Kukailimoku aus Federn, Hundezähnen und Perlmutt auf Rohrgeflecht

Aus dem Amerikanischen von Hans Medick und Michael Schmidt

Mit einem Nachwort von Karsten Kumoll

Die Originalausgabe erschien 1981 unter dem Titel Historical Metaphors and Mythical Realities. Structure in the Early History of the Sandwich Islands Kingdom bei The University of Michigan Press, Ann Arbor, die deutsche Erstausgabe 1986 als Sachbuch bei Wagenbach.

E-Book-Ausgabe 2021

© Heirs of Marshall Sahlins

© 1986, 2021 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer kolorierten Lithographie der Kürbismaske eines Kriegers

© picture alliance/Hawaiian Legacy Archive.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4326 6

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2844 7

www.wagenbach.de

»Mein Buch ist der Erforschung der Geschichte einer Struktur und der Struktur einer Geschichte gewidmet.«Paul Friedrich, The Meaning of Aphrodite, 1978

»Es sind nicht erst die Strukturalisten, die die Strukturen in die Geschichte bringen.«

Jean Pouillon, in: Les Temps Modernes, 1966

Vorwort

In diesem Buch betrachte ich ein bestimmtes historisches Geschehen, die Ermordung des Kapitän Cook, mit den Augen des Kulturanthropologen. Im einleitenden und im abschließenden Kapitel diskutiere ich knapp die theoretischen Perspektiven; größtenteils sind die mich leitenden Gedanken über Geschichte jedoch in die Darstellung der konkreten Ereignisse verwoben. Das Geschehen, um das es hier geht, ist eine »exotische« Geschichte: die Reaktion der einheimischen Kultur Hawaiis auf die Umstände, mit denen sie bei der Landung Kapitän Cooks und späterer europäischer Forscher, Händler und Missionare konfrontiert wurde. Es könnte daher scheinen, als sei die theoretische Erläuterung dieser historischen Vorkommnisse von vergleichsweise beschränkter Relevanz, etwa in dem Sinne, daß sie bestenfalls auf solche und ähnliche Episoden der »Akkulturation« zu beziehen wäre. Meine Argumentation geht jedoch von der entgegengesetzten Annahme aus, über die man erst aufgrund der vorgelegten Ergebnisse entscheiden sollte: daß eine derartige Konfrontation von Kulturen eine hervorragende Gelegenheit bietet, ganz allgemein Typen des historischen Wandels in aller Deutlichkeit zu betrachten und zu erkennen. Meine generellen Aussagen über historische Prozesse beziehen sich nicht nur auf Bedingungen interkulturellen Kontakts. Sie setzen lediglich eine Welt voraus, in der Menschen in unterschiedlicher Weise und entsprechend ihren jeweiligen Situationen als soziale Wesen handeln, unter Bedingungen also, wie sie gewöhnlich sowohl für das Handeln innerhalb einer gegebenen Gesellschaft gelten wie für den Austausch und für die Konfrontation zwischen verschiedenen Gesellschaften. Meine Geschichtsauffassung kann nicht beanspruchen, marxistisch zu sein, sie hat jedoch dieselben minimalen, zugleich aber auch hinreichenden Prämissen: daß Männer und Frauen leidende Wesen sind, weil sie in Beziehung zueinander und zugleich in einer Welt handeln, die ihre eigenen Regeln hat.

Diese Arbeit ist eine Vorstudie zu einem größeren Forschungs- und Publikationsvorhaben. Sie entwickelte sich aus einer Vorlesung ähnlichen Titels, die ich am 23. Februar 1979 auf der Jahrestagung der Association for Social Anthropology in Oceania in Clearwater, Florida, gehalten habe. Die Veröffentlichung einer umfangreichen Studie mit dem Titel »The Dying God or the History of the Sandwich Islands as Culture« ist geplant. Der erste von drei vorgesehenen Bänden ist in Vorbereitung; er wird Material dokumentieren, das über das hier für notwendig erachtete hinausreicht.

Michael Silverstone habe ich dafür zu danken, daß er dem endgültigen Manuskript seinen subtilen kritischen Blick zugute kommenließ. Dorothy Barre und Valerio Valeri danke ich für Zusammenarbeit und Gespräche, die sich für mein Verständnis der Verhältnisse Hawaiis als sehr fruchtbar erwiesen. Für alle Mängel dieser Studie bin aber selbstverständlich ich allein verantwortlich. Meine hauptsächliche schöpferische Verantwortlichkeit in der hier vorgelegten Monographie besteht darin, den historischen Kontext hergestellt zu haben. Dank schulde ich schließlich Susan Martich dafür, daß sie mehr als einmal eine unleserliche Handschrift entzifferte und in die endgültige maschinenschriftliche Fassung des Manuskripts verwandelte.

Meine Forschungsarbeit wurde von der National Science Research Foundation (Grant GS – 28 718 x) und vom Lichtstern Fond der Universität Chicago, Abteilung für Anthropologie, unterstützt.

