Der ungeliebte Mann - Hans Fallada - E-Book

Der ungeliebte Mann E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Die Airedale-Hündin Bella hat sich unter der Spalierkirsche am Kücheneingang ein Loch gescharrt und liegt nun schläfrig in der kühleren Erde. Sie weiß, dieses Scharren an den Wurzeln der Bäume ist ihr verboten, aber die sengende Hitze hat ihren Willen zum Gehorsam gelähmt – wie sie alles Leben gelähmt hat. In einem verdunkelten Zimmer im Erdgeschoß sitzt der Herr des Hauses an einem Tisch. Die jungen Mädchen haben ihm eine Schüssel mit Kirschen hingestellt – ab und an tastet er mit vorsichtigen Fingern nach den Kirschen. Er findet einen Zwilling, einen Augenblick zögert er, dann hängt er sich die Doppelkirsche fast trotzig übers Ohr. Er hat sich daran erinnert, daß er so tat, als er noch ein Kind war. Er fühlt das glatte, kühlende Fruchtfleisch sanft an der Wange. So sitzt er da, im Halbdunkeln, mit eisgrauen Schläfen und genießt eine eingebildete Liebkosung. Mehr gibt es nicht für diesen allein sitzenden Mann: er ist blind. Seine Sekretärin, die Ilse Voß, von ihren Freunden meist ›Itta‹ genannt, liegt oben, in der Stube über der Küche, auf ihrem Bett und schläft. Sie war todmüde, als sie nach dem Essen hinaufging: In den letzten Nächten war sie immer unterwegs, und am Tage war der Chef ungewöhnlich gereizt und anspruchsvoll und ließ ihr keine Ruhe. So hat sie sich aufs Bett geworfen, sobald sie von unten kam, und ist sofort in Schlaf versunken. Aber der Schlaf, so tief er ist, scheint ihr keine Erleichterung zu bringen, die tiefe Falte über der Nasenwurzel hat sich nicht geglättet. Sie wirft sich unruhig von einer auf die andere Seite. Einmal spricht sie auch etwas im Traum, erst sagt sie unwillig: "Ach, laß mich – nein, ich will nicht!" – Dann: "Quäl mich doch nicht immer – sei lieb, du!" Ihre Freundinnen aber, eine Zimmertür weiter, schlafen nicht, obwohl sie auf den Betten liegen. Lola Bergfeld, die älteste von den drei Mädchen im Haus, einundzwanzig, hat ein Buch in den Händen und versucht, darin zu lesen. Es ist ein Buch, das in keiner Weise gefällt …

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Hans FalladaDERUNGELIEBTEMANN

1

Die Airedale-Hündin Bella hat sich unter der Spalierkirsche am Kücheneingang ein Loch gescharrt und liegt nun schläfrig in der kühleren Erde. Sie weiß, dieses Scharren an den Wurzeln der Bäume ist ihr verboten, aber die sengende Hitze hat ihren Willen zum Gehorsam gelähmt – wie sie alles Leben gelähmt hat.

In einem verdunkelten Zimmer im Erdgeschoß sitzt der Herr des Hauses an einem Tisch. Die jungen Mädchen haben ihm eine Schüssel mit Kirschen hingestellt – ab und an tastet er mit vorsichtigen Fingern nach den Kirschen. Er findet einen Zwilling, einen Augenblick zögert er, dann hängt er sich die Doppelkirsche fast trotzig übers Ohr. Er hat sich daran erinnert, daß er so tat, als er noch ein Kind war.

Er fühlt das glatte, kühlende Fruchtfleisch sanft an der Wange. So sitzt er da, im Halbdunkeln, mit eisgrauen Schläfen und genießt eine eingebildete Liebkosung. Mehr gibt es nicht für diesen allein sitzenden Mann: er ist blind.

Seine Sekretärin, die Ilse Voß, von ihren Freunden meist ›Itta‹ genannt, liegt oben, in der Stube über der Küche, auf ihrem Bett und schläft. Sie war todmüde, als sie nach dem Essen hinaufging: In den letzten Nächten war sie immer unterwegs, und am Tage war der Chef ungewöhnlich gereizt und anspruchsvoll und ließ ihr keine Ruhe. So hat sie sich aufs Bett geworfen, sobald sie von unten kam, und ist sofort in Schlaf versunken.

Aber der Schlaf, so tief er ist, scheint ihr keine Erleichterung zu bringen, die tiefe Falte über der Nasenwurzel hat sich nicht geglättet. Sie wirft sich unruhig von einer auf die andere Seite. Einmal spricht sie auch etwas im Traum, erst sagt sie unwillig: »Ach, laß mich – nein, ich will nicht!« – Dann: »Quäl mich doch nicht immer – sei lieb, du!«

Ihre Freundinnen aber, eine Zimmertür weiter, schlafen nicht, obwohl sie auf den Betten liegen.

Lola Bergfeld, die älteste von den drei Mädchen im Haus, einundzwanzig, hat ein Buch in den Händen und versucht, darin zu lesen. Es ist ein Buch, das in keiner Weise gefällt, aber sie will es trotzdem lesen, denn der Chef hat es ihr als besonders gut empfohlen, und Lola hat einen Bildungstick.

So läßt ihr die Lektüre immer noch Zeit, häufig einen verstohlenen Blick auf Traute Kaiser zu werfen, die völlig angezogen still auf dem Rücken daliegt und mit offenen Augen zur Decke emporsieht. Traute ist die Jüngste der drei, kaum siebzehn, und sie erlernt erst den Haushalt, dem Lola vorsteht. Das gibt Lola ein großes Übergewicht, und ein paarmal liegt es ihr auf der Zunge, ›die Kleine‹ zu fragen: ›Was träumst du?‹ Oder besser noch: ›Von wem träumst du?‹

Aber jedesmal besinnt sie sich noch und kehrt zu ihrem öden Buch zurück, in dem auf keiner Seite ein Wort von Liebe steht und mondänem Leben und prima Tanzmusik und schicken Kleidern. Übrigens heißt das Buch ›Uli der Knecht‹ und ist von einem Manne namens Jeremias Gotthelf in einem unglaublichen Deutsch geschrieben. Wüßte Lola Bergfeld, daß dieser Mann den Beruf eines Pfarrers hatte, wäre ihr sofort klar, warum ihr die Art Liebe, die sie schätzt, von diesem Manne vorenthalten wird – aber so liest sie erst noch einmal weiter und hofft. Man weiß es ja nie bei den Männern, wie es weitergehen wird.

Plötzlich schlägt die Bella drunten auf dem Hof kurz an. Lola läßt das Buch fallen und stürzt ans Fenster.

»Du! Es geht einer vorbei, Traute!« ruft sie. Und sagt enttäuscht: »Ich habe nicht mal sehen können, wer es war …«

»Jammervoll!« antwortet Traute. »Wenn’s nun der alte August Schulz gewesen wäre, und du hättest ihn noch gesehen – das hätte dich viel glücklicher gemacht, wie?«

»Aber es hätte auch mein Leutnant sein können! Da, horch mal, er pfeift! Wahrhaftig, der meint uns! Eine von euch – mein Leutnant kann es nicht sein, der pfeift immer aus der Walküre! Hör mal …«

Und sie spitzt die Lippen.

