Wildblumen im Winter - Marcia Willett - E-Book

Wildblumen im Winter E-Book

Marcia Willett

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Beschreibung

Bridge House, Hesters hübsches Cottage im Exmoor, ist ein Ort voller Geschichte. Nur zu gern denkt die alleinstehende Hester an die kleine Lucy zurück, die bei ihr ein neues Zuhause fand - bis das Mädchen unter mysteriösen Umständen verschwand. Erst als Hester nach vielen Jahren Lucy wiedertrifft, begreift sie: Sie beide sind das Opfer eines Familiendramas und einer verhängnisvollen Lüge geworden. Ein hinreißender Roman über das Gift der Lüge und das befreiende Glück der Wahrheit

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Seitenzahl: 399

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Über die Autorin:

Marcia Willett, in Somerset geboren, studierte und unterrichtete klassischen Tanz, bevor sie ihr Talent für das Schreiben entdeckte und sich zu einer außergewöhnlichen Erzählerin entwickelte, die THE TIMES als »eine authentische Stimme ihrer Zeit« feierte.

Die Autorin lebt mit ihrem Ehemann in Südengland, dem Schauplatz vieler ihrer Romane.

Marcia Willett

Wildblumen im Winter

Roman

Aus dem Englischenvon Sonja Schuhmacherund Rita Seuß

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der Originalausgabe: »Memories of the Storm«

Originalverlag: Bantam Press, a division of Transworld Publishers, London

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2007 by Marcia Willett

Originalverlag: Bantam Press,

a division of Transworld Publishers, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2009/2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Regina Maria Hartig

Die am Ende vom Ersten Teil zitierten Zeilen sind William Shakespeare »Was ihr wollt« in der Übersetzung von Schlegel/Tieck entnommen.

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Titelillustration: Masterfile Deutschland GmbH / Trevillion Picture Library

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-0158-8

Sie finden uns im Internet unter

www.luebbe.de

Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

Für Pater Keith und die Schwestern in Tymawr

Erster Teil

EINS

Den ganzen Tag lang hatte sie gewartet. Am frühen Morgen war sie aus einem unruhigen Schlaf aufgeschreckt, als ein Windstoß in den Schlafzimmervorhang fuhr, sodass er knatterte wie ein Schiffssegel. Ein Vorhangzipfel wischte das gerahmte Foto von der Rosenholzkommode, und es fiel klirrend zu Boden. Mühsam setzte sie sich auf, immer noch wie benebelt von ihrem wirren Traum. Während sie die Bettdecke zurückschlug, murmelte sie »Oje, oje!«, als sei ein schreckliches Unglück geschehen. Das Glas war zerbrochen, ein Stück herausgefallen, und die im Rahmen verbliebene gezackte Scherbe schien das Foto in zwei Hälften zu teilen und die vier Personen zu trennen. Im Dämmerlicht, das durch das Fenster hereinsickerte, hob sie das Foto auf und betrachtete es. Edward und sie strahlten mit jugendlicher Zuversicht in die Kamera, während die beiden anderen Jungen sehr viel blasser wirkten.

Ein durchaus treffendes Bild, wenn man es genau bedachte. Sie, die Jüngste, und Edward, ihr ältester Bruder, waren einander eng verbunden durch die Liebe zur Poesie und Musik, während sie eine gewisse Distanz zu den übrigen Geschwistern hatten: zu den beiden mittleren Brüdern – sportlich, muskulös und voller Energie –, aber auch zu ihrer sanftmütigen, häuslichen Schwester Patricia, der Ältesten. Wie stolz die Mutter doch auf ihre Söhne gewesen war, und wie wenig sie sich um ihre Töchter gekümmert hatte!

Hester hielt das vergilbte Foto ins Licht. Habe ich tatsächlich so ausgesehen damals, im letzten Sommer vor dem Krieg? Das Kinn gereckt, mit einem Ausdruck furchtloser Erwartung, der ihr fast das Herz zerriss? Edward, einen Kopf größer als sie, fröhlich und unbeschwert in einem Hemd mit offenem Kragen, hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Das Foto hatte wohl ihr Cousin Blaise gemacht, der genauso alt war wie Edward.