Vorbemerkung zur deutschen Erstausgabe

Seit der Erstveröffentlichung von Der Tod des Kapitän Cook im Jahre 1981 sind zwei weitere Arbeiten zur Problematik Hawaiis entstanden. Sie ergänzen das vorliegende Werk, wenn auch nicht in der Form einer mehrbändigen, thematisch geschlossenen Untersuchung, wie sie ursprünglich im Vorwort in Aussicht genommen wurde. Die erste Arbeit Inseln der Geschichte (orig. 1985, dt. 1992) enthält eine detailliertere Untersuchung der Umstände des Todes von Kapitän Cook, einschließlich einer nuancierteren Analyse der hawaiischen wie britischen Beziehungen zu diesem Ereignis. Auch meine theoretische Position zur Diskussion um eine historische Anthropologie wurde in diesem Band weiter entfaltet. Eine zweite Arbeit mit dem Titel »The Archaeology of History in an Hawaiian Valley« steht mittlerweile unmittelbar vor dem Abschluß. Sie wurde gemeinsam mit dem Archäologen Patrick Kirch verfaßt. Die historischen Teile der Arbeit verfolgen die Entwicklung und den Verfall der hawaiischen Ordnung weit über den Zeitraum hinaus, der in der vorliegenden Arbeit behandelt wird, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und zur »Landreform«, die der einheimischen hawaiischen Kontrolle der Ressourcen der Insel ein Ende machte.

Marshall Sahlins

Chicago, August 1986

Einleitung Geschichte und Struktur

Synchronie versus Diachronie und Sprache versus Sprechen

Am Anfang der strukturalen Anthropologie stand ein zweifacher Gegensatz, der später ihr Markenzeichen werden sollte: ihre radikale Opposition zur Geschichte. Der Strukturalismus ging von Saussures Modell der Sprache als wissenschaftlichem Objekt aus. Damit bevorzugte er zugleich das System vor dem Ereignis, die Synchronie vor der Diachronie. Gewissermaßen parallel zu Saussures Unterscheidung zwischen Sprache (la langue) und Sprechen (la parole) verfuhr auch die anthropologische Strukturanalyse. Sie nahm individuelles Handeln und menschliche Praxis nicht zur Kenntnis, es sei denn, diese stellten den Entwurf oder die Ausführung eines Systems im Ist-Zustand dar (vgl. Bourdieu 1977). Im folgenden will ich zeigen, und zwar hauptsächlich in Form konkreter Darlegungen, daß die verschiedenen Entgegensetzungen nicht wirklich nötig sind, daß man durchaus Strukturen in der Geschichte bestimmen kann – und umgekehrt: Geschichte in den Strukturen.

Saussure (1966 [1915]) erschien es notwendig, Struktur und Geschichte zu unterscheiden, weil Sprache nur dann systematisch analysiert werden könne, wenn sie als eine unabhängige, referentiell eigenmächtige und kollektive Erscheinung existiere. Er hatte hierbei einen Begriff von ›System‹, der Kants Begriff der ›Gemeinschaft‹ ähnelt. Bei Kant gründet sich ›Gemeinschaft‹ auf eine disjunktive, zeitenthobene Vorstellung eines Ganzen, das begriffen wird als eines, das viele Teile hat, die sich wechselseitig bestimmen, und zwar in folgender Weise: »Als einander coordiniert, nicht subordiniert, so daß sie einander nicht einseitig wie in einer Reihe, sondern wechselseitig wie in einem Aggregat bestimmen (wenn ein Glied der Eintheilung gesetzt wird, alle übrigen ausgeschlossen werden und so umgekehrt)« (Kant 1787, S. 111 f.). Jedes gegebene Element einer solchen ›Gemeinschaft‹, also etwa einer von mehreren unterschiedlichen Bestandteilen einer Landschaft, wird als solches begriffen durch seine Beziehungen zu allen anderen Elementen: als ein besonderer, durch seine Position festgelegter Wert, der von der Existenz der anderen Bestandteile abhängig ist. Die einzelnen Teile werden daher durch wechselseitige und gleichzeitige Beziehungen bestimmt, die Dimension der Zeit bleibt außer Betracht. Nach Saussure verhält es sich auch mit Sprache so.

Die begriffliche Wertigkeit eines sprachlichen Zeichens ist durch dessen Beziehungen zu anderen existierenden Zeichen festgelegt. Seine Bedeutung oder seine begriffliche Wertigkeit ergibt sich aus den Kontrasten zu anderen Zeichen seiner ›systemhaften‹ Umgebung. Die Wertigkeit von ›grün‹ wird durch die gleichzeitige Gegenwart von ›blau‹ bestimmt und umgekehrt. Wenn es, wie das in vielen natürlichen Sprachen der Fall ist, das sprachliche Zeichen ›blau‹ nicht gibt, dann hat das Zeichen ›grün‹ einen größeren und weiterreichenden Bedeutungsumfang. Sprache kann mithin als Struktur nur analysiert werden, wenn sie als Zustand betrachtet wird und ihre Bestandteile synchron sind.

