Die Wärme eines Sommers - Marcia Willett - E-Book

Die Wärme eines Sommers E-Book

Marcia Willett

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Beschreibung

Louise öffnet das Fenster, das auf's Moor hinausging und atmete tief durch. Das ferne Murmeln des Flusses und der fröhliche Gesang einer aufsteigenden Lerche drangen zu ihr herein. Einen Moment lang tauchte das Bild einer lachenden Frau mit Kind vor ihr auf, und Louise wandte sich abrupt ab ... Mit zarten Tönen erzählt Marcia Willett von Menschen, die nach einem schweren Verlust einen Neuanfang wagen und eine erfüllende Liebe finden, sensibilisiert für die kleinen und großen Dinge des Lebens, die Glück und Geborgenheit schenken.

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Seitenzahl: 555

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Über die Autorin:

Marcia Willett, in Somerset geboren, studierte und unterrichtete klassischen Tanz, bevor sie ihr Talent für das Schreiben entdeckte und sich zu einer außergewöhnlichen Erzählerin entwickelte, die THE TIMES als »eine authentische Stimme ihrer Zeit« feierte.

Die Autorin lebt mit ihrem Ehemann in Südengland, dem Schauplatz vieler ihrer Romane.

Marcia Willett

Die Wärme eines Sommers

Roman

Ins Deutsche übertragen von Sonja Schuhmacher und Rita Seuß

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe:

FORGOTTEN LAUGHTER© 2002 by Marcia Willett

Published by Headline Book Publishing,

A Division of Hodder Headline, London

© für die deutschsprachige Ausgabe 2004/2014 by

Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Boris Heczko

Lektorat: Regina Maria Hartig

Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln, unter Verwendung eines Fotos von © The Image Bank/getty-images, John William Banagan

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-0150-2

Sie finden uns im Internet unter

www.luebbe.de

Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

Für Anne Ellison

DANKSAGUNGEN

Ich danke Bridget Rochard. Und ich dankedem britischen Seenotrettungsdienst,insbesondere der Crew des SALCOMBE LIFEBOAT,die Jemima erlaubt hat, in denMannschaftsquartieren zu »wohnen«.

Erster Teil

EINS

Der Mann gegenüber, der per Handy telefonierte, belog seine Frau. Er lehnte sich an den Tisch, betrachtete die Landschaft, die draußen vorbeizog, und sprach mit leiser Stimme. Seine kräftigen Finger mit den gepflegten Nägeln und dem schweren Goldring trommelten nervös auf die Tischplatte, während er sich hin und wieder einen tiefen, ärgerlichen Seufzer abrang.

»Haben wir das nicht alles schon getan, Liebling?« Unüberhörbar schwangen Wut und Ungeduld in der höflich gestellten Frage mit, und dieses »Liebling« war eher eine Ohrfeige als eine Zärtlichkeit. »Ich habe dir doch gesagt – oder etwa nicht? –, dass ich heute Abend wahrscheinlich nicht nach Hause kommen kann… Es interessiert mich, ehrlich gesagt, nicht im Geringsten, was Jill meint… wie lange die Sitzung dauert. Sie hat keine Ahnung… Okay, sie weiß also, dass Lisa auch kommt. Wir waren uns doch einig, dass es keine gute Idee ist, die Ehefrauen meiner Kollegen zu Rate zu ziehen, wenn du wieder einmal einen dieser – Anfälle hast… Ich weiß, aber das ist die Wahrheit. Sie ist zufällig in meiner Abteilung, und wir arbeiten gemeinsam an diesem Projekt. Mehr nicht… Natürlich ist es schwierig, aber ich kann doch nicht verlangen, dass man sie rauswirft, nur weil sie jung und attraktiv ist… Meine Güte…«

Er wurde immer lauter, zügelte seine Ungeduld nicht mehr und warf Louise über den Tisch hinweg einen argwöhnischen Blick zu. Louise fühlte sich ertappt, wandte hastig die Augen ab und schaute aus dem Fenster. Auf einer Wiese, die sich zu einem schmalen glitzernden Bach senkte, stand eine junge Frau, ein Kind im Arm, und blickte dem vorbeifahrenden Zug nach. Sie winkte und ermunterte auch das Kind dazu, bewegte seine Hand und ließ es lachend auf der Hüfte wippen, während es unverwandt zum Zug aufsah. Louise beobachtete die beiden erschrocken und war einen Augenblick wie gelähmt, bevor sie sich vorbeugte und fast allzu ungestüm zurückwinkte, bis Frau und Kind in der Ferne verschwanden. Ihr Atem ging rasch, als sie in ihren Sitz sank, bemüht, die Gefühle zu unterdrücken, die sie mit einem Mal überwältigten.

Ihr Mitreisender hatte sein Telefongespräch beendet und musterte sie neugierig. Er taxierte sie wie ein Angler die Chancen auf einen guten Fang. Sie wusste schon, was jetzt kam. Gleich würde er seine Chancen austesten.

»Freunde von Ihnen?«

Das war ein ziemlich harmloser Köder, eine leicht auf und ab wippende, hübsche kleine Fliege, ein nicht gerade aufregender, aber charmanter Versuch, ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Sie beschloss, sich ein Stück weit darauf einzulassen, war es doch eine willkommene Ablenkung von ihren verwirrenden Gefühlen beim Anblick der Frau mit dem Kind.

»Nein, nein. Ein Reflex vermutlich. Wenn jemand winkt, ist es doch nur natürlich zurückzuwinken, oder?«

»Tja, ich weiß nicht.« Er rutschte auf seinem Sitz hin und her und streckte dann die Beine unter den leeren Sitz neben ihr. »Kommt ganz darauf an, wer winkt.«

Sein Lächeln und ein kurzes Hochziehen der Augenbrauen deuteten an, dass er ganz bestimmt zurückwinken würde, wenn sie es wäre oder eine andere attraktive junge Frau. Sie ließ sich nicht anmerken, dass sie mit genau dieser Reaktion gerechnet hatte.

