Der Unbekannte von Übersee - Joseph Smith Fletcher - E-Book

Der Unbekannte von Übersee E-Book

Joseph Smith Fletcher

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  • Herausgeber: Heimdall
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Wer ist der Tote, den Richard Viner bei einem abendlichen Spaziergang auffindet? Welches Geheimnis steckt hinter seiner Vergangenheit, die der Unbekannte aus Australien nach London mitbrachte? Stück für Stück fügt sich das geheimnisvolle Rätsel zusammen, in dem auch der Adel eine Rolle zu spielen scheint … und kann Viner die Unschuld eines Verdächtigen beweisen, der recht schnell von der Polizei verhaftet wurde? Dieser ist ein früherer Bekannter von Viner und behauptet steif und fest, den Unbekannten von Übersee nicht ermordet zu haben … das Motiv zur Tat enthüllt den Mörder! Dieser Kriminalroman führt den Leser zurück in die 1930er Jahre Londons.

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Seitenzahl: 247

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Hergestellt in Deutschland • 1. Auflage 2016

© Heimdall Verlag, Devesfeldstr. 85, 48431 Rheine,

www.heimdall-verlag.de

© Alle Rechte beim Verlag

Satz und Produktion: www.lettero.de

Gestaltung: © Matthias Branscheidt, 48431 Rheine

ISBN: 978-3-946537-05-2

Weitere Krimis der 20er, 30er und 40er Jahre

als E-Book, Print- und Hörbuch unter:

www.heimdall-verlag.de

www.meinaudiobuch.de

Über das Buch

Wer ist der Tote, den Richard Viner bei einem abendlichen Spaziergang auffindet? Welches Geheimnis steckt hinter seiner Vergangenheit, die der Unbekannte aus Australien nach London mitbrachte? Stück für Stück fügt sich das geheimnisvolle Rätsel zusammen, in dem auch der Adel eine Rolle zu spielen scheint … und kann Viner die Unschuld eines Verdächtigen beweisen, der recht schnell von der Polizei verhaftet wurde? Dieser ist ein früherer Bekannter von Viner und behauptet steif und fest, den Unbekannten von Übersee nicht ermordet zu haben … das Motiv zur Tat enthüllt den Mörder!

Dieser Kriminalroman führt den Leser zurück in die 1930er Jahre Londons.

I Rauhe Wirklichkeit

Mr. Viner hatte den Novemberabend in der gewöhnlichen Weise verbracht. Er war ein vermögender junger Mann und wohnte mit seiner unverheirateten Tante, Miss Bethia Penkridge, in einem prächtigen Hause am Markendale Square in Bayswater. Diese Dame war eine vorbildliche Hausfrau und brachte ihre ganze Zeit damit zu, irgendwen oder irgendwas zu betreuen und zu pflegen. Außerdem hatte sie ein unersättliches Verlangen nach Kriminalgeschichten, und es gefiel ihr nichts so gut, als wenn ihr Neffe ihr abends einen Detektivroman vorlas, wenn sie wie gewöhnlich in aller Ruhe und Beschaulichkeit zwei Gläser Portwein getrunken hatte. Nach Viners Ansicht war ihr literarischer Geschmack nicht besonders entwickelt. In ihrer Jugend hatte sie nur alte, verstaubte Autoren und die üblichen Bücher für junge Mädchen gelesen. In ihren alten Tagen rächte sich das nun, und sie lechzte förmlich nach den Sensationen von Detektiv- und Kriminalromanen.

Literarische Werke, die Wert auf Psychologie legten, waren nicht nach ihrem Geschmack, und über die modernen erotischen Bücher war sie im tiefsten Innern ihrer Seele empört. Was ihr am meisten zusagte, war eine Geschichte, die mit einem schaurigen Verbrechen begann, aber trotz aller Irrwege und Verwicklungen schließlich doch mit der Entdeckung des Täters endete. Die Geschichte musste den Leser in atemloser Spannung halten und ihn so oft irreführen, dass er schließlich überhaupt nicht mehr wusste, wer das Verbrechen begangen haben sollte. Die Tat musste zunächst in geheimnisvolles Dunkel gehüllt bleiben, und erst im Laufe der Erzählung durften die Einzelheiten allmählich bekannt werden. Wenn ihre Phantasie durch die mysteriösen Vorgänge der letzten drei Kapitel eines solchen Buches angeregt war, legte sie sich befriedigt schlafen. Nichts bereitete ihr mehr Vergnügen und Kurzweil, als wenn sich ihre eigenen Vermutungen als falsch herausstellten und der wirkliche Verbrecher jemand war, an den sie niemals gedacht hatte. Für einen Schriftsteller, der die äußere Spannungstechnik so wenig beherrschte, dass man gleich am Anfang den Ausgang vermuten konnte, hatte Miss Penkridge nur ein mitleidiges Lächeln übrig. Der Autor aber, der den Leser durch alle Höhen des Himmels und alle Tiefen der Hölle mit sich riss, von einem Extrem ins andere fiel, von einer Sensation zu einer noch größeren jagte, der eroberte ihr Herz.

