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Der Tod ist erschöpft. Seit Jahrtausenden begleitet er die Lebenden ins Jenseits - zuverlässig, gewissenhaft, aber ohne Pause. Als die Welt immer widersprüchlicher wird und selbst höhere Prinzipien ihren Zweck in Frage stellen, reicht er im Jenseits-Ministerium seine Krankmeldung ein. Begründung: Sinnkrise. Er verlässt seinen Posten - freiwillig - und betritt die Welt der Menschen. Mit nichts als einem schwarzen Mantel, einer abgewetzten Sense und einem vagen Gefühl von Neugier beginnt er eine Reise, die er selbst nicht ganz versteht. Auf seinem Weg begegnet er alten Freunden wie Frau Zeit, der Liebe und der Geburt. Er spricht mit alten Männern in Parks, beobachtet Kinder beim Spielen, setzt sich zum Friseur - und beginnt, zum ersten Mal in seiner Existenz, das Leben nicht nur zu sehen, sondern zu hinterfragen. Was ist dieses Leben eigentlich - und warum halten die Menschen so verzweifelt daran fest? Während im Ministerium der überforderte Engel Komo versucht, das entstandene Chaos in den Griff zu bekommen, entdeckt der Tod draußen etwas, das ihm bisher fremd war - Gefühl. Neugier. Vielleicht sogar Sehnsucht. Der Tod macht Urlaub ist ein humorvoller, tiefgründiger Kurzroman über das Menschsein, die Notwendigkeit von Pausen - und die leise Ahnung, dass selbst das Ende manchmal einen Anfang bedeutet.
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2025
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W.M.R. van Helbing schreibt Geschichten, die das Leben in all seiner Absurdität, Tiefe und Schönheit spiegeln – mal sarkastisch, mal zärtlich, mal schonungslos ehrlich. Seine Texte bewegen sich zwischen schwarzem Humor und stiller Philosophie, zwischen kosmischem Chaos und menschlichem Kleinkram. Immer aber mit einem Blick für das, was unter der Oberfläche liegt.
In seinem neuen Werk Der Tod macht Urlaub – Wenn der Sensenmann seinen Schreibtisch räumt begegnet uns der Tod nicht als grausamer Schnitter, sondern als überarbeiteter Beamter mit Sinnkrise. Er reicht seine Krankmeldung ein, verlässt das Jenseits-Ministerium und begibt sich auf eine Reise in die Welt der Lebenden – auf der Suche nach dem, was das Leben eigentlich lebenswert macht.Was folgt, ist eine ebenso komische wie tiefgründige Erkundung des Menschseins: Der Tod trifft auf Zeit, Liebe und Geburt, auf nervöse Engel, gesprächiger Friseure und stille Parks voller Leben. Es ist ein philosophischer Kurzroman über Pausen, Übergänge und die Kunst, sich selbst nicht zu verlieren – selbst wenn man der Tod ist.
Mit feinem Witz, klarem Blick und poetischer Melancholie erzählt W.M.R. van Helbing von den kleinen Dingen, die in einer unendlichen Welt Bedeutung bekommen – und davon, dass manchmal selbst der Tod eine Pause braucht, um das Leben zu verstehen.
Das erste Lächeln des Todes
Kapitel 1 – Schnitt und Schicksal
Kapitel 2 – Pause
Kapitel 3 – Komatös
Kapitel 4 – Freunde fürs Leben
Kapitel 5 – der neue „Anzug“
Kapitel 6 – Chaos
Kapitel 7 – „Endstation , Zug fährt zurück“
Kapitel 8 – Ein Trio mit Leben / Urlaubssperre
Ein Schatten schlich durch die Zeit,
Mit Schwingen, schwarz wie Ewigkeit.
Er kannte das Ende, die leise Pein,
Doch wusste er nicht, was Leben sei.
Kein Lachen, kein Schreien, kein klopfendes Herz,
Kein Sonnenaufgang, kein Liebes-Schmerz.
Nur das Zählen der endlichen Schritte,
Und das sanfte Schließen der letzten Ritte.
Doch eines Morgens, im Dämmerlicht,
Wachte er auf und fragte sich:
„Was ist das, das ich nie gesehen?