Mit einer abrupten Bewegung legte Hester das Foto mit der Vorderseite nach unten auf die Kommode. Das splitternde Glas hatte auch Erinnerungssplitter an ihre Vergangenheit heraufbeschworen. Eine lähmende Panik überwältigte sie: zerbrochenes Glas, ein böses Omen! Aber doch nur, wenn ein Spiegel zerbricht, nicht bei gewöhnlichem Glas!, schalt sie sich energisch. Dennoch, eine ängstliche Vorahnung, die ihren Puls beschleunigte und ihr Gehör schärfte, durchfuhr sie bis in die Fingerspitzen. Ungeschickt klaubte sie die Scherben zusammen.

Später, nach dem Frühstück, trat sie durch die Terrassentür ins Freie und blickte hinunter auf den Fluss. Sonnenstrahlen fielen durch die kahlen Kronen der Bäume am Ufer und verliehen dem rauschenden Wasser, das sich zwischen den grasigen Böschungen den Weg bahnte, einen silbrigen Glanz. In den Ästen der schlanken Birken wütete der Südwestwind, er riss die letzten Blätter ab und ließ sie in goldenen Schauern zu Boden regnen. Von der Strömung fortgetragen, trieben sie vorbei an den feuchten Wiesen, auf die das Sonnenlicht glitzernde Muster zeichnete.

Hester legte die Hände auf die Steinmauer. In der Nacht hatte es oben auf den Chains heftig geregnet, und über die großen glatten Felsbrocken unterhalb der Terrasse strömten jetzt die Wassermassen des Barle. Hier, genau an dieser Stelle, war Edward gestürzt. Die Brüstung hatte damals seinen Fall in die Tiefe nicht verhindert. Ihre Schwägerin hatte Hester mit beiden Händen festgehalten und sie davon abgehalten hinterherzuspringen.

Die lebhafte Erinnerung an diese Szene – Edward, der unvermutet von der dunklen, regennassen Terrasse durch die Glastür in das Zimmer gegangen war, wo seine Frau in den Armen seines ältesten und besten Freundes lag – wurde überlagert von dem vertrauten Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Im Wohnzimmer, das Hester nun im Geist vor sich sah, hatte an jenem Abend plötzlich etwas aufgeleuchtet. Etwas, was sie nicht genauer erfassen konnte, von dem sie aber wusste, dass es nicht ins Bild passte: geheimnisvolle düstere Zimmerecken, goldene Lichtkreise der Lampen auf poliertem Holz, die schillernden Reflexe des Spiegels über dem Kamin, dessen blaue und orangerote Flammen gierig an den Holzscheiten leckten. Eine Zeitung war von den Chintzkissen des Sofas unter dem Fenster geglitten, dessen purpurrote Damastvorhänge zugezogen waren, um das Haus vor dem Wüten der Natur zu schützen. Und hier, genau hinter dem Sofa, hatte im Schein des Feuers etwas hell aufgeleuchtet – und war im nächsten Augenblick bereits wieder verschwunden.

Ein Geräusch lenkte Hester von ihren Grübeleien ab. Sie schlug die Augen auf und sah hinunter zum Fluss. Ein paar Stockenten ließen sich von der reißenden Strömung ein Stück mittragen, bevor sie, lustvoll quakend und hektisch paddelnd, auf die ruhigeren Stellen unter den Bäumen zusteuerten, wo sie sich ans Ufer hievten. Hester ging ins Haus zurück und holte einen Kanten Brot. Sie musste laut lachen, als sie beobachtete, wie die Tiere über den Rasen auf sie zuwatschelten. Abgelenkt von diesem Schauspiel, vergaß Hester ihre Ahnungen, doch sobald die tägliche Fütterung vorbei war und die Enten wieder in den Fluss glitten, war sie wieder da, diese unerklärliche Angst.

