Der UBS-Crash - Lukas Hässig - E-Book

Der UBS-Crash E-Book

Lukas Hässig

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Fast 70 Milliarden Franken musste die Schweiz bereitstellen, um ihre größte Universalbank - vorläufig? - vor dem Untergang zu bewahren. Noch vor kurzem war die UBS eine der renommiertesten Vermögensverwalterinnen der Welt. Lukas Hässig, versierter Kenner der globalen und speziell Zürcher Bankerszene, rekonstruiert den Niedergang des Unternehmens als exemplarische Geschichte, die überraschende Einblicke in das Geschehen hinter den Kulissen der internationalen Finanzkrise vermittelt. Nicht Irrtümer und Pech führten zum großen Kollaps, sondern Schlendrian auf höchster Stufe, das kalkulierte Ausblenden rot blinkender Warnlichter und die Ignoranz von Managern, die die Geschäftsraison der Gewinnmaximierung unterordneten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 302

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lukas Hässig

DER UBS-CRASH

Wie eine Großbank

Milliarden verspielte

| Hoffmann und Campe |

1. Auflage

Copyright © 2009 by

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

www.hoca.de

ISBN 978-3-455-50115-5

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

Inhalt

Naturgewalt oder Versagen7
Die Eisbergroute21
   1 Die erste Warnung erfolgte 200221
   2 Wie die UBS zum Hedgefonds wurde43
   3 Marcel Ospel beruhigt die Kritiker52
Mit voller Kraft ins Eismeer69
   4 Wachsen, wachsen, wachsen!69
   5 Das A-Team und das B-Team89
   6 Blind ins Verderben107
   7 Der Aufprall135
Alte Mannschaft, neuer Schein156
   8 Der Sturm erfasst die Vermögensverwaltung156
   9 Ein Anwalt packt seinen Koffer181
 10 Wer übernimmt?199
Die Protagonisten213
Anmerkungen217

Naturgewalt oder Versagen

Marcel Ospels letzter Auftritt war bühnenreif. Um 10.32 Uhr an diesem 23. April 2008 trat der Mann, der die UBS zuerst groß gemacht und dann an den Abgrund geführt hatte, ans Mikrophon. 4211 Aktionärinnen und Aktionäre in der weiten Halle zu Sankt Jakob in Basel verstummten. Ospel, vor zweieinhalb Monaten 58 geworden, wirkte ruhig, gelassen, innerlich mit sich im Reinen.

Nicht so wie zwei Monate zuvor, als der UBS-Präsident außerfahrplanmäßig die Eigentümer seiner Bank um Hilfe bitten musste. Die sollten Ja sagen zum 13-Milliarden-Investment von zwei reichen Investoren aus dem Nahen und Fernen Osten. Bevor Ospel damals seine Rede begann, stand er eine halbe Minute lang unbeweglich vor dem offenen Mikrophon, atmete tief ein und aus und blickte über den Rand seiner Lesebrille in das tausendköpfige Publikum – wie ein Matador, der den blutenden Stier vor dem Todesstoß mit seinen Augen fixiert.

Von innerer Anspannung, von Verkrampfung oder Überwindung war nun nichts mehr zu spüren, stattdessen sprach Ospel in rauchig-warmem Deutsch mit Basler Kolorit. »Sehr verehrte Aktionärinnen und Aktionäre, schon zum zweiten Mal in diesem Jahr darf ich Sie hier begrüßen, diesmal zur ordentlichen Generalversammlung.« Nüchtern, formal und unspektakulär, so eröffnete der UBS-Präsident die denkwürdige Veranstaltung, bei der er als Versager vom Podest steigen würde, nachdem er zehn Jahre zuvor die UBS zum globalen Finanzkoloss geschmiedet hatte. Es war der dritte Quartalsverlust in Folge, mit dem sich der Gesamtabschreiber der UBS im US-Hypothekenmarkt auf 40 Milliarden Franken summierte. Ospel blieb nur noch die Aufgabe, bei den Eigentümern der Bank um eine weitere Kapitalspritze in Höhe von 15 Milliarden Franken zu betteln, um die dünne Eigen Kapitaldecke zu stärken.

Trotz Kapitulation wirkte Ospel souverän. Sogar als jener Moment kam, der für einen Machtmenschen wie den UBS-Präsidenten nur eine persönliche Tragödie bedeuten konnte. Ospel hatte nach ein paar Einführungssätzen erklärt, dass sich Anfang 2008 nicht nur die Ereignisse mit weiteren Milliardenverlusten beschleunigt hätten, sondern eben auch die Maßnahmen. »Ich habe mich deshalb entschlossen, auf die Kandidatur für eine Wiederwahl um ein Jahr zu verzichten.« Die Uhr zeigte 10.41 Uhr, und bevor Ospel vom Manuskript ins Publikum aufschauen konnte, brandete stürmischer Applaus im Saal auf.

Was mag in jenem Moment im Kopf dieses gefallenen Bankenimperators vor sich gegangen sein? War er verbittert, enttäuscht, beschämt? Fühlte er sich unfair behandelt? Nahm er den Unmut und die Wut seiner Aktionäre, denen die Bank gehört, die ihm jahrelang auf die Schulter geklopft und ihm das Vertrauen ausgesprochen hatten, überhaupt richtig wahr? Vielleicht dachte er, die Geschichte würde seine wahre Leistung dereinst bestimmt ins rechte Licht rücken. Oder fühlte er sich wie ein kriegserprobter General, der unzählige Schlachten überstanden hatte und über der niedrigen Masse thronte, der Kritik des Pöbels weit entrückt im Wissen um seine historische Leistung?

Wir können es nicht sagen. In jenem Moment, als Ospels Rücktrittsentscheid mit tosendem Applaus quittiert wurde, blieb sein Gesicht unbeweglich. Er blickte ruhig über die Versammelten hinweg, ernst, aber nicht besorgt; locker, aber nicht überheblich; gelassen, aber nicht ignorant. Als ob er den lauten Gefühlsausbruch des Publikums neugierig wahrnahm, als Zeichen einer momentanen Befindlichkeit.