Von einer solchen Position aus wäre es darüber hinaus ebenso sinnlos, in der Geschichte nach System zu suchen, wie umgekehrt, Geschichte in das System einzuführen. Wenn Saussure hervorhebt, daß Lautverschiebungen von der Wertigkeit der sprachlichen Zeichen unabhängig sind, dann erinnern seine Argumente an die klassische Unterscheidung von physischer Substanz und formalen Beziehungen. Substanzen (Laute) wandeln sich unabhängig von den Beziehungen, die die Wertigkeiten bestimmen. In dieser Sicht, die inzwischen besser als »Verdoppelung der formalen Muster« verstanden wird, erscheinen phonetische Verschiebungen lediglich als physikalisches Geschehen – im Gegensatz zu den systemhaften geistigen Prozessen auf der Ebene der Zeichenbeziehungen. Wenn diese Verschiebungen im Sprechakt auftreten, erscheinen sie Saussure als »unabhängige Ereignisse«, als – vom Standpunkt der Struktur hergesehen – unbeabsichtigt. Es handelt sich dabei einfach nur um Lautfolgen, ohne Beziehungen zu den Bedeutungen und Wertigkeiten der von ihnen gebildeten lexikalischen oder grammatischen Einheiten. Die Wertigkeiten ihrerseits hängen allein von den gleichzeitigen Beziehungen sprachlicher Ausdrücke ab, ohne Rücksicht auf ihre Lautgestalt. (Jedenfalls gilt dies, solange ein hinreichender Kontrast zwischen den Lauten herrscht, der eine Unterscheidung der Bedeutungen erlaubt.) Veränderungen der Lautgestalt gehören von daher nur insofern zum Geflecht sprachlicher Beziehungen oder greifen sogar entsprechend auf diese systemhaften Beziehungen über, als kein innerer Zusammenhang und keine Übereinstimmung zwischen dem Lautwandel und den sich daraus ergebenden linguistischen Folgen bestehen. Hierauf gründet das fatale Argument, das von der strukturellen Anthropologie aufgenommen wurde: Im Hinblick auf ein Zeichensystem werden die Veränderungen, denen dieses unterworfen ist, als zufällig erscheinen. System besteht hier einzig in der Art und Weise, in der diese historischen Bestandteile in einem bestimmten Augenblick oder in einem bestimmten Zustand der Sprache zueinander in Wechselbeziehungen stehen.

Wenn aber Sprache tatsächlich in dieser Weise systematisch strukturiert und dementsprechend analysierbar ist, müssen ihre Zeichen doch zugleich willkürlich sein. Sprache ist zwar an sich und für sich ein bedeutungsvolles System: Die Wertigkeit ihrer Zeichen ergibt sich allein aus den wechselseitig wirksamen Beziehungen zu anderen Zeichen. Diese Beziehungen aber sind von jeder Objektbeziehung unterschieden, auf welche die Zeichen ebenfalls verweisen mögen. Denn wenn ein Zeichen so etwas wie eine notwendige oder ihm inhärente Verbindung zu dem Bezeichneten (d. h. dem »Ding«, auf das es sich bezieht) hätte, dann würde sein Wert sich nicht mehr allein aus der Beziehung zu anderen Zeichen ergeben. Das Verständnis der Sprache als einer autonomen Struktur wäre damit in Frage gestellt. Sprache verlöre ihre Einheitlichkeit bzw. ihren systemhaften Charakter. Denn es würden dann ja bestimmte Werte von außen eingeführt und somit ohne Rücksicht auf die gleichzeitigen Beziehungen innerhalb der Sprache zeitliche Dauer gewinnen. Wenigstens für bestimmte Typen sozialen Handelns nahm Saussure allerdings an, daß dort Zeichen durchaus in notwendige Beziehungen zu dem von ihnen Bezeichneten eintreten. Die Ökonomie bietet Beispiele dafür. Nach Saussure hängt der Wert von »Land«, verstanden als eine ökonomische Kategorie, in bestimmtem Ausmaß von der dem Land eigenen Fruchtbarkeit ab. Doch ist unter diesen Bedingungen das Ausmaß des Wertes nicht mehr länger nur eine charakteristische Funktion der Unterschiede innerhalb eines Zeichensystems oder des Zeichensystems insgesamt; die Kategorie »Land« hat hier vielmehr einen tatsächlich existierenden begrifflichen Inhalt bzw. eine entsprechende Bedeutung. Es gibt daher durchaus auch Geschichte, d. h. Bedeutung in einer zeitlichen Erscheinungsform – jedoch stets auf Kosten des Systems.