An diesem Abend las Viner gegen zehn Uhr die letzten Seiten eines Romans vor, der seiner Tante außerordentlich gut gefallen hatte. Als er dann das Buch schloss, herrschte tiefes Schweigen im Raum. Nur im Kamin krachten ab und zu die brennenden Holzscheite. Miss Penkridge hatte den Strickstrumpf in den Schoß sinken lassen und schaute nachdenklich in die züngelnden Flammen. Ihr Neffe erhob sich, sah sie mit einem merkwürdigen Ausdruck von der Seite an, griff zu seiner Pfeife und füllte sie aus dem Tabakskasten, der auf dem Kamin stand. Eine geraume Weile verstrich, ehe Miss Penkridge ihr Urteil über die Geschichte in Worte fasste. Vorher seufzte sie schwer.

»Gut«, sagte sie schließlich, »er hat es also doch getan. Ich hätte es nie von ihm erwartet. Das war doch der letzte, an den man hätte denken können. Ich muss sagen, die Geschichte war wieder glänzend aufgezogen, geradezu faszinierend. Richard, du musst alle Bücher kaufen, die dieser Mann geschrieben hat.«

Viner zündete die Pfeife an, steckte die Hände in die Tasche und lehnte sich an den Kamin.

»Aber liebe Tante«, sagte er halb im Scherz, halb im Ernst, »du bist schlimmer als ein Morphinist. Ich möchte nur wissen, wie es kommt, dass eine so ehrwürdige, kluge, alte Dame wie du so absurdes Zeug hören kann!«

»Was sagst du da? Absurdes Zeug?«, fragte Miss Penkridge entrüstet. Sie hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen, und die Stricknadeln klapperten eifrig im Takt aneinander. »Das ist kein absurdes Zeug – da siehst du einmal richtiges Leben! Krasse, brutale Wirklichkeit – allerdings in Form eines Romans!«

Viner schüttelte mitleidig den Kopf. Wenn es auf ihn allein angekommen wäre, hätte er niemals derartige Detektivschmöker gelesen, denn sein literarischer Geschmack bewegte sich in anderer Richtung. Und er kannte seine Bücher eigentlich besser als die böse Welt.

»Wirklichkeit! Du willst doch nicht etwa behaupten, dass diese Dinge wirkliches Leben schildern?« Er zeigte halb empört auf einen großen Stapel Detektivromane, die der Buchhändler nach einer Auswahl seiner Tante gerade heute geschickt hatte.

»Was denn sonst?« Miss Penkridge schaute ihn über ihre Brille beinahe strafend an.

»Aber diese phantastischen Kriminalgeschichten sind doch nur Gedankenkonstruktionen, wie du weißt. Im Leben passiert dergleichen nicht! Glaubst du wirklich, dass in London eine solche blutrünstige Geschichte passieren würde, wie wir sie hier lesen?«

»Darüber brauche ich gar nicht erst nachzudenken!«, erwiderte Miss Penkridge energisch, »Das steht bei mir sowieso felsenfest. Ich bin noch niemals einem Kriminalroman begegnet, der auch nur halb so spannend war, wie er hätte sein können!«

»Es ist aber doch sonderbar, dass man von dieser angeblichen Seite des Lebens niemals etwas hört oder sieht«, protestierte Viner. »Ich habe jedenfalls noch nichts von dergleichen Dingen erlebt – und ich bewohne diesen Planeten doch schon dreißig Jahre lang!«

»Du bist eben noch nicht damit in Berührung gekommen. Außerdem liest du auch niemals die Sonntagszeitungen, in denen derartige Geschichten aus dem Leben wahrheitsgetreu berichtet werden. Aber ich lese sie. Könntest du einmal sehen, welche Verbrechen in Wirklichkeit geschehen! So ist eben das Leben in dieser Welt. Und was nun gar geheimnisvolle Vorkommnisse anbetrifft, so kann ich dir nur sagen, dass ich selbst mehrere direkt unheimliche Geschichten erlebt habe. Die waren noch ungewöhnlicher als irgendein Roman, den ich gelesen habe.«

Viner ließ sich in seinen Sessel sinken und streckte die Beine aus. »Was waren denn das für Geschichten?«

Miss Penkridge betrachtete ihre Strickarbeit mit wohlgefälligen Blicken.