Dieses Flimmern, dieses Streben, dieses Wehen?“
Er sah den Menschen, wie sie gingen,
Wie sie sangen und tanzten und flogen wie Vögel,
Und plötzlich, in einem seltsamen Traum,
War der Tod nicht mehr nur der stille Raum.
Er wollte mehr als nur das Ende sein,
Wollte fühlen, was das Leben meint.
Doch das Leben, so lebendig, so wild und frei,
War für den Tod ein Rätsel dabei.
„Was würde ich tun, wenn ich es könnte?
Das Leben leben, in all seiner Huldigung und Töne?“
Ein Lächeln brach durch seine graue Miene,
Und das Leben, es flog wie die ersten Flügel in den Wind.
So begann der Tod, sich neu zu fragen,
Zu lachen, zu weinen, zu lieben, zu tragen.
Denn was wäre das Leben, wenn wir’s nie erfahren?
Ein ungeschriebenes Buch, leer und ohne Farben.
Und so, mit einem leisen Lächeln im Gesicht,
Schlief der Tod ein – und erwachte im Licht.
Ein neuer Anfang, der in ihm wohnt,
Der Tod, der endlich das Leben kennt.
W.M.R. van Helbing
Stellen Sie sich vor: Der Tod, dieser altgediente Beamte des Universums, schnippt mit den Fingern und sagt eines Morgens: „Weißt du was? Heute nicht.“ Keine toten Seelen mehr, keine Last der finalen Entscheidungen, kein gesichtsloser Mantel, der die Welt überblickt. Was, wenn der Tod einfach nicht mehr zum Dienst erscheint? Was, wenn er einfach auf die Uhr schaut, die Schlüssel zur Pforte in der Hand, und denkt: „Ach, heute könnte ich mal einen Tag für mich haben.“
Vielleicht begibt er sich einfach auf einen langen Spaziergang. Vielleicht lässt er den Helm zu Hause, zieht die kaputten Sneakers an, die er so lange nicht mehr getragen hat, und läuft einfach los. Der Tod, der sich mal eine Auszeit gönnt. Er hört den Wind in den Bäumen und merkt zum ersten Mal seit Äonen, wie das Gras unter seinen Füßen kitzelt. Keine Seelen mehr, die er begleiten muss. Keine Fragen über das „Was nun?“ oder „Wo geht’s hier hin?“ Keine Abschiede mehr, nur die einfache, schlichte Existenz eines Wesens, das einmal ein allwissender Dämmermann war und jetzt eine seltsame Freiheit entdeckt, die ihm zuvor immer entglitten war.
„Was, wenn der Tod nicht mehr zum Dienst geht?“ fragt man sich vielleicht. Was würde das für uns alle bedeuten?
Zuerst einmal, liebe Leser, bricht natürlich völliger Chaos aus. Klar, stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn der Tod einfach beschließt, die Tür zu schließen und das Büro für immer zu verlassen. Keine Pforten mehr, keine „Endstation“ mehr, und vor allem keine Geister, die sich beschweren, weil sie ihre Sachen nicht rechtzeitig erledigt haben. Die Seelen würden sich einfach im Raum verlieren, wie eine Gruppe von vergessenen Socken nach der Wäsche. Nichts könnte mehr richtig enden. Und das Leben? Oh, das Leben würde wie eine ewige Warteschleife von Schülerin-auf-dem-Flur und Handwerker-auf-dem-Teppich werden. Niemand würde wirklich wissen, was zu tun ist.
Stellen Sie sich das vor: Die Menschen laufen ziellos umher, ihre To-Do-Listen endlos, ihre Sorgen noch länger. Jeder wartet auf den Anruf, den Brief, den Moment, in dem ihnen gesagt wird: „Ja, du bist an der Reihe. Dein letzter Flug ist jetzt bereit zum Boarding.“ Aber dieser Anruf kommt nie. Die Liste bleibt unendlich lang. Der Gedanke, dass das Leben ohne ein wirkliches Ende weitergeht, würde die Menschen in den Wahnsinn treiben. Ein kleiner Hauch von Freiheit, der sich als teuflischer Albtraum entpuppt.