»Ach, laß mich bei dieser Hitze bloß zufrieden mit deinem Leutnant«, sagt Traute Kaiser unwillig, steht aber von ihrem Bett auf. »Erstmal ist er gar nicht Leutnant, sondern Unteroffizier – und dann geh ich jetzt nochmal ins Wasser. Ein bißchen kühler als hier ist’s im See doch! Kommst du mit …«

Damit ist Traute schon gegangen. Einen Augenblick hat sie hastig atmend auf dem dämmrigen Vorplatz gestanden, noch einmal unentschlossen über das, was sie eben doch fest beschlossen hatte.

Dann aber ist sie leise und rasch die Treppe hinuntergestiegen, vorsichtig bei jeder Stufe die Stelle benutzend, die, wie sie aus Erfahrung weiß, am wenigsten knarrt. Dabei überlegt sie, ob Lola wohl geglaubt hat, daß sie jetzt noch einmal zum Baden geht? Ihr fällt Lügen ziemlich schwer, weil sie weiß, sie wird gleich rot dabei. Aber diesmal scheint es ihr doch gelungen zu sein.

›Und wenn nicht, ist es auch noch so!‹ denkt sie trotzig. ›Die haben mir alle gar nichts zu sagen!‹

Leise öffnet sie jetzt die Tür von der Küche zum Hof. Bella sieht ihr erwartungsvoll entgegen und klopft freudig mit dem Schwanz auf die Erde. Traute aber flüstert leise: »Nein, Bella, nein! Diesmal nicht! Bleib schön hier!«

Wollte sie jetzt wirklich baden, müßte sie nach rechts durch den Garten zum See gehen. Aber nach einem raschen, prüfenden Blick auf die offenstehenden Fenster im Oberstock geht sie nach links. Sie öffnet das Hoftor, tritt aus den Weg und zieht die Tür leise wieder hinter sich zu.

Noch einmal wirft sie einen Blick zurück auf die die Fenster, aber dann wendet sie sich ab und geht entschlossen den schmalen Feldweg hinauf, der Spur des Pfeifers folgend, der nicht aus der Walküre pfiff.

2

Einem Blinden entgeht nichts: Der Mann in der verdunkelten Stube hat das Anschlagen des Hundes gehört wie das Flöten; der vorsichtige Schritt auf der Treppe entging ihm nicht, und eben hörte er die Hoftür mit einem leichten Aufseufzen der Feder ins Schloß fallen. Er ist plötzlich des Spiels mit den Kirschen überdrüssig geworden, er ist aufgestanden und geht ruhelos in dem Zimmer auf und ab.

»Ach ja!« seufzt er und: »Freilich, das mußte einmal kommen!«

Plötzlich fällt ihm ein, wie sehr er an diesem Vormittag seiner Sekretärin Ilse Voß zugesetzt hat: Er wollte durchaus von ihr erfahren, welche Art Blau ein Kleiderstoff hatte, den sich Traute Kaiser gekauft hatte. Das sind seine Sorgen und Interessen, seit er blind wurde: Er läßt die Ilse Voß alles aufschreiben, was er einmal sah, ehe es Nacht für ihn wurde, und er sucht alles zu erfahren, was andere heute sehen …

»Also eine Art blasseres Kornblumenblau?«

»Nein, nicht doch, Herr Siebenhaar! Mehr ein Bleu …«

»Bleu – lassen Sie mich zufrieden mit all den albernen Modefarben! Nennen Sie mir irgendwas Lebendiges, das diese Farbe hat!«

»Ja, ich weiß doch auch nicht …« Sie suchte. Dann: »Etwa wie die blaue Strickjacke von Lola, da, wo sie verschießt …«

Trostloses Gewäsch, verdammtes! Aber das war jetzt – seit geraumer Zeit – sein Leben: Erinnerungen an Farben, an einst Geschautes. Nichts Lebendiges mehr, kein warmer Hauch auf der Wange, keine übermütig zausende Hand mehr im Haar – alles dies war ihm mit dem Licht des Himmels entflohen.

»Ach ja!« seufzt er noch einmal, aber lauter. »Das war wohl zu erwarten!«

Dann geht er sacht aus der Stube, zum Keller hin.

Auch Lola hat das leise Aufseufzen gehört. Freilich, sie stand hinter der Gardine und sah Traute mit gespannter Aufmerksamkeit nach. Nun, da sie sicher ist, die Kleine ging weder zum Baden noch ins Dorf, sondern den Weg in die Felder, läuft sie rasch aus dem Zimmer, reißt die Stubentür nebenan auf und ruft: »Los, Itta, guck mal schnell aus dem Fenster! Da kannst du Traute hinter einem Mann herziehen sehen! Und mir hat sie erzählt, sie geht zum Baden!«

»Was ist denn los?« fragt Ilse, verwirrt aus dem Schlaf hochfahrend. »Ist es denn schon wieder vier?« Und nach einem Blick auf die Uhr: »Oh Gott, gerade erst halb drei! Kannst du mich denn nicht in Ruhe schlafen lassen?! Ich habe Schlaf so nötig!«

»Aber, Itta!« ruft Lola vorwurfsvoll. »Wo Traute eben mit einem Mann losgezogen ist! Komm doch schnell ans Fenster!«

»Traute? Mit einem Mann?!«

»Ja, mach bloß zu! War es also doch richtig, daß ich dich weckte!«

Nebeneinander knien die beiden am Fenster und sehen gespannt auf die kleine Kuppe mit dem gelben Fleck der Sandgrube, an der vorbei sich der Weg schlängelt.

»Ich sehe nichts!« sagt Ilse Voß enttäuscht.

»Warte doch nur! Sie muß gleich kommen! Hör zu! Erst hat es unten geflötet, ich habe gleich herausgeguckt. Ein Mann ist es gewesen, wahrscheinlich Männe oder Paulchen Schönfeld …«

»Mit denen läßt sich doch Traute nicht ein!«

»Es kann auch wer anders gewesen sein! Und erst tut sie so, als sei nichts, und dann sagt sie plötzlich, sie will noch mal ins Wasser, wo ihr Haar noch ganz feucht und zottelig vom letzten Baden war … Da kommt sie!«

Lola faßt vor Aufregung ganz fest Ilses Arm. Aber das Bild hat eigentlich nichts Aufregendes: ein lebhaft gelber Fleck – Trautes Sportkleid – wandert an der gelben Sandgrube vorüber und verschwindet.

»Allein!« stellt Ilse fest.

»Aber ich sage dir doch: Er ist ihr mindestens vier Minuten voraus! Sie läuft ihm nach!«

»Sie werden sich bei der kleinen Brücke am Durchfluß treffen«, überlegt Ilse Voß.