In Basel machte Ospel den Weg frei. Doch die entscheidenden Fragen blieben vorerst unbeantwortet. Hatte die UBS-Spitze unter Ospels Führung all die Jahre aufrichtig gehandelt, waren fähige Manager am Werk, die lediglich das Pech hatten, in einen Jahrhundertsturm zu geraten? Oder waren sie Leute, die großes Glück hatten, dass sie nicht längst als Hasardeure aufgeflogen waren? Ospel und seine loyalen Mitstreiter zeichneten ihre UBS als solide und vorsichtig operierende Finanzinstitution. Hatten sie die Großbank vielleicht längst unbemerkt in ein gefährliches Kasino verwandelt und erhielten nun die Quittung für ihre halsbrecherischen Wetten? Oder, noch beängstigender: Hatten erst die riskanten Wetten globaler Finanzhäuser wie der UBS zu einer kolossalen Kreditblase geführt, die jetzt mit lautem Knall geplatzt war? Ist, um mit dem deutschen Präsidenten Horst Köhler zu sprechen, aus der globalen Finanzindustrie ein »Monster« geworden, das die übrige Wirtschaft, quasi die reale, in ihrem Wohlergehen und gesunden Wachstum gefährdet?

Als was sich Marcel Ospel sieht, machte der langjährige UBS-Präsident bei seiner Abschiedsvorstellung vor den Aktionären deutlich. Am Ende seiner Rede zeigte er sich zuversichtlich, dass Beobachter und Investoren schon in ein paar Monaten von einem »bösen Sturm« sprechen könnten. »Er hat unsere Segel arg zerzaust«, sprach Ospel, »aber er hat uns nicht vom Kurs abgebracht.« Dann folgte der Schlusssatz, mit dem der Ausscheidende kundtat, als was er in die Geschichte eingehen möchte. »Wer den kalten Wind nicht aushält, der hat auf dem Gipfel nichts zu suchen.« Die Finanzkrise als Naturgewalt, das Ausharren und Dagegenankämpfen als Pflicht der Auserwählten – so urteilt Ospel über Ospel.

In diesem Buch komme ich zu einem anderen Schluss. Ich vertrete die These, dass das Bild von Ospels Naturkatastrophe, die über seine UBS und einige andere Großbanken hereingebrochen ist, einer ernsthaften Prüfung nicht standzuhalten vermag. Seit die sogenannte Subprime-Krise um minderwertige US-Hypothekenpapiere im Sommer 2007 vollends ausgebrochen war, habe ich rund um die UBS und die Finanzindustrie als Journalist zahlreiche Artikel geschrieben. Die vielen Gespräche mit ehemaligen und aktuellen UBS-Managern, Verantwortlichen von Konkurrenten, Bankaufsehern und Professoren, die ich in dieser Periode geführt hatte, bestärkten mich in der Meinung, dass es sich beim Platzen der amerikanischen Immobilienblase nicht um eine unvorhersehbare Katastrophe handelt, sondern um ein »predictable event«, ein vorhersehbares Ereignis. Der Absturz war nur eine Frage des Wann und Wie – auch für die Spitzen der Schweizer Großbank.

Zum vorläufigen Höhepunkt im Niedergang der UBS kam es am 15. Oktober 2008. Nachdem die Bank mit faulen US-Kreditpapieren fast 48 Milliarden Dollar respektive 37 Milliarden Euro abgeschrieben hatte, musste sie vom Staat gerettet werden. An jenem Mittwoch beschloss die Regierungskoalition des kleinen Siebenmillionenlandes die größte Rettungsaktion in der Geschichte ihrer Nation. Bis zu 68 Milliarden Franken oder rund 45 Milliarden Euro bewilligte die politische Oberleitung, um die von Subprime-Verlusten und Vermögensabflüssen geschwächte Großbank vor dem Aus zu bewahren. Als mit Abstand größte Bank des Landes erhielt die UBS damit offiziell den Status eines für die Stabilität des Landes unerlässlichen Geldinstituts. Mit in der Schweiz fast drei Millionen Privat-, 130 000 Firmenkunden und einem Kreditmarktanteil von 35 Prozent befürchteten die Spitzenpolitiker einen Kollaps der gesamten Volkswirtschaft, wäre die UBS gezwungen gewesen, ihre Schalster zu schließen. Der Schweizer Interbankenmarkt, auf dem sich die inländischen Banken mit kurz- und mittelfristigen Krediten versorgen und den die UBS dominiert, wäre bei einem Konkurs der Großbank – so die Befürchtung – zum Erliegen gekommen. Erinnerungen an den plötzlichen Stillstand der nationalen Airline Swissair wurden wach, die fast auf den Tag genau sieben Jahre zuvor zahlungsunfähig geworden war und deren am Boden »gegroundete« Flugzeuge an der Schweiz als krisenresistenter, zuverlässiger Wirtschaftsnation zweifeln ließen.

Die Rettungsaktion sieht eine Teilverstaatlichung der einstigen Schweizer Finanzikone vor. Der Bund erwirbt für sechs Milliarden Franken Eigenkapital der Bank, für bis zu 54 Milliarden Dollar oder rund 62 Milliarden Franken kauft die Nationalbank der UBS US-Kreditpapiere ab. Verlieren diese Wertschriften wie in den letzten Monaten massiv an Wert, erleidet die Notenbank – und damit die Schweizer Bevölkerung, die über die Kantone und Kantonalbanken mehrheitlich die Zentralbank besitzt – einen hohen Verlust. Auch das Risiko für die rund neun Prozent des Bundes an der UBS trägt der Steuerzahler. Er verliert, sollte der Aktienkurs der Bank, der innert einem guten Jahr von 80 auf unter 15 Franken gesunken ist, noch stärker in den Keller rasseln.

Die verantwortlichen Politiker und Spitzenbeamten baten die Schweizer Bürger um Geduld. »Wir haben mit unserer Unterstützung eine systemrelevante Bank in eine Position gebracht, in der sie nicht mehr negativ auffällt und über recht gute Bedingungen verfügt«, sagte mir Peter Siegenthaler, der Direktor der eidgenössischen Finanzverwaltung und Mitarchitekt des Notplans, in einem Gespräch. »Bis aber das Vertrauen zurückkehrt, braucht es Zeit und viel Arbeit. Sagen wir es so: Die UBS kann dank dem Staat wieder mitspielen. Das Tor aber müssen die Bankchefs schon selbst schießen.«

Werden sie es schießen? Der frühere Nationalbankvize Niklaus Blattner erachtet die Ausgangslage für das Aushängeschild von Swiss Banking als schwierig. »Die Beteiligung des Bundes ist ein handicap für die UBS. Sie wird dadurch gewissermaßen stigmatisiert und kann vermutlich nicht mehr auf gleicher Höhe mit ausschließlich privat finanzierten Instituten ohne eine Geschichte einer staatlichen Intervention agieren.« Ein Ausweg könne sein, dass der Bund den Neunprozentanteil an der UBS rasch verkaufe.

