Der Trinker: Roman - Katarina Botsky - E-Book

Der Trinker: Roman E-Book

Katarina Botsky

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Beschreibung

In "Der Trinker" entfaltet Katarina Botsky ein vielschichtiges Porträt eines gescheiterten Lebens, das um den Hauptprotagonisten kreist, dessen Suche nach Sinn und Identität durch den Konsum von Alkohol geprägt ist. Der Roman kombiniert poetische Sprache mit einem schonungslosen Realismus, wodurch Botsky die Abgründe der menschlichen Existenz und die Verstrickungen von Sucht und Selbstzerstörung eindringlich thematisiert. In einem atmosphärischen Kontext, der sowohl die inneren Konflikte des Protagonisten als auch die dynamische Beziehung zu seiner Umgebung beleuchtet, erforscht die Autorin die Mechanismen, die zu einem solchen Verfall führen. Katarina Botsky, eine aufstrebende Stimme der zeitgenössischen Literatur, zeichnet sich durch ihre empathische Erzählweise und tiefgründige Charakterstudien aus. Ihre persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen in den urbanen Räumen zeichnen das Bild einer Gesellschaft, in der Einsamkeit und Verzweiflung oft über den persönlichen Triumph siegen. Botskys Interesse an psychologischen Themen fließt deutlich in die Entwicklung ihrer Charaktere und deren komplexer Beziehungen ein. "Der Trinker" ist ein unabdingbares Werk für Leser, die sich mit Fragen der menschlichen Zerbrechlichkeit und den Folgen von Sucht auseinandersetzen möchten. Die eindringlichen Schilderungen und Botskys lyrische Sprache machen den Roman zu einer tiefgehenden Lektüre, die sowohl emotional berührt als auch intellektuell herausfordert. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt und lange im Gedächtnis bleibt. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Katarina Botsky

Der Trinker: Roman

Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2022
EAN 4064066434366

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Deutsche Romane und Erzählungen

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Es war ein Frühlingsnachmittag voll Melancholie und Windesraunen, so recht geeignet für trübe Gedanken. Die Hände auf dem Rücken, die Mütze im Nacken, lehnte John an einem Lastwagen auf dem stattlichen Hofe seines Vaters, dem verworrenen Liede des Windes lauschend. Sein schönes Gesicht war von der Trunksucht aufgedunsen, sein schwarzes Haar dünn und halb ergraut, obgleich er erst siebenundzwanzig Jahre wurde, seine hohe elegante Figur verriet Schlaffheit und Hinfälligkeit. John sah wie ein verworfener junger römischer Kaiser aus, der sich in die Tracht eines jungen Mannes von heute gekleidet. Mit einem trüben Imperatorenlächeln auf seinem feisten, bartlosen Gesicht wiegte er den Kopf hin und her nach einer inneren Melodie und nach dem Rhythmus des Windes. Seine beiden jüngeren Brüder, Knaben von dreizehn und vierzehn Jahren, standen am Fenster und beobachteten ihn. Der ältere sagte: »Er wackelt schon wieder mit dem Kopf wie ein Mummelgreis.«

»Rodenberg!« schrie John plötzlich, seine beiden schlaffen Hände wie ein Schallrohr gebrauchend.

Rodenberg, der alte Kutscher, streckte seinen rothaarigen Kopf aus der dritten Etage des Ziegelspeichers heraus und fragte, was es gäbe.

Alsbald brüllte John, daß es über den ganzen Hof schallte: »Wissen Sie, was der Doktor gesagt hat, Rodenberg?! Meine Leber ist kaputt, hat er gesagt. Ich hab's durch die Tür gehört.«

»Glauben Se doch das nich!« tönte es von oben zurück, und bald klapperten ein Paar Holzpantoffeln hurtig die letzte Treppe herunter, und gleich darauf tauchte ein hünenhafter alter Germane mit einem langen, fuchsroten Bart im Rahmen der nächsten Speichertür auf. »Was hat'r jesacht, der Schafskopp?« fragte der Kutscher.

»Kaputt, hat'r jesacht,« kicherte John, sich auf den Bauch tätschelnd.