»Als deine Mutter und ich noch junge Mädchen waren, passierte ein Fall, der das allgemeine Interesse in hohem Maße erweckte. Die Geschichte trug sich sogar in unserer Stadt zu. Der junge Bankier Quinton, der damals ungefähr in deinem Alter war, heiratete ein sehr nettes, liebes Mädchen, und die beiden hatten auch bald ein hübsches Kind. Alle Leute hielten sie für sehr glücklich. Er war reich, gesund, lebensfreudig, allgemein beliebt und hatte nicht die geringsten Sorgen. Eines Morgens frühstückte er mit seiner jungen Frau und verließ dann sein Haus, das an der äußeren Grenze der Stadt lag, um, wie gewöhnlich, zur Bank zu gehen. Aber denke dir, er kam niemals dort an. Man hat ihn nicht wieder gesehen, nichts mehr von ihm gehört. Und dabei war der Weg höchstens zehn Minuten lang, und es handelte sich außerdem um eine belebte, breite Straße. Aber er ist glatt verschwunden. Und – der Fall ist niemals aufgeklärt worden!«

»Das ist merkwürdig«, gab Viner zu. »Wirklich sehr merkwürdig. Hast du noch mehr solche Geschichten in petto?«

»Noch viele!« Das Klappern der Nadeln klang fast kriegerisch. »Da war die arme junge Lady Marshflower. Deine Mutter und ich saßen in der Kirche, als sie getraut wurde. Sie war eine geborene Ravenstone und damals erst neunzehn Jahre alt. Sie heiratete Sir Thomas Marshflower, einen Mann von etwa vierzig Jahren. Sie waren eben erst von ihrer Hochzeitsreise zurückgekommen, als das Schreckliche passierte. Eines Morgens ritt Sir Thomas in die nächste Marktstadt, wo er zu tun hatte. Er war noch keine Stunde fort, als ein vornehm aussehender, tadellos gekleideter Herr auf dem Landsitz vorsprach und Lady Marshflower zu sehen wünschte. Man führte ihn in den Salon, und sie kam kurz darauf zu ihm. Fünf Minuten später hörte man einen Schuss. Die Diener drangen in das Zimmer ein und fanden ihre junge Herrin tot auf dem Teppich. Der Fremde hatte ihr durchs Herz geschossen. Und der Mörder? … Verschwunden wie der Schnee vom letzten Jahr! Auch dieses Geheimnis ist niemals auf geklärt worden … nie!«

»Du willst mir doch nicht etwa erzählen, dass dieser Mann nicht gefasst wurde?«

»Ich sage dir doch, dass es so war. Sir Thomas hat ein Vermögen für Nachforschungen geopfert und hat beinahe den Verstand verloren, weil er nicht herausbringen konnte, wer der Täter war, was er wollte und welche Beziehungen er zu Lady Marshflower hatte.«

»Das ist allerdings noch merkwürdiger als der erste Fall. Eine wirklich geheimnisvolle Geschichte!«

»Wirklich geheimnisvolle Geschichte!«, wiederholte Miss Penkridge etwas verletzt. »Die ganze Welt ist voll von solchen Dingen! Wie viele Morde bleiben unentdeckt! Wie viele Raubüberfälle können nicht geklärt werden, und wie viele Fälschungen werden begangen, ohne dass sie gesühnt werden. Ich sage dir, die Akten der nicht erledigten Fälle türmen sich in den Büros der Polizei. Und da wir nun gerade von Fälschungen sprechen, was war es denn mit dem alten Barrett, der damals den großen Mann in Pumpney spielte, als deine Mutter und ich noch Backfische waren? Das war ein fein eingefädeltes Verbrechen. Und die Sache blieb Jahre und Jahre unentdeckt. Und der Mann stand nicht einmal im leisesten Verdacht!«

»Um was hat es sich denn dabei gehandelt?«, fragte Viner, der zuerst seine Tante mit gutmütigem Spott angehört hatte, nun aber doch interessiert war. »Wer war denn dieser Barrett?«