Wie konnte es zu diesem spektakulären und für viele unvorstellbaren Absturz kommen? Was hat die Schweizer Großbank, deren Marke bis vor kurzem hell über der weltweiten Finanzindustrie strahlte, zu einem der größten Opfer der Kreditkrise von 2007 und 2008 gemacht? War es einfach das Pech, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein, wie dies das oberste UBS-Management des Schweizer Multis als Entschuldigung ins Feld führt? War es mangelnde Vorsicht? Oder hatte das Versagen System?

Vieles legt die Vermutung nahe, dass die UBS-Spitze unter ihrem machthungrigen Präsidenten Ospel bewusst das Risiko großer Wetten eingegangen war. Das Ziel dieser Geschäftspolitik war es, die Renditen massiv zu erhöhen und damit den Aktienkurs zu steigern. Das Bild einer Risiken abgeneigten Großbank mit einer konservativen Führungsmannschaft, welches Marcel Ospel und seine von ihm handverlesenen Weggefährten jahrelang öffentlich pflegten, entpuppt sich im Rückblick als falsch. Die Frage, inwiefern die Verantwortlichen ihre Mitarbeiter und Aktionäre sowie die Öffentlichkeit absichtlich in diesem falschen Glauben ließen, muss offenbleiben. Sie kann einzig von Strafrechtsbehörden und/ oder Zivilrichtern geklärt werden.

»In den Top-Positionen der großen Banken erwarte ich keine heiligen, sondern ausgezeichnete Ökonomen und Banker, die verantwortungsbewusst handeln und die Gesetze einhalten«, sagte der Zürcher Ökonom und Finanzprofessor Martin Janssen Ende Oktober 2008 der Weltwoche. »Dass sie verantwortungsbewusst gehandelt haben, bestreiten heute viele; ob sie die Gesetze eingehalten haben, wird sich weisen. Jedenfalls müssen sich die Manager vorwerfen lassen, elementare ökonomische Prinzipien missachtet zu haben.«

Eine große Klagegefahr wurde im Februar 2008 gebannt. Damals lehnten die UBS-Aktionäre eine externe Sonderprüfung mit knapper Mehrheit ab. Die Zürcher Strafverfolger sammeln zwar Daten, sprachen bisher aber von fehlendem Anfangsverdacht. Auch ist unwahrscheinlich, dass die heutige UBS-Führung Zivilklage gegen die früheren Chefs der Bank einreichen wird. Schließlich waren die meisten der neuen Spitzenkräfte schon zu jener Zeit an entscheidender Stelle tätig, als die Weichen falsch gestellt wurden.

Gemeint sind Präsident Peter Kurer und Konzernchef Marcel Rohner. Beide saßen ab 2002 in der Konzernleitung, dem obersten operativen Führungsorgan der Bank. Beide müssen die Risiken im US-Kreditmarkt und in weiteren heiklen Angelegenheiten frühzeitig gekannt haben, da sie Teil des obersten Risikoausschusses des Konzerns waren. Und beide sprechen bis heute wenig von Fehlern, sondern von falschen Einschätzungen. Meiner Meinung nach waren aber nicht Irrtümer und Missgeschick ausschlaggebend für das grandiose Scheitern, sondern das kalkulierte Ausblenden von Risiken. Die Bank ist nicht Opfer eines Unglücks geworden, sondern rammte einen Eisberg, der das Schiff zum Sinken bringen könnte, weil ihre Chefs die Geschäftspolitik der Gewinnmaximierung unterordneten und die nötige Vorsicht über Bord warfen.

Na und?, könnte man einwenden. Zumindest die einstigen Verantwortlichen bezahlten für ihr Tun, verloren Job und Ansehen, und die unverdient gescheffelten Millionen sind zwar für Normalverdienende ein Ärgernis, in Relation zu den Milliardenverlusten aber lediglich ein Klacks. Zudem entschlossen sich einige der früheren Chefs, darunter Expräsident Marcel Ospel und Ex-CEO Peter Wuffli, zu einer Art Ablasshandel. Sie verzichteten auf ihnen vertraglich zustehende Millionen, entschuldigten sich für Fehler und hofften auf öffentliche Vergebung. Also Schwamm drüber?

Zwei Entscheide der Behörden geben den UBS-Verantwortlichen Recht, wenn sie behaupten, dass niemand wissen konnte, was richtig und was falsch sei. Am 14. März 2008 vermachte die US-Notenbank Fed die amerikanische Investmentbank Bear Stearns für ein Butterbrot der Universalbank JP Morgan und stand für Ausfälle von Bear Stearns in Milliardenhöhe gerade. Die staatlichen Aufseher waren offensichtlich bereits zu jenem scheinbar frühen Zeitpunkt zu dem Schluss gekommen, dass das Finanzsystem vor dem Meltdown stand, eine Kernschmelze mit unabsehbaren Folgen drohte.

In einem Interview mit den bekannten Investmentbankern Joseph Perella und Peter Weinberg von Perella Weinberg Partners, das ich Anfang Mai 2008 in New York führen konnte, sagte Weinberg auf die Frage, warum das Fed die private Bear Stearns gerettet habe und dafür große Summen von Steuergeldern riskiere: »Was wollte das Fed wirklich retten? Ging es nur um Bear Stearns, oder ging es um das ganze System? Viele behaupten, dass Bear Stearns nicht zu groß war, um fallengelassen zu werden, sondern zu stark vernetzt. Wir werden es nie wissen.« 1

Laut dem 50-jährigen Weinberg, der auf eine lange Karriere bei der erfolgreichen US-Investmentbank Goldman Sachs zurückblickt, bei der sein Großvater einst an der Spitze stand, befürchteten die Verantwortlichen der US-Notenbank einen globalen Kollaps. Die bis 2007 dem breiten Publikum fast unbekannten »Subprime«-Papiere, diese »unterklassigen« Hypothekenpapiere, hatten im Frühling 2008 das gesamte Kreditsystem kontaminiert. In den USA waren von den Banken in den Jahren zuvor vor allem Privatliegenschaften bis zu 100 Prozent oder noch mehr mit Fremdgeld finanziert worden in der Erwartung, dass die Preise nur in eine Richtung gehen könnten – nach oben. Oft handelte es sich um Darlehen an Menschen mit beschränkten Einkommen und Vermögen, die sich allein dank dem großzügigen Gebaren der Kapitalgeber ein eigenes Heim leisten konnten. »Subprime«, also minderwertig, waren sowohl die Kredite als auch die Liquidität der Kreditnehmer.

