Der verborgene Moment - Marcia Willett - E-Book

Der verborgene Moment E-Book

Marcia Willett

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Beschreibung

Bühnenregisseur Sir Mungo hat sich nach einer erfolgreichen Karriere am Londoner Theater nach Devon zurückgezogen. Umgeben von Familie und guten Freunden will er seinen Lebensabend genießen. Als eine Jugendfreundin zu Besuch kommt, die sich in Liebesdingen Rat bei Sir Mungo holen will, gerät das behagliche Paradies aus den Fugen: Ein wohlgehütetes Geheimnis droht enttarnt zu werden - und eine langjährige Freundschaft wird auf die Probe gestellt ...

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Über die Autorin

Marcia Willett, in Somerset geboren, studierte und unterrichtete klassischen Tanz, bevor sie ihr Talent für das Schreiben entdeckte. Ihre Bücher erscheinen in 18 Ländern. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Devon, dem Schauplatz vieler ihrer Romane.

Besuchen Sie die Website der Autorin: www.marciawillett.co.uk

Marcia Willett

Der verborgene Moment

Roman

Aus dem Englischen von Barbara Röhl

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe: Copyright © 2014 by Marcia Willett Titel der englischen Originalausgabe: »Indian Summer« Originalverlag: Bantam Press

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2015 by Bastei LübbeAG, Köln Titelillustration: © Trevillion Images/Vesna Armstrong Umschlaggestaltung: Kirstin OsenauE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-1392-5

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Peter Kingsman

1. Kapitel

Der alte Herm, der an der Wegkreuzung steht und nach Westen blickt, hütet die Geheimnisse aus tausend Jahren. Einst war er als Merkur oder Hermes bekannt, der kleine Gott der Reisenden, der Umgang mit den anderen Göttern der Wälder und Bäche pflegte. Diese Alten sind jetzt vergessen, und die, die sie an ihren Schreinen verehrt, ihnen Trankopfer dargebracht oder Nahrung geopfert haben, sind lange fort. Aber der alte Herm ist noch da, obwohl sein Sockel von Rissen durchzogen und sein Körper verwittert ist. Immer noch kann jeder, der sich bückt und genau hinsieht, die ausdruckslosen Augen, die leise lächelnden Lippen und den schmalen Bart erkennen, wenn er die Wildblumen und das verdorrte Gras wegschiebt, die Herm wie Rastalocken in die steinerne Stirn hängen. Er wacht über diese uralte Straße und alle, die darauf unterwegs sind.

Als Erste tauchen schwanzwedelnd die Hunde an der Biegung auf. Trotz des Weges, der schon hinter ihnen liegt, wirken sie noch eifrig und energiegeladen. Ihr weiß und braun geflecktes Fell ist glatt und glänzend und nass, weil sie im Bach geplanscht haben, und der größere Spaniel trägt einen Ball im Maul. Mungo folgt ihnen langsamer, und hinter ihm tappt seine ältliche Mischlingshündin Mopsa her. Jetzt, im August, scheint die Sonne heiß vom Himmel herab, und Mungo hat sich den Pullover um die Hüften geschlungen und die Ärmel locker verknotet. Kurz bleibt er stehen, reckt sich in der warmen, trockenen Luft und saugt den Duft von frisch gemähtem Gras und Geißblatt ein. Die Spaniels rennen zu ihm zurück. Boz lässt den Ball zu seinen Füßen fallen, und Sam will sich ihn schnappen, aber Mungo ist schneller. Er hebt den Ball auf und wirft ihn, so weit er kann. Sie jagen ihm nach und schubsen und drängeln einander, und er lacht laut, während er sie beobachtet. Wie immer ist er sich der Vergangenheit bewusst, die ihn überall umgibt: der Geister der römischen Soldaten, die zu der lange verschwundenen Festung marschieren; einer Karawane schwer beladener Packpferde, die zum Horse Brook hinabtrottet, wo immer noch die ursprüngliche Steinplattenbrücke aus Granit über den schmalen Wasserlauf führt.

Vor langer Zeit, als sein Name begann, in aller Munde zu sein, hatte Mungo als Schauspieler und Regisseur an einem Film mitgewirkt, der in Großbritannien ein Kassenschlager gewesen und zu einem internationalen Erfolg geworden war. Gedreht worden war er hier, in diesem Tal, an dieser Kreuzung, an der Furt am Horse Brook. Das untergegangene hölzerne Kastell war wiederauferstanden, und einmal mehr hatten das Klirren von Schwertern und das Geschrei von Soldaten in der Luft gelegen. Das Kamerateam hatte viele regnerische Stunden damit zugebracht, in Mungos Küche in der seitdem längst umgebauten Schmiede Kaffee zu trinken, während die älteren Schauspieler sich in ihre Wohnwagen auf der Koppel des Gutes zurückgezogen hatten.

Isobel Trent hatte neben Mungo als hartem römischem General die Rolle der widerspenstigen Schönheit vom Lande gespielt. Die beiden waren zu Kultfiguren geworden; seine Filme waren immer erfolgreich und ihr Zusammenspiel so magisch. Die Medien hatten sie wie Mitglieder des Königshauses behandelt, sie fotografiert, über sie geklatscht und darüber spekuliert, wie tief ihre Beziehung reichte.

»Lass sie doch reden«, pflegte Izzy zu sagen. »Ist besser so, Mungo, Schatz. Lockt sie auf eine ganz falsche Fährte.«

Zu diesem Zeitpunkt war ihre geheime, stürmische Affäre mit Ralph schon vorüber gewesen, und er war nach diesem letzten furchtbaren Streit in Mungos Küche für immer aus ihrem Leben verschwunden. Wie jung sie damals gewesen waren und wie ernst und tief ihre Gefühle: sein eigener Zorn und seine Hilflosigkeit, Izzys Tränen und ihre Verzweiflung und Ralphs brutale Gleichgültigkeit.

Mungo bleibt an der Wegkreuzung stehen und erweist dem alten Herm seine Reverenz. Dann geht er hinter den Hunden die Stufen hinauf und tritt durch das Tor auf das Kopfsteinpflaster des Hofes. Auf dem Fahrweg wird es wieder still, und Schatten kriechen unter die verschlungenen Eschen- und Weißdornzweige. Der alte Herm steht immer noch da, wacht über die Pfade und wahrt seine Geheimnisse.

Mungo reibt die Hunde mit Handtüchern trocken, gibt ihnen frisches Wasser und lässt sie hechelnd auf dem Hof liegen. Er stellt den Wasserkessel auf die Herdplatte und zieht ihn wieder herunter, als das Telefon klingelt.

»Mungo. Ich bin’s, Kit.«

Kit Chadwick. Ihre Stimme klingt warm und eifrig, und er sieht sie lebhaft vor sich: aschbraunes Haar, graue Augen, schlank und rastlos.