Es erschien ihr fast wie eine Erlösung, als am frühen Nachmittag das Telefon läutete, während sie bei einer Tasse Kaffee saß. Sie zwang sich zur Ruhe und meldete sich klar und deutlich, war jedoch sehr erstaunt, die Stimme ihrer Patentochter zu hören. Mit Clio hatte sie am allerwenigsten gerechnet.

»Hör zu, Hes, etwas sehr Merkwürdiges ist passiert. Ich habe hier einen gewissen Jonah Faringdon kennengelernt, dessen Mutter im Krieg bei dir in Bridge House gewohnt hat, nachdem ihre Mutter bei einem Luftangriff ums Leben gekommen war. Ihr Name war Lucy Scott. Sagt dir der was?«

Lucy. Die kleine Lucy! Hester holte tief Luft.

»Ja. Ja, natürlich. Sie war damals noch ein Kind.«

»Ich habe überlegt, ob ich Jonah nicht heute Abend mitbringen könnte. Ich mache uns etwas zu essen, und wir könnten ein wenig plaudern. Anschließend fahre ich ihn dann nach Michaelgarth zurück, es sei denn…« Ein kurzes Zögern.

Hester reagierte fast automatisch auf die unausgesprochene Bitte. »Er kann gern hier übernachten. So spät willst du doch sicher nicht noch mal raus, oder? Natürlich nur, wenn er damit einverstanden ist und nicht zurückerwartet wird.«

»Das wäre wunderbar. Wir müssen morgen früh ohnehin beide wieder hier sein. Übrigens ist er Bühnenautor. Alles lässt sich gut an, und es herrscht schon große Aufregung. Ich bin wirklich froh, dass ich Lizzie meine Hilfe angeboten habe. Wir werden dir später alles ausführlich erzählen. Ich weiß nicht genau, wann wir kommen, irgendwann am frühen Abend. Ich kümmere mich um das Dinner und richte sein Bett, in Ordnung?«

»Natürlich.«

»Wirklich, Hes? Du klingst ein bisschen reserviert. Ist doch ein irrer Zufall, findest du nicht?«

»Ja. O ja. Unvorstellbar. Ich kann es kaum glauben.«

»Es ist wirklich merkwürdig. Er brennt darauf, das Haus zu sehen, in dem seine Mutter gewohnt hat. Und dich natürlich auch.«

»Natürlich. Ich freue mich auch, Jonahs Bekanntschaft zu machen.«

Der Kaffee war kalt geworden und schmeckte so bitter, dass sie die Tasse wieder auf die Untertasse zurückstellte. Ihre Hände zitterten leicht, und sie bedeckte sie mit dem Schal. Die kleine Lucy! Erinnerungen wurden wach, glückliche und quälende Erinnerungen, aber es regte sich auch ihr schlechtes Gewissen. Sie hatte es stets bereut, dass sie sich nicht von Lucy verabschiedet hatte. Als das Mädchen damals so überstürzt aufgebrochen war, hatte Hester dringendere Angelegenheiten zu erledigen gehabt; und als ihr klar wurde, dass sie dem Kind nicht einmal Lebwohl gesagt hatte, war es zu spät. Zu spät, als sie zu überlegen begann, ob sie sich nicht hätte vergewissern sollen, dass es Lucy auch tatsächlich gut ging.

Ganz bewusst beschwor Hester erfreulichere Bilder der Vergangenheit herauf. Gut ein Jahr lang hatte Lucy mit ihnen in Bridge House gelebt. Die ganze Familie hatte das Mädchen damals gleich ins Herz geschlossen. Eine Erinnerung trat ihr jetzt besonders klar vor Augen, und Hester lächelte wehmütig.