Das Hypothekargeschäft mit Amerikanern, die bisher nicht kreditwürdig gewesen waren, wurde zu einer Goldader, weil plötzlich auch für diese Schuldnerqualität genügend Investoren bereitstanden. In einem direkten Kreditgeber-Schuldner-Verhältnis war dies kaum möglich, weil die Geldgeber, also in der Regel die Banken, gemäß internen und gesetzlichen Vorschriften keine Überbelehnungen vornehmen durften. Dazu war eine Innovation nötig, ei n Quantensprung im Finanzgeschäft: das Verbriefungsgeschäft.

Securitization, wie das Zauberwort in der Bankenfachsprache Englisch heißt, war in der Finanzwelt längst ein Begriff. Sie half Anfang der neunziger Jahre, die Sparkassenkrise, genannt Savings-and-loans-Krise, in den USA zu bewältigen. Die Verbriefung von Schulden und deren Weiterverkauf wurde von cleveren Finanztüftlern um die Jahrtausendwende zu einem Geschäftsmodell entwickelt, das ein goldenes Zeitalter versprach. »Originate to distribute« lautete das Schlagwort, gemeint war die Bündelung vonKrediten zu dem Zweck, die Risiken an Drittinvestoren weiterzugeben, statt sie auf die eigene Bilanz zu nehmen. Das Prinzip erlaubte den Investmentbanken eine scheinbar unendliche Geschäftsausweitung, weil die Kredite nicht mit teurem Eigenkapital unter legt werden mussten. Deren Zinsspezialisten begannen, Subprime-Schuldpapiere in einen Topf zu werfen, mit Hypothekenwertschriften besserer Qualität zu vermischen und schließlich in einzelne Tranchen unterschiedlicher Güte zu teilen. Jede Tranche wurde sodann von externen Analysten, den so genannten Rating-Agenturen, gegen hohe Gebühren geprüft und zertifiziert.

Die Wallstreet-Tüftler in ihren computerisierten Handelsräumen hatten Schrott in Gold verwandelt. Endlich konnten sie bis dato unverkäufliche Hypothekenkredite in unterschiedlich bewertete Pakete verpacken und diese kaufen und verkaufen. Zu diesem Zweck schrieben sie Wertpapiere auf die einzelnen Tranchen, sie verbrieften respektive securitisierten also das Gesamtrisiko. Nun stand das passende Angebot für jeden Geschmack bereit. Risikofreudige Investoren legten ihr Geld in Subprime-Papieren der Kategorie B an, wo Totalverluste wahrscheinlicher waren, dafür lukrative Zinserträge lockten. Auf der anderen Seite schätzten die Pensionskassen, die nur in Wertschriften der höchsten Sicherheitsstufe investieren dürfen, sowie die das Business betreibenden Banken die Tranchen mit den vermeintlich ausfallsicheren Aaa- Ratings.

Anfänglich überwogen die Vorteile, weil bisher nicht kreditwürdige Schuldner Zugang zum sprudelnden Kapitalstrom erhielten. Doch die Securitization entwickelte eine Eigendynamik und pervertierte sich zuletzt selbst. Die Investmentbanker begannen, immer mehr Schuldpapiere zu verpacken, zu zerschneiden und zu vertreiben, um die Einnahmen für ihre Unternehmen und, wohl gleich wichtig, die Boni für sich selbst zu steigern. Das Rad, das immer größer wurde, sollte am Drehen gehalten werden.

So kam es, dass innovative und renommierte Händler das System des Verpackens und Zerhackens perfektionierten und eine Maschine zimmerten, die immer größer und produktiver wurdeund CDOs, ABs, RMBs oder CMBs ausspuckte, Vehikel mit exotischen Namen und – wie sich herausstellte – undurchschaubarem Verhalten. Als diese synthetischen Produkte im Sommer 2007 auf einen Schlag ihren Wert verloren, krachte das Höllengefährt mit einem lauten Knall zusammen. Wer wie die UBS zum Zeitpunkt des Crashs unglücklicherweise und unvorsichtiger weise auf Dutzenden von Milliarden solcher Wertschriften saß, knickte ebenfalls ein. Zwar versuchte die Industrie, mittels Durchhalteparolen und Schönwetterprognosen das Schlimmste abzuwenden. Doch dann trat das unvorstellbare ein, und die Finanzwelt drohte unterzugehen.

Auf den Tag sechs Monate nach Bear Stearns war Lehman Brothers pleite. Nun wagten US-Schatzamt und Fed das Experiment und ließen Lehman am 15. September 2008 fallen. Im Nachhinein glauben die meisten Beobachter, die Verantwortlichen hätten einen kolossalen Fehlentscheid gefällt. Warum sollte Lehman, die ebenfalls zu den wichtigsten Investmentbanken der New Yorker Wallstreet zählte, weniger vernetzt sein als Bear Stearns? 600 Milliarden Dollar offene Schulden hatte Lehman, und diese mussten sich nun Investoren von überall auf der Welt ans Bein streichen. Das Thermometer an den Kreditmärkten schoss in die Höhe, renommierte Banken erhielten nur noch Kredit gegen erstklassige Sicherheiten, die Regierungen der größten Finanzstaaten überboten sich mit Hilfspaketen für ihre notleidenden Geldinstitute, und ein Staat – Island – stand vor dem Ruin; die Banken der Eisinsel waren im Kreditboom besonders aggressive Wettspieler gewesen. Für sie und alle Bürger der Welt gilt: Das Platzen der Kreditblase machte dem frivolen Leben auf Pump den Garaus.

Das Symbol der letzten Krise hieß Enron. Das US-Energieunternehmen war ein gefeierter Börsenstar gewesen und hatte Zehntausende Angestellte beschäftigt. Ende 2001 verloren alle von einem Tag auf den anderen Stelle und Vorsorgegelder, nachdem aufgeflogen war, dass Vorgesetzte die Bilanzen frisiert und unbemerkt hohe Kredite aufgenommen hatten. In der Folge verordneten dieUSA scharfe Transparenzvorschriften. Ein eigenes Gesetz, das nach dessen geistigen Vätern Sarbanes-Oxley Act genannt wurde, sollte Bilanzfälschungen zukünftig verhindern. Heute gilt SOX in weiten Kreisen als teurer Papiertiger.