»Wenn du Pumpney, wo wir lebten, gekannt hättest, dann würdest du nicht fragen, wer Mr. Samuel Barrett war. Er war der ganz Große. Er hatte alles zu sagen. Nur war er eben kein ehrlicher Mann. Aber das erfuhr man erst, als es zu spät war. Er war Rechtsanwalt von Beruf, und ich weiß nicht, wie oft er hintereinander zum Bürgermeister von Pumpney gewählt wurde. Er versah viele Ehrenämter, war Vorsteher des Gemeindekirchenrats, Kirchenältester usw. Alle reichen Leute in der Stadt hatten ihm die Verwaltung ihrer Vermögen anvertraut. Jeder wollte nur Samuel Barrett als Treuhänder oder Testamentsvollstrecker haben. Nach außen hin erschien er als die Personifikation eines guten, ehrlichen Bürgers. Aber als er starb, fand man heraus, dass er ein Doppelleben geführt hatte. Er besaß hier in London ein Lokal, war ein Spieler, spekulierte hoch und hatte noch viele andere Untugenden. All das Geld, das man ihm anvertraut hatte, war fort. Er hatte systematisch alle Abrechnungen gefälscht. Er hätte dieses Leben wahrscheinlich noch viele Jahre fortgeführt, wenn er nicht an einem Schlaganfall gestorben wäre. Sieh mal, und das stand in keinem Kriminalroman!«, schloss Miss Penkridge ihren Bericht. »Du meinst, was in diesen Romanen steht, wäre unmöglich? Ich sage dir, nach den Lebenserfahrungen alter Leute ist nichts unmöglich, was in diesen Büchern steht.«

»Ich muss dir in gewisser Weise recht geben, Tante Bethia«, meinte Viner nach einer Pause. »Nur bin ich, wie schon gesagt, solchen Dingen im Leben noch nicht begegnet.«

»Nun, das kann ja noch passieren. Du kannst mir ruhig glauben, die Wahrheit ist stärker als alle Phantasie, und im Leben geschehen die merkwürdigsten Dinge.«

Die silbernen Schläge der Kaminuhr klangen hell durch den Raum. Miss Penkridge legte ihr Strickzeug beiseite, erhob sich, küsste ihren Neffen und ging zu Bett. Viner füllte seine Pfeife noch einmal und brach dann auf, um seinen gewohnten Abendspaziergang zu machen. Mochte es regnen oder schneien, stets ging er noch einige Zeit spazieren, ehe er sich schlafen legte. Er verließ das Haus, ging quer über den Platz, bog in eine Seitenstraße ein und ging langsam zur Bayswater Road.

Es war eine helle, klare Novembernacht. Am Himmel leuchtete der Halbmond, es lag Frost in der Luft, und die Sterne schienen klar und glänzend vom Firmament hernieder. Viner dehnte deshalb seinen Spaziergang etwas weiter als gewöhnlich aus. Er ging die Bayswater Road bis Notting Hill Gate entlang und kehrte dann durch die verschiedenen Straßen und Plätze zurück, die zwischen Pembridge Gardens und Markendale Square lagen. Während er sorglos dahin­ging und seine Pfeife rauchte, dachte er halb belustigt, halb ironisch an seine Tante Bethia.

»Man muss ja zugeben, dass die beiden Geschichten, die sie erzählte, merkwürdig waren«, dachte er für sich, »Aber sie ist doch nun schon so alt, und das waren auch nur ein paar Beispiele. Wie war es nur möglich, dass jener Mann unbeobachtet aus der Stadt verschwinden konnte, wenn ihn doch jedermann kannte? Warum mag er wohl fortgegangen sein? Ist er überhaupt fortgegangen? Vielleicht modert sein Körper irgendwo auf dem Grunde eines tiefen Grabens in jener Gegend. Vielleicht hat er auch den Verstand oder das Gedächtnis verloren und ist immer weiter fortgewandert. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass später niemand wieder etwas von ihm gehört haben soll. Und dann die Geschichte von der Lady Marshflower! Das ist wirklich zu geheimnisvoll. Wer mag nur dieser Fremde gewesen sein? Was wusste sie von ihm? Wo hatten sich die beiden schon früher getroffen? Und in welchen Beziehungen standen sie zueinander? Das heißt, hatten sie sich überhaupt schon früher getroffen? Warum mag er sie nur erschossen haben? Und wie konnte er verschwinden, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen?«