Rodenberg entblößte sein Pferdegebiß und lachte, daß es dröhnte. Dabei hüpften die großen, kugelrunden Warzen, die wie Erbsen über sein geräumiges Gesicht verstreut waren, munter hin und her. »Nei sowas! Nei sowas!« schrie er, sich aufs Knie schlagend. »Wie will so'n Schafskopp das wissen?!«

John lächelte so listig und so kindisch, wie einst vielleicht Caligula gelächelt hatte. »Hier,« sagte er, dem Alten verstohlen eine Flasche reichend, »holen Sie mir meine Mischung. Auf sowas muß man einen trinken. Meinen Se nich auch?«

Rodenberg meinte auch. Er war immer dabei, wenn es galt, Johns Mischung zu holen, denn er liebte sie selbst leidenschaftlich.

»Mama!« riefen die beiden Jungen am Fenster wie aus einem Munde, »jetzt läßt er sich schon wieder von Rodenberg Schnaps holen.«

»Mein Gott,« sagte eine larmoyante Frauenstimme im Nebenzimmer, »laß er schon trinken! Jetzt ist ja doch schon alles gleich!«

Der blondlockige jüngere der beiden Brüder sah wie ein eingebildeter Engel aus, der ältere glich John. Der Engel öffnete seine roten Lippen und sagte, während seine großen blauen Augen verträumt durchs Fenster blickten: »Wenn er doch erst tot wäre!«

»Pfui, Leo, wie kannst du nur, es ist doch immer dein Bruder!« verwies ihn dieselbe larmoyante Stimme in traurigem Tone.

»Ich muß ihn mir doch schon immer als Leiche vorstellen,« murmelte der ältere Junge.

Fast die ganze Familie Zarnosky zeichnete sich durch Roheit und ein ungewöhnliches Maß von Phantasie aus. Durch eine Phantasie, die nichts als Unheil stiftete, da sie das Unglück hatte, einer rohen und dumpfen Kaufmannsfamilie zu gehören, die nicht wußte, was sie mit ihr anfangen sollte. Es gab Zarnoskys, die vom Morgen bis zum Abend, sich und andern zum Verderben, die seltsamsten Lügen zur Welt brachten, weil ihre brachliegende Phantasie, derer sie sich indessen kaum bewußt waren, sie unwiderstehlich dazu trieb. Anstatt Bücher zu schreiben, verkauften sie Getreide; allerdings weder aus Neigung noch aus Betätigungsdrang. Johns Großvater, der Sohn eines reichen Bauern, hatte, um etwas Besseres zu sein als sein Vater, den Handel mit Getreide begonnen, und nun setzten ihn seine Söhne eben fort, weil ihnen das am bequemsten schien. Denn sie waren sehr faul und gegen alle Neuerungen; sie wollten bleiben, was sie waren. Da ihnen das Glück, trotz ihrer Trägheit, gewogen blieb, so meinten sie, daß Trägheit zum Erfolge notwendig sei, saßen mit den Stiefeln knarrend in ihren Kontoren, ließen die Daumen ihrer meistens gefalteten Hände umeinander schwirren – gewöhnlich unter mehr oder weniger märchenhaften Behauptungen und Erzählungen – und taten nie mehr, als durchaus notwendig war. Aber es gab keinen Trinker in der ganzen Familie. Man wußte nicht, wie John zu diesem Laster gekommen war, und zerbrach sich manchmal die Köpfe darüber.

Ein Teil der Familie meinte, daß man ihm zu oft und zu viel zu trinken gegeben, als er zart, fett und weich wie ein kleines Schwein mit einem Gesichtchen wie vom Konditor in der Wiege lag und von allen angebetet wurde. John schien schon damals beständig an Durst zu leiden; er konnte nie genug zu trinken bekommen. Die halbe Familie Zarnosky stand oft in heller Begeisterung um die Wiege, wenn das »Marzipanschweinchen«, halb entblößt, mit einer großen Milchflasche im Arm, den Lutschpfropfen wie eine Zigarre in seinem purpurroten kleinen Mundschlitz, sog und sog, bis die Flasche leer war und dann, wie ein junger Löwe brüllend, nach mehr verlangte.