Was Enron für die Berichterstattung war, könnten die gerettete Bear Stearns und die untergegangene Lehman Brothers für die Finanzindustrie sein. Bear war gut, Lehman schlecht, lautet heute das Verdikt, und kein Staat zeigt Lust auf neue Experimente. Die Rettung von Citigroup kostet die Amerikaner jedenfalls über 300 Milliarden Dollar.

Seht her, ihr Banken, ihr werdet gerettet! Doch halt. Schmerzlos wird die Rettung für die Finanzindustrie nicht sein. Der Staat und seine Behörden suchen nach Mitteln und Wegen, die zerstörerischen Kräfte der Geldindustrie zu bändigen. Nie mehr Systemgefährdung durch Boni-Banker, lautet die Losung der Aufseher.

Die globale Kreditkrise hat die Börsen in mehreren Fieberschüben durchgeschüttelt. Das riskante Geschäft der großen Investmentbanken droht die Realwirtschaft zu schädigen. Der Staat will dem Treiben einen Riegel vorschieben. (Die Grafik zeigt die Entwicklung des Dow Jones Industrial Average von November 2007 bis November 2008.)

Wallstreet als Speerspitze des modernen Banking hingegen verteidigt den verbliebenen Spielraum, im Interesse des eigenen Geschäfts und der zukünftigen Gewinne. Ihr Trumpf ist, dass die nächste Krise immer eine andere ist – Regulierung hin oder her. Doch vorderhand hat der Staat das Sagen. Sein Argument sticht: Taumelnde Banken reißen Volkswirtschaften in den Abgrund und müssen mit dem Geld der Bürger vor dem Schlimmsten bewahrt werden. Die Gewinne privat, die Verluste dem Staat, das muss ein Ende haben, fordern die Politiker.

Der für die Bankenaufsicht zuständige internationale Ausschuss legt nun den nationalen Behörden drei Punkte ans Herz. Erstens sollen sie mit den mächtigen Bankenchefs Schwachstellen im Risiko Management früh und offen ansprechen und Gegenmaßnahmen fordern. Zweitens sollen sie sich zusammenspannen, um die weltweit tätigen Großbanken grenzüberschreitend besser überwachen und im Krisenfall begleiten zu können. Drittens sollen sie sicherstellen, dass die Banken in der nächsten Krise genug Liquidität halten, um nicht erneut auf dem Trockenen zu sitzen und monatelang am Tropf der Notenbanken zu hängen.

Die Schweizer Aufsicht hat als Sofortmassnahme die Eigenkapitalvorschriften verschärft. Ihre beiden Großbanken UBS und Credit Suisse müssen bis 2013 größere Puffer zur Abfederung von Schocks einrichten. Und das Konzept der Unterlegung risikoadjustierter Aktiven wird ergänzt. Wenigstens drei Prozent der Bilanzsumme sollen durch Eigenkapital gedeckt sein. Finanzinstitute als Hedgefonds mit unendlichem Verschuldungshebel wollen die Behörden auf diese Weise unterbinden. Die Schweizer Großbanken schluckten die Kröte, die gar nicht sehr groß ist. »Das alles wäre immer noch die liberalere Alternative zu einem Verbot oder einer Einschränkung des Investmentbanking«, sagte der oberste Bankenaufseher Daniel Zuberbühler am Jahrestag des Regulators im Frühling 2008.

Eines ist klar: Vorzeitig wollte niemand das Fest verlassen, schon gar nicht die UBS. Am Ende des Booms hatte die Bank ihre Eigenkapitalrenditen auf 30 Prozent hochgeschraubt, bei Industrieunternehmen waren schon Quoten von zehn Prozent berauschend. Möglich machten dies nicht nur ihre riskanten Wetten, sondern auch die Aktienrückkäufe. Das explodierende Geschäft wurde mit immer weniger eigenem Kapital finanziert. Die von ihrem scheinbaren Triumph trunkenen UBS-Lenker übergossen sich mit Millionenboni, für die Aktionäre und Steuerzahler endete die Party mit einem schweren Kater.

Jetzt muss sich die Bank neu erfinden. Ihre Werbekampagne von 2008 unter dem Slogan »Jeder hat eine zweite Chance verdient«, bei der Kunden und Partner der geschundenen Firma Fehlern zum Trotz das Vertrauen aussprechen, ist Kosmetik. Tiefe Schnitte sind nötig, möglicherweise müssen wertvolle Tochtergesellschaften abgestoßen werden, vielleicht droht der Schweizer Großbank, die jahrelang ihr Onebank-Konzept der integrierten Gruppe als wertschöpfend bezeichnete, die Aufspaltung in unabhängige juristische Einheiten: eine für die Investmentbank, eine für die Vermögensverwaltung, eine für das Schweizer Geschäft, wo die UBS als eine fürs helvetische Finanzsystem unverzichtbare Plattform gilt.

Sollte die UBS den Zeitpunkt zum handeln verpassen und würden die Weltfinanzmärkte angespannt bleiben, droht der Hüterin über 2,5 Billionen Franken respektive 1,7 Billionen Euro Vermögen mit ihren 75 000 Mitarbeitern und Millionen von Kunden auf der ganzen Welt das Schicksal einer überdimensionierten Kantonal- oder Landesbank, die zu groß ist zum Sterben und zu schwach zum Blühen. Eine Art Bayern-LB von Weltformat. Diese packte nach Milliardenverlusten mit verbrieften Kreditpapieren den Stier bei den Hörnern, baute 6 000 ihrer 19 000 Stellen respektive ein Drittel ab, während es die UBS bis dato bei weniger als zehn Prozent beließ. Lag das an der Großzügigkeit der Retterin? Möglich wäre es. Während der Freistaat seiner LB zehn Milliarden Euro oder ein Viertel des Staatshaushalts schenkt, stützt die Schweizer Regierung ihre UBS mit mehr als einem Jahresbudget.