»Weißt du was, Ilse«, schlägt Lola aufgeregt vor. »Wir nehmen das kleine Paddelboot und rudern am Schilf entlang und überraschen die beiden. Ich möchte doch zu gerne wissen, wer es ist!«

»Das weiß ich auch ohne Spionieren«, sagt Ilse, ein ganz klein wenig verächtlich. »Sie hat in den letzten Wochen drei Briefe hier aus der Gegend bekommen …«

»Sag doch von wem! Ich lasse mir auch bestimmt nichts merken! Bitte, Ilse!«

»Du hast dich auch mal mächtig um ihn bemüht«, läßt Ilse sie zappeln. »Aber bei dir hat er nicht angebissen. – Bei mir übrigens auch nicht«, setzt sie, mehr zu sich selbst gesprochen, hinzu.

»Der Zahn aus dem Getreide-Geschäft? Oder nein, der hübsche große Blonde, der seit zwei Wochen in der Kistenfabrik ist?«

»Hast du den auch schon entdeckt?« fragt Ilse etwas gereizt.

»Aber Ilse! Der ist doch schon allen Mädchen hier herum aufgefallen! Ich hab’ ihm neulich beim Tennisspielen zugesehen – einfach süß!«

»Mit wem hat er denn gespielt?«

»Ach, mit dem langen Reff, der Tochter vom Bürgermeister! Die mit den Pferdezähnen, weißt du!«

»Na also! Da weißt du ja Bescheid, wieviel er sich aus einem Wirtschaftsfräulein vom Land machen wird!«

»Oder einer Klapperschlange …«

»Richtig, Lola, oder einer Klapperschlange … Im übrigen bin ich versehen …«

»Das glaubst du!« antwortet Lola, aber nur halblaut, so daß unklar bleibt, ob Ilse sie verstanden hat.

Die beiden Mädchen knien nebeneinander, sehen in das besonnte Land, das der Ernte entgegenreift, wie auch sie immer reifer für das Leben werden, und plötzlich sagt Lola, indem sie sich behaglich reckt und streckt: »Ach, Itta, ist das alles schön! Ich weiß schon: Mein Mann muß einmal dunkel sein … Und er muß wunderbar tanzen können, und einen prima Wagen muß er haben, und er darf nur seidene Oberhemden tragen … Und er müßte sich kirchlich trauen lassen, und die Hochzeitsreise müßten wir in einem Wohnwagenanhänger machen … Ich denke mir das einfach chic, wenn man da so morgens auf einer Waldwiese aufwacht, und er wäre himmlisch zärtlich, und während ich Kaffee koche, spielte er die neuesten Tanzplatten. Ja, und ich würde so bezaubernde Shorts tragen …«

»Herrlich!« stimmt Ilse wieder ein wenig ironisch bei. »Und was müßte dieser Zukünftige sein? Millionär?«

»Ach, das wäre mir ganz egal! Meinetwegen kann er der kleinste Buchhalter sein, wenn er mich nur liebt!«

»Na ja«, sagt Ilse trocken, »die kleinen Buchhalter mit seidenen Hemden und Wohnwagen sind ja ziemlich häufig! – Du bist einfach ein Schaf, Lola!« sagt sie eilig, denn ihre Freundin will schon wieder eine neue schwärmerische Albernheit loslassen. – »Und wenn du es nicht lernst, die Klappe zu halten, sondern all deinen Unsinn jedermann verzapfst, wirst du dich verplempern und nie einen vernünftigen Mann auch nur mit hundertachtzig monatlich einfangen – auf die Dauer heißt das!«

»Du hast es gerade nötig, von Verplempern zu reden!« fängt Lola zornig an, und ihre Augen sehen vor Empörung jetzt wirklich schwarz aus.

Aber mit Ilses Geduld ist es vorbei, und so sagt sie energisch:

»Und jetzt ziehst du hier Leine, damit ich wenigstens noch eine Stunde schlafen kann. Die beiden kommen doch nicht so rasch zurück. – Und damit du mir wirklich Ruhe läßt«, setzt sie hastig hinzu, »will ich dir sagen, was du durchaus wissen wolltest, aber längst wieder vergessen hast, daß Traute nämlich schon drei Briefe von dem jungen Inspektor in Schlicht bekommen hat …«

»Von dem Siegfried Senden in Schlicht?! Traute, das kleine Bäh-Schaf?! Das ist doch unmöglich. Du mußt dich irren, Itta!«

3

Der junge Feldinspektor von Schlicht, Siegfried Senden, sitzt unterdessen auf dem Brückengeländer über dem Durchfluß und baumelt lässig mit den Beinen. Ganz so lässig ist ihm allerdings nicht zumute, er hat sogar schon einmal auf die Uhr gesehen und eiligen Rückmarsch erwogen. An sich müßte er zur Stunde nämlich auf dem Rapsschlag des Rittergutes Schlicht, eine gute Stunde von hier entfernt, stehen, und mit Oberinspektor Brod ist bei Nachlässigkeiten im Dienst schlecht Kirschen essen!

Wie diese süße Kleine ihm Korb auf Korb versetzt hatte, sei es nun ein harmloser Likör oder eine nicht ganz harmlose Abkühlungspromenade nach der heißen Tanzerei, wie sie seine Briefe gänzlich unbeantwortet ließ, und sie waren doch mit allem Gefühlsaufgebot eines liebeskundigen jungen Mannes, der ein humanistisches Gymnasium absolviert hat, erst in die Kladde und dann ins Reine geschrieben worden; und wie sie ihn jetzt auf seinen dritten Brief hin auch wieder versetzen wird – das konnte einen wirklich ganz ernsthaft in Fahrt bringen!

Siegfried Senden schaut zum drittenmal auf die Uhr, stellt fest, daß er den äußersten, mit seinem Pflichtgefühl vereinbarten Termin bereits um zwei Minuten überschritten hat, und beschließt, der Abrundung halber noch drei Minuten zuzulegen, im übrigen aber dem nicht mehr fernen Ernteball die weitere Entwicklung zu überlassen – als oben am Rande des Hohlweges zwischen den grünen Haselbüschen ein gelbes Kleid auftaucht …

Er fährt mit einem Satz von seinem Brückengeländer hoch und stellt sich in Positur, ein Lächeln auf seinem Gesicht, die schilfleinene Feldmütze in der Hand. Ehrlich gestanden – dies hatte er nun doch nicht erwartet, sonst hätte er sich bestimmt einen schöneren Schlips umgebunden! Was soll er nun zur Begrüßung sagen? Ach, ganz egal! Daß sie nun wirklich gekommen ist, beweist, daß es sich jetzt nicht mehr um Sagen handelt, er wird einfach zur Attacke vorgehen …

Überraschend schnell ist Traute Kaiser bei ihm. Ihr Schritt wurde immer schneller, je näher sie der kleinen Brücke und der schilfleinenen Gestalt kam, wie ein Stein immer rascher den Abhang hinabrollt, ehe er zur Ruhe kommt.