Jeden Morgen vor dem Frühstück gingen Hester und Lucy die Hühner füttern. Beide trugen einen Eimer mit Mischfutter, Lucy einen kleinen roten aus Plastik. Ihr Weg führte quer über den Rasen und durch das Tor zu einer Wiese. Bei Kriegsausbruch hatte man den größten Teil davon umgegraben, um dort Gemüse anzubauen, aber ein Stück hatte man für die dicken roten Hennen eingezäunt; ihr Stall war ein ziemlich baufälliger Holzschuppen mit einer stabilen Tür zum Schutz vor den Füchsen. Hester wusste, wie gern Lucy in diesem Hühnerhaus mit dem niedrigen Dach in den mit stacheligem Stroh ausgelegten Legekästen nach warmen Eiern tastete. Während die Hennen laut gackernd um Hester und das Futter herumtrippelten, füllte Lucy ihren leeren, mit Futterresten verkrusteten Eimer mit den wertvollen Eiern. Und sie versäumte es nie, auch die grünen Ränder von Hesters Gemüsebeeten abzusuchen. Die Hennen hatten freien Auslauf, und in einem Grasbüschel oder zwischen den Brennnesseln war manch verborgener Schatz zu finden.

Hester beobachtete die Kleine voller Belustigung. Die langen braunen Haare fielen ihr über die geröteten Wangen, die kleinen Hände teilten behutsam die langen Halme, und wenn sie ein Ei entdeckte, geriet sie jedes Mal außer sich vor Freude. Sie bückte sich und schaute in den Eimer, den sie triumphierend hochhielt. »Gut gemacht, Lucy! Da wird Nanny aber Augen machen!« Sie strich ihr das Haar zurück und band es ihr im Nacken zusammen.

Lucys braune Augen funkelten, und sie griff nach Hesters Hand, als sie wieder ins Haus gingen.

Unter dem Schal hatte Hester die Hände ineinander verschränkt, als wolle sie etwas festhalten, was lange verschwunden gewesen war. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und versuchte, sich ein wenig zu entspannen. Clio würde erst in ein paar Stunden eintreffen.

Der Sturm gestaltete die Fahrt von Michaelgarth nach Bridge House zu einem denkwürdigen Abenteuer. Es dämmerte bereits, als sie losfuhren, und der Regen trommelte an die Windschutzscheibe. Im Lichtkegel der Autoscheinwerfer beobachtete Jonah, wie sich die Bäume im Wind bogen und die Äste Clios kleinen Wagen beinahe streiften. Er fühlte sich unbehaglich. Die Reise ins Exmoor, um die Schauspielerin Lizzie Blake zu besuchen und über ein Filmprojekt zu sprechen, war eine Sache. Eine ganz andere Sache war es allerdings, sich von diesem Energiebündel, das ihn gestern vom Zug in Tiverton Parkway abgeholt hatte, über Land kutschieren zu lassen.

Schon bei der Abfahrt aus Michaelgarth hatte Jonah das sonderbare Gefühl gehabt, dass das Geschehen sich seiner Kontrolle entzog. Alles schien perfekt inszeniert wie in seinen eigenen Stücken. Das Problem war nur, dass er sich nicht sicher war, wer in diesem Fall der Regisseur war.

»Es scheint dir viel zu bedeuten, dass du Hester kennenlernst«, sagte Clio nun. Sie wechselte den Gang und schaute nach rechts, bevor sie auf eine schmale Landstraße abbog. »Nicht nur, um etwas herauszufinden.«

Überrascht von ihrem Gespür, ließ er sich Zeit mit einer Antwort. Er dachte an die Reaktion seiner Mutter, als er sie vor ein paar Tagen angerufen hatte.