»Da ist was dran.« Träge umkreiste sie den Köder.

»Tut mir Leid, dass ich Sie mit meinen… äh… privaten Problemen belästigt habe«, sagte er hastig und deutete auf das Handy, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Das gehört sich nicht, aber…« Er spitzte spöttisch die Lippen und fügte in verschwörerischem Ton hinzu: »…diese argwöhnischen Ehefrauen…«

Die Fliege zitterte verführerisch, eine Einladung, sie genauer in Augenschein zu nehmen.

»Woher wollen Sie wissen«, fragte sie beiläufig, aber mit einer Spur amüsierter Koketterie, »dass ich nicht auch so eine ›argwöhnische Ehefrau‹ bin?«

Er machte es sich auf seinem Sitz noch bequemer, voller Zuversicht, sodass sie sich den Angler vorstellen konnte, seinen schief sitzenden Hut, seine Hand, die Rute locker, aber fest im Griff. »Oh, Sie sehen überhaupt nicht danach aus. Dafür sind Sie viel zu hübsch.«

»Finden Sie?«

Angebissen? Er schickte sich an, die Leine ein wenig einzuholen. »Auf jeden Fall. Und offenbar auch selbstbewusst. Nur unsichere Frauen werden eifersüchtig. Und reizlose natürlich.«

»Ist Ihre Frau denn reizlos?« Sie spielte mit dem Köder, verlockte den Mann zum Verrat. »Oder unsicher?«

»Nur ein wenig unausgeglichen. Schwieriges Alter. Ziemlich zermürbend auf die Dauer.«

»Dann bildet sie sich alles nur ein?« Ihre Stimme klang beinahe verächtlich; der Köder erwies sich als ziemlich fade.

»Oh, das würde ich nicht sagen.« Er ließ den Köder erneut tanzen, das spitzbübische Lächeln, das Erfahrung und Lust versprach. »Was sie nicht weiß, macht…« Er zuckte die Achseln.

»Scheint so, als wüsste sie mehr, als Sie gedacht haben.«

Überraschenderweise lachte er, und angesichts dieser spontanen Reaktion konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wider Willen fühlte sie sich von ihm angezogen.

»Eins zu null für Sie«, sagte er und lächelte zurück… Eine Pause entstand, sie sahen einander an. Die Angelleine straffte sich.

»Heikel, das Ganze, nicht…?« Sie ließ die Frage einen Augenblick im Raum stehen. »Vielleicht habe ich einen argwöhnischen Ehemann.«

»Das würde mich kein bisschen überraschen.« Seine Stimme klang erregt. »Andernfalls wäre er ein Dummkopf.«

»Also?« Sie beugte sich vor, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und täuschte Vertraulichkeit vor. »Wie machen Sie das?«

»Ah.« Er lächelte beinahe selbstgefällig, und sie hatte das Gefühl, langsam, aber unaufhaltsam in seinen Bann gezogen zu werden. »Das habe ich meinem Freund hier zu verdanken, wissen Sie.«

Er hob das Handy hoch, und sie starrte verblüfft darauf. Er kicherte.

»Ich habe es immer bei mir. Keine verdächtigen Anrufe zu Hause, nicht die Ausreden, jemand habe sich verwählt, wenn meine Frau rangeht. Ich bin immer und überall erreichbar. Ich kann Nachrichten verschicken. Na ja, vorausgesetzt, dass die andere Person auch ein Handy hat. Auf der Telefon- oder der Hotelrechnung taucht nichts auf. Natürlich« – ein unmerkliches Augenzwinkern –, »natürlich schalte ich es aus, wenn ich in einer… Sitzung bin.«

»Nachrichten verschicken?«

»Genau. Man kann dem Menschen, den man liebt, alles schriftlich mitteilen. Man muss gar nicht sprechen. So kann man die Verbindung aufrechterhalten. Und in der nächsten Sekunde kann man die Nachricht wieder löschen. Keine Beweise und damit keine Lügen. Haben Sie keins?«

»Nein«, erwiderte sie langsam. »Nein. Ich bin ein bisschen technikfeindlich. Mikrowelle und Video – das genügt. Deshalb – nein, ich besitze kein Handy.«

Er beugte sich noch weiter zu ihr herüber und lächelte wieder, als sei er sicher, sie schon am Haken zu haben. »Vielleicht sollten Sie sich eins zulegen. Ich würde Sie gern beraten…«

Sie musterte ihn eine Weile, bis sie in einen Bahnhof einfuhren. Sie blickte aus dem Fenster.

»Ich muss aussteigen.«

»Was?« Er starrte sie ungläubig an. Die Leine schnellte zurück, seine Beute entwischte ihm, die Angelrolle surrte hilflos. »Wo sind wir? Totnes?«

»Richtig.« Sie schulterte ihre Tasche und nahm ihren Mantel. »Ich mache hier zwei Wochen Ferien. Vielen Dank für die Tipps.«

»Warten Sie.« Er kritzelte eine Nummer auf ein Blatt Papier und riss es aus seinem Filofax. »Falls Ihnen langweilig wird…«

Sie schüttelte lachend den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Viel Spaß bei Ihrer… Sitzung.«

Die Abteiltür ging auf und schloss sich hinter ihr. Der Zug hielt. Er blickte ihr nach, als sie über den Bahnsteig ging.