Mit einem Ruck bleibt Traute Kaiser vor Siegfried Senden stehen. Sie ist hochrot, aber nicht nur von dem heißen, eiligen Weg. Ehe er den Mund noch auftun kann, sagt sie, fast atemlos: »So, hier bin ich! Und nun sagen Sie mir, was Sie eigentlich von mir wollen!«

Er ist völlig verblüfft. Er starrt sie mit weit offenen Augen an, zu plötzlich werden seine zärtlichen Hoffnungen zerstört. Beruhigend sagt er: »Aber warum denn so aufgeregt, mein Mädchen?«

Und wie aus der Pistole geschossen kommt die Antwort: »Ich bin nicht Ihr Mädchen! Wie kommen Sie dazu, mich so zu nennen?!« Sie stampft mit dem Fuß auf. »Da!« Sie zieht die zerknitterten Briefe aus der Tasche. »In denen haben Sie mich auch so genannt! Aber ich bin nicht Ihr Mädchen – und werde es auch nie sein! Nehmen Sie Ihr Geschmier wieder!«

Mechanisch nimmt er seine mißhandelten Briefe zurück, aber dabei starrt er sie unverwandt an, unverhohlene Bewunderung im Blick. »Aber, Trautchen«, sagt er endlich. »Warum denn so böse?! Es ist doch keine Beleidigung, wenn ein junger Mann ein junges Mädchen nett findet!«

Langsam, aber mit großem Nachdruck setzt er hinzu: »Und ich finde dich wirklich nett …«

Sie wird von seinem Blick und seinen Worten noch röter und zorniger.

»Sie sollen mich nicht einfach du nennen, das ist schon wieder eine Beleidigung! Und was bilden Sie sich überhaupt ein«, fährt sie noch rascher fort, »daß Sie mir einfach Briefe schreiben und mich ins Gerede bringen?! Was gibt Ihnen denn das Recht dazu?! Weil Sie dreimal mit mir getanzt haben? Lachhaft – und außerdem sind Sie noch ein ganz miserabler Tänzer!«

Er übergeht diese offenkundige Lüge mit Stillschweigen – seine Tanzkunst ist in der ganzen Gegend berühmt.

»Aber, Trautchen«, sagt er vorwurfsvoll, »wie soll man es denn sonst machen. Wenn man ein Mädchen gern hat, muß man es ihr doch irgendwie sagen! Alle machen es so!«

»So, und das Mädchen muß sich dann einfach beglückt fühlen, wenn der Herr Senden aus Schlicht es nett findet? Das Mädchen hat sich sein ganzes Leben nur darauf eingerichtet und nur darauf gelauert, damit der Herr Senden oder sonst ein Kavalier, dessen Herz gerade frei ist, geruht zu sagen: So, jetzt finde ich dich gerade nett, komm mal her zu der kleinen Brücke …«

»Aber, Traute, du bist doch gekommen!«

»Sie wissen ganz genau, was ich meine! Wenn ich so gekommen wäre, meine ich, wie Sie sich das einbilden, mit weit offenen Armen! Was hätten Sie da mit mir gemacht?«

Diese Frage zu erörtern, ist ihm im Augenblick peinlich. Er weicht aus.

»Aber, Traute«, sagte er, »verzeih bloß, daß ich immer noch Traute sage, aber ich habe mich in Gedanken so daran gewöhnt …«

»Gewöhnen Sie sich das bloß schnell wieder ab!« verlangt sie.

»Aber, Traute, wie willst du denn da mal einen netten Mann kennenlernen, wenn du alle schon gleich im Anfang vor den Kopf stößt?! Es ist doch nun mal so eingerichtet, daß der Mann es dem Mädchen sagt, wenn er es gern hat – ebensogut könnte es natürlich umgekehrt sein …«

»Das möchtet ihr! Auch das noch!«

»… Aber wenn das Mädchen dann sagt, es will ihn nicht, dann ist der Fall eben erledigt. Dann zieht sich ein anständiger Mann wortlos zurück. In allem liegt gar nichts Beleidigendes …«

»Ist das wirklich so, wie Sie sagen?«

»Aber natürlich, Traute! Ich habe nie daran gedacht, daß ich dich mit meinen Briefen kränken könnte …«

»Ich will Sie nicht!!!«

»Aber, Traute, erst wollen wir uns doch ein bißchen besser kennenlernen. Du hast ja noch keine Ahnung, wie ich bin, und ich weiß auch noch nicht …«

Sie zitiert: »… Dann ist der Fall eben erledigt …«

»Ich meine natürlich, man muß erst eine Chance haben …«

»… Und ein anständiger Mann zieht sich wortlos zurück!«

»Traute, wir haben doch gar nicht richtig miteinander geredet! Ich will dir bloß noch eins sagen …«

Sie stampft mit dem Fuß auf.

»Seien Sie wenigstens jetzt ein anständiger Mann!«

Er kämpft mit sich. Sie sieht reizender denn je aus, viel zu reizend für sein schon arg verwundetes Herz. Schließlich überwindet er sich.

»Also gut«, sagt er gekränkt. »Ich gehe also …«

Er sieht sie an, aber sie gibt immer noch kein Zeichen, daß sie bereut.

»Na, also denn!« bemerkt er recht verlegen. »Wird ein verdammt heißer Rückmarsch werden – bei der Hitze!«

Noch einmal sieht er sie an und entschließt sich. Langsam geht er den Hohlweg zwischen den Haselsträuchern hoch.

Er ist schon fast verschwunden, da dreht er sich noch einmal um. Er sieht nach ihr hin, er winkt ihr!

»Traute!« schreit er mit voller Kehle. »Traute, ich pfeif auf die Anständigkeit! Ich versuch’s noch mal! Und hundertmal! Ich habe dich nämlich – gern!«

Er verschwindet, nach nochmaligem lebhaftem Winken.

4

In der Küche ist es ganz still, kein Wort wird gesprochen. Manchmal sehnt sich Traute schrecklich nach jemandem, der sie umfaßt, streichelt, an sich drückt. Der ihr einen Kuß gibt. Mutti, die es sonst manchmal tat, ist so weit weg, und die Freundinnen hier sind gar nicht für Zärtlichkeiten – unter Mädchen!

So allein, immer allein unter fremden Menschen – und wieder versucht Traute Kaiser, sich den Mann vorzustellen, der sie umfaßt und abdrückt, wie es Mutti sonst tat. Vor ihr erscheint, sehr störend, das Bild des jungen Siegfried Senden, das Gesicht braunrot gebrannt, aber die hellen Augen unter den semmelblonden Haaren voller Licht, Frische, Jugend …

Traute seufzt, dann schüttelt sie ärgerlich den Kopf. Und nun nimmt sie ein anderes Oberhemd aus dem Korb und plättet Siegfried Sendens Bild flach.