Genug, um die torkelnde Großbank wieder auf sichere Beine zu stellen? Sicher ist, dass die 154 Jahre alte UBS eine »Once-in-a-lifetime«-Chance verpasst hat. Vor der Jahrhundertkrise gehörte sie zu den Perlen dieser Finanzwelt. Wäre sie sich treu geblieben und hätte Vorsicht walten lassen, könnte sie nun wie die US-Großbank JP Morgan oder die spanische Santander günstig zukaufen. Als teilverstaatlichter Koloss mit beschädigter Marke droht ihr hingegen ein Dasein als Dinosaurier, der sich bald überlebt haben könnte.

Lukas Hässig, Dezember 2008

Die Eisbergroute

1 Die erste Warnung erfolgte 2002

Etwas stimmt nicht, sagten sich zwei Risikoexperten der Zürcher UBS-Zentrale. Ihre lange Erfahrung im Umgang mit Finanzrisiken machte sie zu wichtigen Stimmen in der Schweizer Großbank. Funktional waren sie wenig unterhalb der Konzernleitung angesiedelt. Gefährliche Risiken zu identifizieren, sie korrekt zu erfassen und effizient zu überwachen, all dies war schwierig genug. Nun aber sahen sie sich durch viele neuartige und höchst komplexe Produkte, welche die Finanzwelt revolutionierten, besonders herausgefordert.

In der Welt des Geldes gibt es keine Wunder. Doch just ein solches schien sich beim New Yorker Ableger des Investmentbanking der UBS abzuspielen. In den USA hatte nach dem Platzen der Technologieblase im Frühling 2000 eine Politik des billigen Geldes eingesetzt, die es Bürgern mit wenig oder keinem Vermögen ermöglichte, den Traum vom Eigenheim zu verwirklichen. Die einzelnen Hypotheken wurden zu Paketen gebündelt, tranchiert und im gierigen Finanzmarkt platziert. »Slicing and dicing«, zerhacken und abstoßen, nannten die US-Investmentbanker die Wall Street-Mode. Unzählige Einzelrisiken wurden gemischt, verpackt und in handelbare Tranchen zerlegt. Zwar verstanden weder Bankenchefs noch Investoren das neue Modell, doch beide Seiten freuten sich über sprudelnde Gewinne und hohe Erfolgsausschüttungen.

Eldorado dieser strukturierten Wertpapiere war der Immobilienmarkt der Vereinigten Staaten. Bei diesem handelte es sich um den größten Markt für Zinsprodukte, hier warteten Millionen von Investoren auf innovative Anlagen. Wer als Investmentbanker an die Spitze wollte, kam am US-Zinsmarkt nicht vorbei. Eine neue goldene Ära war angebrochen. Die verbrieften Produkte galten als sicher wie Staatsanleihen, warfen aber höhere Erträge ab. Sie landeten nicht nur in den Portefeuilles der Anleger, sondern blieben auch in den Bilanzen der Banken liegen. Ein todsicheres Geschäft, meinten deren Investmentbanker und verdienten viel Geld.

Die beiden Schweizer UBS-Risikoexperten blieben skeptisch. Die hochrentablen und scheinbar ausfallsicheren Wertpapiere basierten auf Risiken, die nicht eindeutig zuzuordnen waren. Handelte es sich um Kreditrisiken, weil zuunterst Hypotheken standen? Oder waren es Marktrisiken, da die Wertpapiere einen Kurs hatten und gehandelt werden konnten? Aus Sicht der Überwacher breitete sich vor ihnen ein Niemandsland aus, für das weder die eine noch die andere Aufsicht richtig geschaffen schien.

Ihre Zweifel verstärkten sich angesichts der Größe der neuen UBS im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Seit der Übernahme von Paine Webber, der viertgrößten Geschäftsbank Amerikas, im Jahr 2000 waren die Schweizer zu einem bedeutenden Finanzkonzern in Übersee geworden. Im Handelsgeschäft und dort vor allem im Bereich Immobilienprodukte versuchten sie, zu einer der größten und rentabelsten Investmentbanken der Welt zu werden.

Ihre Ambitionen verkündete die UBS Warburg, wie der Bereich damals noch hieß, in einer Pressemitteilung vom 11. April 2002. Unter dem Titel »UBS holt Asset-backed-Profis; weitet ihr führendes Hypothekargeschäft aus«2 wurde der Zuzug von Teams von Konkurrentin Bank of America und anderen vermeldet. »Ein Team mit den besten Talenten, das UBS Warburg befähigt, die erste Wallstreet-Adresse im verbrieften Hypothekargeschäft und bei anderen strukturierten Kreditpapieren zu sein«3, jubelte die UBS. Fachausdrücke wie »mortgage-backed« und »asset-backed« waren damals noch wenig geläufig. Inzwischen stehen sie als Synonyme für undurchsichtige und hochkomplexe Wertpapiere, die meist auf ein und demselben Basiswert aufbauen: Hypotheken auf überbewerteten oder zumindest unsicheren amerikanischen Liegenschaften.

Als die Gewinne im Geschäft mit verbrieften US-Hypotheken nach oben schnellten und sich ihr Argwohn nicht legte, wurden die Risikoexperten aus der Schweizer Zentrale aktiv. Sie wollten einen Stresstest durchführen und abklären, ob die auf dem amerikanischen Immobilienmarkt basierenden Risiken korrekt erkannt, erfasst und überwacht würden.

Stresstests sind im Banking nichts Außergewöhnliches, sie wurden seit Beginn der neunziger Jahre von internationalen Gremien empfohlen. Den Verantwortlichen helfen sie abzuschätzen, welche Verluste drohen, wenn die Preise in einem bestimmten Markt über Nacht einbrechen – und das heißt eben: wenn sie in Stress geraten. Die Finanzindustrie zeichnet sich dadurch aus, dass früher oder später, eher alle fünf als alle zehn Jahre, eine abrupte Korrektur eintritt, mit der die meisten Marktteilnehmer nicht gerechnet haben. Mit Stresstests, die nicht auf historischen Daten fußen, versuchen die Banken, solch extreme Situationen zu modellieren und frühzeitig herauszufinden, wo ihre Achillessehne ist, in welchem Bereich sie das größte Risiko aufweisen, wo sie besonders vorsichtig sein müssen. Kurz: Stresstests schauen nach vorn, nicht zurück.

Vom 29. April bis zum 7. Mai 2002 ließen sich die Zürcher Experten von den Zuständigen in New York die Überwachungssysteme für die Hypothekenpositionen erklären. Je mehr sie sahen, desto größer wurde ihr Unbehagen. Wesentliche Bestandteile, die das Geschäft profitabel machten, blieben den Überwachern vor Ort verborgen. Falls nicht schnell Gegensteuer gegeben würde, drohte eine Wachstumsmaschine außer Kontrolle zu geraten.