John wollte trinken oder zerbrechen, zerreißen, zerstören; sein Zerstörungsdrang war ebenso groß wie seine Trinkgier. Schon in der Wiege verdarben seine kraftvollen kleinen Fäuste alles, was sie zu fassen bekamen. Später nahm er die Uhren herunter, sah gierig in sie hinein und zertrümmerte sie dann. Seinem ersten Schaukelpferde riß er schon am Weihnachtsabend das Fell ab. »So sieht es gerade fein aus,« sagte er befriedigt. Doch was war der Körper eines Schaukelpferdes gegen seinen eignen, den er bald mit dem Eifer eines hungrigen Raubtieres zu zerstören begann. Mit seinem ersten Taschenmesser brachte er sich lange, heftig blutende Risse an beiden Armen bei. »Da seht!« Blut und Stolz auf dem Gesicht, stellte er seine Wunden zur Bewunderung aus. John war vielleicht wirklich dazu imstande, sich ein Auge auszureißen, »wenn es ihn ärgerte«. Er stürzte sich mit Wollust in die schwersten Gefahren; denn seine Phantasie berauschte sich am Anblick von Blut, Fetzen und Trümmern.

Als er sechzehn Jahre alt war, spielte er mit Fünfzigpfundgewichten wie mit Gummibällen. Sein Körper war so weiß wie der eines Mädchens, von der Stärke und Elastizität eines Tigers. Lernen wollte er nichts wie alle Zarnoskys. Anstatt zu lernen, ging er eiserne Zäune verbiegen, durchgehende Pferde aufhalten, armen Leuten Holz kleinmachen, trinken und lügen. Ein Überschuß an Kraft und Phantasie, brachliegend und ungezügelt, trieb ihn mit Gewalt dem Verderben entgegen.

Mit siebzehn kam er ins väterliche Geschäft, wie sein um ein Jahr älterer Bruder Eugen. (Die Physiognomie dieses Zarnoskys war etwas hämisch ausgefallen, und er stand vernünftigen Neuerungen nicht ganz feindlich gegenüber.) Anstatt fleißig zu sein, ließ John die Daumen umeinander schwirren und log im Kontor, daß es förmlich ein Vergnügen war, ihm zuzuhören. Er log fast soviel als er trank, die ganze Welt, selbst seine nächsten Angehörigen verleumdend, wenn er so recht beim Aufschneiden war. Den Anlagen und dem Charakter nach war er einem seiner Onkel, der auch John hieß und allgemein »der Märchenerzähler« genannt wurde, viel ähnlicher als seinem eignen Vater.

Es nützte nichts, daß man John sowohl mit neunzehn wie mit einundzwanzig in eine Anstalt schickte, in der er von der Trunksucht geheilt werden sollte; er verfiel seinem Laster immer wieder. Doch wollte er lieber sterben, als noch ein drittes Mal in diese Anstalt gehen. Mit der Geschwindigkeit eines Bergrutsches ging es nun moralisch und physisch mit ihm herab. Sein Umgang wurden die Arbeiter seines Vaters, zum Lieblingsaufenthalt erwählte er sich die Kneipe, in der sie einen Teil ihres Lohnes zu vertrinken pflegten. Er sprach ihre Sprache und nahm ihre Sitten an. Man konnte ihn nicht länger im Familienkreise ertragen. Er bekam eine kleine Wohnung im Hofgebäude und eine Wärterin, die ihn gewöhnlich am Abend zu Bett bringen mußte. Er begann an Krämpfen zu leiden, und Krankheit und Laster entstellten ihn nach und nach bis zur Unkenntlichkeit. Einer Vogelscheuche ähnlich, die im Winde schwankt, so schwankte er über den Hof, wenn er morgens nach der Kneipe ging, wenn er abends von dort kam. Und er hatte den Gang eines jungen Triumphators, als er sechzehn Jahre alt war. Es war wirklich schade um ihn. Besser, er wäre nie geboren worden; denn weder sein Vater noch seine Mutter gehörten zu denen, die ihn auf seinem abschüssigen Wege hätten aufhalten können. Der Vater war viel zu ungebildet und zu träge dazu, und die Mutter, eine schwächliche und überaus nervöse Pfarrerstochter, verstand nur, die Hände zu falten und alles dem lieben Gott anheimzustellen. Sie brachte noch mehr Phantasie in die Familie Zarnosky, dazu Melancholie und Sentimentalität, die zusammen mit der Roheit ihres Mannes bei den Kindern eine sonderbare Mischung ergaben. All der Überschuß in Johns Natur war viel stärker als Vater und Mutter und sein eigner unerzogener Wille. John folgte nur seiner Natur, John gehorchte nur dem Stärksten, wenn er seinen Lebensweg herunterraste wie ein wütender Stier.