Struktur versus Praxis in geschichtlicher Zeit

Saussure sah das Entstehen einer allgemeinen »Semiologie« voraus, die sich mit der Rolle der Zeichen im gesellschaftlichen Leben beschäftigen würde. Eine solche Perspektive ließ ihn denn auch annehmen, in Bereichen wie etwa der Ökonomie seien Werte, gerade weil sie »irgendwie in den Dingen verwurzelt« sind, nicht auf einer rein semiotischen Ebene abzuhandeln – obwohl doch andererseits die konstituierenden Elemente dieser Bereiche von Kultur scheinbar ebenfalls Zeichenwerte sind. Auch eine allgemeine Semiologie bzw. strukturalistische Kulturtheorie steht aufgrund der Unterscheidung von Sprache und Sprechen vor einem ähnlichen Dilemma: Der Sprechakt präsentiert das Zeichen ebenfalls in der Form eines »heterogenen« Objekts, das auch anderen Rücksichten als nur dem Beziehungsgefüge zwischen Zeichen unterworfen ist. Denn offensichtlich kommt Sprache im Sprechen nur unvollkommen und in unendlich variabler Weise zum Ausdruck. Dies ist schon durch alle Arten von biographischen Zufällen bedingt, denen der Sprecher selbst unterliegt. Einmal mehr muß hier gesagt werden, daß die Bestimmungen eines Diskurses weit über die Beziehungen hinausreichen, welche die Begriffe in einem linguistischen System haben; sie reichen hin bis zu Fakten höchst unterschiedlicher Natur: soziologische, psychologische, ja selbst physiologische Tatsachen spielen eine entscheidende Rolle. Damit bestand für Saussure die Notwendigkeit, die Sprache in ihrer kollektiven Dimension und unabhängig von ihrer jeweils individuellen Durchführung im diskursiven Akt zu begründen. Als vollkommenes semiotisches System existiert Sprache hier nur in der Gemeinschaft der Sprecher.

Doch man bedenke, was unter diesen (idealen) Umständen aus einer sinndeutenden Strukturanalyse alles ausgegrenzt würde. Geschichte wird im konkreten Sprechen gemacht. Je nach den Zwecksetzungen und Zielen der Menschen werden die sprachlichen Zeichen in verschiedenartige und zufällige Beziehungen zueinander gesetzt; diese Zwecke sind natürlich gesellschaftlich begründet – und zwar auch dann, wenn sie als vom Individuum veränderbar erscheinen. Zeichen nehmen in Handlungsentwürfen deshalb Wertigkeiten an, die für diese Handlungsentwürfe durchaus funktional und eigentümlich sind, Wertigkeiten, die sich jedenfalls nicht allein aus den wechselseitigen Bestimmungen eines synchronen Zustandes ergeben. Sie sind der Zergliederung und Neuzusammensetzung unterworfen, woraus wiederum unvorhergesehene Formen und Bedeutungen entstehen, z. B. neue Metaphern. Vor allem aber bringen die Menschen beim Sprechen die Zeichen in Verweisungszusammenhänge zu den Gegenständen ihrer Handlungsentwürfe, denn diese Handlungsgegenstände bilden gewissermaßen den Wahrnehmungskontext für den Sprechakt als einer sozialen Handlung. Doch auch ein solcher Kontext ist immer bereits ein »bedeuteter« Kontext. Die Bedeutungen seiner Gegenstände können sogar im Sprechakt vorausgesetzt sein. Andererseits muß die Welt jedoch keineswegs mit den Voraussetzungen übereinstimmen, unter denen einige Menschen über sie sprechen. In seinem Vollzug schließlich bringt der Sprechakt Zeichen auch in »neue« Anwendungszusammenhänge; er erzeugt damit Widersprüche, die wiederum vom System verarbeitet und bewältigt werden müssen. Wertigkeiten und Bedeutungen sind daher tatsächlich in einem Zeichensystem begründet, aber die Menschen benutzen und erfahren die Zeichen gleichzeitig als die Benennung wirklicher Dinge. Indem die Menschen die Zeichen auf die Welt beziehen, bestimmen sie die allgemeinen begrifflichen Wertigkeiten sprachlicher Ausdrücke und Beziehungen und verändern sie möglicherweise auch. Schließlich stellt sogar die Begegnung mit dem Wort selbst noch eine Bewertung und möglicherweise auch eine Umwertung von Zeichen dar.