Ilse Voß, die am Küchentisch Erbsen auspahlt, wirft immer wieder Blick auf Blick zu der heute so stillen Freundin. Traute hat nicht ihre lebhaften Farben, sie ist blaß, einmal lächelt sie, dann seufzt sie wieder. Ja, nun hat es auch Traute gehascht, keine entgeht diesem ersten, herrlichen Verlieben! Es wird Ilse ganz bitter zumute, wenn sie daran denkt, wie es bei ihr war – sie war damals fünfzehn Jahre alt. (Traute hat mit ihren siebzehn Jahren lange gewartet – sie hat wohl nicht sehr viel Temperament.)

Nur daß es bei Ilse Voß nie bis zu diesem ganzen großen Glück kam. Es blieb immer nur bei den Anfängen dazu … Wenn man an ihr Herz rührte, verschwand sofort bei ihr all die für das tägliche Leben erlernte Kaltschnäuzigkeit. Sie war großzügig mit sich, sie verschenkte sich immer gleich. Und damit begann alles Unheil, nahm das Ende schon seinen Anfang …

Einmal lag es an ihr, einmal lag es an den andern: Sie konnte nichts halten, alle gingen sie bald wieder von ihr, niemand blieb bei ihr …

Und jetzt, in der letzten Zeit, war es ganz schlimm mit ihr geworden. Sie suchte angstvoll nach einem Ausweg und fand doch nicht die Kraft, sich allein aus dem Sumpf zu befreien, in den sie geraten. Niemand wollte ihr helfen, alle wollten sie immer nur das Eine von ihr! Schon die Art, wie die Männer sie ansahen, auch was sie alles im Städtchen von ihr wußten, das machte ihre Lage so hoffnungslos!

Sie hätte fortgehen können, irgendwohin, wo noch keiner etwas von ihr wußte. Aber so ehrlich war sie doch gegen sich, daß sie sich sagte: Fortgehen, das war bloß Ausreißen. Und ein Ausreißen, das nichts änderte. Auch am neuen Ort würde es bald wieder das Alte sein, wenn sie sich nicht selbst änderte …

Flüchtig denkt Ilse Voß an eine andere Möglichkeit, an einen Mann, der ihr vielleicht helfen würde … Aber nein, das geht auch nicht, daß sie! Ihr wird schon ganz elend, wenn sie nur an diesen unausstehlichen, grauen, langweiligen Fritzen denkt! Ohne alle Liebe, nicht einmal mit Gleichgültigkeit, nein, mit offener Abneigung so etwas anfangen – nein, da wird es noch einen andern Ausweg geben. Und den muß sie finden, sehr bald, sonst geht sie zugrunde, sonst bleibt gar nichts mehr übrig von ihr, der Ilse Voß, die einmal etwas ganz anderes gewesen war als alle andern Mädchen! Sonst ist sie bloß noch ein Lappen, an dem sich alle abwischen!

5

Die Tür zur Küche fliegt mit einem Ruck auf und sofort wieder knallend zu. Lola ist heimgekehrt von ihren Besorgungen im Dorf, und da sie Menschen und vor allem Männer gesehen, Neuigkeiten gehört und eine ganz große funkelnagelneue Neuigkeit verbreit hat, ist sie in allerbester Stimmung.

»Nanu, Itta!« ruft sie. »Hoher Besuch in der Küche? Was verschafft uns denn die Ehre?«

»Der Chef möchte nicht diktieren«, erklärt Ilse kurz.

»So?!« ruft Lola, und ihre runden Augen weiten sich vor Neugierde. »Hat er etwa?«

Und sie macht die Bewegung des Glaseinschenkens.

Da es sich vor Lola doch nicht wird verheimlichen lassen, gibt Ilse es zu.

»Ein bißchen«, sagt sie, und man merkt ihr wohl an, daß sie nicht gern davon spricht. »Aber nicht schlimm.«

Lolas Augen strahlen. Im Gegensatz zu den beiden andern freut sie das, wie sie eben jede Veränderung freut, sei sie auch dem Hause abträglich, für das Ilse und Traute sich immer verantwortlich fühlen.

»Es war mir doch gleich so, als ich aus dem Dorf zurückkam, als wenn er sänge! Wartet mal! Leise!«

Lola kehrt indessen auf Zehenspitzen zurück.

»Er hat das heulende Elend!« flüstert sie. »Er singt sein Farbenlied!«

Die beiden andern hören es auch, deutlich klingt aus dem Arbeitszimmer des Chefs der etwas weinerliche, rührselige Gesang des Angetrunkenen herüber. Sie kennen schon jedes Wort; während sie weiterarbeiten, wiederholen sich die Zeilen in ihnen, sie singen sie gewissermaßen lautlos mit. Jetzt:

›Schöne Welt, bunte Welt —Lebend lieg ich im schwarzen Schrein –Bunte Welt, schöne Welt —Lebe tot in dir – ganz allein!‹

Wieder sehen sich Traute und Ilse rasch an, ein kurzer Blick des Verstehens. Trautes Lippen sind halb geöffnet, er rührt sie ja doch an, dieser rührselige Gesang. Sie ahnt etwas davon, wie verzweifelt der blinde Mann da drüben ist, dem vor anderthalb Jahren auch noch die Frau fortlief …

Und nun:

›Blau, Gelb, Grün Sind nun dahin!Weiß, Rosa, Rot Sind für mich tot!Alles Bunte starb, Schwarz allein blieb —Warum holst du mich nicht – Dieb?!‹

Mit einem Ruck schließt Traute die Türen, dabei sieht sie Lola herausfordernd an, Lola ist immerhin ihre Vorgesetzte. Trotzdem sagt sie: »Es ist nicht anständig … Ich mag das auch nicht anhören …«

»Natürlich magst du das nicht!« sagt Lola, sofort bereit, durch einen Streit ›alles‹ aus Traute herauszulocken. »Nach solch schönem Bad ist man für alles andere natürlich nicht in Stimmung!«

»Lola!« sagt Ilse mahnend.

»Ach, sie soll sich bloß nicht so haben!« ruft Lola im plötzlichen Ärger der Schilddrüsenkranken. »So ein Getue kann einen ja krank machen! Plätte lieber deine Oberhemden ordentlich – da auf der Brust sind lauter Fältchen!«

Traute zieht es vor zu schweigen, sie weiß, Streiten mit Lola ist völlig sinnlos. So plättet sie lieber weiter.

Statt ihrer fragt Ilse: »Gab’s was Neues im Dorf?«

»Ach nichts!« antwortet Lola, noch ärgerlich. »Doch – dem alten Leege haben sie zwei Hühner totgefahren. Immer trifft’s gerade die Ärmsten! Ich habe ihm gleich drei Mark geschenkt!«

»Na, Lola«, sagt Ilse kritisch. »Das hattest du doch wahrhaftig nicht nötig! Gerade du, die nie mit ihrem Geld zurechtkommt!«

»Ich bin nun mal so!« erklärt sich Lola stolz. »Wir Bergfelds sind alle so – wir sind großzügig und schenken immer alles weg! – Und dann ist der Inspektor Senden aus Schlicht zweimal durchs Dorf gerast, puterrot – was der hier wohl bei uns zu suchen hat! Komisch, nicht?«

Traute setzt mit einem Krach das Plätteisen nieder.