»Ich hoffe, du willst mir mitteilen, dass du herkommst«, sagt er. »Gott, wäre es schön, dich zu sehen, Liebes!«

»Ja, so ist es, falls du mich gebrauchen kannst. In London ist es glühend heiß, und es ist etwas passiert, das ein wenig eigenartig ist.« Mit einem Mal klingt ihre Stimme unsicher. »Ehrlich, Mungo. Ich muss mit dir reden.«

»Dann nimm den nächsten Zug aus der Stadt.« Er ist hellwach und interessiert, aber er weiß, dass es besser ist, sie einstweilen nicht zu bedrängen. »Oder kommst du mit dem Auto?«

»Lieber wäre mir das. Du kennst mich ja. Ich würde gern ein paar Tage bleiben, falls das in Ordnung ist, und vielleicht muss ich mich ein wenig unabhängig bewegen können.«

»Okay«, sagt er locker. »Also wann?«

»Später, wenn es kühler ist. Ich bin so … sagen wir, gegen neun bei dir. Ist das nicht zu spät?«

»Natürlich nicht.«

»Und hör mal, es ist mir vorhin eingefallen. Heute ist Izzys Geburtstag.«

Eine winzige Pause. »So ist es. Wir veranstalten ein köstliches kleines Geburtstagmahl. Wie wäre es mit Gnocchi? Und ich habe eine Flasche Villa Masetti im Kühlschrank.«

»Klingt himmlisch.«

»Dann geh packen! Und fahr vorsichtig!«

Plötzlich ist ihm die Lust auf Tee vergangen. Er stellt sich an die Stalltür und sieht über die davorliegenden Hunde in den Hof mit dem Kopfsteinpflaster hinaus. Die große Küche, in der einst eine lange Ahnenreihe von Schmieden ihr Handwerk ausübte, hat geschwärzte Balken, die die Decke stützen, und einen Boden aus Schiefer und ist immer noch das Herz des Hauses, das im Lauf der Jahre ausgebaut worden ist, sodass auch die benachbarte Scheune zu dem inzwischen sehr behaglichen Heim gehört.

»Camilla und ich möchten, dass du die Schmiede und die Scheune bekommst«, hatte Archie vor vierzig Jahren zu ihm gesagt. »Wir finden es unfair, dass Dad mir alles hinterlassen hat, nur weil es ihm nicht gepasst hat, dass du Schauspieler geworden bist.«

Mungo war sehr gerührt gewesen. Aber die Geste war typisch für den Gerechtigkeitssinn seines älteren Bruders. Archie, der Partner in der Kanzlei ihres verstorbenen Vaters in Exeter war, hatte trotzdem noch das Haus, den Gutshof und zwei kleine Cottages, doch Mungo war dort überall willkommen.

Mungo liebte die alte Schmiede. Sie war der perfekte Schlupfwinkel, in den man aus London flüchten konnte. Wann immer er wollte, konnte er zusammen mit seinen Freunden in Paddington den Zug nehmen und Partys in der Schmiede veranstalten. Camilla unterstützte ihn nach Kräften. Sie liebte seine Freunde vom Theater, sorgte dafür, dass sein Kühlschrank immer gefüllt war, und lud sie alle zum Abendessen ins Haus ein. Die bezaubernde, großzügige und praktische Camilla mit ihrem blonden Haar und der hellen Haut, die zu Sommersprossen neigt. Munter und tüchtig jonglierte sie Archie, ihre gemeinsamen Kinder und die Hunde. Mungos Freunde verehrten sie, kauften ihr Geschenke und spielten mit den Jungs, während Archie stillvergnügt und tolerant zusah.

Archie und Camilla waren Mungos Ruhepunkt. Wenn er Premiere hatte, besorgten sie sich einen Babysitter, fuhren nach London, um ihm hinter der Bühne zu gratulieren, und kampierten über Nacht in seiner winzigen Wohnung. Als er berühmt wurde, freuten sie sich über seinen Erfolg und teilten sein Glück mit ihm, und die Feste fielen größer aus.

Im Sonnenschein lehnt sich Mungo an die Stalltür und denkt an seine Glanzzeiten zurück. Damals war es gut, in seinen Schlupfwinkel zurückzukehren, manchmal allein, aber öfter mit ein paar besonderen Freunden. Er war noch nie gern allein gewesen. In diesen frühen Jahren war meist Izzy seine Begleiterin gewesen – und ein wenig später war Ralph gekommen.

Izzys Geburtstag. Es war nicht nötig gewesen, ihn daran zu erinnern.

Die liebe Izzy: sexy, kompliziert und hypersensibel. Angefangen hatte sie beim Musical, hatte die Ado Annie in Oklahoma! gespielt, die Adelaide in Guys and Dolls oder die Lois Lane in Kiss me, Kate. Er hatte ihr schauspielerisches Potenzial erkannt, das sich hinter ihrem mangelnden Selbstwertgefühl und ihren dramatischen Stimmungsschwankungen verbarg, und sie überredet, bei der Königlichen Shakespeare-Gesellschaft für die Rolle des Puck im Mittsommernachtstraum und später für die der Ariel in Der Sturm vorzusprechen. Diese Rollen hatten ihr die Aufmerksamkeit der Kritiker und Applaus eingetragen – genau wie später ihre Partnerschaft mit ihm großen Ruhm –, doch im Herzen war sie diesen frühen Jahren treu geblieben.

»Ich bin einfach bloß ein Clown«, pflegte sie zu sagen. »Ich habe schreckliche Angst, alle könnten plötzlich erkennen, dass ich eine Hochstaplerin bin.«

Sie hatten in Birmingham gespielt und gerade mit den Proben für Was ihr wollt begonnen, als sie Ralph Stead kennenlernte. Izzy spielte die Maria, Ralph den Sebastian und Mungo den Feste. Sie wohnten zusammen in düsteren Absteigen und probten in zugigen Gemeindesälen, aber sie waren glücklich, alle drei. Izzy brachte Mungo bei, wie man seine Stimme projiziert, und sang mit ihm, um seine lyrische Tenorstimme zu fördern. Come away, come away, deathundWhen that I was and a little tiny boy. Sie probten allein weiter in der Halle, nachdem alle anderen nach Hause gegangen waren, und Izzy spielte die Melodie auf dem uralten Klavier. Eines Abends unterbrach sie sich plötzlich. Er lehnte neben ihr, und sie sah zu ihm auf.

»Ach, Schatz, ist es nicht die Hölle? Ich glaube, ich habe mich in Ralph verliebt.«

Mungo erinnert sich an die Mischung aus Angst und Aufregung in ihren braunen Augen, den merkwürdigen Knoten aus Furcht in seinem Leib, das kurze, durchdringende Vorgefühl einer nahenden Katastrophe.

»Ja und, Liebes?«, hatte er leichthin gesagt. »Ich auch. Alle lieben Ralph.«

»Bist du eifersüchtig?«, fragte sie ihn viel später, als Ralph und sie schon ein Paar waren. »Bitte nicht, Mungo! Ich muss wissen, dass du auf meiner Seite stehst.«

»Ich bin immer auf deiner Seite«, hatte er geantwortet. Und das war die Wahrheit.

Als er sich jetzt an die Stalltür lehnt, kommt es ihm vor, als hörte er sie irgendwo an der Straße unter ihm singen, in der Nähe des alten Herm.

A foolish thing was but a toy / For the rain it raineth every day.

Als er – bei der Premiere und allein auf der Bühne am Ende des Stücks – diese Zeilen zu Ende gesungen hatte, wurde es im Theater kurz still, und dann explodierten die Zuschauer förmlich und applaudierten frenetisch. Sogar heute noch treten ihm bei der Erinnerung Tränen in die Augen; er denkt zurück an die herzlichen Gratulationen der jungen Besetzung, Ralphs Klaps auf den Rücken und Izzys Umarmung. »Oh, gut gemacht«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »gut gemacht, Schatz. Das war einfach vollkommen.«

Einfach vollkommen, bis die schreckliche alte Liebe alles so entsetzlich verdarb.