Der Tod könnte sich also zurücklehnen, sich in einem bequemen Stuhl zurückziehen und einfach zusehen. Zusehen, wie wir Menschen mit der schieren Unendlichkeit des Lebens umgehen – wie wir uns verzweifelt nach einem Ausweg sehnen, ohne zu wissen, dass dieser Ausweg immer da war, er nur nie in den Spiegel geguckt haben, um ihn zu erkennen. Was, wenn der Tod sich einfach zu einem, sagen wir, mittelmäßigen Bier in der Hand entschließt und uns im Chaos der Lebenserwartungen und ängstlichen Unwägbarkeiten allein lässt?
Philosophisch betrachtet würde das den Menschen das größte Geschenk machen: Die Chance, sich selbst zu begegnen. Vielleicht, und das ist eine gewagte Theorie, würde es den Menschen die Fähigkeit zurückgeben, das Leben als etwas anderes zu sehen – nicht als etwas, das irgendwann ein Ende hat, sondern als eine kontinuierliche, sich immer wieder verändernde Reise. Eine Reise, die auch ohne den Tod irgendwann zu einem Ziel kommen würde, weil wir uns selbst die Erlaubnis geben würden, unser eigenes Leben zu beenden – in dem Moment, in dem wir sagen: „Es reicht, das war’s, ich habe es gelebt.“ Natürlich könnte es auch ganz anders laufen: Wir wären völlig überfordert. Wie Kinder in einem Süßwarengeschäft ohne Aufsicht würden wir uns in der Unendlichkeit des Lebens verlieren, ohne zu wissen, wann und wo wir wirklich anhalten sollten. „Aber wofür lebt man eigentlich, wenn man nie weiß, wann es zu Ende ist?“, fragt sich der eine oder andere. Und das ist die Essenz der Frage: Was, wenn der Tod wirklich einfach nicht mehr käme? Würden wir das Leben mehr schätzen oder uns einfach im ewigen Chaos verlieren?
Aber am Ende – und das ist der schöne Teil – würde der Tod vielleicht genau das tun, was er immer getan hat: Er würde uns wieder finden. Denn der Tod ist, und das wird oft übersehen, nicht der Feind des Lebens, sondern der geheime Verbündete. Wenn der Tod also plötzlich eine Auszeit nimmt, würde er uns nur auf eine seltsame, fast groteske Weise einladen, unser Leben zu betrachten und zu begreifen, dass es nicht der Abschluss ist, der das Leben ausmacht, sondern das Leben selbst. Und wer weiß, vielleicht ist es genau dieser Moment, in dem wir die wahren, tiefen und intensiven Momente der Existenz wirklich erkennen.
Denn, so denkt der Tod in seiner bescheidenen Pause, auch er ist nur ein Teil dieses seltsamen Spiels, das wir „Leben“ nennen. Und ab und zu, nur für einen Moment, ist es auch gut, einfach mal nicht zu wissen, was als nächstes kommt – und einfach zu leben.
Es roch nach verbranntem Kaffee und Formaldehyd, als der Tod seine Sense an den Nagel hängte. Wörtlich. Direkt neben der Bürotür, zwischen der Feuerlöscherstation und dem Spind des Erzengels für Personalkoordination. „
Achtung, Lebensgefahr!“, stand auf dem Schild darunter. Alte Ironie aus besseren Tagen.
Seit 12.431 Jahren, 3 Monaten und 7 Tagen hatte er keinen einzigen Tag freigenommen.
Er war müde. Nicht körperlich – so etwas wie ein Körper war bei ihm ohnehin eher optionale Deko – aber existenziell erschöpft. Die Menschen starben nicht mehr mit Würde, nicht mal mit Anstand. Sie sprangen freiwillig von Brücken für Likes, steckten sich selbst Chips ins Hirn, fuhren SUV in der Fußgängerzone – und erwarteten ihn, das Chaos danach aufzuräumen.
„Lieber Tod, kannst du nächste Woche den Krieg in Osteuropa übernehmen? Ich hab da noch einen Workshop zu 'achtsamem Loslassen' in Tibet.“
So klang die letzte Mail von Karma, dem faulen Esoterikhippie mit Sandalenpflicht im Ministerium.
Er schnaubte. Oder hätte geschnaubt, wenn er Lungen gehabt hätte. Stattdessen gab er ein leises Flackern von sich, so wie ein überlasteter Stromkasten kurz vor der Explosion.