»Du kannst den Leuten im Dorf erzählen, Lola«, ruft sie zornig, »daß sich Herr Senden mit mir getroffen hat! Übrigens hast du es ihnen natürlich längst geklatscht, denn daß du mir nachspioniert hast, habe ich den ganzen Weg gespürt!«

»Oh Traute!« ruft Lola sehr vergnügt. »Ist das wirklich wahr? Hast du aber Schwein! Senden, der beste Tänzer im ganzen Kreis, und sein Vater soll ja ein Rittergut in der Neumark haben!«

»So!« ruft Traute und wird immer zornröter. »Und du denkst natürlich, wenn der Herr Rittergutssohn Senden winkt, dann springt die Traute Kaiser gleich?! Aber ich bin nicht du, Lola! Ich habe ihm Bescheid gesagt – der fordert mich nicht noch einmal zu einem Stelldichein auf, und Briefe schreibt er mir bestimmt auch nicht wieder!«

Und jetzt ist sie es, die den beiden andern triumphierend ins Auge sieht.

»Ja, da staunt ihr!« ruft sie noch einmal.

Und sie fängt wütend wieder mit Plätten an.

Aber die beiden andern sind nicht gewillt, dieses brennend interessante Thema ohne weitere Diskussion aufzugeben. Vor allem fehlen noch alle Einzelheiten. Lola, in deren Kopf noch nie der Gedanke aufgetaucht ist, daß man einem passablen Manne irgend etwas abschlagen könnte, ruft: »Du sohlst ja, Traute! Uns kannst du nicht auf den Arm nehmen!«

Worauf Traute giftig erwidert: »Natürlich sohl ich! Wir haben uns die ganze Zeitlang abgeschleckt! Du mußt das doch gleich sehen!«

Aber Ilse sieht langsam von ihren Pahlerbsen zur plättenden Traute auf und sagt: »Traute, sag mal wirklich, warum hast du ihn denn so abfallen lassen? Er ist doch wirklich ein netter Kerl, der Senden. Und vor allem grundanständig!«

»Ach, laß doch, Itta!« bittet Traute.

Und Lola: »Glaubst du ihr etwa? Das ist doch alles bloß Angabe von Traute! Oder sie hat Angst, wir nehmen ihn ihr weg!«

»Stille biste!« ruft Ilse empört. »Mußt du denn ewig dazwischenschnattern?! Wir wollen deine Ansicht gar nicht hören!«

»Das ist ja wunderbar!« sagt Lola giftig. »Ich darf also in meiner eigenen Küche nicht mehr reden?! So was finde ich prima! Dann brauche ich ja hier auch nicht rumzustehen, dann könnt ihr meine Arbeit machen! Bitte schön!! Und so was nennt sich Freundinnen!«

Rumms! fliegt die eine Tür zu. Rumms! schlägt die nächste Tür zu. Holterdipolter geht es über die Treppe zum oberen Stockwerk. Fräulein Lola Bergfeld hat sich in ihre Privatgemächer zurückgezogen.

In der Küche herrscht tiefe Stille, nur unterbrochen von dem sanften Kullern der Erbsen in die Blechschüssel.

»Traute!« fragt Ilse nach einer langen Weile. »Magst du ihn denn gar nicht?«

»Ach, laß doch, Itta!«

»Nein, wirklich, ich möchte es so gerne wissen. Magst du ihn einfach nicht.«

»Ich weiß doch nicht! – Vielleicht könnte ich ihn sogar mögen, aber …«

»Aber was?«

»Ich will eben nicht, daß es so anfängt!«

»Wie denn anfängt?«

»Ach, du weißt doch – mit der Knutscherei und mit alldem.«

»Nein, das willst du nicht? Wie soll es denn anfangen? Es fängt doch bei allen so an!«

»Eben! – Aber bei mir soll es nicht so anfangen!«

»Wie soll es denn sein?«

»Ach, quäl mich doch nicht! Ich weiß doch auch nicht! Eben ganz anders müßte es sein …«

Kopfschüttelnd sagt Ilse: »Ich versteh wirklich nicht, was du meinst, Traute.«

»Ach, was ist denn da schon schwer zu verstehen?!« ruft Traute Kaiser aus und setzt das Plätteisen nun doch zurück auf den Asbestuntersatz. »Du weißt doch, wie die Männer sind, Itta! Nur danach sehen sie, und nur das wollen sie. Und der Senden wollte auch nur das … Aber so will ich es nicht! Das können die Männer bei jeder haben, dazu bin ich mir zu gut. Nur deswegen …«

»Aber …«, fängt Ilse an.

Doch jetzt ist Traute in Gang.

Sie sieht einen Augenblick Ilse starr an, als brennten ihr die Augen. Dann greift sie zum Bügeleisen, tut ein paar verlorene Striche über das Oberhemd und sagt nachdenklich: »Aber nur so rumprobieren – ist’s der eine nicht, ist’s der andere, und irgendeiner wird schließlich schon hängenbleiben bei solchem Massenverbrauch – nein, dafür danke ich! Wohin man damit kommt, das siehst du an der Lola!«

»Und an mir!« sagt Ilse trübsinnig.

»Ach!« ruft Traute. »Nun mußt du dich auch nicht schlechter machen, als du bist! Bei dir spricht doch immer das Herz mit – nur vielleicht«, sie zögert, dann aber sagt sie es doch, »nur spricht’s wohl gar zu leicht ›Ja‹. – Aber Lola, die ist doch bloß gemein …«

»Ich weiß nicht …«, sagt Ilse in Gedanken. »Es klingt alles ganz vernünftig, was du sagst. Aber ob man’s wirklich könnte? Ich verliebe mich immer wie der Blitz, und dann gibt es kein Halten mehr bei mir …«

Sie verstummte. Traute plättete jetzt wieder gleichmäßig, vielleicht hörte sie Ilse zu, vielleicht aber denkt sie auch nur an ihre eigenen Sorgen.