»Verflucht und verdammt«, stößt Mungo heftig hervor und verblüfft sich damit selbst. Denn warum sollte die Vergangenheit ihn ausgerechnet heute so aufwühlen? Weil Izzy Geburtstag hätte?

Die Hunde regen sich. Still und wachsam sehen sie zum Hoftor und springen dann schwanzwedelnd auf. Das Tor öffnet sich, und Camilla tritt in den Hof. Sie trägt einen alten Jeansrock, ein verwaschenes Baumwollhemd und Flipflops und hat sich die Haare hinter die Ohren gestrichen. Jung sieht sie aus, die Camilla aus diesen alten, glücklichen Zeiten. Einen Moment lang steht ihm die Vergangenheit wieder lebhaft vor Augen, doch dann tritt sie aus den Schatten, sodass er sie richtig sehen kann.

»Hi«, sagt sie. »Ich wollte die Hunde abholen. Haben sie sich benommen?«

Mungo ist froh darüber, dass sie hier ist. Angesichts ihrer ruhigen, vernünftigen Ausstrahlung fällt es schwer, sich einen Geist vorzustellen.

»Brave Jungs, gute Burschen!« Sie lobt die Spaniels, die um sie herumspringen, bückt sich, um ihre Begrüßung entgegenzunehmen, und streichelt Mopsa, die mit dem Schwanz kurz auf das Kopfsteinpflaster schlägt, ein Auge verdreht, sich aber nicht rührt. »Kommt, ihr zwei! Zeit, nach Hause zu gehen.« Sie wirft Mungo einen hoffnungsvollen Blick zu. »Begleitest du mich auf eine Tasse Tee? Archie ist noch nicht zurück. Komm und leiste mir Gesellschaft!«

Er zögert – aber er möchte nicht allein sein, nicht gerade jetzt, da Izzys Schatten an der Straße beim alten Herm schwebt.

»Ja«, sagt er. »Kit hat nur gerade angerufen. Sie hat gefragt, ob sie heute Abend herkommen kann, also darf ich nicht so lange ausbleiben.«

»Oh, das ist großartig!« Camillas Gesicht strahlt vor Vorfreude auf Kit. »Um wie viel Uhr? Willst du mit ihr zum Abendessen kommen?«

»Nicht heute Abend.« Er möchte Kit an ihrem ersten Abend für sich haben. »Sie wird erst gegen neun hier sein. Vielleicht morgen? Sie bleibt ein paar Tage.«

Camilla nickt. »Gut. Archie wird begeistert sein. Gibt es einen besonderen Grund für den Besuch? Kommt mir ein wenig plötzlich vor.«

»Sie sagt, in London sei es drückend heiß«, antwortet er ausweichend, während sie die Hunde nimmt. Er kann sich nicht vorstellen, was Kits Problem sein könnte, doch bevor er nicht etwas mehr weiß, wird er auch nicht erwähnen, dass sie eines hat. »Sie meinte, sie würde erst fahren, wenn es kühler ist, also haben wir reichlich Zeit für den Tee.«

»Hoffentlich nicht wieder ein Drama«, meint Camilla, als sie gemeinsam die Straße hinaufgehen. »Ich werde nie den Ärger mit diesem Mann vergessen, den sie letztes Jahr auf dieser Internet-Dating-Seite kennengelernt hat. Die ganze Aufregung, um dann herauszufinden, dass er verheiratet war.«

»Aber er war so ein netter Kerl. Unter diesem Gesichtspunkt eine große Verbesserung gegenüber Michael, dem Schrecklichen.«

»Oh, mein Gott! Michael, der Schreckliche.« Camilla bricht in Gelächter aus und umklammert Mungos Arm. »So ein grauenhafter Langweiler! Was in aller Welt hat sie bloß in ihm gesehen?«

»Na ja, ich glaube, zu Beginn hat sie ihn wie einen netten alten Hund betrachtet. Du weißt schon, einen edlen Golden Retriever oder einen freundlichen Labrador. Wunderbar anzusehen, aber kein Hirn. Ich konnte schon verstehen, worin die Anziehung bestand. Man hätte ihm am liebsten über den Kopf gestreichelt und ihn geknuddelt. Einen Spaziergang mit ihm gemacht. Das Problem war, dass sie das vollkommene Fehlen von Charakter und Fantasie bei ihm für Stabilität gehalten hat. Und natürlich hat seine Verbindung zur Marine sie auf die Idee gebracht, dass ihre Familie damit einverstanden sein würde. Das Establishment und so weiter.«

»Am Ende warst du allerdings ziemlich brutal.«

»Was hätte ich denn tun sollen, Millie? Er hat sie ruiniert, sie zermürbt. Sie wurde schon genauso langweilig wie er. Na, das hast du ja selbst erlebt. Ein älterer Witwer mit so und so vielen Kindern und Enkeln. Er wollte, dass sie gesetzt und vernünftig wurde, und sie sollte furchtbare Schuhe tragen. Zu Anfang war ich nett, gib es zu!«

Camilla lacht und kann sich gar nicht beruhigen. »Ich glaube, wir haben alle gehofft, wenn er oft genug herkäme, würde sie ihn so sehen, wie er war. Aber mir wurde schon jedes Mal ganz schlecht, wenn du angerufen hast. ›Michael, der Schreckliche, kommt dieses Wochenende mit uns runter‹, hast du gesagt. Archie hat dann gestöhnt und sich beklagt, Kit werde zu einer Fremden, und auch, weil er mit ihm segeln gehen musste. Und dann ist er mit ihm auf den Fluss hinausgefahren, und Michael hat ihm erklärt, wie man das Boot segelt. Wenn Archie dann nach Hause kam, hat er vor Wut gekocht. Nicht einmal Izzy konnte den schrecklichen Michael mit ihrer Magie verzaubern.«

»Wir waren alle furchtbar geduldig, Millie, doch sobald davon geredet wurde, dass sie ihre Wohnung verkaufen und in sein Haus auf dem Land ziehen sollte, da musste ich etwas unternehmen. Natürlich wollte er nicht, dass sie arbeiten ging, und er hatte etwas gegen Izzy und mich. Kit wäre schlicht und einfach vor Langeweile gestorben. Und außerdem brauchten wir sie.«

»Aber wie hast du es dann am Ende gemacht? Sie hat mir erzählt, du hättest gemeine Dinge zu ihr gesagt.«

Mungo schnaubt verächtlich. »Unsinn. Es ist einfach so, dass die Wahrheit schmerzt. Ich habe ihr ziemlich unmissverständlich erklärt, sobald sie zusammenlebten, würde sie erkennen, dass Michael, der Schreckliche, kein schöner, lieber, alter Hund ist, sondern ein engstirniger, sturer oller Langweiler. Ich habe ihr gesagt, ihre Freunde seien seiner totlangweiligen Geschichten über seine Erlebnisse im Falkland-Krieg schon überdrüssig, die er an ihren Esstischen herunterleiert, und dass es das Ende wäre, wenn sie nach Kent oder Surrey oder sonstwohin ziehen würde. Sie würde verdorren und alt werden, versuchen, Bridge zu lernen, Die Archers im Radio hören und nur Michael, den Schrecklichen, zur Gesellschaft haben.«

»An den Archers ist nichts verkehrt«, erklärt Camilla empört. »Ich liebe Die Archers.«