Es war ein Frühlingsnachmittag voll Melancholie und Windesraunen, so recht geeignet für trübe Gedanken. John lehnte noch immer an dem Lastwagen, voller Sehnsucht auf Rodenberg wartend, der ihm den Schnaps besorgte. Mit einem trüben Imperatorenlächeln auf seinem gelben, bartlosen Gesicht wiegte er den Kopf hin und her nach einer inneren Melodie und nach dem Rhythmus des Windes. Als er den Kutscher kommen sah, verließ er schwerfällig seinen Platz und ging ihm voraus in den Pferdestall. Dort setzte er sich auf den Futterkasten, die Augen wie ein Verschmachtender auf die Tür gerichtet.

»Her, Rodenberg, her damit!«

»Ich werd erst Licht machen, jung' Herr.«

»Ach, geben Sie schon her! Ich kann nicht mehr warten!« Und er setzte die volle Flasche an den Mund und leerte sie gleich bis zur Hälfte.

Aus einem Winkel des Stalles kam jetzt ein niedliches Meckern. Dort stand ein kleiner schwarzer Ziegenbock mit weißen Beinen und weißer Kehle, den John für fünfzig Pfennige von einem Bauern gekauft hatte. Das Tierchen wollte zu ihm, als es seine Stimme erkannt hatte. Rodenberg mußte es losmachen.

Wie der Wind stürzte es nun zu seinem Herrn, legte die Vorderhufe auf seine Knie und sah ihm lieb und einfältig ins Gesicht. Von Rodenberg unterstützt, zog John es auf den Schoß. »Mein trautster Junge,« sagte er zärtlich, das Böckchen an sich drückend.

In John war trotz aller Verkommenheit der Vater erwacht, ein sehr zärtlicher, sehr fürsorglicher, verliebter junger Vater. Den Frauen gegenüber war er zurückhaltend und jungenhaft geblieben. Er mied sie nicht gerade, aber er suchte sie auch nicht; sie flößten ihm zuviel Scheu ein. »Es geht ja auch ohne Weiber,« erzählte er Rodenberg. Und doch war trotz seiner Verdorbenheit der Vater in ihm erwacht, er hatte sich mit Inbrunst ein Söhnchen erkoren, und das war Peter, der kleine Ziegenbock. John hegte Zuneigung zu allem, was Tier war, und Abneigung vor den meisten Menschen. Man muß sehr hoch oder sehr tief stehen, um das zu empfinden. John stand recht tief, und das Laster machte ihn scheu, darum waren ihm die Tiere lieber als die Menschen. Er nannte ein Tier »mein Söhnchen«. Und der kleine Ziegenbock hatte einen guten Pflegevater in ihm gefunden. John fütterte ihn mit Leckerbissen, er machte ihm ein weiches Bettchen, er kämmte ihn, er bürstete ihn und hielt ihn wie ein Kind auf dem Schoß.

Rodenberg hatte die nächste von der Decke herabhängende alte Stallaterne angezündet und brachte nun eine zweite Flasche zum Vorschein. »Prosit!« sagte das Väterchen auf dem Futterkasten, und Herr und Kutscher taten einen tiefen Zug, jeder aus seiner Flasche. »Se müssen auch mal absetzen, jung' Herr,« bemerkte Rodenberg väterlich, da John dies zu vergessen schien.

John hielt die geleerte Flasche gegen das Licht. Es war auch nicht ein Tropfen mehr darin. John ließ die Unterlippe hängen und sah Rodenberg wie ein bittendes Kind an. »Holen Sie mir mehr!« stotterte er.

»Ich trau mir nich,« wandte der Kutscher ein, die hingehaltene Flasche aus seiner nachfüllend.

»Sie haben wohl Angst vor den beiden am Fenster, vor Paul und Leo, was?«

»Na ja, die petzen doch immer jleich.«

»Ich hasse sie,« stammelte John mit zuckendem Gesicht. »Ich hasse sie! Weißt du, Rodenberg,« fuhr er fort, »sie würden sich freun, wenn ich stürbe – morgen – heute. Was dieser Leo für Augen hat! Hast du schon mal solch gräßliche Augen gesehen, Rodenberg? Ich könnte sie ihm ausreißen, denn sie jagen mich von überall fort. Ich soll machen, daß ich vom Erdboden verschwinde. Ich soll krepieren. Gleich auf der Stelle.« Er weinte.