»Mist!«, murmelte er. Übellaunig wählte er eine Nummer. »Hallo, Lisa… natürlich ist es okay.« Er schmiegte sich in seinen Sitz, als der Zug wieder anfuhr. Seine Miene hellte sich auf. »Du Ärmste, hast du dir etwa Sorgen gemacht? Es ist alles in Ordnung. Ich fahre gerade durch Totnes. Nein, eine sterbenslangweilige Fahrt. Ich habe die ganze Zeit gearbeitet…«

Brigid Foster wartete in ihrem alten Kombi und beobachtete den Ausgang des Bahnhofs, während sie gleichzeitig die Taxireihe im Blick behielt, aus Angst, den Verkehr zu blockieren. Als sie Louise entdeckte, sprang sie aus dem Wagen, um ihr mit dem Gepäck zu helfen und sie herzlich zu umarmen.

»Ich habe keinen Parkplatz gefunden, deshalb konnte ich dich nicht vom Bahnsteig abholen«, sagte sie, als sie losfuhren. »Gott sei Dank war der Zug pünktlich. Die Leute haben mir schon böse Blicke zugeworfen. Wie war die Fahrt?«

»Gut, danke.«

Louise wirkte etwas geistesabwesend, und Brigid musterte sie von der Seite. Seit drei Jahren machte Louise Urlaub in einem von Brigids Ferienhäusern, und die beiden Frauen hatten sich angefreundet. Brigid wusste, dass Martin Parry zweimal im Jahr mit drei alten Freunden vierzehn Tage zum Golfspielen fuhr und Louise diese Zeit in Devon verbrachte. Sie wanderte gern und war von der Flora und Fauna Südwestenglands begeistert. Brigid, deren Mann zur Besatzung eines U-Boots der britischen Marine gehörte, kannte das Alleinsein nur allzu gut. Sie wusste, dass Louise diese Zeit der Einsamkeit genoss. Brigid war in Dartmoor als einziges Kind eines irischen Archäologen aufgewachsen und hatte von ihrem Vater eine exzentrische Veranlagung geerbt, und so fand sie nichts Sonderbares dabei, wenn man das Bedürfnis hatte, stundenlang allein durch das öde, stille Moor zu wandern.

»Ich mache mir wirklich Sorgen um sie«, sagte Humphrey hin und wieder, wenn sein Urlaub mit Louises Ferien zusammenfiel. »Du bist hier aufgewachsen und kennst das Moor wie deine Westentasche, aber Louise ist ein Stadtmensch. Es kann gefährlich sein hier draußen.«

»Nur weil sie in London lebt, ist sie doch noch lange kein Stadtmensch«, erwiderte Brigid gelassen. »Sie weiß, was sie tut.«

Bei ihren ersten Besuchen hatte Brigid Louise »ihr« Moor gezeigt, ihr von den Tücken und Gefahren erzählt. Doch sie hatte rasch gemerkt, dass Louise nicht unerfahren war. Brigid freute sich auf Louises Besuche. Ab und zu aßen sie gemeinsam zu Abend, kauften zusammen in Ashburton ein, tranken Kaffee im Green Ginger oder fuhren nach Salcombe zum Tee zu Brigids Halbschwester Jemima Spencer. Doch keine drängte sich der anderen auf. Obwohl sie sich seit sieben Monaten nicht mehr gesehen hatten, unternahm Brigid keinen Versuch, Louise aus ihren Gedanken zu reißen.

Louise kämpfte gegen die Flut von Erinnerungen an, die beim Anblick der winkenden Mutter mit ihrem Kind draußen vor dem Zugfenster in ihr wach geworden waren. Sie war Brigid dankbar, dass sie nicht in sie drang, und freute sich, ihre Freundin wiederzusehen. Brigids schönes blondes, beinahe schulterlanges Haar war an diesem Tag mit einem ausgebleichten Baumwolltuch zusammengebunden. Ihre großen dunkelblauen Augen wurden von feinen Fältchen umrahmt. Das viel zu große Sweatshirt, das sie trug, gehörte wahrscheinlich Humphrey, und unter den Jeans zeichneten sich ihre knochigen Knie und ihre eleganten, langen Beine ab. Ihr Gesicht wirkte streng und kühl, man sah ihr nicht an, zu wie viel Herzlichkeit sie fähig war. Louise kannte diese Herzlichkeit – und noch vieles mehr. Sie wusste, wie stolz Brigid auf ihre beiden Söhne war und wie sehr sie sich über ihr neugeborenes Enkelkind freute. Als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten und in Richtung Dartington fuhren, entspannte sich Louise ein wenig.

»Wie geht’s euch so?«, fragte sie. »Was macht Humphrey? Deine Mutter? Blot?«

Brigid schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. »Frag lieber nicht. Humphrey ist für sechs Monate auf die Bahamas versetzt worden; er ist dort für die Logistik oder so etwas zuständig. Mummie ist zu dem Schluss gekommen, dass sie das Frühstadium von Alzheimer erreicht hat, und braucht ständig Aufmunterung, um nicht in Depressionen zu verfallen. Blot schmollt, weil Freunde für die Dauer ihres Urlaubs ihren Hund dagelassen haben. Er fühlt sich dadurch vernachlässigt. Ansonsten hat sich hier auf Foxhole nicht viel verändert. Ach ja, vielleicht sollte ich dich warnen. In Devon hat es in letzter Zeit zwei Morde gegeben.«

»Du meine Güte!«, sagte Louise erschrocken.