Wird eine strukturelle oder semiotische Analyse ganz allgemein auf die Anthropologie ausgedehnt und hierbei nach einem Modell verstanden, das der reinen »Sprache« angemessen ist, dann gehen nicht allein die Dimensionen von Geschichte und historischer Veränderung verloren, sondern auch Praxis im Sinne von menschlichem Handeln in der Welt gerät aus dem Blick. Manche könnten angesichts dessen der Auffassung sein, was hier verlorengehe, sei gerade das, womit es die Anthropologie zu tun habe. Eine solche Vorstellung wird für sie bereits ausreichen, einen derartigen Strukturalismus vollständig von der Hand zu weisen. Andererseits könnte es jedoch sein, daß die Verluste, welche die Strukturanalyse zur Folge zu haben scheint – also Geschichte, Ereignis, Handeln, Welt- und Objektbezug –, in Wirklichkeit gar nicht notwendig sind. Denn die Strukturanalyse hat sich inzwischen weit genug über Saussure hinaus entwickelt, um den Gegensatz zwischen Geschichte und System zumindest in bestimmten Bereichen zu überwinden. So würde etwa Roman Jakobson behaupten (1961, S. 16–23, S. 202–220), daß selbst Lautverschiebungen insofern ein System erkennen lassen, als sie mit Hilfe eines »Phonem-Systems« zu begreifen sind und ihre Analyse ein beständiges Hin- und Herwechseln zwischen synchronen und diachronen Perspektiven erfordert. Und auch die Anthropologen begannen zur selben Zeit zu lernen, daß die Wertigkeit einer jeden kulturellen Kategorie – wie z. B. »Land« – tatsächlich in gewissem Sinne auf einer willkürlichen Vereinbarung beruht. Ist doch eine solche Kategorie stets auf grundsätzlichen Unterscheidungen zwischen Zeichen begründet, die in Bezug auf die von ihnen bezeichneten Gegenstände nie die einzig möglichen Unterscheidungsmerkmale sind. Selbst ein methodischer Ansatz, der von der ökologischen Anthropologie herkommt, wird erkennen müssen, daß das Ausmaß, in dem ein bestimmtes Stück Land eine »produktive Ressource« ist – sofern es überhaupt solche Qualitäten aufweist –, von der jeweiligen kulturellen Ordnung abhängt. Die Ökonomie könnte somit durchaus einen Platz in der von Saussure erwarteten Semiologie finden – doch diese Semiologie erschwert ihr gleichzeitig auch den Zugang mit restriktiven Klauseln.

2 Die Cook-Expedition in der Bucht von Kealakekua im Januar 1779. Die Expeditionsschiffe »Resolution« und »Discovery« sind von zahlreichen hawaiischen Doppelkanus, Kanus und Surfbrettern umgeben.

Trotz dieser Erwägungen wurde der Strukturalismus ursprünglich mit all seiner theoretischen Beschränktheit gewissermaßen unangetastet in die Anthropologie eingebracht. Geschichte mußte, so schien es, in Distanz zur Anthropologie gehalten werden, um das »System« nicht zu gefährden. Handeln wurde – wie bereits angedeutet – nur insofern in Betracht gezogen, als es die Wirkung einer etablierten Ordnung, die »stereotype Reproduktion« (M. Godelier) bestehender kultureller Muster zum Ausdruck brachte. Eine solch unhistorische Aneignung des Handlungsbegriffs konnte allerdings in dem durchaus zutreffenden Argument eine Stütze finden, daß die Handlungsumstände in einer Kultur überhaupt nur insoweit existent sind oder auch Folgen haben, als sie interpretiert werden. Eine Interpretation jedoch läuft am Ende auf eine Klassifikation des Handeins innerhalb gegebener kultureller Kategorien hinaus. »Es genügt keineswegs, zu sagen«, erklärt uns der Philosoph, »daß man ein Bewußtsein von etwas hat; auch das Bewußtsein selbst ist ein bereits vorhandener Seinszustand« (Percy 1958, S. 638. Hervorhebung hinzugefügt). Der wahrgenommene Gegenstand wird erst dann zu einer Tatsache des menschlichen Bewußtseins – oder wenigstens zu einem Bestandteil sozialer Kommunikation –, wenn er in eine Vorstellung eingebettet ist, deren Urheber ein anderer ist als der wahrnehmende Mensch selbst. Eine solche Vorstellung aber wird gerade im Rahmen derjenigen Kultur hervorgerufen und konstituiert, deren Teil der wahrnehmende Mensch selber ist. Als Kapitän Cook am 11. Januar 1779 in die Kealakekua-Bucht von Hawaii einsegelte, nahmen die Hawaiier dies alles keineswegs als ein Stück historischer Wirklichkeit auf, wie sie »wirklich« gewesen ist; vielmehr sollen sie gesagt haben: »Nun werden unsere Gebeine wieder leben – unser aumakua [Ahnengeist] ist zurückgekehrt« (Kamakau 1961, S. 98). Selbst wenn diese Überlieferung anzuzweifeln wäre, so steht aufgrund zeitgenössischer Aufzeichnungen doch fest, daß die Hawaiier – ihren Riten gemäß – den großen Steuermann in dieser Weise bereits erwartet hatten. Ein historisches Ereignis findet also seinen Eingang in eine Kultur erst als Anwendungsbeispiel einer überlieferten Kategorie, gleichsam als ein Gestalt gewordenes Zeichen für ein Symbol, das die Voraussetzung für eben dieses Zeichen bildet. Demnach lautete die angemessene Theorie für das Verhältnis von Kultur und Geschichte: plus ça change ... Je größer die Veränderung, desto mehr bleibt’s in Wirklichkeit beim alten.