Viners Gedankengänge wurden plötzlich sehr rauh unterbrochen. Er war nun wieder in die Nähe des Platzes gekommen, an dem er wohnte, befand sich aber an der entgegen gesetzten Seite, seinem Hause gegenüber. Er hatte seinen Weg durch eine der zahlreichen langen Wohnstraßen genommen, die von der Hauptstraße in Westbourne Grove abzweigten. Zwischen dieser Straße und Markendale Square lag eine enge Gasse, die gewöhnlich nur von den Bewohnern oder von Leuten benutzt wurde, die die Gegend genau kannten. Viner wollte eben in diese Gasse einbiegen, die dunkel zwischen hohen Häuserwänden vor ihm lag, als ein junger Mann eilig daraus herauskam und mit ihm zusammenstieß. Der Fremde entschuldigte sich hastig, lief dann quer über die Straße und verschwand um die nächste Ecke. Aber dort stand eine Laterne, und in ihrem Schein sah Viner das Gesicht des Fremden. Und während dessen Schritte verhallten, stand er noch und starrte ihm nach.

»Das ist doch merkwürdig«, sagte er halblaut zu sich. »Ich muss diesen Menschen schon irgendwo gesehen haben! Ich kenne ihn – wer ist das nur? Und warum zum Teufel hatte er es so eilig?«

Die Gegend war still und ruhig. Nur in der Ferne hörte Viner die langsamen, gleichmäßigen Schritte eines Polizisten, der sich auf seinem Rundgang befand. Nachdem er eine Minute lang gelauscht hatte, trat er in den Durchgang, aus dem der junge Mann eben so eilig herausgestürzt war.

In der engen Gasse brannte nur eine Laterne, die an einem Wandarm befestigt war und die Umgebung nur mäßig erleuchtete. Die Gasse selbst war nur etwa dreißig Meter lang; alte Ziegelmauern begrenzten sie auf beiden Seiten. Die Steine waren vor Alter und Rauch schwarz geworden. Hier und dort waren Türen in die Mauern eingelassen, die zu den rückwärtigen Höfen der großen Häuser führten. Viner ging nachts oft durch diese Gasse. Es lag etwas merkwürdig Abgeschlossenes in diesem Durchgang, das an die Abgeschiedenheit eines Klosters oder Gefängnisses erinnerte. Die Türen waren alle geschlossen, als er die Gasse ent-langging. Sie kam ihm verlassener vor, als sonst eine Straße in London. Aber plötzlich blieb er stehen, denn in dem schwachen Licht der Laterne entdeckte er einen Mann, der regungslos quer über dem Pflaster lag. Nach der ersten Überraschung trat Viner näher und entzündete schnell ein Streichholz, da die Laterne nicht genügend Licht verbreitete. Er erkannte, dass er einen Toten vor sich hatte. Auf dem weißen Hemd des Mannes sah er einen Blutflecken, der langsam immer größer wurde.

II Haus Nr. 7

Bevor das Streichholz verlosch, hatte Viner den Fremden erkannt, der zu seinen Füßen lag. Dieser Mann hatte sich erst vor ein paar Wochen in seiner allernächsten Nähe niedergelassen; eine ältere Dame und ein hübsches junges Mädchen lebten mit ihm zusammen. Viner und Miss Penkridge hatten die drei oft auf der Straße gesehen und sich gefragt, wer sie wohl sein mochten. Der Mann sah aus, als ob er schon viel erlebt hätte; er war stark, kräftig und trug einen Spitzbart. Nach dem braungebrannten, etwas verwitterten Gesicht mochte man ihn auf etwa sechzig Jahre schätzen. Sein ganzes Äußeres deutete darauf hin, dass er sich in fernen Ländern aufgehalten hatte. Gewöhnlich trug er einen bequemen, blauen Wollanzug, aber nun war er in Abendkleidung. Der leichte Mantel war offen, so dass man den weiten Westenausschnitt sehen konnte. Und auf dem weißen Hemd zeigte sich dieser grässliche Fleck, der sich langsam vergrößerte.

Hier war ein Mord geschehen! Viner erinnerte sich sofort an zweierlei: an den davoneilenden jungen Mann, dessen Gesicht ihm so sonderbar bekannt vorkam. Dann kam ihm zum Bewusstsein, dass ein Polizist langsam die nahe Straße entlangkommen musste. Er wandte sich um, eilte die verlassene Gasse zurück und traf auch auf den Beamten, der in langsamem Gleichschritt und in größter Seelenruhe daherkam. Dieser erkannte in Viner einen Anwohner des Platzes und legte die Hand grüßend an den Helm.