»Aber nicht in der Nähe von Foxhole oder dem Moor«, beeilte sich Brigid beruhigend hinzuzufügen. »Der zweite ist drüben an der Nordküste passiert, der erste bei Exeter. Beide Male waren die Opfer alleinstehende Frauen, und daher vermutet die Polizei, dass ein Zusammenhang besteht. Der zweite Mord liegt jedenfalls schon ein paar Wochen zurück und geschah sechzig Kilometer von hier entfernt.« Sie zögerte. Sie musste Louise warnen, wollte sie aber auch nicht unnötig ängstigen. »Devon ist ziemlich groß. Es wäre was anderes, wenn zwei Morde in Chiswick passiert wären.«

»Ja, ich verstehe. Trotzdem, schrecklich.« Louise versuchte ihre ängstliche Reaktion herunterzuspielen. »Keine Sorge, ich leide nicht an Verfolgungswahn!«

»Gut. Hast du schon was zu Mittag gegessen?«

»Ja. Ein Sandwich im Zug.« Sie blickte wieder aus dem Fenster und seufzte zufrieden. »Schön, wieder hier zu sein, Brigid. Das Land wirkt so frisch, strahlend und grün.«

»Das liegt daran, dass es seit drei Tagen regnet.« Brigid fuhr über die Brücke auf die A38 und nahm die Abzweigung nach Buckfast, die hinter der Abtei vorbeiführte. »Möchtest du in Holne ein paar Einkäufe erledigen, oder willst du damit lieber bis morgen warten? Heute Abend bist du selbstverständlich bei mir zum Essen eingeladen, wie immer. Ich habe auch ein paar Lebensmittel für dich eingekauft.«

»Ja, lieber morgen. Heute hab ich keinen Sinn dafür. Ich habe eine Flasche Wein zum Abendessen mitgebracht.«

Sie verstummte, als sie den Wald von Hembury erreichten und in einen von Licht und Schatten gesprenkelten Blättertunnel eintauchten. Leuchtende, dicke Mooskissen und zarte weiße Buschwindröschen wuchsen zwischen uralten Bäumen. Zwei Elstern stießen mit krächzendem Geschrei herab. Von ihrem Ast aufgescheucht, flatterte eine Ringeltaube in die Luft.

»Ist ja wunderbar.« Brigid fand Louises plötzliches Schweigen sympathisch. Auch wenn man hier seit achtundvierzig Jahren lebte, besaßen manche Orte eine Magie, die einem immer noch den Atem verschlug. »Je älter ich werde, desto lieber trinke ich mal ein Gläschen. Wenigstens das haben Mummie und ich gemeinsam. Allerdings ist sie noch schlimmer als ich. Ich bin mir ziemlich sicher, ihre Alzheimer-Symptome kommen schlicht und einfach daher, dass sie sich vor dem Schlafengehen ein Schlückchen zu viel genehmigt. Seit ihrem Schlaganfall dürfte sie eigentlich gar nichts mehr trinken.«

»Wie kommt sie denn an Alkohol ran?«, fragte Louise betont beiläufig. Sie wusste, dass das Verhältnis zwischen Brigid und ihrer Mutter schwierig war.

»Jemima«, antwortete Brigid knapp.

Als sie Holne hinter sich gelassen hatten und ins Moor hinausfuhren, fragte sich Louise, warum Brigid und ihre Mutter trotz aller Konflikte zusammenlebten. Frummie machte keinen Hehl daraus, dass sie das Landleben hasste. Ob wohl die Abgeschiedenheit von Foxhole der Grund dafür war, dass sie vor fast vierzig Jahren Brigids Vater verlassen hatte? Nun wohnte Frummie in einem der beiden Cottages, zu denen Brigid und Humphrey die Scheunen auf der anderen Seite des Hofes gegenüber dem hübschen alten Langhaus umgebaut hatten. Eigentlich konnte es nur finanzielle Gründe haben, dass Frummie erneut in Foxhole Zuflucht gesucht hatte. Und der leichte Schlaganfall machte den Umgang mit ihr nicht einfacher, obwohl sie relativ selbstständig leben konnte.

Louise fühlte sich solidarisch mit der unabhängigen Frau neben ihr, doch ihr fiel nichts ein, was sie hätte erwidern können. In der Hoffnung, dass Brigid ihr Schweigen richtig verstand, schaute sie wieder aus dem Fenster. Das Moor von Holne erstreckte sich in Richtung Westen, und sie richtete sich auf wie ein Kind, um den Venford-Stausee nicht zu verpassen: einen kleinen, verborgenen, glitzernden See, den Kiefern säumten. Erfreut nahm Louise die vertrauten und geliebten Orientierungspunkte in der Landschaft wahr: die Felstürme Bench Tor und Combestone Tor und dahinter in der Ferne die Hügel, die im nachmittäglichen Sonnenschein violett und indigoblau schimmerten. Dann überquerten sie auf der Saddle Bridge den O Brook, und Louise hielt bereits Ausschau nach dem alten, knorrigen Weißdorn an dem Weg nach Foxhole, dem massiven Refugium in den Hügeln über den reißenden Wassern des West Dart.