»Ich stecke so drin«, sagt Ilse wieder, »aber vielleicht könnte ich doch noch einmal wieder ganz von vorne anfangen? Was du eben gesagt hast, hat mir richtig einen Stoß gegeben! Und schlau bin ich jetzt, ich kenne die Männer – mich kriegt keiner mehr rum, wenn ich nicht will. Was meinst du, Traute, soll ich es noch einmal versuchen?«

»Vor allem mußt du mit dem Erich Mutzbach Schluß machen, Ilse!« sagt Traute plötzlich energisch. »Der führt dich bloß an der Nase herum!«

»Ach, der Erich!« meint Ilse und lächelt nun sogar, aber ein bißchen schief. »Was ihr bloß gegen den Erich habt! Ich weiß schon, er ist leichtsinnig – aber gerade darum! Der Erich zählt nicht bei mir!«

»Jetzt lügst du!« erklärt Traute mit Bestimmtheit. »Wenn ich mal nachts an deiner Zimmertür vorbeikomme und höre dich weinen, dann weiß ich, du weinst, weil der Erich dich mal wieder versetzt hat, oder weil er roh zu dir war …«

»Ach, was du schon weißt!« sagt Ilse schnippisch. »Der Erich ist mir ganz piepe. Den habe ich überhaupt nicht auf der Rechnung! – Nein«, sagt sie, »ich denke an ganz jemand anders, an den du nicht einmal im Traume denken würdest! Der würde mich vielleicht sogar heiraten, wenn ich es richtig anstellte … Dann wäre ich aus allem heraus und gut versorgt …«

»Magst du ihn denn?«

»Das ist es ja eben! Ich mag ihn nicht – sehr …«

»Das ist doch die Höhe!« ruft Traute empört. »Ich predige dir, ich will mich mit keinem ohne richtige Liebe einlassen, und du sagst noch eben, das hat dir einen Stoß versetzt – und nun willst du sogar jemanden heiraten, den du gar nicht leiden magst!«

»Das verstehst du nicht, Traute!« sagt Ilse entschieden. »Bei dir ist alles anders, du bist noch im Anfang, aber ich stecke schon mittendrin. Wenn ich noch rauskommen will, muß ich nehmen, was sich mir bietet, vor allem will ich endlich einmal Ruhe und Frieden haben! Und ich tu’s auch, ich tu’s noch heute abend! Ich habe alles über, ich will da raus! Jawohl, du hast mir einen Stoß versetzt, jetzt weiß ich, daß ich es tun muß! Du hast ganz recht, entweder erst gar nicht rein oder aber raus … Und ich komme auch raus – heute abend noch!«

·     ·     ·

Ihre Augen leuchteten, unwillkürlich warf sie einen Blick auf die Küchenuhr, als wollte sie die entscheidende Stunde von ihr ablesen.

Sie fuhr zusammen. »Oh Gott, Traute, gleich halb sieben!

Schnell, setze dein Eisen fort, du mußt doch Abendessen fertig machen! Eigentlich ist das allerhand von der Lola, uns so einfach hier sitzen zu lassen und sich frei zu nehmen …«

Traute stand unentschlossen da.

Sie war gerade dabei, Kartoffeln zu braten, als die Tür aufging und Lola hereinkam, ziemlich verschlafen.

»Mich ruft natürlich keiner!« sagte sie vorwurfsvoll. »Das Abendessen muß doch gemacht werden!«

»Kinder, fangt nicht schon wieder an!« rief Ilse mahnend, »macht lieber das Abendessen fertig!«

6

Das Abendessen ging nicht erfreulich und nicht unerfreulich vorüber – wenigstens für die jungen Mädchen.

Zuerst war der blinde Herr Siebenhaar in jenem Zustand, in dem der Betrunkene sich einbildet, seine Umgebung merke nichts von seiner Trunkenheit, er verstehe es meisterhaft, sie zu verbergen.

Die Mädchen nahmen alles mit völligem Stillschweigen auf. Denn Lola und Ilse hatten sich daran gewöhnt, die Blindheit ihres Arbeitgebers als etwas ganz Selbstverständliches, etwas Naturgegebenes hinzunehmen, an das jedes Gefühl verschwendet war. Für sie war Herr Siebenhaar mit den tausend Hilflosigkeiten und Ansprüchen des noch nicht lange Erblindeten ein besonders schwieriger Arbeitgeber, der zudem noch recht unangenehme und für sie stets völlig überraschende Launen hatte. Am besten beachtete man ihn so lange gar nicht, wie er nicht direkte Forderungen stellte.

Traute Kaiser wagte, besonders vor ihren Freundinnen, nie recht, den Mund aufzutun, wenn der Blinde sie ansprach. Sie war noch nicht so lange wie die andern im Hause, noch immer hatte sie ein mit leisem Grauen vermischtes Mitleid für den blinden Mann. Manchmal, wenn sie gerade an ihn dachte, versuchte sie, sich Blindsein vorzustellen.

Ihre Freundinnen hatten ihr wohl erzählt, wie unerträglich der eben Erblindete in der ersten tobenden Verzweiflung seine Frau behandelt hatte, bis sie ihn schließlich verließ – aber trotzdem wurde sie nie ganz frei von einem Gefühl der Anklage gegen diese unbekannte Frau, die ihren mit Blindheit geschlagenen Mann verlassen hatte.

Natürlich spürte auch der blinde Mann dies wärmere Gefühl des jungen Mädchens. Sagte er etwas, bat er um etwas, wandte er sich fast stets an Traute. Ihre Freundinnen hatten sie schon öfter damit aufgezogen: »Paß auf, womöglich verliebt er sich noch in dich! Was willst du? Er ist siebenunddreißig, sehr vermögend und sähe eigentlich ganz gut aus, wenn ihn nur jemand richtig anzöge. Er wäre eine fabelhafte Partie für dich, Traute – für die jungen Männer interessierst du dich ja doch nicht!«

Als der blinde Mann ein paarmal völlig erfolglos versucht hatte, eine Antwort aus den jungen Mädchen herauszulocken, war auch er verstummt. Finster grübelnd hatte er auf seinem Teller herumgestochert, die Brauen gerunzelt, das Gesicht tief gesenkt. Dann war er plötzlich ohne ein Wort aufgestanden und in sein Zimmer gegangen.

»Gottlob!« hatte Lola gesagt. »Wenn er so ist, finde ich ihn noch ekelhafter. Immer hübsch den Mund halten, Traute, dann bekommt er es am ehesten über! So haben wir wenigstens zeitig Feierabend. Ich geh ins Dorf. Kommst du mit, Itta?«

Ilse, die tief in Gedanken am Tisch gesessen hatte, lehnte ab.

»Nein, ich will noch ins Städtchen.«

»Dafür bin ich zu müde. Du hast auch einen Nerv, Itta! Ich glaube, es ist jetzt die achte Nacht, daß du unterwegs bist. – Kommst du mit mir, Traute?«

»Nein, danke. – Du weißt, eine von uns soll immer im Haus bleiben.«

»Ach was, heute merkt er nichts. Er holt sich bestimmt noch eine Flasche aus dem Keller. Komm nur mit, Traute!«

»Nein, wirklich nicht. Ich bin auch zu müde.«

»Du bist für alles zu müde. Du verschläfst dein halbes Leben, und die andere Hälfte verträumst du!«

»Gute Nacht!« sagte Ilse plötzlich und stand auf. »Ich radle gleich los. – Oder nein, ich werde doch lieber gehen. Wenn es so klappt, wie ich es mir denke, werde ich nämlich im Auto nach Haus gebracht. Da kann ich kein Rad brauchen.«

»Was denkst du dir denn, Itta?« wollte Lola wissen. »Sag es doch, bitte, bitte!«

»So fragt man Leute aus«, lachte Ilse. »Haltet mir den Daumen! Vielleicht bin ich morgen …«

»Was bist du, Ilse? Sag doch schnell!«

»… noch nicht wieder zu Haus!« lachte sie und lief aus der Tür.