»Ich fahre übers Wochenende ins Exmoor«, hatte er gesagt. »Lizzie Blake will dort auf dem Land ein Filmprojekt realisieren und im Rahmen des Porlock Arts Festival präsentieren. Sie hat einen Fernsehsender gefunden, der bereit ist, ein dreißigminütiges Fernsehspiel auszustrahlen, geschrieben, gefilmt, gespielt und produziert von Schülern der Oberstufe. Damit das Ganze auch ein ordentliches Niveau hat, wurden sechs Profis engagiert, die ihnen erklären sollen, wie so etwas gemacht wird. Und einer davon bin ich. Das Ganze klingt ziemlich spannend. Lizzie hat in meinem Stück The Pilgrim die Margery Kempe gespielt. Weißt du noch, du hast ihre und Piers’ Bekanntschaft gemacht, als das Stück im Festival Theatre aufgeführt wurde.«

»Ja, ich erinnere mich an die beiden«, hatte Lucy geantwortet. »Es ist merkwürdig, Jonah. Erst gestern Abend habe ich an das Exmoor gedacht, an meinen Aufenthalt in Bridge House während des Krieges.« Ein tiefer Seufzer. »Ob die Mallorys wohl noch dort wohnen?«

»Ich könnte versuchen, es herauszufinden.« Er bemühte sich, nicht allzu beflissen zu klingen. »Bridge House. Das Haus auf dem Foto, stimmt’s?«

»Es ist so lange her. Kein Mensch wird sich mehr erinnern.«

»Vielleicht doch. Piers’ Familie lebt seit Generationen im Exmoor. Ich werde ihn fragen, ob er die Mallorys von Bridge House kennt.«

Und das hatte er getan – mit erstaunlichen Ergebnissen.

»Um ehrlich zu sein«, sagte Jonah jetzt als Antwort auf Clios Frage, »ich habe so ein Gefühl, als würde sich etwas ereignen, auf das ich warte, seit ich zum ersten Mal ein Foto von meiner Mutter als kleines Mädchen im Garten von Bridge House gesehen habe.« Er zögerte. Noch war er nicht bereit, ihr zu gestehen, dass seine Mutter nie über diesen Abschnitt in ihrem Leben redete. Es wäre ihm wie Verrat erschienen, einem wildfremden Menschen von der Angst und der Abwehr seiner Mutter zu erzählen, wenn er sie nach dieser Zeit fragte. »Als Kind fand ich es irgendwie seltsam, dieses Foto meiner Mutter als kleines Mädchen, das jünger war als ich selbst damals. Sie hat im Krieg ihre Eltern verloren und spricht nie darüber. Deshalb war ich ziemlich überrascht, als sie Miss Mallory erwähnte.«

»Doktor Mallory«, stellte Clio richtig. »Hes war Professor für englische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts an der Universität Lincoln. Sie ist schon seit längerer Zeit emeritiert.«

»Verstehe.« Jonah hatte jede Menge Fragen, aber plötzlich empfand er eine eigenartige Scheu. »Es ist sehr freundlich von ihr, dass sie mich über Nacht einlädt. Schließlich kennt sie mich gar nicht.«

Eine heftige Windböe erfasste den Wagen, und Jonah zuckte zusammen. Clio fuhr unbeeindruckt weiter.

»Ganz fremd bist du ihr nun auch wieder nicht«, erwiderte sie. »Hester kannte deine Mutter, und Piers und seine Familie kennt sie seit einer Ewigkeit.«

»Trotzdem…« Jonah spürte eine nervöse Anspannung, als bahne sich ein Unglück an. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs blendeten ihn, und Clio musste mit einem kleinen Schlenker einem Laster ausweichen, der an ihnen vorüberraste.

»Tut mir leid.« Clio lachte unsicher. »Der hat sich ganz schön breitgemacht. Wir sind gleich da. Das hier ist Winsford.«

Im strömenden Regen blinkten tröstlich die Lichter einer Ortschaft. Clio musste den Gang wechseln, denn es ging steil bergauf. Dann fuhren sie übers offene Moor. Hier blies der Wind noch heftiger, und sie wurden mächtig durchgerüttelt. Plötzlich klapperte ein Viehgitter unter den Reifen, und eine lange Allee führte wieder bergab. Im Licht der Scheinwerfer leuchteten an den Straßenrand gewehte Haufen nasser Buchenblätter grell auf. Auf einmal vernahm Jonah neben dem Heulen des Sturms, dem Prasseln des Regens und der rhythmischen Bewegung der Scheibenwischer noch ein Geräusch: ein grollendes, unaufhörliches Dröhnen, das sie zu begleiten schien.