ZWEI

Brigid stellte den Wagen ab und trennte sich von Louise, die sich gleich ans Auspacken machte. Einen Augenblick verweilte sie noch in der warmen Maisonne, um den Schwalben zuzusehen. Sie nisteten jedes Jahr in der offenen Scheune, und Brigid freute sich jedes Mal, wenn sie auftauchten, auch wenn sie den Boden unter den Holzbalken verdreckten. Schon als Kind war sie von den jungen Schwalben fasziniert gewesen, die in ihren Nestern piepsten und flatterten und sich später verstört auf den Balken aneinander drängten, wo sie nach ersten ängstlichen Flugversuchen Schutz suchten. Wie schnell sie doch an Selbstsicherheit und Geschicklichkeit gewannen, bis sie schließlich Nest und Scheune verließen, sich sammelten und ihren Flug gen Süden antraten! Eines Morgens war dann der Himmel leer, und die Schwalben waren bis zum nächsten Frühjahr verschwunden. Als Brigid so in dem kopfsteingepflasterten Hof stand, erkannte sie, wie wichtig die Gewissheit dieses stillen Kreislaufes der Natur in der kleinen Welt ihrer Kindheit gewesen war. Das plötzliche Verschwinden ihrer Mutter hatte dieses Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit erschüttert. Danach war nichts mehr gewesen wie zuvor. Sie hatte ihren Vater geliebt, hatte mit ihm zusammen das Moor erkundet, Rundhäuser, Menhire, Siedlungen und stillgelegte Bergwerke besichtigt, aber es war ihre geistreiche, temperamentvolle Mutter gewesen, die stets dafür gesorgt hatte, dass das Leben nicht langweilig wurde. In ihrer Gesellschaft hatte sie immer eine atemlose Anspannung erfüllt, der Wunsch zu gefallen, alles richtig zu machen – Gefühle, die sich im Arbeitszimmer ihres Vaters mit den Papierstapeln und den überall verstreuten Büchern niemals eingestellt hatten.

»Mir macht es nichts aus«, hatte sie ihren wohlmeinenden Schulfreundinnen trotzig erklärt. »Ich bin lieber bei meinem Daddy.« Aber sie hatte begonnen, sich dem Interesse an ihrer Situation, den verlogenen Tröstungsversuchen der entsetzten, aber gleichwohl neugierigen Eltern zu entziehen. Eine Scheidung war damals noch etwas Außergewöhnliches gewesen, und sie hatte sich sehr allein gefühlt. Sie hatte sich einen Schutzpanzer der Gleichgültigkeit zugelegt, eine kühle, brüchige Selbstsicherheit, die, während sie heranwuchs, einen eigentümlichen Reiz gewann und ihre Altersgenossinnen durchaus beeindruckt hatte. Ihre Mutter hatte Geschenke geschickt, ungewöhnliche, sorgfältig ausgewählte Präsente, die die kleine Brigid, auf dem Bett sitzend, verstohlen auspackte. Sie hielt sie in der Hand, roch daran und versuchte etwas von der Eigenart ihrer Mutter zu erspüren. Sie hatte die Schriftzüge auf den Karten und Umschlägen studiert und sich vorgestellt, wie ihre Mutter den Stift gehalten, die Briefmarke befeuchtet und den Umschlag zugeklebt hatte. Als sie mit zwölf erfuhr, dass ihre Mutter ein Baby bekommen hatte, ein zweites Töchterchen, war es, als töte dieser Schock alle ihre Gefühle ab. Wie betäubt hatte sie den Worten ihres Vaters gelauscht.

»Sie heißt Jemima«, hatte er müde gesagt. »Tut mir Leid, mein Liebling, es ist meine Schuld. Ich hätte sie niemals hierher bringen dürfen. Das war verrückt. Vermutlich war es der Reiz des Neuen, was ihr an mir gefiel. Das war für sie eine Herausforderung…«

Sie hatte ihn beobachtet, während er sich einen Reim auf die ganze Geschichte zu machen versuchte, und dann war sie in die Küche gegangen, um für sich und ihren Vater Tee zu kochen.

»Jemima.« Allein in der großen, quadratischen Küche mit dem Steinboden, hatte sie den Namen laut ausgesprochen. »Puddle-duck, hässliches Entchen. Jemima Puddle-duck. Ein dickes, dummes Entchen mit riesigen Plattfüßen und kleinen Augen.«

Sie hatte angefangen zu lachen und ihrer Phantasie freien Lauf gelassen, um Jemima lächerlich zu machen. Sie keuchte vor Gehässigkeit, und allmählich schwand die Abgestumpftheit. Die Empfindung kehrte zurück, ein brennendes Gefühl, das sich in glühenden Hass verwandelte. Als sie später erfuhr, dass ihre Mutter auch ihren zweiten Mann verlassen hatte, wollte sie nur eines wissen.

»Hat sie Jemima mitgenommen?«

Die Antwort lautete ›ja‹. Dann war ihr also Puddle-duck, das widerwärtige, fette, lächerliche Entchen – ein Kind mit ungesunder blasser Haut, winzigen Augen und riesigen Plattfüßen –, zu wichtig gewesen, um es zurückzulassen. Geradezu zwanghaft nährte Brigid den Hass und die Verachtung für Mutter und Halbschwester, und als sie Englische Liebschaften las, hatte sie einen neuen Namen für ihre Mutter: Bolter, die Ausgebüchste.

»Ist von Bolter und Puddle-duck«, meinte sie geringschätzig und warf die Weihnachtskarte auf den Tisch. Später jedoch betrachtete sie neugierig das beiliegende Foto: das kleine blonde Kind mit dem rosigen Teint, den großen Augen, den Füßchen mit den gekrümmten Zehen und die Frau mit dem kühlen, amüsierten Blick, die das Baby auf den Knien hielt. Brigid legte das Foto mit der Vorderseite nach unten ab und betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte das Gesicht ihres Vaters: knochig, gebieterisch, interessant – aber nicht hübsch. Doch Brigids Lächeln blieb jedem unvergesslich, der es einmal gesehen hatte. Die Herzlichkeit, die so unerwartet aufblühte, überraschte jedermann. Brigid aber hatte für ihr Spiegelbild kein Lächeln übrig. Sie starrte sich forschend an und wandte sich mit einem schmerzlichen Gefühl ab, das ihr die Kehle zuschnürte.