»Aber doch nicht als einzige Form der Unterhaltung, Millie. Es gibt viel mehr im Leben als DieArchers. Kit liebt das Theater, und sie besucht gern Ausstellungen. Wusstest du, dass sie die entzückendste Sammlung kleiner Originale von praktisch unbekannten modernen Künstlern besitzt? Sie liebt fröhliche kleine Abendgesellschaften, bei denen man zu viel tratscht, zu viel trinkt und über seine Freunde herzieht. Michael, der Schreckliche, hat sie nach und nach zerstört. Es war, als sähe man dabei zu, wie eine Kerze ganz, ganz langsam verlischt. Quälend. Eigentlich war ihr das natürlich klar, und sie war ohnehin unentschlossen. Also habe ich ihr sehr energisch erklärt, was das Beste für sie war.«

»Die gute alte Kit. Sie ist so vertrauensvoll. Sie besitzt so eine Naivität, als wäre sie nie ganz erwachsen geworden. Deswegen macht es auch so viel Spaß, mit ihr zusammen zu sein. Aber der Internet-Mann hat ihr wohl einen ziemlichen Dämpfer versetzt, und dann hat der Tod ihrer Mutter letztes Jahr sie wirklich aus der Bahn geworfen, obwohl er nicht unerwartet kam. Schließlich war sie über neunzig.«

Mungo erinnert sich noch genau daran, wie Kit ihn damals angerufen hat.

»Rate mal, was passiert ist. Meine alte Ma ist heute Morgen gestorben. Ich bin ein Waisenkind, Mungo. Die Beerdigung ist am Freitag. Darf ich danach am Samstag bei dir vorbeikommen?«

Sie trauerte, trank zu viel und ließ in der Nacht Mopsa in ihrem Bett schlafen. Mungo und sie saßen zusammen auf seinem Sofa, umringt von Hunden, die er sich zu dieser Gelegenheit geliehen hatte. »Ich brauche die Hunde«, hatte Kit Camilla erklärt, die sie vollkommen verstand und Bozzy und Sam gleich zur Schmiede brachte. Kit hatte abwechselnd geredet und geweint.

»Sie hat etwas Zeitloses an sich«, meint Camilla jetzt. »Bei Kit denkt man nie daran, wie alt sie ist. Bei dir ist das genauso, Mungo. Vielleicht liegt es daran, dass sich keiner von euch an einem Ehepartner oder Kindern aufgerieben hat.«

»Versuch mal, mit Schauspielern zu arbeiten, Liebes«, meint er. »Aufreibend ohne Ende, das kannst du mir glauben.«

Sie lacht. »Aber am Ende des Tages sagst du Guten Abend und gehst nach Hause«, entgegnet sie. »Jedenfalls freue ich mich. Es bedeutet, dass ich dich für mich habe.« Als sie von der Straße in die Einfahrt abbiegen, hakt sie ihn unter. »Trauerst du manchmal jemandem nach, Mungo?«

»Ralph«, erklärt er, ohne nachzudenken – und sie sieht verblüfft zu ihm auf.

»Ralph? Herrje, das ist lange her! War er …? Habt ihr …? Ich dachte, er hätte für Izzy geschwärmt. Sie war jedenfalls verrückt nach ihm.«

»Ralph war … vielseitig«, antwortet er. »Auf jeden Fall ist das viel zu lange her, um der Zeit heute noch hinterherzutrauern.«

»Er ist in die Staaten gegangen, oder? Ich weiß noch, dass Izzy niedergeschmettert war.«

Mungo nickt. »Ich auch. Wir steckten mitten in den Proben für Journey’s End, und er hat sich einfach davongemacht. Er war zum Vorsprechen für eine kleine Filmrolle eingeladen, aber ich habe nie gehört, ob er sie bekommen hat. Als sich der Staub gelegt hatte, war er schon weitergezogen, hatte sich heimlich, still und leise davongemacht. Er war gut in der Rolle des jungen britischen Gentlemans, doch abgesehen von seiner Jugend und seinem spektakulär guten Aussehen nicht besonders talentiert. Tut mir leid. Das klingt jetzt gehässig, nicht wahr?«

Camilla runzelt die Stirn und versucht, sich zu erinnern. »Ich mochte ihn nicht besonders. Ziemlich von sich eingenommen.«

Die Wiese unterhalb des Hauses wird gerade gemäht, und sie bleiben stehen, um dem Traktor zuzusehen, der am Rand des Feldes entlangfährt. Hohes Gras fällt in goldenen Schwaden aus Blütenpollen und Staub. In der heißen blauen Luft schimmern Mückenschwärme, die in einem endlosen Tanz auseinanderschweben und sich wieder zusammenfinden. Die Hunde laufen zum Haus vor, einem hübschen, weiß getünchten Steinhaus zwischen Kamelienbüschen und Azaleen. Die hölzernen Fensterrahmen sind passend zur Haustür dunkelgrün gestrichen. Wenn man sich dem Haus von hier aus nähert, wirkt es am Rand des Moores und in dieser ungezähmten, uralten Landschaft wie aus einem Märchen entsprungen.

Mungo fühlt sich von dieser Vertrautheit getröstet und freut sich darüber, dass sein Bruder und Camilla es größtenteils so bewahren konnten, wie es in seiner und Archies Kindheit war. Camilla beobachtet ihn.

»Geht es dir auch gut?«, erkundigt sie sich.

»Ja«, antwortet er schnell. »Ja, natürlich. Es war nur, dass Kit mich an Izzys Geburtstag erinnert hat«, setzt er dann hinzu.

»Und deswegen hast du auch an Ralph gedacht.« Sie klingt beinahe erleichtert, als hätte sie ein Rätsel gelöst.

Die Hunde sind auf der Suche nach kaltem Wasser zum Trinken und kühlen Schieferplatten, auf die sie sich legen können, verschwunden, und das Haus ist voller Sonnenschein.

»Ja«, sagt er. »Genau. Izzy und Ralph.« Und dann wechselt er das Thema. Gemeinsam treten sie ins Haus.

Nachdem Mungo fort ist, geht Camilla nach draußen, um die Wäsche von der Leine zu holen, die zwischen den Pflaumenbäumen im Obstgarten gespannt ist. In dem hohen Gras krabbeln klebrige Wespen, berauscht von dem süßen, fermentierenden Saft, in den verfaulten Früchten herum, und unten in den Wäldern gurrt eine Taube träge ihr sommerliches Lied. Die Laken sind heiß und steif, und sie faltet sie sorgsam und legt sie in den alten Weidenkorb; und die ganze Zeit über denkt sie an Mungo, Ralph und Izzy. Wenn sie ehrlich ist, muss sie zugeben, dass sie Izzy nie besonders gern gemocht hat; sie war zu sprunghaft, zu bedürftig. Natürlich hat Archie sie verehrt – und sie hat ihn angestachelt.

»Arme kleine Izzy«, pflegte er zärtlich zu sagen. »Sie hat es schwer gehabt, weißt du. Beide Eltern bei einem Autounfall umgekommen und dann von einer strengen alten Cousine großgezogen. Sie hat sich wacker geschlagen.«

Manchmal musste sie sich auf die Zunge beißen, damit ihr keine kühle Replik entfuhr. Izzy war so dünn, so behände, so witzig, dass sie – Camilla – sich neben ihr behäbig vorkam. Sie war schwanger und hatte kleine Kinder am Rockzipfel hängen; daher hatte sie das Gefühl, das sei eine ungleiche Konkurrenz. Und doch waren es so glückliche Jahre gewesen.