»Dort liegt ein Toter«, sagte Viner mit gedämpfter Stimme. »Gleich um die Ecke in der Gasse hier. Zweifellos ist der Mann ermordet worden.«

Einen Augenblick stand der Polizist still, dann zog er seine Trillerpfeife und gab ein langes, lautes Signal. Bevor der schrille Ton verklungen war, ging er mit Viner zu der von diesem bezeichneten Stelle.

»Haben Sie ihn gefunden, Mr. Viner?«

»Ja, eben dort im Durchgang.«

Er wollte gerade den davoneilenden jungen Mann erwähnen, den er getroffen hatte, aber sie waren nun am Eingang der Gasse angekommen, und der Polizist zog noch einmal seine Signalpfeife und ließ einen lauten schrillen Pfiff ertönen, intensiver als das erste Mal.

»Mein Sergeant und der Inspektor sind auch in der Nähe. Einer von beiden wird sicher in ein paar Minuten hier sein. Also nun erzählen Sie bitte.«

Er ging auf den Toten zu, nahm seine Taschenlampe und beleuchtete den Mann. »Um Himmelswillen, das ist ja Mr. Ashton!«

»Kennen Sie ihn?«

»Das ist doch der Herr, der am Markendale Square Nr. 7 wohnt. Er ist erst vor kurzem hergezogen, er kam aus Australien oder Neuseeland. Ja, dem ist nicht mehr zu helfen. Man hat ihn von hinten erstochen. Haben Sie nicht jemand in der Nähe gesehen?«

»Doch, ich traf einen jungen Mann, der in größter Hast hier herausstürzte. In seiner Eile stieß er mit mir zusammen. Und dann lief er quer über die Straße auf die Westbourne Road zu.«

Der Polizist betastete die Taschen des Toten. »Er ist beraubt! Es ist keine Uhr da, auch die Geldbörse und die Brieftasche fehlen. Raubmord, Mr. Viner! Sagten Sie nicht eben, dass der junge Mann zur Westbourne Road gelaufen sei? Fünf Minuten Vorsprung hat er!«

»Wäre es nicht gut, wenn man einen Arzt riefe?«

»Tausend Ärzte können ihm nicht mehr helfen«, entgegnete der Polizist grimmig. »Aber Dr. Cortelyon wohnt hier um die Ecke, Nr. 11. Eines von diesen Toren führt zum Hof seines Hauses. Es wäre ganz gut, wenn wir ihn holten.« Er drehte seine Taschenlampe wieder an und beleuchtete verschiedene Türen rechts in der Mauer. Als er die richtige gefunden hatte, klingelte er, und während die Glocke hinten auf dem Hof anschlug, drückte er seine Signalpfeife in Viners Hand.

»Mr. Viner, gehen Sie zum Ende des Durchgangs und pfeifen Sie, so laut Sie können, dreimal. Ich werde solange hier bleiben, bis Sie zurückkommen. Wenn Sie niemanden von unseren Leuten kommen sehen, pfeifen Sie noch einmal.«

Als Viner aber an die Ecke kam, traf er schon den Inspektor und einen Sergeanten; aus der anderen Richtung kam noch ein Polizist herbei.

»Sie werden dort gebraucht«, sagte Viner, als sie zu ihm traten. »Ein Mord ist geschehen. Einer Ihrer Leute ist schon dort. Er hat mir diese Pfeife gegeben, um weitere Hilfe herbeizurufen. Hier diesen Weg!«

Die Beamten folgten ihm schweigend die Gasse entlang. Als sie ankamen, untersuchte der Arzt den Toten gerade beim Licht einer Taschenlampe. Der Doktor war ein großer Mann mit dunkler Hautfarbe, glänzenden Augen und einem spitzen Van-Dyck-Bart, der ihm das Aussehen eines Ausländers verlieh. Viner hatte ihn schon oft gesehen, aber er kannte seinen Namen nicht. Der Polizeiinspektor schien ihn dagegen sehr gut zu kennen.

»Nun, Dr. Cortelyon, wie steht es?«, fragte er, als er nähertrat. »Ist der Mann tot?«

Cortelyon richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er war eine stattliche Erscheinung in seinem Abendanzug. Die Leute sahen ihn erwartungsvoll an.

»Der Mann ist ermordet«, sagte er in ruhigem Ton. »Er ist von hinten direkt durchs Herz gestochen worden und ist schon seit mehreren Minuten tot.«

»Wer fand ihn hier?«, fragte der Inspektor.