Er zog das Formular „Krankmeldung mit Aussicht auf Sinnkrise“ aus der Schublade, füllte es mit krakeliger Handschrift in schwarzer Tinte aus (natürlich schwarze Tinte – alles andere wäre geschmacklos gewesen), unterschrieb mit „Tod“ und legte es auf den Schreibtisch von Frau Zeit.
Zeit hatte einen Kalender, der drei Jahre im Voraus durchgeplant war.
Geburten, Tode, Verliebtheiten, Aufwachmomente, große Entscheidungen, kleine Zufälle.
Alles lief über ihre Schreibtischuhr – ein antikes Modell, das surrte, klickte, sang, wenn’s sein musste.
Aber niemand fragte sie je: „Hey, Zeit, wie geht’s dir eigentlich?“
Alle wollten mehr von ihr.
Mehr Minuten zum Schlafen, Mehr Jahre zum Leben, Mehr Sekunden zum Reden
Und wenn etwas schiefging? „Tja, die Zeit heilt alle Wunden“, sagten sie.
Nie: „Danke, Zeit.“
Immer: „Warum vergeht sie so schnell?“ oder „Warum steht sie still?“
Zeit hatte eine Lieblingsbeschäftigung:
In Cafés sitzen und Menschen beobachten.
Wie sie eilen. Wie sie warten. Wie sie sich verlieren in Gesprächen, Blicken, Sorgen.
Und manchmal, ganz manchmal, schenkte sie jemandem einen Moment, der sich wie Ewigkeit anfühlte.
Denn sie wusste: Zeit war nie die Gegnerin.
Sie war der Rahmen, in dem alles überhaupt erst Bedeutung bekam.
Sie hatte schon viel Geduld mit ihm gehabt – immerhin war sie seine älteste Freundin.
„Ich bin dann mal… leben“, murmelte er, zog den langen, schwarzen Mantel an und verließ das Ministerium. Ohne sich umzudrehen.
Das Tor zur Menschenwelt öffnete sich mit einem leisen Plopp, als hätte jemand die Frischhaltefolie des Universums angehoben. Der Tod trat hindurch.
Statt in einer künstlerisch verregneten Pariser Seitenstraße oder wenigstens auf einem nebligen Hochmoor in Schottland landete er – durch einen bedauerlichen Fehler in der Koordinatenabteilung – in einem Parkhaus in Castrop-Rauxel.
Ebene -2, direkt neben einem leeren Einkaufswagen, einem vergessenen Roller und einem mannshohen Plakat: „Leben Sie bewusster – mit dem neuen Bioburger!“
Er seufzte.
Beziehungsweise: Ein Teil seiner Aura senkte sich um genau sieben Prozent.
Das war bei ihm das Maximum an emotionaler Außenwirkung.
Das Licht flackerte. Irgendwo tropfte es.
Der Tod setzte sich auf eine alte Marmorplatte, die offenbar aus Versehen hier deponiert worden war, und starrte auf seine Hände – oder das, was als solche durchging.
Transparenz mit Umriss. Erinnerungen an Fingergelenke.
„Und jetzt?“
Seine Stimme hallte dumpf in die Stille.
Zum ersten Mal seit über zwölf Jahrtausenden hatte er nichts zu tun. Keine Übergänge, keine Ernten, keine Apokalypsen.
Ein Gedanke, so fremd wie veganes Gulasch in der Kantine des Höllenarchivs.
Er beschloss, nachzusehen, wie das Leben sich inzwischen anfühlte. Wenn man schon frei hatte, sollte man es wenigstens… probieren.
Ein wenig Erdenzeit. Nicht als Sammler, sondern als Spaziergänger.
Er trat auf die Straße. Der Himmel war grau, die Menschen gestresst, ein
Kind schrie nach Eis.
Ein Bus hupte.
Ein Mann schrie in sein Handy: „Wenn du noch einmal sagst, ich soll loslassen, dann lass ich dich wirklich fallen, Sabine!“
Der Tod lächelte.
Oder versuchte es zumindest.
Zwanzig Minuten später stand er in einem Friseursalon.
„Schnitt und Schicksal – Haare mit Haltung“ stand in geschwungener Schrift auf dem Schaufenster. Darunter ein kleiner Zettel:
Heute: Spontankunden willkommen. Schicksale eher nach Vereinbarung.
Im Innern roch es nach Haarspray, Nervosität und Frustration.
Der Tod liebte diesen Duft.