Humphrey hatte sie die Kränkung durch ihre Mutter ein Stück weit vergessen lassen und ihr ein gewisses Selbstwertgefühl zurückgegeben. Er hatte sich erfreulicherweise in sie verliebt, vergötterte sie und linderte ihren Schmerz. Die beiden Söhne hatten ihr ein tiefes Glück geschenkt und waren in den langen, öden Monaten, in denen Humphrey zur See fuhr, Beistand und Trost gewesen. Humphrey und ihr Vater hatten sich glänzend verstanden, und als der alte Mann starb, hatte er ihr seinen gesamten Besitz vermacht, einschließlich Foxhole.

»Und für mich nichts?«, hatte ihre Mutter mit ihrem typischen ironischen Lächeln gefragt, die Mundwinkel nach unten gezogen. Sie war zur Beerdigung erschienen, obwohl sie nicht eingeladen war: In tadellosem Schwarz saß sie mit Jemima ganz hinten in der Kirche von Holne. Brigid hatte sich verpflichtet gefühlt, die beiden mit den anderen Trauergästen nach Foxhole einzuladen. »Absolut gar nichts?«

Sie hatte sich umgesehen, als belustige sie die Versammlung, aber die vierzehnjährige Jemima hatte ihre Halbschwester angelächelt.

»Hallo«, sagte sie. »Wir sind Schwestern. Ist das nicht komisch? Ich wollte dich schon immer kennen lernen.«

»Ach ja?« Voll Trauer um ihren Vater, entsetzt über das unerwartete Auftauchen ihrer Mutter und beschäftigt mit den Freunden ihres Vaters, hatte Brigid nicht mehr als diese matte Antwort herausgebracht. Jemimas dickes blondes Haar lugte unter ihrer schwarzen Baskenmütze hervor; sie hatte rosa Wangen und große, strahlende blau-grüne Augen. Sie war ein wenig rundlich, aber alles andere als ein hässliches Entchen.

Brigid kämpfte mit einem Gefühl der Übelkeit. »Ich habe dich immer ›Puddle-duck‹ genannt.«

Diese boshafte Bemerkung weckte bei Jemima keinerlei Rachegelüste. Sie musste vielmehr unbändig lachen – ein angenehmes Geräusch in diesem düsteren Raum, ein spontanes Glucksen, das den bedrückten Gesichtern ein unfreiwilliges Lächeln entlockte.

»Tatsächlich? Ach, wie lustig! Tja, Frummie sagt immer, dass ich einen Watschelgang habe…«

»Frummie?«, wiederholte Brigid scharf.

»Ja. Also, es ist so: Daddy nannte sie Freda, ich nannte sie Mummie, und daraus wurde schließlich Frummie.«

Brigid hatte ihre Mutter angestarrt, die sich soeben mit leeren Händen von dem Tisch mit Sandwiches und Snacks abgewandt hatte. Frummie? Diese erwachsene Frau? War das die Möglichkeit?

»Ich habe Brigid gerade erzählt, dass dich alle Frummie nennen.« Jemima wünschte sich, ihre Familie glücklich vereint zu sehen. »Sie hat es nicht gewusst.«

Die Mutter ließ sich von dem ungläubigen, spöttischen Blick ihrer älteren Tochter nicht aus der Ruhe bringen. »Nicht alle, Liebling«, hatte sie erwidert. »Brigid nicht. Sie nimmt alles so genau wie ihr Vater. Sie mag keine Spitznamen. Sie findet das albern.«

»Aber nein!« Jemima wollte sich mit ihrer Schwester, die sie soeben kennen gelernt hatte, verbünden. »Sie hat mich Puddle-duck genannt. Das hat sie mir selbst erzählt.«

»Tatsächlich?«

Diese amüsierte Frage verriet, dass ihre Mutter mit geradezu unheimlichem Gespür den wahren Grund für die Wahl dieses Spitznamens erraten hatte. Brigid errötete bis zu den Haarwurzeln. Die Mutter brach in ein unbarmherziges Gelächter aus.

»Und wie findest du mein hässliches Entchen, meine liebe Brigid?«

Zufrieden mit ihrer Schlagfertigkeit, drehte sie sich um, auf der Suche nach einem Drink. Jemima zuckte verdutzt die Achseln und lächelte beflissen, und Brigid durchströmten zum ersten Mal diese schmerzlich verwirrenden Gefühle, die von nun an ihre Beziehung zu der Halbschwester prägen sollten.

Jetzt, zweiundzwanzig Jahre später, als sie in dem sonnigen Hof stand, wusste Brigid, dass sich daran kaum etwas verändert hatte. Unzufrieden ging sie ins Haus.

Louise ließ ihren Koffer am Fuß der Treppe stehen und sah sich erleichtert um. Merkwürdig, die Rückkehr an diesen Ort war wie eine Heimkehr. Seit Frummie hierher gezogen war, musste Louise das größere Cottage mieten, was jedoch durchaus Vorteile besaß. Brigid hatte beim Umbau der Scheune klugerweise auf die typische Raumaufteilung eines ländlichen Ferienhauses verzichtet und eine große Wohnküche zum zentralen Raum gemacht. Besonders für Familien war dieser gemütliche, helle Raum der ideale Ort, wo man gemeinsam essen, sich erholen und Pläne schmieden konnte. Neben dem kleinen Wohnzimmer mit einem Holzofen und dem obligatorischen Fernseher – »ohne Fernseher kann heute kein Mensch mehr leben«, hatte Brigid gemeint, »nicht einmal im Urlaub« – befand sich im Erdgeschoss noch eine Abstellkammer mit Dusche. Oben gab es zwei Schlafräume und ein Bad. Das größere der beiden war mit einem Doppelbett, einem Einbauschrank und einer Kommode ausgestattet. In dem anderen Zimmer standen zwei Etagenbetten und ein Schrank, sodass insgesamt sechs Personen in dem Cottage übernachten konnten. Aber Louise hielt die Tür des zweiten Schlafzimmers stets geschlossen – das war ja kein Familienurlaub – und genoss die Einsamkeit.