In den folgenden Kapiteln werde ich zu begründen versuchen, daß in Abwandlung eines Bonmots von Jean Pouillon die angemessene Theorie eher umgekehrt lauten sollte: plus c’est la même chose, plus ça change – je mehr sich die Dinge gleichen, desto größer ist in Wirklichkeit die Veränderung (Pouillon 1977). Als Kapitän Cook in der Kealakekua-Bucht auf Hawaii getötet wurde, wurde dieser Sieg für die hawaiischen Könige gleichzeitig auch eine neue Basis ihrer Legitimität als Herrscher, und diese Basis sollte für die folgenden Jahrzehnte Bestand haben. Durch die Aneignung der Gebeine Cooks wurde das mana des hawaiischen Königtums gewissermaßen zu einem englischen mana. Ja, die hawaiischen Götter bewahrten ihre englischen Charaktereigenschaften noch lange über jenen Zeitpunkt hinaus, zu dem die Engländer als Menschen ihre Gottähnlichkeit in hawaiischen Augen eingebüßt hatten. Darüber hinaus hatte diese Anverwandlung noch zur Folge, daß Engländern in hawaiischen Angelegenheiten ein hoher politischer Rang eingeräumt wurde, der in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Präsenz der Engländer in den hawaiischen Gewässern stand. Er behauptete seine Gültigkeit auch dann noch, als die Engländer längst von den Amerikanern aus dem Handel mit Schiffsproviant und Sandelholz herausgedrängt worden waren. Cooks Göttlichkeit war daher keineswegs eine unmittelbare Folge der Gewalt, die er tatsächlich ausgeübt hatte. Wichtiger war vielmehr die Tatsache, daß die Hawaiier gerade ihn getötet hatten.

Wenn der Strukturalismus somit ungeeignet erscheint, historischen Wandel theoretisch verständlich zu machen, so bieten auch die gegenwärtigen utilitaristischen Theorien keine hinlängliche Alternative – gleichgültig ob sie nun auf einem ökologisch-materialistischen oder auf einem historisch-materialistischen Ansatz gegründet sind. Denn die praktischen Vorstellungen von Kultur, die diesen Ansätzen eigentümlich sind, laufen auf ein Geschichtsverständnis nach dem Modell der Physik hinaus. Symbole sind für sie lediglich offene oder verdeckte Symptome der wahren Macht der Dinge. Kultur mag so zwar Rahmenbedingungen für den historischen Prozeß setzen, doch wird sie gleichsam immer wieder in der materiellen Praxis aufgelöst und neu formuliert, so daß Geschichte, verstanden als gesellschaftliches Handeln, jeweils nur die Verwirklichung derjenigen aktuellen Kräfte ist, die die Menschen tatsächlich ins Spiel bringen. Wie man weiß, kritisierte die deutsche Sozialphilosophie, d. h. die »Geisteswissenschaft« von Wilhelm Dilthey bis Max Weber, gerade eine solche Art historischer Physik. Tatsächlich verdankt das in der amerikanischen Anthropologie herrschende Kulturverständnis (wie übrigens auch der moderne Strukturalismus) der deutschen Romantik sehr viel – hauptsächlich durch die Vermittlung von Franz Boas, Ruth Benedict und anderen. Vielleicht könnte die Anthropologie heute dazu beitragen, der Geschichte und Geschichtswissenschaft wieder zurückzugeben, was sie einst an »Verstehen« von ihr gewonnen hat. So wäre es der Anthropologie z. B. möglich, als Gegengabe die Vorstellung beizusteuern, daß sich – wie es das Beispiel der Briten auf Hawaii zeigt – die historische Wirksamkeit von Personen, Gegenständen oder Ereignissen gerade aus ihren kulturellen Wertigkeiten und Bewertungen ergibt. Ein anderes Wort für Wertigkeit ist »Signifikanz«. Hiermit ist eine kontrastierende Position in einem Schema von Beziehungen gemeint, und dieser Begriff faßt mit seiner doppelten Konnotation von »bedeutungsvoll« und »wichtig« in treffender Weise auch die Geschichtstheorie zusammen, von der hier die Rede ist. Es ginge vielleicht zu weit, in einer Umkehrung von James Maitlands bekanntem Diktum zu fordern: »Die Geschichte hat die Wahl zwischen der Anthropologie und dem Nichts.« Der Gegenstand meiner Abhandlung ist bescheidener. Es geht im folgenden einfach darum, einige Wege aufzuzeigen, auf denen sich Geschichte infolge ihrer signifikanten Strukturen organisiert.

Bis zu einem gewissen Grade ist diese Aufgabe nicht übermäßig schwierig, geht es doch beim strukturalistischen Verständnis des Ausspruchs plus ça change ... um eine eminent historische Einsicht. Diese besagt letztlich nichts anderes als daß die Vergangenheit allgegenwärtig ist. Aus einer strukturalistischen Perspektive heraus ist nichts einfacher, als in den jeweils praktizierten Interpretations- und Handlungsweisen die Kontinuität kultureller Vorstellungsmuster aufzudecken: dies sind die berühmten »Strukturen der longue durée«, der langen Dauer (Braudel 1958 [1977]). Ich beginne meine Erörterung über das Königreich Hawaii mit solchen Überlegungen. Doch die große Herausforderung an eine historische Anthropologie besteht nicht nur darin, zu erkennen, wie Ereignisse durch eine Kultur jeweils geregelt und geordnet werden, sie besteht vielmehr auch in der Frage, wie sich die Kultur selbst im Verlaufe eines solchen Prozesses verändert, wie sie sich reorganisiert. Wie entsteht aus der Reproduktion einer Struktur deren Veränderung und Transformation?