7

Sie ließ sich, die es so eilig gehabt, vom Tisch fortzukommen, viel Zeit bei der Auswahl von Kleidern und Strümpfen. Sie wusch sich lange und sorgfältig und zog, als sie endlich fertig war, dann doch wieder die hauchdünnen Seidenstrümpfe und das kurze Sommerkleid aus: Ihr Entschluß war fester geworden und ihre Hoffnungen geringer. Sie glaubte plötzlich nicht mehr an einen Erfolg bei Erich Mutzbach, stärker rechnete sie nun auf den andern, den Ungeliebten, Verachteten, fast Verhaßten. Für ihn oder genauer für seine Mutter war es besser, sich nicht zu hübsch anzuziehen – diese Leute hatten keinen Sinn für etwas Hübsches!

Während all dieser Vorbereitungen hörte sie die beiden andern heraufkommen. Natürlich streiten sie schon wieder. Lola möchte, daß Traute mit ins Dorf kommt, Traute aber verspricht der Lola ihre in Goldpapier gewickelten Pralinen, wenn sie heute abend zu Hause bleibt. Sie, Traute, graule sich so allein mit dem blinden, angetrunkenen Mann im Hause. Lola findet Traute blöd und langweilig, und Traute sagt dafür zu Lola, daß sie sich immer nur mit Männern herumtreiben wolle …

Aber ganz ohne Begegnung kam Ilse doch nicht aus dem Haus: Auf dem Hof steht Herr Siebenhaar und krault der Hündin Bella die Kehle.

Herr Siebenhaar richtete die blinden Augen auf Ilse, als sie aus dem Hause tritt und fragte: »Bist du das, Traute?«

»Nein, ich bin’s bloß, Herr Siebenhaar, die Ilse.«

»›Bloß‹ solltest du auch nicht sagen, Ilse. Du bist nicht weniger als die Traute. Niemand soll von sich selbst ›bloß‹ sagen – bloß ein Blinder …«

Er starrte sie tot an, mit zitternder Lippe.

Nein, er hatte wohl nicht mehr getrunken, aber er scheint weinerlich-redselig geworden. Ilse stand mit zorniger Ungeduld neben ihm, jetzt hatte sie es brandeilig, ins Städtchen zu kommen.

»Ist es schon spät, Ilse?«

Herr Siebenhaar kann sich nicht in der ewigen Nacht zurechtfinden, in der er nun lebt. Er verwechselt ständig die Uhrzeiten. Manchmal stört er um drei in der Nacht die Mädchen aus dem Schlaf, es müsse doch schon seit Stunden Aufstehzeit sein …

»Gleich neun Uhr, Herr Siebenhaar«, sagt Ilse und sieht mit Abneigung auf ihren Brotherrn. Wie ungepflegt er wieder aussieht, beim Rasieren hat er die Hälfte der Stoppeln stehen lassen! Ach Gott, daß sie aus alldem erst heraus wäre! Sich immerzu mit Männern plagen, die einen nichts angehen, war zu langweilig!

›Du willst ja sogar einen Mann heiraten, den du nicht ausstehen kannst!‹ spricht eine mahnende Stimme in ihr.

Aber Ilse beachtet diese Stimme nicht, Ilse will jetzt fort von hier. Sie hat Feierabend, sie hat es nicht mehr nötig, auf das Geschwätz ihres Chefs zu horchen, der Dienst ist zu Ende, und sie hat Eile! Darum hat sie ihm ja auch eine falsche Uhrzeit gesagt, denn es ist gerade erst acht Uhr – aus so etwas macht sie sich kein Gewissen.

»Du hättest wohl keine Lust, mit mir und der Bella noch einen kleinen Spaziergang durch die Felder zu machen?« fragt der Blinde zaghaft. Und setzt entschuldigend hinzu: »Die Bella ist heute den ganzen Tag noch nicht herausgekommen. Dann ist sie immer so wild hinter jeder Katze und hinter jedem Kaninchen her und läßt mich irgendwo stehen, wo ich nicht wieder nach Haus finde …«

»Tut mir leid, Herr Siebenhaar«, sagt Ilse kurz. »Ich muß nach Berga, ich habe eine wichtige Verabredung.«

»Geh! Geh!« sagt Herr Siebenhaar ganz friedlich. »Ich will dich doch nicht aufhalten, Ilse. Vielleicht mag eine von den beiden andern mit mir gehen.«

»Lola will noch ins Dorf«, erklärt Ilse völlig ungerührt. »Und Traute ist todmüde und will gleich ins Bett. Verderben Sie den beiden bloß ihren Abend nicht, Herr Siebenhaar! Am besten legen Sie sich gleich hin – Sie haben heute früh schon vor vier im Haus spektakelt, Sie müssen ja müde sein!«

Damit läßt sie ihren Arbeitgeber stehen und macht sich auf den Weg ins Städtchen, ohne sich weiter Gedanken wegen seiner Gefühle zu machen.

8

Erich Mutzbach, ein junger, lediger Mann von immerhin schon neunundzwanzig Jahren, war der einzige Einwohner des Städtchens Berga, der sich eines möblierten Zimmers mit separatem Eingang rühmen durfte. Kamen Bergas Bürger auf diesen Umstand zu sprechen, so sagten sie entweder tadelnd oder schmunzelnd: »Da ist Witwe Timms Zimmer wenigstens an den Rechten gekommen! Einrosten läßt der die Tür bestimmt nicht!«

Aber da von seinen vielen Mädelgeschichten nie etwas über den gegen die Alten verschworenen Kreis der Jugend hinausdrang, lächelten auch die Frauen nur und sagten: »Jugend will sich eben austoben! Es wird schon so schlimm nicht sein mit dem Herrn Mutzbach, man muß auch nicht alles glauben, was die Leute reden! Er sieht doch immer so adrett angezogen aus und hat diese frische Gesichtsfarbe – nein, liederliche Männer, dafür haben wir andere Beispiele hier in Berga!«

Ilse Voß war nicht mehr ganz so überzeugt von der Solidität des Erich Mutzbach, aber immerhin galt ihr erster Weg in Berga ihm. Sie kannte den separaten Eingang, so stieg sie über den Kirchberg, sah sich einen Augenblick auf dem fast dunklen Kirchplatz um und stieß dann rasch die Lattentür zum Gemüsegarten der Witwe Timm auf. Sie ging zwischen den Johannisbeerbüschen durch – gottlob brannte hinter seinen Fenstern Licht, meistens war er abends unterwegs – und klopfte leise gegen die Hintertür des Hauses.

Sie mußte aber noch ein paarmal und sehr viel lauter klopfen, ehe es sich in Erichs Stube rührte. Dann ging auch nicht die Tür, sondern ein Fenster auf, Erichs dunkler Kopf erschien, und recht mürrisch fragte er: »Was ist denn nun noch los?! Ich gehe ins Bett!«