Doch an diesem Nachmittag fühlte sie sich unbehaglich. Ohne sich das einzugestehen, vollzog sie die vertrauten Rituale, mit denen jeder Aufenthalt in Foxhole begann. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie dem Cottage ihren Stempel aufdrücken musste, damit es für diese kurze Zeit ihr »Zuhause« werden konnte. Sie füllte den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd, und während das Wasser heiß wurde, packte sie eine kleine Tasche aus. Ein paar Bücher und ein Fernglas legte sie auf die Fensterbank und einen Paschmina-Schal auf den Sessel neben dem Fenster, ihre Lieblingstasse stellte sie neben den Wasserkessel, ein hübsches Notizheft, ein paar Stifte und ein kleiner Malkasten kamen auf den quadratischen Kiefernholztisch. Diese wenigen persönlichen Dinge verbreiteten eine wohnliche Atmosphäre und erfüllten den Raum mit Leben. Louise öffnete das Fenster, das aufs Moor hinausging, und atmete tief durch. Das ferne Murmeln des Flusses, der fröhliche Gesang einer aufsteigenden Lerche drangen zu ihr herein… Einen Moment lang tauchte das Bild der winkenden und lachenden Frau mit dem Kind vor ihr auf, und Louise wandte sich abrupt ab.

Sie schleppte den schweren Koffer die Treppe hinauf, trug ihn in das große Schlafzimmer und legte ihn auf das Bett. Dann ließ sie das Schloss aufschnappen und nahm die Kleidungsstücke, den Toilettenbeutel und ihre Hausschuhe heraus. Bald sah das Schlafzimmer genauso bewohnt aus wie die Küche, und nachdem Louise den leeren Koffer in den Schrank gestellt und ihren Morgenmantel an einen Haken hinter der Tür gehängt hatte, trat sie auf den schmalen Treppenabsatz hinaus. Diesmal jedoch schloss sie die Tür des anderen Schlafzimmers nicht mechanisch, sondern verharrte einen Augenblick mit seitwärts geneigtem Kopf, als lausche sie gedämpftem Gemurmel, Gesprächsfetzen, die aus diesem Zimmer drangen: – Ob Daddy wohl mein neues Bett gefallen wird, Mummy? – Bestimmt, aber du sollst nicht immer wieder aufstehen und runterkommen. – Nur Babys haben kleine Betten, stimmt’s? – Ja, aber große Mädchen bleiben bis zum nächsten Morgen in ihrem Bett liegen. – Auch wenn sie nicht schlafen können? – Große Mädchen geben sich Mühe einzuschlafen. – Vielleicht könnte ich einschlafen, wenn wir noch eine Geschichte lesen. – Also gut. Aber nur noch eine…

Louise machte ein bedrücktes Gesicht, schloss energisch die Tür und begab sich nach unten, um den Tee aufzugießen.

»Hallooo? Darf ich reinkommen?« Frummies melodiöses Rufen wurde begleitet von einem vernehmlichen Klopfen an der offenen Haustür, und Brigid seufzte. Frummies übertrieben rücksichtsvolle Art weckte bei ihr ein schlechtes Gewissen, aber sie wusste, dass sie es ebenso wenig ertragen würde, wenn sich ihre Mutter bei ihr »wie zu Hause« fühlen würde. Frummie ließ sie deutlich spüren, dass dieses Bedürfnis nach Privatsphäre ein Zeichen von Schwäche sei und dass andere, weniger neurotische Menschen glücklich wären, wenn ihre Angehörigen bei ihnen ein- und ausgingen. Die unterschwellige Botschaft, dass Jemima ganz anders sei – nämlich großzügig und gastfreundlich –, vermittelte Brigid ein Gefühl der Unzulänglichkeit. Einmal hatte sie Frummie angefahren und sie gefragt, warum sie dann bei ihr und nicht bei Jemima wohnte. »Brigid, Herzchen«, hatte Frummie gemurmelt. »Sei doch nicht gleich… eingeschnappt. Du bist zur Zeit derart gereizt.«

Sie hatte sich einen Löffel Zucker aus der Schale genommen und dabei ein wenig verschüttet. Beim Anblick ihrer runzeligen, mit Leberflecken übersäten Hände und ihres abgewandten Gesichts hatte Brigid Mitleid und Reue empfunden.

»Komm rein«, rief sie jetzt und bückte sich, um den schwarzen Spaniel zu begrüßen, der vor Frummie in die Küche lief. Er hatte am Morgen gebrochen, und deshalb hatte sie ihn nicht mit nach Totnes genommen, aus Angst, er könne Louises Gepäck ruinieren. »Na, du«, murmelte sie und tätschelte das aufgeregte Tier. »Warst du auch schön brav?«

»Ich habe mir eingebildet, ich hätte den Wagen gehört.« Frummie verfolgte die Begrüßung von der Tür. »Er war brav. Hat ein bisschen gewinselt, aber das war alles.«

»Alles nur wegen dem armen Oscar. Er hat sich regelrecht hineingesteigert. Gott sei Dank kommen Thea und George morgen zurück. Ich wusste gar nicht, dass Blot derart eifersüchtig sein kann. Ich trinke gerade Tee, Mummie. Möchtest du auch eine Tasse?«