Camilla faltet das letzte Laken in den Korb. Sie denkt daran, was Mungo über Ralph gesagt hat, und fragt sich, in welcher Hinsicht er um ihn trauert. Vielleicht sieht er Ralph ja einfach als Symbol für ihre Jugend. In diesen frühen Jahren am Theater waren die drei unzertrennlich, und auch noch später, als Mungo seine eigene Truppe gründete. Camilla setzt sich den Korb auf die Hüfte und bringt ihn in den Hauswirtschaftsraum. Sie hat keine Lust, die Wäsche zu sortieren; es ist zu heiß. Stattdessen schlendert sie wieder nach draußen, wo sich die Hunde im Schatten ausgestreckt haben und fest schlafen.

Kit hatte den Hunden, Rüden aus einem einzigen Wurf, die Namen gegeben, als sie sie als Welpen zum ersten Mal gesehen hatte. Camilla erinnert sich daran, wie Archie und sie sich über Namen stritten und keiner von ihnen die richtigen finden konnte. Dann war Kit gekommen, um Mungo zu besuchen, und hörte von dem Problem. Sie spazierte mit Mungo herauf, um die Welpen anzusehen, die sich in dem großen Hundekorb aneinanderschmiegten.

»Boswell und Johnson, wie die beiden Literaten«, erklärte Kit sofort und kniete sich neben sie. »Bozzy und Sam. Sammy und Boz. Der große heißt Bozzy und der kleine Sam. Sie sind so etwas von niedlich.«

Die Namen passten so genau, dass Camilla und Archie gar nicht begriffen, warum sie nicht gleich darauf gekommen waren.

»Ich schenke sie euch«, erklärte Kit bescheiden, hockte sich neben den Hundekorb und nahm die warmen, verschlafenen Welpen auf den Schoß. »Oh, warum bin ich nicht als Hund geboren worden? Das Leben wäre so einfach.«

Voller Zuneigung erinnert Camilla sich an die Szene und freut sich, weil Kit zu Besuch kommt. Sie ist Mungo so eine gute Freundin, und die ganze Familie liebt sie.

»Sie sollte schon verheiratet sein und eigene Kinder haben«, hat Camilla im Lauf der Jahre in regelmäßigen Abständen zu Mungo und zu Archie gesagt. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum nicht. Sie ist so witzig, und sie ist sehr attraktiv.«

Komisch, denkt Camilla, dass es ihr nie etwas ausgemacht hat, dass Archie Kit anbetet, mit ihr flirtet und herumflachst. Noch nie hat sie dabei den Hauch von Gefahr gespürt wie bei Izzy. Izzy hatte eine Instabilität, Verletzlichkeit und Bedürftigkeit ausgestrahlt, wie sie Kit nie gezeigt hat, obwohl sie auch ihre Krisen und verrückten Einfälle hatte. Sie leitet ihre Innenarchitektur-Firma mit Zuversicht und Talent, und sie hat gute Freunde. Izzy war immer so dankbar für Aufmerksamkeit, für Liebe.

»Sie ist eben Schauspielerin, Millie«, pflegte Mungo zu sagen. Er ist von jeher der Einzige, der sie Millie nennt, von keinem anderen lässt Camilla sich diesen Spitznamen gefallen. »So sind wir Schauspieler. Wir sehnen uns nach Anerkennung. Darum geht es bei dem Ganzen ja.«

Aber Mungo ist nie wie Izzy gewesen, denkt Camilla jetzt, wohingegen Ralph immer das Bedürfnis hatte, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und bewundert und gefeiert zu werden. Vielleicht hat das ja ihn und Izzy zueinander hingezogen – und vielleicht war es auch der Grund für das Ende ihrer Beziehung gewesen.

Camilla wirft einen Blick auf die Armbanduhr. Archie müsste bald nach Hause kommen. Vielleicht versucht sie ja, ihn auf dem Handy zu erwischen und vorzuschlagen, dass er ihr in Ashburton ein paar Dinge besorgt. Es wäre nett, etwas Besonderes zu kochen, wenn Kit morgen zum Abendessen kommt.

An seiner Anlegestelle in Stoke Gabriel am Fluss Dart beobachtet Archie das Leben auf dem Wasser. Es ist zu heiß, um abzulegen, und es weht ohnehin kein Windhauch. Aber Archie kramt gern herum, überprüft alles Mögliche und sitzt hier auf der Wave und spürt, wie unter ihrem Kiel die Flut einläuft. Hier kann er vor der Verantwortung flüchten, die ihn zu Hause drückt: die Reparaturkosten auf dem Besitz, die Steuern, der laufende Betrieb. Merkwürdig, was es für einen Unterschied macht, wenn man das trockene Land nur ein paar Meter hinter sich lässt, dass es ihm so ein Gefühl von Distanz und Entspannung schenkt. Er hört das Pfeifen der alten Dampflock, die auf dem Weg nach Kingswear durch das Tal zuckelt, ein Klang, der Kindheitserinnerungen heraufbeschwört: Ausflüge auf den Schaufelraddampfern, die aus Totnes nach Dartmouth herunterfuhren, Segeltörns mit Freunden von der Marineakademie, als er älter war. Auf dem Fluss oder auf See fühlt er sich frei, abgehoben von seinem anderen Ich, das alles so klar sieht und gern energische Punkte auf die »I«s setzt und einen geraden Strich quer durch die »T«s zieht.

»Mungo war zum Tee da«, sagt Camilla, die ihn auf dem Handy anruft und die Idylle unterbricht, »und er war ein wenig seltsam. Anscheinend wäre heute Izzys Geburtstag, daher glaube ich, dass er sich nur ein bisschen nostalgisch gefühlt hat. Ach, und später am Abend kommt Kit zu Besuch. Ist das nicht großartig? Mungo bringt sie morgen zum Abendessen mit.«

Archie stimmt ihr zu, dass das wunderbar ist, notiert sich die Einkäufe und sagt, dass er bald nach Hause kommt. Er fühlt sich immer noch zufrieden, träge und erfreut über Kits Besuch. Sein Verhältnis zu Kit ist unkompliziert und bereichernd; sie verlangt von ihm nur, dass er sie bei ihren Überspanntheiten unterstützt. Sie geht gern mit ihm segeln, solange nichts allzu Furcht Einflößendes passiert und sie den Passagier spielen darf. Sinnlos, Kit zu bitten, das Ruder zu übernehmen oder eine Schot anzuholen. Sie würde genau im entscheidenden Moment etwas am Ufer ansehen – »Ist das ein Reiher?« – oder einem anderen Reisenden zuwinken. Am liebsten mag sie es, wenn sie an einem ruhigen Nebenarm wie dem Old Mill Creek anlegen, um eine Tasse Kaffee oder Tee zu kochen. Und selbst dann vertraut er ihr mit dem Gaskocher nicht so ganz – »Welchen Hahn soll ich aufdrehen, Archie?« –, und so sitzt sie in der Sonne und füttert die Enten mit Brotstückchen.