»Hörst du den Fluss?«, rief Clio. Die Wildheit der Natur schien eine geradezu euphorisierende Wirkung auf sie zu haben.

Eine Steinmauer tauchte vor ihnen auf, und Clio schaltete zurück.

Als sie eine schmale Brücke passierten, sah Jonah einen Mann, der aus der Dunkelheit hervorsprang. Er machte ihnen ein Zeichen anzuhalten, den Mund zu einem Hilferuf geöffnet. Im nächsten Moment würde Clio ihn überfahren, Jonah schrie, griff an das Steuer und versuchte es herumzureißen.

»Was ist?«, rief sie entsetzt. »Um Himmels willen…«

Ein knirschendes Geräusch, als Clio auf die Bremse trat und das Auto leicht die Mauer streifte. Jonah hatte bereits seinen Anschnallgurt gelöst und riss die Wagentür auf. Es regnete in Strömen. Im Nu war er klatschnass, dennoch lief er zur Brücke zurück. Seine Stimme wurde vom Wind fortgetragen, erstickt vom gleichförmigen Rauschen des Wassers, doch von dem Mann war nirgends eine Spur zu entdecken. Plötzlich stand Clio neben Jonah und packte ihn am Arm.

»Was war denn?«

»Ein Mann. Du musst ihn doch auch gesehen haben.«

»Nein, da war niemand. Es war nur eine Sinnestäuschung, hervorgerufen durch die Scheinwerfer in der Dunkelheit. Da ist niemand. Komm, wir sind schon völlig durchnässt. Gehen wir rein!« Ohne seinen Arm loszulassen, führte sie ihn über die Brücke ins Haus, wo Hester bereits wartete.

ZWEI

Später saß Clio oben in ihrem Zimmer im hinteren Teil des Hauses und betrachtete sich in einem fleckigen Spiegel. Sie verstellte den Mahagonirahmen ein wenig, der bei jeder Bewegung knackte und ächzte, und griff nach ihrer Haarbürste. Der Schock über Jonahs ungestümes Verhalten saß ihr noch in den Knochen, und das Geräusch des die Brücke schrammenden Wagens dröhnte ihr noch in den Ohren. Es war nichts Schlimmes passiert, trotzdem war Clio völlig durcheinander. Rätselhaft erschien ihr nicht nur, dass Jonah so nachdrücklich darauf beharrte, wirklich jemanden gesehen zu haben, sondern auch Hesters Reaktion. Statt ihn zu beruhigen und ihm zu versichern, dass unmöglich jemand auf der Brücke gewesen sein könne, hatte sie ihn geradezu verständnisvoll angesehen, was Clio regelrecht wütend gemacht hatte. Vielleicht, weil sie selbst Angst hatte.

»Die Brücke steht auf Privatgrund und führt nur zum Haus und zum Garten«, hatte sie unwirsch, fast beleidigt erklärt. »Sonst nirgendwohin. Und Hester hat doch gesagt, dass sie den ganzen Tag allein war. Warum sollte sich bei diesem Wetter jemand auf der Brücke verstecken, nur um uns aufzulauern und dann wegzurennen?«

Um Zustimmung heischend, hatte sie Hester angesehen, aber die bedachte Jonah nur mit einem nachdenklichen Blick.

»Ich habe ihn gesehen«, wiederholte er unbeirrt.

»Ich glaube, wir könnten jetzt etwas Hochprozentiges vertragen«, meinte Hester zu Clios Erleichterung. Nach ein paar Schlucken Scotch beruhigte sich Jonah ein bisschen, und Clio ging nach oben, um das Gästebett zu richten.

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