Insbesondere beunruhigte die beiden Risikospezialisten die riesige Position im US-Immobilienmarkt, welche die Händler der UBS Investmentbank aufgebaut hatten. Per 31. Mai 2002 wies die UBS gemäß einem Report 24 Milliarden Dollar in US-Kreditpapieren mit einem Bezug zum Hypothekarmarkt aus. Bereits damals fanden sich spätere Problempositionen, beispielsweise US Reference-linked Notes, die rund 10 Milliarden Dollar ausmachten und sechs Jahre später zu einem wüsten Rechtsstreit mit der Hamburger HSH Nordbank ausarten sollten.

Auch »Subprime«-Kredite, die erst 2007 zum Synonym für den Jahrhundertsturm an den Finanzmärkten wurden, tauchten auf. »Die Eigenheimkredite sind neue, 30-jährige Fixhypotheken an Subprime-Schuldner«4, schrieben die UBS-Spezialisten für Hypothekenverbriefung in einer Transaktionsbeschreibung. Fixhypotheken von »minderwertigen« Subprime-Schuldnern wurden aufgekauft, bei sogenannten Monoline-Versicherern versichert und in ein Spezialehikel übertragen. Sodann emittierte dieses »Special purpose vehicle« (SPV) A- und B-klassige Wertschriften. Die A-Papiere repräsentierten 98,5 Prozent der Basis-Hypothekarkredite, waren ausfallversichert und erhielten von den Rating-Agenturen das Topgütesiegel Aaa. Die restlichen 1,5 Prozent blieben ohne Rating, rentierten aber dafür höher.

Das erwähnte SPV hielt Subprime-Kredite über fünf Milliarden Dollar. Nach Abzug der Kosten für Monoline-Versicherer und Fremdkapital blieb ein Nettogewinn von 271 Millionen Dollar. Dies entsprach einer Marge von 1,77 Prozent auf den Libor, den Zins, den Investmentbanken untereinander für ungedeckte Kredite fordern. 1,77 über Libor, und das für ausfallsichere Aaa-Wertschriften – wenn das keine Finanzalchemie war!

Das obige Fünf-Milliarden-SPV war Teil der 24 Milliarden Dollar, welche die UBS Investmentbank in verbrieften US-Hypothekenpapieren hielt. Beim damaligen Dollarkurs entsprach die Summe rund 40 Milliarden Franken bzw. Fast 30 Milliarden Euro. Das eigene Kapital der Bank betrug zum damaligen Zeitpunkt knapp 44 Milliarden Franken und lag somit nur unwesentlich höher als der riesige Brocken im US-Häusermarkt, auf dem die UBS saß und den interne Kritiker nun zu hinterfragen begannen.

Allein die absolute Höhe deutete auf potenzielle Großschäden hin. Wie viele der 24 Milliarden Dollar würden unter extremen Marktbedingungen bei einem massiven Preiseinbruch und einem Käuferstreik im schlimmsten Fall ausfallen? Die Zürcher Risikomanager erwarteten, dass ein Stresstest mit genügend scharfen Annahmen im Hinblick auf ein Platzen der US-Immobilienblase, die schon damals thematisiert wurde, zu signifikanten Ausfällen führen würde. »Shock the system«, rüttle das System durch, lautete ihr Grundsatz.

Umso mehr staunten sie über die Resultate. Trotz der Größe des US-Immobilienbrockens fielen die errechneten Verluste verhältnismäßig gering aus. Beispielsweise brachte ein Preissturz in zweistelliger Prozenthöhe keinen Milliardenverlust, wie sie dies erwartet hatten, sondern »nur« ein paar hundert Millionen Dollar. Eine Summe jedenfalls, die für die UBS keinen Stress bedeutete.

Der Argwohn der Risikomanager verstärkte sich. Weil nicht klar war, wer an den Rechenmodellen Hand anlegen konnte, konnten die Ergebnisse frisiert sein. Das Verhalten der Kollegen des zuständigen Risikomanagements vor Ort weckte ebenfalls Zweifel. Nicht dass diese offen Obstruktion betrieben, dazu waren sie zu sehr Profis, die sich keine solche Blöße gaben. Doch war offensichtlich, dass auf US-Seite wenig Lust zur Kooperation in dieser Angelegenheit bestand. Mehr und mehr kamen die beiden Schweizer zu der Überzeugung, dass die US-Risikomanager in New York sich in den Dienst der Händler gestellt hatten, statt die Transaktionen mit den Hypothekenpapieren unvoreingenommen zu testen. Es bestand die Gefahr, dass die amerikanische Hypothekenmaschine zum abgeschottenen Silo wurde, ohne Zugriff von außen und ohne Kenntnis der Risiken.

Nach ihrer Rückkehr schlugen die Prüfer aus Zürich Alarm und verfassten einen dreiseitigen Bericht, der als Grundlage für weitere Abklärungen gedacht war. »Vor läufige PFCA & CRE-Analyse«5 lautete der Titel des Dokuments. PFCA bedeutete Principal Finance & Credit Arbitrage, also Eigenhandel und Kredit-Arbitrage, CRE bedeutete Commercial Real Estate, gemeint war das Business mit Geschäftsliegenschaften. Zusammengefasst war es diese Abteilung, in der die UBS enorme Positionen im US-Hypothekenmarkt konzentrierte und die ei nen großen Teil des damaligen Eigenhandels der aufstrebenden Schweizer Investmentbank ausmachte.

Unter den Begriff Eigenhandel fällt, vereinfacht gesagt, das Spekulieren mit dem eigenen Kapital. Je nach Größe des Kerngeschäfts einer Geschäftsbank, also des Umfangs der Dienstleistungen für die Kunden, stehen unterschiedlich hohe Mittel für solche Geschäfte auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko zur Verfügung. Im Fall einer weltumspannenden Universalbank wie der UBS, bei der Millionen von Kunden Milliarden von Vermögensgeldern anlegen, steht dem Eigenhandel naturgemäß mehr Kapital zur Verfügung als bei einem kleineren Institut. Entsprechend größer sind die Risiken, und umso mehr bedarf es einer strengen Überwachung.