Er war… menschlich.
„Sie haben einen Termin?“
Die Rezeptionistin kaute Kaugummi und sah ihn nicht wirklich an.
„Nein. Ich bin… einfach da.“
„Tja, wie wir alle. Nehmen Sie Platz.“
Er setzte sich, betrachtete die Menschen.
Ein älterer Herr ließ sich den Bart in geometrische Formen rasieren.
Eine junge Frau starrte apathisch in einen Spiegel, während ihre pinken
Extensions wuchsen wie Scham.
Ein Baby schrie.
Ein Friseur summte leise einen Schlager, der vor zwanzig Jahren bereits zu alt war, um peinlich zu sein.
Es war… seltsam friedlich.
Dann geschah etwas Ungewöhnliches:
Der Tod sah sich selbst im Spiegel.
Oder vielmehr: Er sah das, was die Welt von ihm hielt.
Eine dunkle Gestalt, ein leerer Schatten mit feinen Konturen. Keine
Augen. Kein Mund. Und doch – ein Ausdruck.
Müde. Suchend. Vielleicht sogar… neugierig?
„Tod?“, fragte plötzlich eine warme Stimme.
Er drehte sich um.
Frau Zeit stand in der Tür, eine Thermoskanne in der Hand.
„Du hast deinen Mantel falsch zugeknöpft.“
Der Tod sah an sich herab. Tatsächlich – der unterste Knopf saß in der zweituntersten Schlaufe. Ein Knopfloch zu hoch. Er wirkte wie ein schlecht kopiertes Menschsein.
„Es ist Absicht“, log er.
Frau Zeit trat ein, ließ die Tür sanft hinter sich ins Schloss fallen. Ihr Mantel roch nach trockenem Lavendel und Staub aus Bibliotheken, die schon lange nicht mehr existierten. Ihr Haar war silbern, ohne alt zu wirken. Zeit alterte nicht. Zeit faltete nur.
„Du siehst... erschöpft aus“, sagte sie, stellte die Thermoskanne auf den abgewetzten Friseurtisch und nahm sich einen Hocker, als wäre sie Stammgast im Nirgendwo. Sie goss sich Kaffee in eine emaillierte Tasse mit der Aufschrift: 'Kaffeepause: Jetzt, später, immer.'
Der Tod verzog das Gesicht. Oder versuchte es. Es war schwer, Mimik zu imitieren, wenn man aus Nebel bestand.
„Ich habe Urlaub“, murmelte er. „Erzwungen. Sinnkrise. Formular 7b mit Zusatzblatt für metaphysische Erschöpfung.“
„Ich weiß.“ Zeit lächelte dünn. „Du hast’s auf meinen Schreibtisch gelegt. Zwischen das Antragspaket der Apokalypse und die
Wiedereingliederung von Nostalgie ins Ministerium. Du warst immer schon... gründlich.“
Er sagte nichts. Nur das Summen des Friseursalons füllte den Raum – obwohl niemand außer ihnen beiden da war. Kein Kunde, kein Personal, nur verlassene Haarspraydosen auf Regalen und ein vergilbtes Poster von 1986 mit der Aufschrift „Der Mensch ist, was er trägt – auch auf dem Kopf.“
„Was hast du vor?“, fragte sie schließlich.
„Ich weiß es nicht.“
Er schien selbst über die Antwort erschrocken. „Leben? Oder so tun als ob.“
Frau Zeit nahm einen Schluck Kaffee.
„Du kannst nicht einfach leben. Du bist der Tod.“
„Vielleicht genau deswegen.“ Er stand auf. „Ich will herausfinden, warum sie alle so verzweifelt daran festhalten. An diesem Chaos, das sie Leben nennen.“
Sie sah ihn lange an, dann nickte sie langsam.
„Dann geh. Aber sei vorsichtig. Leben ist... unberechenbar. Es hat Nebenwirkungen.“
„Welche?“, fragte er.
„Emotion. Irrsinn. Hoffnung.“ Sie machte eine Pause. „Und manchmal: Sinn.“
Der Tod drehte sich zur Tür.