»Ich!«, entgegnete Viner. Er gab einen eiligen Bericht über sein Erlebnis. Die Polizeibeamten beobachteten ihn scharf. »Ich würde den Mann wiedererkennen, wenn ich ihm gegenübergestellt würde. Ich sah sein Gesicht genau im Licht einer Straßenlaterne.«

Der Inspektor beugte sich nieder und befühlte schnell die Taschen des Toten.

»Leer …«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. »Keine Uhr oder Kette, keine Geldtasche, nichts. Es sieht so aus, als wäre es ein Raubmord. Kennt ihn einer von Ihnen?«

»Ich weiß, wer der Tote ist«, antwortete der Polizist, den Viner zuerst gerufen hatte. »Es ist ein gewisser Mr. Ashton, der seit einiger Zeit am Markendale Square Nr. 7 wohnt, ganz in der Nähe von Mr. Viner hier. Ich hörte, dass er aus den Kolonien kam.«

»Kennen Sie ihn?«, wandte sich der Inspektor an Viner.

»Ich habe ihn oft gesehen, aber ich wusste seinen Namen nicht. Ich glaube, er hat eine Frau und eine Tochter.«

»Nein, da irren Sie sich«, mischte sich der Polizist wieder ein. »Die junge Dame ist sein Mündel, und die ältere ist eine Art Gesellschafterin und Hausdame.«

Der Inspektor sah sich um. Andere Polizisten waren inzwischen herbeigeeilt und bogen jetzt in die Gasse ein.

»Stellen Sie einen Posten an beide Seiten des Durchganges«, befahl er dem Sergeanten. »Niemand darf hier hereinkommen. Und rufen Sie dem Polizeiarzt. Dr. Cortelyon, würden Sie so liebenswürdig sein und mit ihm sprechen, wenn er hierher kommt? Er soll den Toten untersuchen, bevor er fortgebracht wird.« Dann wandte er sich an Viner. »Wir müssen die Damen von dem Vorfall benachrichtigen. Wie ich höre, wohnen Sie ganz in der Nähe. Vielleicht sind Sie so freundlich, mich zu begleiten?«

Viner nickte, und nachdem der Inspektor dem Sergeanten noch einige Instruktionen gegeben hatte, gingen sie zusammen durch die Gasse nach Markendale Square.

»Wohnen Sie schon lange hier, Mr. Viner?«, fragte der Inspektor, als sie auf den Platz traten. »Ich sah eben, dass einige von meinen Leuten Sie kannten. Ich selbst bin erst seit kurzem in dem Bezirk.«

»Ich wohne seit fünfzehn Jahren hier.«

»Wissen Sie sonst vielleicht noch etwas von dem Toten?«

»Nein, nicht einmal soviel wie Ihr Beamter.«

»Ja, Polizisten hören hie und da etwas. Es ist eigentlich recht unangenehm, dass wir die Damen zu dieser Stunde mit einer solchen Nachricht besuchen müssen. Die Damen kennen Sie wahrscheinlich auch nicht?«

»Nein, ich habe sie nur häufig gesehen.«

»Nun, auf jeden Fall müssen wir es ihnen sagen. Ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie mitkämen. Und dann müssen wir sehen, wo dieser junge Mann geblieben ist. Sie müssen ihn uns nachher so genau wie möglich beschreiben.«

Inzwischen waren sie am Haus Nr. 7 angelangt.

Viner legte plötzlich die Hand auf den Arm des Inspektors. Ein elegantes Auto bog gerade um die Ecke und hielt vor der Tür des Hauses, in dessen Vorhalle eine helle Lampe brannte.

»Das sind die beiden Damen«, sagte Viner leise.

Der Inspektor blieb stehen und beobachtete sie. Die Haustür wurde geöffnet, und ein heller Lichtschein flutete auf die Treppe und auf die Straße. Zuerst stieg ein schlankes, junges Mädchen aus. Sie hatte sich ganz in ihr Cape gehüllt. Goldblonde Haare umrahmten ihr frisches, gesundes Gesicht, aus dem ein paar lebhafte Augen fröhlich in die Welt schauten. Hinter ihr kam eine ältere Dame, die noch sehr gut aussah. Sie war der Typ der Gesellschafterin, wie man ihn häufig trifft. Die Haustür schloss sich wieder, und das Auto fuhr ab. Der Inspektor wandte sich kopfschüttelnd an Viner.