»Ist es nicht absolut himmlisch?«, pflegt sie in solchen Momenten zu sagen, nimmt ihren Becher und strahlt zu ihm auf. »Ich habe keine Ahnung, warum wir nicht alle auf Booten leben, findest du nicht?«

Camilla hat nie etwas dagegen, wenn er mit Kit hinausfährt. »Das wird euch guttun«, erklärt sie dann. »Ihr braucht mich nicht. Viel Spaß!« Sie war noch nie eifersüchtig auf sein enges Verhältnis zu Kit, ganz anders als bei Izzy. Archie zieht eine kleine, betretene Grimasse – bei Izzy war das auch ganz etwas anderes. Gott, wie er sie begehrt hat, als sie alle noch jung waren! Sie war auf eine zerbrechliche, an Audrey Hepburn erinnernde Art umwerfend schön und gab ihm das Gefühl, stark und ihr Beschützer zu sein. Er war sich sicher, dass Camilla nie erfahren hat, was er wirklich empfand, und es war ja auch nie etwas vorgefallen. Aber er fragte sich, ob ihre weibliche Intuition sie misstrauisch machte. In Izzys Gesellschaft war sie immer kaum merklich gereizt, und er musste sehr vorsichtig sein und den Unbeteiligten spielen.

Izzys Geburtstag. Sie wird nicht alt werden, so wie wir Zurückgebliebenen altern, denkt er ziemlich sentimental. Jetzt fällt es ihm leicht, sich so an sie zu erinnern, wie sie damals, in ihrer gemeinsamen Jugend, war: die Ausflüge nach Birmingham, wo sie und Mungo am Theater spielten, und die Wochenenden in der Schmiede. Es war dieser elende Ralph gewesen, der Sand ins Getriebe gestreut hatte. Archie hatte Ralph nie besonders gut leiden können; er war zu gut aussehend, zu glatt. Er versetzte die arme, liebe Izzy in einen Zustand der Verwirrung, in dem sie nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand, und ließ sie dann einfach sitzen. Eigentlich hatte er sie alle im Stich gelassen, ohne sich auch nur ein Mal umzusehen. Izzy war am Boden zerstört. Natürlich wurde sie noch sehr erfolgreich – dafür sorgte Mungo schon –, aber es war, als wäre ein Abschnitt ihres Lebens plötzlich vorüber. Ihre gemeinsame Jugend war abrupt zu Ende gewesen.

Archie kippt den Bodensatz aus seiner Teetasse über die Reling und schämt sich für seine Rührseligkeit. Er fragt sich, was wohl aus Ralph geworden ist, steht kurz auf, um Izzy zu ihrem Geburtstag Ehre zu erweisen, und geht dann nach unten, um abzuschließen. Vielleicht hat Kit ja Lust auf eine kleine Spritztour auf dem Fluss. Die anderen werden nicht interessiert sein. Camilla wird wahrscheinlich sagen, dass es ihr zu heiß ist, und den armen, alten Mungo zu fragen, der schon auf der Fähre nach Dartmouth seekrank wird, hat keinen Sinn. Amüsiert schüttelt Archie den Kopf und denkt daran, dass ihr Vater Mungo nach Mungo Park benannt hat, denn niemand ähnelt dem großen Entdeckungsreisenden weniger als sein jüngerer Bruder. Gleichzeitig war Mungo immer ein unartiges Kind: Er dachte sich Geschichten aus und überredete Billy Judd vom Gutshof – der alt genug war, um es besser zu wissen –, bei seinen Streichen mitzumachen. Ihr Vater verzweifelte an Mungo, und er, Archie, wurde abgestellt, um seinen lästigen Bruder im Auge zu behalten, der gegen jede Regel verstieß, die Dorfkinder mit seinen Geister- und Vampirgeschichten ängstigte und sie aufstachelte, bei seinen Spielen mitzumachen, bei denen es um Träume und Verkleiden ging. Er selbst empfand es beinahe als eine Erleichterung, als er aufs Internat kam und die Verantwortung los war. Alles wurde anders, als er älter wurde, bei einem Pferderennen Camilla kennenlernte und sich in sie verliebte. Camilla betete Mungo an; sie fand ihn amüsant, unterhaltsam.

Jetzt fragt sich Archie, warum ihm das nie etwas ausgemacht hat, wieso er nie eifersüchtig auf die enge Beziehung der beiden war. War der Grund einfach, dass er wusste, dass Mungo schwul war und daher keine Bedrohung für ihn darstellte? Camilla milderte seine kritische Haltung gegenüber seinem kleinen Bruder, sodass er seine natürliche Zuneigung zu Mungo wieder in den Vordergrund treten lassen konnte. Und dann, als ihr Vater starb und Archie alles erbte, konnte er großzügig sein und Mungo die alte Schmiede und die Unterstützung schenken, die er zu Anfang seiner Schauspielkarriere brauchte.

Gelegentlich strapazieren Mungos entspannte Haltung zum Leben und seine Fähigkeit, ein Auge zuzudrücken und die Regeln zu brechen, seinen eigenen recht strengen Moralkodex, in letzter Zeit allerdings nicht. Heute ist er auf dem Fluss, und morgen kommt Kit zum Abendessen; das Leben ist schön. Archie schließt die Kajütentür ab, klettert ins Beiboot, startet den Außenbordmotor und fährt an Land.

Mungo wartet auf Kit. Er sieht auf die Uhr, betrachtet seine Vorbereitungen für das Abendessen und läuft schnell nach oben, um ihr Zimmer und die Dusche zu überprüfen. Alles ist bereit. Als die Schmiede mit ihrer kleinen Scheune umgebaut wurde, hatte Mungo beschlossen, dass die Scheune in sich abgeschlossen sein sollte, nicht nur mit einer Tür, die in die Küche führte, mit der Schmiede verbunden, sondern mit einem überdachten Weg und einer eigenen Haustür. Mit ihren zwei Doppelzimmern, dem Bad und einer Wohnküche wäre die Scheune perfekt für seine Gäste und würde ihnen ein gewisses Maß an Unabhängigkeit schenken, sodass sie lange aufbleiben und fernsehen oder früh aufstehen konnten, ohne das Gefühl zu haben, ihm lästig zu fallen. Außerdem sieht er Frauen nicht gern en déshabillé, mit blassen Gesichtern und in schäbigen Morgenmänteln. Er zieht ein wenig Make-up vor, einen Hauch von Künstlichkeit. Nur Izzy und später Kit haben je das Privileg genossen, bei ihm in der Schmiede und nicht in der Scheune zu übernachten.

Izzy betrachtete das einfach als selbstverständlich.

»Nur für den Fall, dass ich schlecht träume, Schatz«, pflegte sie zu sagen. »Du kennst mich doch!«

Sie pflegte in den frühen Morgenstunden unangekündigt und zitternd an seinem Bett aufzutauchen, und er schlug dann verschlafen die Bettdecke beiseite und streckte die Arme aus.

»Na, komm schon«, sagte er dann. »Nur kuscheln.« Und er hielt sie fest und tröstete sie, bis die Albträume vergingen.

Er vermutete, dass der plötzliche und brutale Verlust ihrer Eltern, als sie gerade neun gewesen war, hinter den schlimmen Träumen steckte. Sie besaß eine lebhafte Fantasie, und die furchtbaren Details des Autounfalls ließen ihr keine Ruhe. Ganz selten schliefen sie auch miteinander.

»Nur aus Freundschaft«, pflegte sie zu sagen, doch ihm war es nicht wichtig. Er sehnte sich nach der Kameradschaft, den Scherzen, dem Klatsch. Sie saßen bei einer Flasche Wein zusammen, lachten, zerstörten oder bauten den guten Ruf von Menschen auf, lobten oder verleumdeten sie, je nachdem, wen sie gerade am liebsten mochten oder am heftigsten ablehnten.