„Vielleicht. Vielleicht finde ich ja jemanden, der mir das alles erklärt. Ein Mensch, der noch weiß, wie man stirbt, ohne sich vorher zu verkaufen.“
Zeit stand auf. „Und wenn du ihn findest?“
„Dann frage ich ihn, warum er lebt.“
Er griff nach seiner schwarzen Sonnenbrille – ein Geschenk von Sensenmann-Kollege Javier aus dem Referat Tropische Tode – und setzte sie auf.
„Bis bald, Zeit.“
„Bis gleich, Tod.“
Und dann trat er hinaus in die Welt.
Zum ersten Mal ohne Plan. Und ohne Rückflugticket.
Der Tod trat hinaus, und die Tür fiel mit einem kaum wahrnehmbaren Klicken ins Schloss.
Draußen war die Welt noch immer dieselbe, wie er sie verlassen hatte – chaotisch, hektisch, atemlos. Menschen stürmten über die Straßen, fast alle mit den Augen auf ihre Smartphones fixiert, als ob das Universum in ihren Handys war und nicht da draußen, unter ihren Füßen. Der Verkehr dröhnte, hupende Autos, ein wütender Radfahrer, der an einem Lkw vorbeizischte – eine Mischung aus Lärm und Rastlosigkeit, die niemals enden schien.
„Verdammt, wo fange ich an?“, murmelte der Tod vor sich hin und schaute auf die endlosen Gesichter um ihn herum. Sie waren wie Spiegel, die in alle Richtungen gleichzeitig schauten, aber nie zu sich selbst.
Er ging in Richtung des Parks, dem einzigen Ort, der in diesem Trubel noch ein wenig Ruhe ausstrahlte – oder zumindest den Versuch, Ruhe zu simulieren. Er setzte sich auf eine Bank, die „Reserviert“-Schilder für gelangweilte Pärchen und Geschäftsleute trugen. Hier sollte er zur Ruhe kommen, dachte er, aber das war ein aussterbendes Konzept.
„Leben“, murmelte er und nahm einen tiefen Atemzug – der er nie wirklich hatte. Es war mehr ein Leeren der Existenz. Doch was er damit meinte, war der Absurdismus der Sache. Wer lebt hier wirklich?
Der Tod beobachtete, wie ein Mann mit einem Hund an ihm vorbeiging, den Hund am Halsband ziehend, während er gleichzeitig versuchte, auf seinem Handy eine Nachricht zu tippen. Es gab so viel, was er verstehen wollte, aber so wenig Zeit, es zu ergründen.
„Hallo, Tod“, sagte eine Stimme, die wie fließendes Wasser klang und doch fest und klar war.
Er schaute auf und erkannte sie sofort.
„Liebe“, sagte er. „Was machst du hier?“
Liebe war müde.
Nicht erschöpft wie nach einem Marathon – sondern müde wie eine Mutter von 78 Kindern, die alle gleichzeitig rufen: „Warum krieg ich nicht das, was ich will?“
Sie war schon da gewesen, bevor Menschen Worte für sie hatten. Bevor das erste Herz schneller schlug, bevor das erste Baby in Mamas Armen lag. Sie war der Knoten im Bauch, der Kloß im Hals, das Kribbeln im Knie.
Und sie war überall.
Das Problem war nur: Niemand hörte ihr zu.
Sie hatte versucht, sich Gehör zu verschaffen:
In großen Gesten („Hier, ein Feuerwerk!“) , in winzigen Details („Guck mal, wie er ihr die Haare aus dem Gesicht streicht…“), in Verlusten („Jetzt, wo sie weg ist, merkst du, was sie bedeutete.“)
Aber trotzdem… wurde sie immer wieder verwechselt:
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Liebe hatte sich irgendwann angewöhnt, still zu arbeiten.
Sie wirkte lieber durch Blicke.
Durch Schweigen.
Durch die Art, wie jemand „Bleib.“ sagt.
Und sie hatte gelernt, dass sie manchmal auch gehen musste, damit Menschen sie verstehen konnten.
Doch manchmal – ganz manchmal – dachte auch Liebe:
„Ich will nur einmal einen freien Tag. Nur einen. Ohne Drama. Ohne Herzklopfen. Nur… Ruhe.“
Aber dann passierte es.
Ein alter Mann in einem Pflegeheim hielt die Hand seiner sterbenden
Frau.
„Warte auf mich“, flüsterte er.
Und Liebe war wieder ganz da.
Stiller, wärmer, echter als jede Hollywood-Szene.