»Regen Se sich nich auf, jung' Herr, regen Se sich doch man bloß nich auf,« bat der Kutscher erschreckt. Aber John hub an, Schimpfworte und Verwünschungen gegen seine Brüder auszustoßen, indem er unaufhörlich die Fäuste ballte. Doch plötzlich packte ihn ein Krampfanfall, und er glitt stöhnend mit seinem Ziegenbock zur Erde.

Rodenberg kniete bei ihm nieder und hielt ihm wie gewöhnlich Arme und Beine fest, während Peter seinem Herrn das Gesicht leckte. Die beiden jungen Rappen, Johns Lieblinge, die allein im Stall standen, wandten unruhig die Köpfe herum, und ihre großen schönen Augen schienen voll Tränen zu glänzen. Unser Johnche, dachte Rodenberg, die Pferde anblickend, das wird wohl auch bald jewesen sein. Als der Krampf vorüber war, hob er den ganz Erschöpften auf und trug ihn, seufzend und stöhnend, denn er war noch ziemlich schwer, in seine Wohnung. Peter folgte ernst und gravitätisch wie ein Leidtragender.

Dore Kalnis, Johns Wärterin, ein bewegliches Weibchen von siebenundvierzig Jahren, empfing den Zug mit Scheltworten. »Sie sollten sich was schämen, Rodenberg,« fuhr sie ihn zornig an, »natirlich haben Se ihm wieder Schnaps jeholt! Aber ich werd's dem Herrn erzählen, der muß Sie endlich an die Luft setzen.«

»Krämpfe hat'r doch jehabt,« blubberte der Alte, John auf das Sofa bettend. Dann trollte er sich mit einem bösen Blick und einem ganz betretenen »'n Abend«.

John lag mit geschlossenen Augen da und wackelte rhythmisch mit einer Hand. »Wollen Se was, junger Herr?« fragte die Wärterin.

»Peter,« flüsterte John.

»Oa,« seufzte sie, »der is auch wieder da! Neineinei, is das hier 'ne Wirtschaft! Lassen Se ihn doch man jetzt im Stall jehen, junger Herr, Sie müssen doch jetzt ins Bett.« Dabei suchte sie den Bock nach dem Ausgang zu drängen; aber John stieß ein zischendes »nein!« hervor, und Peter senkte seinen schmalen Kopf und stieß mit seinen jungen Hörnern gegen Dores spitze Knie.

Das schlug dem Faß den Boden aus. Die Wärterin hielt den Angreifer fest und verabreichte ihm eine Reihe wohlgezielter und gutsitzender Maulschellen.

John drehte seine Augen mit Gewalt nach der Szene. »Dore,« flüsterte er heiser, »wenn du nicht gleich mit Schlagen aufhörst, so verkürze ich dein Leben.«

Frau Kalnis lachte spöttisch auf, und dann sagte sie maliziös: »Wenn Se mich duzen, junger Herr, dann sind Se doch wie jewehnlich betrunken.«

Das Väterchen auf dem Sofa schien vor Zorn bersten zu wollen. Plötzlich zerrte es die Uhr aus der Westentasche und warf sie nebst der schweren Kette nach Dores dünnbehaartem Kopf. Aber die Wärterin machte nur einen ironischen Knicks und fing das Ganze mit den Händen auf. »Was nun?« fragte sie, ärgerlich lachend. Und dann in eine andre, gemütliche Tonart übergehend: »Was wollen Herr Johnche zu Abendbrot essen?«

Herr Johnche war besänftigt. Er faltete die Hände, ließ die Daumen umeinander schwirren und sah nachdenklich zu der verräucherten Decke auf. »Heringssalat,« entschied er hoheitsvoll.

»Scheen,« nickte Dore mit einem giftigen Blick nach dem Ziegenbock. Darauf schritt sie hurtig zum Fenster, öffnete es und rief: »Ama–lie... Ama–lie«... Da keine Antwort erfolgte, bewaffnete sie sich mit einem Teppichklopfer und schlug damit feierlich auf das Fensterblech.

Im Vorderhause tat sich jetzt ein Fenster auf, und langsam kam ein kugelrunder dunkler Frauenkopf zum Vorschein. »Wa–as wollen Se, Frau Kalnis?«

Dore bestellte den Heringssalat und außerdem belegtes Brot und Bratkartoffeln.

»Wa–as fir Jetränke?« rief Amalie durch den Frühlingswind.

»Tee,« erwiderte Dore hurtig, obgleich John etwas andres sagte.

»Scheen,« kam die langgezogene Erwiderung, und das Fenster wurde phlegmatisch geschlossen.