»Warum lädst du Ralph nicht einmal hierher ein?«, fragte sie ihn während ihrer Anfangszeiten, als sie für Was ihr wollt probten. »Darüber würde er sich sehr freuen. Du magst ihn doch, oder?«

»Solange er in der Scheune schläft.«

Sie schnitt ihm eine Grimasse. »Vertraust du mir nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin derjenige, dem ich nicht traue, Süße.«

Während er das Abendessen kochte, sang sie für ihn:I’m Just A Girl Who Caint’t Say No, When I Marry Mr. SnowoderWhy Can’t You Behave. Er hörte ihr ihre Rollen ab, gab ihr Tipps, ermunterte sie. Sie feilte an seinem Gesang, zeigte ihm die Atemtechnik und erklärte ihm, wie man dafür sorgte, dass die Stimme weit trug.

Während er jetzt auf Kit wartet, hat er den Eindruck, Izzy wieder zu hören.

»Come away, come away, death:

And in sad cypress let me be laid.«

Heiße Tränen brennen in seinen Augen. Mopsa springt auf, beginnt zu kläffen, und er hört den Automotor auf der Straße. Kit ist da. Erleichtert schiebt er seine Traurigkeit beiseite und eilt hinaus, um sie zu begrüßen.

In einem der kleinen Häuser, die zum Besitz gehören, ein Stück weiter an der Straße, bereitet James Hatton sein Abendbrot zu. Gebackene Bohnen auf Toast, einen Apfel und einen Becher Kaffee. Sally würde das nicht gut finden, aber Sally ist nicht hier. Sie sitzt gemütlich mit einem Glas Wein in Oxford, in ihrem kleinen Haus in Jericho. Vielleicht ist sie auch mit Freunden zusammen. Jedenfalls ist sie nicht hier, in diesem ruhigen Tal und von dieser wunderbar ländlichen Stille umgeben, und mustert nicht entsetzt den Abwasch, der sich türmt, oder das ungemachte Bett. Sally und er haben einmal kurz nach ihrer Hochzeit – das ist inzwischen eine Reihe von Jahren her – ihren Urlaub in diesem Cottage verbracht, und es gefiel ihnen so gut, dass sie noch mehrmals wiederkamen. Vielleicht haben ihm ja diese Urlaube die Ideen für den Schauplatz des Buches eingegeben, für das er jetzt recherchiert. Damals war das Häuschen bezaubernd und rustikal gewesen; heutzutage würde es den Gesundheitsschutz- und Sicherheitsbestimmungen nicht mehr entsprechen. Camilla hat ihn deswegen gewarnt, als er anrief, erklärt, das Cottage stehe seit einem Jahr leer und solle renoviert werden. Aber er könne es gern zu einem niedrigen Preis für einen Monat mieten. Er war rasch hinuntergefahren, um es sich anzusehen, fand aber nicht viel zu bemängeln. Die Küche und das Bad müssten modernisiert werden, ja und? Für seine bescheidenen Bedürfnisse reichte es vollkommen aus; und es war der perfekte Ort, um aus seiner täglichen Routine auszubrechen und sich Gedanken über seinen neuen Roman zu machen.

»Solange Sie sich ganz sicher sind«, hatte Camilla gesagt. »Aber dass mir keine Klagen kommen, nachdem Sie eingezogen sind. Ihr Buch hat mir übrigens wirklich gut gefallen. Ich fand, Sie haben sehr geschickt Spannung und Romantik gemischt, und alles wirkte so real. Nein, keine Sorge. Niemand wird Sie stören. Demnächst zieht in das Cottage nebenan eine neue Mieterin; eine junge Soldatenfrau mit zwei kleinen Kindern, aber wir werden ihr sagen, dass Sie Ihre Ruhe wollen. Wie aufregend, dass das neue Buch in unserer Gegend spielen soll! Da müssen wir wohl aufpassen, was?«

Er lachte mit ihr. Eine unmögliche Vorstellung, dass bei Camilla und Archie oder bei den beiden alten Knaben auf dem Gutshof, Billy und Philip Judd, etwas furchtbar Aufregendes passieren könnte. Bei Sir Mungo war das natürlich etwas ganz anderes, aber auch der hatte seine Ruhmestage lange hinter sich. Immer noch lachend ging James zurück ins Haus, um einen Drink mit Archie und Camilla zu nehmen, zahlte eine Woche Miete im Voraus, und sie waren im Geschäft.

Jetzt isst James bei offener Tür sein Abendessen. Er ist am Morgen von seinem kurzen Wochenendbesuch in Oxford zurückgekehrt und gewöhnt sich wieder an die Ruhe im Tal; keine heulenden Polizeisirenen, kein Verkehr, nicht das Hintergrundgeplapper aus den Radios und Fernsehern der Nachbarn. Seine zweite Woche im Cottage beginnt, und er ist mit seinen Fortschritten zufrieden. Dieses Buch ist sein zweites; das erste hat er im Selbstverlag herausgebracht, und seine große Hoffnung ist, dass das neue die Aufmerksamkeit eines Londoner Agenten oder eines großen Verlags auf sich ziehen und er über Nacht berühmt werden wird. Er würde gern seinen Lehrerjob an der Gesamtschule in Oxford aufgeben und vollberuflich schreiben; vielleicht braucht Sally dann sogar nicht mehr als Krankenschwester zu arbeiten, und sie können eine Familie gründen. Dazu braucht es irgendeinen Glücksfall, aber der wird sich auftun, da ist James ganz sicher. Wenigstens kann er die letzten paar Wochen der Sommerferien nutzen, um den Schauplatz zu überprüfen und einen groben ersten Entwurf zu schreiben. Sein erstes Buch hat er in Gloucester spielen lassen, was dort eine ziemlich gute Werbung war. Da wurde ihm klar, wie wertvoll es ist, wirklich existierende Orte – Cafés, Pubs, Läden – einzubauen, und die dortigen Buchläden und die Lokalpresse haben ihn unterstützt. Jetzt hat er beschlossen, dass das West Country als Touristengebiet ihm vielleicht noch bessere Ergebnisse einfährt.

Sally war es gewesen, die ihn an das Cottage erinnert hatte, daran, wie nett Camilla und Archie gewesen waren, und die die Telefonnummer wiedergefunden hatte. Sal unterstützt ihn sehr; sie möchte, dass er Erfolg hat, und ist dafür bereit, sich mit dem Getrenntsein abzufinden. Sal arbeitet am Radcliffe-Krankenhaus hart – er wirft einen Blick auf die Uhr und erinnert sich plötzlich, dass sie diese Woche Nachtschicht hat –, sie müsste sogar gerade jetzt auf dem Weg zur Arbeit sein. Statt sie anzurufen und ihr zu erzählen, wie sein Tag war, wird er ihr eine E-Mail schreiben, die sie später lesen kann.

Er isst seinen Toast mit Bohnen auf, schneidet den Apfel in Viertel und wirft das Kerngehäuse in die Hecke. Dann schiebt er den Teller beiseite, klappt den Laptop auf und beginnt, eine E-Mail an Sally zu tippen.