»Gerade vom Theater zurück, und nun müssen sie das hören! Kommen Sie, Mr. Viner.«

Der Inspektor klingelte, und im nächsten Augenblick wurde die Tür geöffnet. Das Dienstmädchen sah den Beamten erstaunt an.

»Ist dies Mr. Ashtons Haus?«, fragte er. »Ja? Wie heißt denn die ältere Dame, die eben zurückkam? Erschrecken Sie nicht und bleiben Sie ruhig, mein liebes Kind. Mr. Ashton hat einen Unfall gehabt, und ich möchte die Dame deshalb sprechen.«

»Es ist Mrs. Killenhall.«

»Und wie heißt die junge Dame?«

»Miss Wickham.«

Der Inspektor trat in die Diele. »Sagen Sie Mrs. Killenhall und Miss Wickham, Inspektor Drillford möchte gern einige Minuten mit ihnen sprechen.«

Das Mädchen entfernte sich.

»Es ist besser, dass wir die beiden zusammen sehen, dann haben wir es hinter uns. Es ist nicht gut, solche Nachrichten zu lange zurückzuhalten.«

Das Dienstmädchen erschien wieder, und die beiden traten in das Speisezimmer ein. Die Damen hatten ihre Mäntel abgelegt. Die Jüngere saß am Kamin, in dem ein großes Feuer brannte, und hielt ihre Hände in die Nähe der Flammen, um sie zu erwärmen. Die Ältere stand der Tür gegenüber. Der Raum war in etwas altmodischem, schweren Stil, aber luxuriös eingerichtet. Man sah, dass der Herr des Hauses jeden Augenblick zurückerwartet wurde. Whisky und Zigarren warteten seiner auf dem Tisch. Viner erinnerte sich jetzt daran, dass er eine halb aufgerauchte Zigarre neben dem Toten gesehen hatte.

»Mrs. Killenhall und Miss Wickham?«, begann Drillford. »Es tut mir sehr leid, dass ich Sie noch so spät stören muss, meine Damen, aber Mr. Ashton hat einen Unfall gehabt, und es ist meine Pflicht, Ihnen davon Mitteilung zu machen.«

Viner war ein wenig im Hintergrund geblieben und beobachtete die beiden. Er sah sofort, dass es keinen Auftritt geben würde. Die junge Dame am Feuer sah einen Augenblick erstaunt zum Inspektor auf, aber sie schien persönlich nicht so sehr betroffen zu sein. Die ältere Dame war vollkommen gefasst und ruhig. »War es ein schwerer Unfall?«, fragte sie.

»Entschuldigen Sie, wenn ich vorher frage, in welchen verwandtschaftlichen Beziehungen die Damen zu Mr. Ashton stehen«, sagte er mit einem bedeutungsvollen Blick zu Mrs. Killenhall.

»Wir sind nicht mit ihm verwandt. Miss Wickham ist nur das Mündel von Mr. Ashton, und ich bin Miss Wickhams Gesellschaftsdame.«

»Nun gut, dann kann ich es Ihnen ja sofort sagen. Es ist so ernst, wie es nur immer sein kann. Verstehen Sie mich?«

Nach einem kurzen Schweigen wandte sich das junge Mädchen den beiden Herren zu. Viner beobachtete, dass sie etwas errötete.

»Bitte teilen Sie uns alles mit. Sagen Sie uns die Wahrheit. Ist Mr. Ashton tot?«

Drillford nickte.

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen das sagen muss. Ja, er ist ermordet worden.«

Er machte eine Pause und sah von der einen zur anderen, als ob er den Eindruck seiner Worte beobachten wollte.

Mrs. Killenhall setzte sich plötzlich erschrocken nieder, aber das junge Mädchen sah den Inspektor gefasst an.

»Wann war das? Und wie und wo ist es geschehen?«

»Erst vor kurzem, hier in der Nähe. Dieser Herr, Mr. Viner, ein Nachbar von Ihnen, fand ihn tot auf. Nach dem Augenschein liegt zweifellos Raubmord vor. Ich möchte nun gern noch einige Auskünfte über Mr. Ashtons Gewohnheiten und dergleichen haben.«

Miss Wickham erhob sich von ihrem Sitz und sah bedeutungsvoll auf Mrs. Killenhall.

»So merkwürdig es auch klingen mag«, wandte sie sich dann an Drillford, »weder Mrs. Killenhall noch ich wissen etwas Genaues über Mr. Ashton.«