3 Hawaiisches Doppelkanu, dessen Besatzung – vermutlich aus rituellen Gründen – Kürbismasken trägt. Zwei der Bootsinsassen tragen Götterbilder, wobei die linke Figur ein Federbildnis des Kukailimoku darstellt

Wiederkehr und Reproduktion Strukturen von langer Dauer

Götter aus Kahiki

In den Berichten der Europäer gibt es die häufig erzählte Geschichte von den hartnäckigen Bemühungen des Kapitäns Vancouver (nach einer anderen Überlieferung war es ein ›Padre‹ Howell), Kamehameha, den König von Hawaii, von den großen Vorzügen des Christentums zu überzeugen. Das muß sich in den Jahren 1793 oder 1794 zugetragen haben. Der amerikanische Kaufmann Townsend hat jedenfalls schon 1798 gehört, daß »Kapitän Vancouver eifrig darum bemüht war, diese Leute zu christianisieren. Dafür müßten sie jedoch erst zivilisierter werden. König Amma-amma-ha [Kamehameha] jedoch sagte zu Kapitän Vancouver, daß er mit ihm auf den hohen Berg Mona Roah [Mauna Loa] steigen wolle, von dem sie dann gemeinsam herunterspringen würden, jeder seinen Gott um Schutz anrufend. Wenn Kapitän Vancouver von seinem Gott gerettet, er selbst, der König, von seinem Gott aber nicht geschützt werde, dann solle sein Volk an den Gott der Christen glauben, wie Vancouver es tue« (Townsend 1888, S. 74; vgl. Cleveland o. J., S. 211).

Der Russe Golovnin ergänzte im Jahre 1818: »Dieser Vorschlag gefiel Vancouver gar nicht. Er weigerte sich nicht nur, das Experiment auszuführen, er erwähnte es in seiner ›Voyage‹ nicht einmal. Das war das Ergebnis dieser Diskussion über Religion« (Golovnin 1979, S. 207).

In der Geschichte Hawaiis gibt es zahlreiche Wiederholungen, da eine Begebenheit erst beim zweiten Mal zum historischen Ereignis wird. Zuerst erscheint sie als Mythos. Tatsächlich war Kamehamehas Angebot an Kapitän Vancouver eine Anspielung auf eine Legende. Was er dem Europäer vorschlug, war, die Geschichte des berühmten Paao1 zu ›wiederholen‹, der wie Vancouver, aber viele Generationen vorher, aus unsichtbaren Ländern jenseits des Horizonts gekommen war, um eine neue Religion einzuführen – freilich auch, um zugleich mit seiner Religion ein neues Geschlecht regierender Häuptlinge einzusetzen, von denen Kamehameha selbst abstammte. Dieser Mythos lautet: »Es wird erzählt, daß viele Götter Paao antrugen, er solle sie als seine Gottheit anerkennen und anbeten. Er hatte sein Haus am Rand einer Klippe gebaut, von welcher der Vogel koa’e losflog. Wann immer ein Gott zu Paao kam, forderte dieser ihn auf, von der Klippe herunterzufliegen. Derjenige, der lebend wiederkehre, werde sein Gott sein, ihn werde er anbeten. Wenn sie dann von der Klippe sprangen, zerschellten sie tief unten.« (Kamau, in Thrum 1923, S. 46 f.) Um hier eine lange Geschichte abzukürzen: dies war das Schicksal der Möchtegern-Götter Lelekoae und Makuapali; Makuakaumana jedoch landete in Paaos Kanu und wurde so zu Paaos Gott.

Die Geschichte über Vancouver kann durchaus apokryph sein.2 Aber selbst wenn es so ist, berührt das nicht notwendigerweise ihre ›Wahrheit‹. Sie gibt dann eben nicht eine Tatsache aus der Geschichte Hawaiis wieder, sondern zeigt deren ›poetische Logik‹. Denn die Erzählung enthüllt und umreißt knapp und bündig die gesamte hawaiische Theorie von der Wirkungsmacht der Europäer, insbesondere von Vancouvers Vorgänger Kapitän Cook. In manchen späten Fassungen des Paao-Mythos wird sogar gesagt, daß Paao selbst ein weißer Mann gewesen sei (Ellis 1828, S. 398; Byron 1826, S. 4). Generell waren die Europäer für die Bewohner von Hawaii das, was deren Häuptlinge einst für die damals unterlegenen Einheimischen gewesen waren, zu deren Herren sich die Häuptlinge mit Gewalt gemacht hatten: gottähnliche Wesen aus den unsichtbaren Ländern (Kahiki). »Ein Häuptling ist ein Hai, der über Land reist«, lautet ein verbreitetes Sprichwort (Handy und Pukui 1972, S. 199; vgl. Fornander 1916–1919, Bd. V/VI, S. 368–410). Das ist eine Anspielung, die sich speziell auf die Neigung landfremder Häuptlinge bezieht, Menschenopfern zu frönen (vgl. Valeri 1985).