Noch ein guter Tag. Wieder sehr heiß und jede Menge Touristen, aber so langsam kenne ich mich wirklich aus. Bin kein Neuankömmling mehr. Ich weiß, wo man das Auto stehen lassen kann, wenn die Parkplätze voll sind, kenne die Cafés abseits des Touristenrummels. Das Cottage stellt sich immer noch als idealer Ort zum Schreiben heraus. Ich mag es wirklich, so viel Platz zu haben und unordentlich sein zu dürfen!! Nicht wie unsere Schuhschachtel von Häuschen, was? Niemand stört mich, und das ist wunderbar, aber alle sind nett und winken, wenn sie mich auf der Straße sehen. Ich dachte, am Ende könnten wir vielleicht eine kleine Party geben und sie alle einladen. Archie und Camilla sind sehr freundlich. Ich habe sie taktvoll auf einen Kaffee oder Drink eingeladen, und Archie hat angeboten, mit mir noch einmal auf den Fluss zu fahren. Sehr nützlich. Vom Wasser aus sieht man die Dinge an Land so anders, und ich glaube, er freut sich, einen Vorwand für einen Ausflug zu haben. Sir Mungo ist in seinem Cottage, anscheinend hatte er mit Freunden eine Woche in Schottland verbracht. Er hat mir einen Gruß zugerufen, als ich vorbeifuhr, sehr kumpelhaft, und ich fühle mich versucht zu sehen, ob er mich und meinen Roman ein wenig anschieben kann. Die Sache ist die, dass ich meine Bücher definitiv als Material fürs Fernsehen betrachte, und er war immer am Theater, einmal abgesehen von diesen großen, epischen Dramen, die er in den späten Sechzigern und Siebzigern gedreht hat. Ich kann mir vorstellen, dass er immer noch seine Kontakte hat, obwohl Camilla sagt, dass er mehr oder weniger in Pension ist. Nebenan ist es immer noch ruhig. Kaum zu glauben, dass dort zwei kleine Kinder wohnen. Sie gehen ziemlich früh zu Bett, und ihre Mutter – hatte ich gesagt, dass sie Emma heißt? – hält sich zurück. Ich vermute, Camilla hat ihr gesagt, dass ich zu arbeiten versuche.

Heute habe ich noch einmal die Gemeinden in der Gegend erkundet. Ashburton und Buckfastleigh. Typische kleine Moorland-Städte, die aus grauem Stein gebaut und auf den ersten Blick so hübsch sind, dass ich mir nicht ganz vorstellen kann, meine unangenehmen Charaktere darin anzusiedeln. Das andere Problem ist, dass sie so winzig sind. Man kann Szenen in großen Kaufhäusern spielen lassen und damit durchkommen, so wie ich in Gloucester, aber in diesen Lädchen, in denen man nach den ersten paar Wochen jeden mit Namen kennt, würde man mich wahrscheinlich wegen Verleumdung oder so anzeigen! Ich werde ein bisschen vorsichtiger sein müssen. Natürlich liegt Exeter nur ein paar Kilometer entfernt und Plymouth im Westen, doch ich fühle mich von diesen überschaubaren Örtchen sehr angezogen. Wie ich am Wochenende schon gesagt habe, habe ich mich ziemlich in Totnes und die erstaunliche Mischung von Charakteren verliebt, die man in der Stadt antrifft. Sie hat eine gute, entspannte Atmosphäre, aber auch etwas Unruhiges, was es mir ermöglicht, meine Geschichte dort anzusiedeln. Ich weiß, dass mir dieses Buch zum Durchbruch verhelfen wird, Sal. Ich werde Totnes bekannt machen!! Doch nicht dieses Tal! Hier wird nie etwas passieren; alles atmet die friedliche Vorhersehbarkeit vergangener Zeiten, die auch bis ins neue Jahrtausend reicht. Aber eine tolle Umgebung zum Arbeiten. Ich liebe es wirklich, mich nicht nach einem Stundenplan richten zu müssen, keine Hausaufgaben und Klassenarbeiten zu korrigieren oder Stunden vorzubereiten. Ich komme mir ein bisschen egoistisch vor, Sal, dass ich das kann, während du schwer arbeitest, aber wenn ich auf Nummer eins der Bestsellerliste stehe, wird es das alles wert gewesen sein. Ich weiß, dass du dir Sorgen gemacht hast, ich würde bis Mittag im Bett bleiben, doch ich stehe hier sogar ziemlich früh auf. Ich genieße es wirklich, unterwegs zu sein, die Atmosphäre aufzusaugen, Menschen zu beobachten und dann abends den Roman zu skizzieren. Und genau das mache ich jetzt gleich. Ich habe ein paar neue Ideen, Sal, deswegen setze ich mich jetzt an den Schreibtisch. Hoffe, es ist ruhig auf der Station! Alles Liebe, J. xx

Eine Stunde später schaltet er den Laptop aus und schlendert durch die offene Tür. Die kleinen, durch eine Steinmauer getrennten Vorgärten sind ein Gewirr von Fuchsienbüschen. Er lehnt sich auf das hölzerne Tor und genießt die Dunkelheit und die Stille. Draußen auf der Straße sind die Schatten unter den Eschen schwarz und dicht, obwohl sich dort, wo im Graben Butterblumen wachsen, noch ein schwacher Goldschimmer hält. Eine Fledermaus flattert knapp an seinem Kopf vorbei und erschreckt ihn, und er stößt einen bestürzten Aufschrei aus, duckt sich und schlägt sie weg. Nebenan geht plötzlich in einem Raum in der ersten Etage das Licht an. Ein Schatten löst sich aus der Dunkelheit unter den Bäumen, und James sieht ihn an. Das Tor knarrt unter seinem Gewicht. Er fragt sich, ob Sir Mungo noch einen letzten Spaziergang mit seinem kleinen Hund unternimmt. Es bleibt ganz still, die Schatten fließen wieder zusammen, und bald hört James, wie ein Auto angelassen wird. Dann wird das Motorengeräusch schwächer und verklingt.

2. Kapitel

Als Kit am Morgen erwacht, weiß sie genau, wo sie sich befindet. Es gibt keine Verwirrung zwischen Wachen und Schlafen; sie ist sich augenblicklich des Musters im Laub des Baumes vor der offenen Tür und der Wärme Mopsas, die sich in ihren Kniekehlen zusammengerollt hat, bewusst.

»Wenn du hier bist, wird sie mir immer untreu«, pflegt Mungo zu sagen.

Sie streckt eine Hand nach unten aus, um das raue, warme Fell zu streicheln, und Mopsa regt sich im Schlaf und knurrt leise. Kit seufzt vor Vergnügen darüber, hier bei Mopsa und Mungo zu sein und zu wissen, dass Archie und Camilla und die Hunde ein Stück weiter an der Straße wohnen. Obwohl sie allein lebt und arbeitet, braucht sie zu ihrer Unterstützung diese Netzwerke. Ihre eigene Familie lebt kaum fünfzehn Minuten von der Schmiede entfernt: Ihr Zwillingsbruder Hal und seine Frau Fliss wohnen auf The Keep, wo seit Generationen Chadwicks zu Hause sind. Momentan leben noch drei Generationen auf The Keep – bis ihre Mutter im vergangenen Jahr starb, waren es sogar vier –, und Kit liebt diese Kontinuität, dieses Gefühl, nach Hause zu kommen, wenn sie wieder dorthin fährt.

Bei Mungo allerdings ist die Dynamik eine andere; bei ihm ist sie weder Schwester, Cousine, Tante noch Tochter. Er ist ein Kumpan, ein alter Freund; die beiden richten nicht übereinander, und über das entscheidende Kriterium der Loyalität hinaus stellen sie keine Ansprüche. Sie fühlen mit ihren jeweiligen Schwächen mit, freuen sich an ihren Stärken und bedauern einander, wenn die Wechselfälle des Lebens sie beuteln.