Der Befund nach der New Yorker Visite und den vielen Meetings ließ nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Unter »Main Observations« führten die Risikospezialisten in ihrem vorläufigen Abschlussbericht ihre wichtigsten Beobachtungen auf. »Bei PFCA & CRE handelt es sich vermutlich um zwei der komplexesten Geschäftsbereiche der ganzen Bank. Ihre Komplexität wurzelt nicht so sehr in exotischen Bewertungsmodellen – auch davon gibt es ein paar –, sondern die Abteilungen umfassen und nutzen sämtliches Know-how innerhalb der Bank (Kredit- und Marktrisiko, Risiko- und Finanzkontrolle etc.) in nie zuvor realisiertem Ausmaß. Ihre Verantwortlichen überblicken und kontrollieren damit Prozesse, die sich durch fast alle Operationsbereiche ziehen, und zwar so umfassend, wie es nur ganz wenigen Leuten in irgendeiner Kontrollfunktion möglich ist. Aus Überwachungsüberlegungen ist es entscheidend, solche Silo-Ansätze oder Abgrenzungen, wie sie manchmal in Sitzungen und Diskussionen anklingen, zu verhindern.«6

Die Risikomanager monierten somit nicht allein die schiere Größe der gehaltenen Positionen. Sie waren einem gravierenderen, weil grundsätzlicheren Problem auf die Spur gekommen: der Komplexität des Eigenhandelsgeschäfts, wie es die Abteilungen PFCA & CRE betrieben. Schwer zu durchschauen waren selbst für Profis wie die zwei Risikomanager Handelsstrategien mit enormen Engagements, die zur gleichen Zeit Markt- und Kreditrisiken betrafen, dazu noch in einem hochdynamischen Umfeld mit großem Wachstum und ständig neuen, exotischen Produkten.

Für die Experten aus der Schweizer Zentrale war wichtig, dass sich die US-Händler von PFCA & CRE mit ihrer riesigen Hypothekenposition nicht den Kontrollzugriffen von Spezialisten der Gruppe, die nicht zum Team gehörten, entziehen konnten. So, wie die »Handelsmaschine« von PFCA & CRE damals aufgesetzt war, verfügte die Gruppe über sämtliches benötigte Wissen selbst und konnte, wenn sie denn wollte, Kontrollen von fremden, kritischen und genügend weit entfernten Fachleuten des Konzerns neutralisieren. Kurz: Ihre Verantwortlichen machten nicht nur das Geschäft, sondern sie wurden auch überwacht von Leuten, die erstens nie das gesamte Risiko überblickten und zweitens wenig Anreiz hatten, unbequeme Fragen zu stellen und das Geschäft zu stören. Im Gegenteil, die Lohn- und Bonusanreize waren zunehmend derart ausgestaltet, dass mehr Umsatz und höhere Gewinne auch den Kontrolleuren zugutekamen.

Dass es sich beim vorgefundenen Silo nicht um Peanuts handelte, machten die Zürcher Experten mit ihrer nächsten Aussage klar. »PFCA & CRE haben eine große Hypothekenposition aufgebaut und halten nun eines der vermutlich größten Bücher aller Wallstreet-Banken«7, qualifizierten sie die 24 Milliarden Dollar, welche die Bank per Ende Mai 2002 auf eigenes Risiko in US-Hypothekenpapieren investiert hatte. Dort, an der Wallstreet im Süden Manhattans, wollte auch die UBS zu den größten und erfolgreichsten Investmenthäusern gehören, und sie baute zu diesem Zweck Positionen auf, die sich nicht so schnell verkaufen ließen. »Realistischerweise ist mit sechs bis zwölf Monaten zu rechnen, bis sämtliche Positionen abgebaut werden können«8, warnten die Schweizer Risikomanager im Mai 2002.

Das Engagement in US-Hypothekenpapieren war gigantisch, und es konnte von außen, sprich von Spezialisten der Zentrale, nicht genügend überwacht werden. Es gab aber noch andere Befunde, die Fragen aufwarfen. »Ein zentrales Problem in der Analyse des Stresspotenzials von PFCA & CRE ist die mangelhafte Erklärung, woher die Gewinne und die Verluste stammen.«9 Dies hänge vermutlich mit der Komplexität des Geschäfts sowie mit der Produktbreite und den Handelsstrategien zusammen, meinten die Risikomanager und legten damit den Finger auf einen wunden Punkt, der fünf Jahre später als zentrale Ursache für das Versagen der UBS erkannt wurde: die interne Verfügbarkeit billigen Geldes.

Die UBS galt in jener Zeit als sicherste Bank weltweit und musste Investoren am wenigsten Zinsen auf deren Anlagen berappen. Davon profitierte auch die Sparte Investmentbank, die sich bei der Zentrale zu einem Zinssatz verschulden konnte, der immer noch tiefer lag als der Interbankensatz im freien Markt, den man, wie schon erwähnt, Libor nennt, London Interbank Offered Rate. Was die Händler im fernen New York mit den sprudelnden Mitteln anstellten, schien zweitrangig.

Profitierte PFCA & CRE, die US-Hypothekenmaschine der Investmentbank, demnach lediglich vom Status der UBS als sicherste Bank der Welt? »Um besser zu verstehen, wie sich die verschiedenen Risiken auf die Gewinne und Verluste auswirken, bedarf es detaillierterer Erklärungen« 10, forderten die Risikomanager nach ihrer Analyse. Aggressive Handelsstrategien, die hohe Gewinne abwarfen, ohne dass jemand den präzisen Mechanismus verstand, konnten eine Bank existenziell gefährden. Das hatten sie schon bei früheren Gelegenheiten erkannt. Für sie war nach dem Besuch in New York klar, dass das neue Geschäftsmodell dringend untersucht werden musste.

Es wäre verwunderlich, wenn Walter Stürzinger die Sprengkraft des Berichts nicht erkannt hätte. Stürzinger, der auf manche wie ein typischer Revisor wirkte, war die Hierarchieleiter stetig hochgestiegen und bei der UBS inzwischen Chief Risk Officer des gesamten Konzerns geworden. In dieser Funktion war der Manager auch verantwortlich für die Überwachung der Marktrisiken und der operativen Risiken. Und zu denen zählte vor allem der Eigenhandel, also die Spekulationsgeschäfte der Bank auf eigenes Risiko und auf eigene Rechnung.

Wie Stürzinger seine Rolle interpretierte, zeigte sich an Heiligabend 2001. »Dear Colleagues«, eröffnete der Risikochef der UBS