Die Paao-Legende ist vielleicht die wichtigste Urkunde zu den historischen Anfängen der Usurpatoren-Häuptlinge und zur Einrichtung des Opferkultes.

Die Geschichte lautet: Paao war wegen einer Auseinandersetzung mit seinem älteren Bruder Lonopele, einem berühmten Bauern, gezwungen, seine ursprüngliche Heimat zu verlassen. Denn Lonopele hatte den Sohn Paaos bezichtigt, einige Feldfrüchte gestohlen zu haben. Daraufhin öffnete Paao den Magen des Jungen, nur um herauszufinden, daß sein Sohn unschuldig war. Aufgebracht beschloß Paao, seinen Bruder zu verlassen und baute zu diesem Zweck ein Kanu. Durch eine List wurde Lonopeles eigener Sohn zu einer Übertretung der beim Kanubau geltenden Tabus verleitet. Dies erlaubte es Paao seinerseits, den Sohn seines Bruders zum feierlichen Abschluß der Arbeiten als Menschenopfer darzubringen. Begleitet von einer Anzahl von Männern und (bestimmten Versionen der Legende zufolge) vom gefiederten Gott Kukailimoku (Fliegenschnäppergott Ku von der Insel) segelte Paao sodann davon. Um das Kanu zu vernichten, ließ Lonopele eine Reihe von Stürmen der »Kona«-Art (ein Wintersturm) losbrechen, doch mit Erfolg rief Paao Schwärme von Bonitofischen (aku) und Makrelen (opelu) um Hilfe an, die die See wieder beruhigten. Paao überstand auch weitere von Lonopele ausgesandte Gefahren. Schließlich erreichte er die Insel Hawaii, wo er einige berühmte Tempel errichtete. Diese waren die ersten Tempel für Menschenopfer; die Oberaufsicht über die Opferriten führte der Gott Ku, den Paaos gefiederter göttlicher Begleiter Kukailimoku als eine seiner wichtigen Gestalten repräsentierte. Einer anderen Version der Legende zufolge (Kepelino 1932, S. 58), erschlug Paao auch alle bei seiner Ankunft vorhandenen Priester. Über die politischen Veränderungen, die er zugleich einführte, wird unterschiedlich berichtet. Entweder gab es hiernach auf Hawaii zu jener Zeit keinen Häuptling, oder der damalige Häuptling (der manchmal unter dem Namen Kapawa erwähnt wird) regierte schlecht. Im letzteren Falle entthronte Paao den Häuptling. Alle Versionen der Legende erwähnen übereinstimmend, daß er einen neuen Herrscher, Pilikaaiea, einsetzte, den er aus Kahiki mitgebracht hatte. Alle Herrscher auf der Insel Hawaii führen sich auf diesen Häuptling (bis auf zwanzig Generationen vor Kamehameha) zurück. Abgesehen von der Einrichtung der Tempel, den Menschenopferriten und dem gefiederten Gott Kukailimoku, soll Paao angeblich auch die Bilderverehrung nach Hawaii gebracht haben sowie manche geweihten Häuptlingsinsignien und ferner das den göttlichen Häuptlingen dargebrachte Tabu des Fußfalls (Kamakau 1865, Ms.; Thrum 1923, S. 46–52; Kepelino 1932, S. 20, 58; Westervelt 1923, S. 65–78; Malo 1951, S. 6 f.; Remy 1861, S. 3 f.; Fornander 1969, Bd. 2, S. 33 –40).

Dieser Paao-Mythos ist grundlegend. Ohne eine ausführliche Analyse zu versuchen oder seine verschiedenen Versionen zu vergleichen, möchte ich im Hinblick auf den hier interessierenden Gegenstand doch einige seiner Anspielungen verdeutlichen.

Bei Kukailimoku handelt es sich um den personalen Eroberergott berühmter Herrscher auf der Insel Hawaii, unter denen Kamehameha und dessen Vorgänger zur Zeit des Kapitän Cook, Kalaniopuu, besondere Beachtung verdienen. Kapawa (auch bekannt als Heleipawa), der von Paao gestürzte Herrscher, verkörpert einen anderen Typus von Häuptling und Kult. Der Überlieferung zufolge war Kapawa der erste Häuptling Hawaiis. Er wurde beim Tempel von Kukaniloko im Landesinnern von Oahu geboren und dort auch ins Amt eingesetzt. Dieses Gebiet, der Tempel und die Einsetzungsriten bezeichnen einen früheren, mehr einheimischen Typus eines regierenden Häuptlings: ihn zeichnete aus, daß er die Nachfolge eher aufgrund von Geburtsrecht und Tabustatus als durch Usurpation antrat, daß er sich seinem Volk gegenüber wohlwollend verhielt, die landwirtschaftliche Erzeugung förderte und andere Wohltaten gewährte und daß er vor allem ein Häuptling war, der keine Menschenopfer forderte (Kamakau, in: Thrum 1923, S. 85–93).