»Mach dir meinetwegen keine Umstände. Ich hab grade welchen getrunken.« Frummie setzte sich an den Tisch. Auf den ersten Blick mochte die magere und zartgliedrige Frau zerbrechlich wirken, aber das Blitzen in ihren Augen kündete davon, dass in dem schwachen Körper ein unbezwingbarer Geist steckte. »Dann ist Louise also da. Wie geht es ihr?«

»Wie immer.« Während sich Brigid Tee einschenkte, überlegte sie, ob das die richtige Antwort war. Louise war keineswegs wie immer, obwohl Brigid nicht hätte sagen können, woran das lag. »Sie kommt zum Abendessen rüber.«

»Ich habe mich gerade gefragt…« Frummie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »…ob es eventuell für drei reicht?«

»Für drei?« Brigid warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Wieso…? Ich dachte, Jemima geht mit dir essen.«

»Ihr ist was dazwischengekommen«, sagte Frummie und zuckte betont gleichgültig die Schultern. »Jemand, den sie von früher kennt, macht Ferien in Salcombe. Reist morgen wieder ab. Kommt mir wirklich sehr ungelegen. Ich hab nicht viel im Haus, weil ich erst morgen einkaufen gehe.«

»Jemand, den sie von früher kennt?« Brigid verhehlte ihre Zweifel nicht. »So plötzlich? Ich wette, es ist ein Mann.«

»Vermutlich. Aber spielt das eine Rolle? Ich will dir natürlich nicht zur Last fallen. Wenn du ein paar Eier übrig hast, mache ich mir ein Omelett.«

»Sei doch nicht albern!« Brigid klang verärgert. Wie gewöhnlich war sie zwischen Schuldgefühlen und dem Bedürfnis nach Selbstschutz hin und her gerissen. Sie hatte sich so auf das Abendessen mit Louise gefreut. Zwischen ihnen herrschte immer so eine zwanglose Atmosphäre, die sich in Frummies Gegenwart bestimmt nicht einstellen würde. Brigid wollte Louise von ihrem Enkelchen Josh erzählen, die neuesten Fotos zeigen und davon schwärmen, wie hübsch der Kleine war – gewissermaßen zum Trost dafür, dass die kleine Familie im fernen Genf lebte. Unter dem spöttischen Blick ihrer Mutter würde der Abend völlig anders verlaufen, doch ihr blieb nichts anderes übrig, als so sanftmütig wie nur möglich nachzugeben. »Es ist genug da für drei. Aber ich finde, dass Jemima es sich allzu leicht macht.«

»Unsinn. Sie ist jung, das ist alles. Sie hat ihr eigenes Leben.«

Ich auch, dachte Brigid, aber darüber scheinst du dir nicht groß Gedanken zu machen.

»Nun gut.« Jetzt, da Frummie ihr Anliegen vorgetragen und ihr Ziel erreicht hatte, wandte sie sich zum Gehen. »Dann komme ich so gegen acht, oder? Das ist reizend von dir, Herzchen.«

Sie tätschelte Blot, der schwanzwedelnd bis zur Haustür hinter ihr hertapste, dann in die Küche zurückkehrte, überall herumschnupperte und schließlich erwartungsvoll an der Tür zum Wintergarten stehen blieb.

»Ja, da draußen ist er«, sagte Brigid, »und genießt die Ruhe und den Frieden. Verdammt noch mal! Also gut, komm mit! Wir machen zu dritt einen kurzen Spaziergang. Dann werden wir wenigstens unseren Frust los.«

Sie stellte ihre Tasse ab und trat in den Wintergarten. Ein großer Neufundländer, der schlafend dagelegen hatte, erhob sich ängstlich, als Blot herausstürmte.

»Los geht’s!«, rief Brigid, während sie in ihre Gummistiefel schlüpfte und einen Mantel anzog. »Los, hab ich gesagt. Komm, Oscar. Wenn wir laufen, lässt er dich in Ruhe. Glaub mir.«

Sie öffnete die Tür nach draußen und wartete, bis Oscar sich schwerfällig in Bewegung gesetzt hatte und hinaus in die Sonne getrottet war. Dann lief sie hinunter zum Fluss, und die Hunde folgten ihr auf den Fersen.

DREI

Louise kam über den Hof, die versprochene Flasche Wein in der Hand. Das lange, niedrige Haus mit dem alten reetgedeckten Dach hatte etwas Märchenhaftes. Dazu trugen auch die weißen Tauben bei, die in ihrem Schlag gurrten. Vor dem Wintergarten, der an die Küche angrenzte, lag ein großer schwarzer Hund ausgestreckt und schlief. Das musste der Gast sein, den Blot, der Spaniel, nicht leiden konnte. Weit und breit war keine Spur von ihm zu sehen. Louise klopfte an die silbrig schimmernde Eichentür und trat ins Haus. In dem kleinen Flur blieb sie stehen. Sie konnte nicht widerstehen, einen Blick in die Räume zu werfen, die sich nach alter Cottage-Tradition hintereinander auftaten. Die beiden Räume gingen nach Osten aufs Moor hinaus und nach Westen zum Hof; die Fußböden bestanden aus Schieferplatten, die rauen Granitwände waren weiß getüncht. Die Holzöfen an den Innenwänden teilten sich einen Kamin. Der hintere Raum war das Wohnzimmer. Von hier aus führte eine Holztreppe ins Obergeschoss und eine Tür zu den einstöckigen Stallungen auf der anderen Seite des Hofes, in dem früher die Kinderzimmer untergebracht waren. Jetzt wurden das große Spielzimmer und die zwei Schlafräume mit dem Bad von den Familien der beiden Söhne bewohnt, wenn sie zu Besuch kamen. Die andere Hälfte der Scheune wurde als Garage genutzt. Seinerzeit waren Brigid und Humphrey froh gewesen über den zusätzlichen Platz.

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