Der verbrannte Koffer - Eva Züchner - E-Book

Der verbrannte Koffer E-Book

Eva Züchner

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Beschreibung

Bei der Recherche über einen Berliner Mordfall aus dem Jahr 1938 stößt Eva Züchner hinter der Kriminalstory auf eine ganz andere Geschichte. Denn einer der Verdächtigen war Jude. Als sie beginnt, dessen weitere Stationen zu rekonstruieren, trifft die Autorin auf eine Handvoll Menschen, über deren Lebenswege sich ein beeindruckendes Panorama dieser Zeit erschließt. Wie in einem Brennglas bündeln sich in diesen Biographien nicht nur die nationalsozialistischen Maßnahmen zur Aushöhlung und Zerschlagung menschlicher Existenzen, sondern auch der Widerstand dagegen und der Wille zu überleben. Präzise recherchiert, knapp und auf kleinem Raum erzählt, ist Der verbrannte Koffer eine mitreißende Lektüre - ein kleiner, beinah zufälliger Ausschnitt deutscher Geschichte, der uns aber umso tiefer in deren Abgrund blicken lässt.

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ISBN 978-3-8270-7551-2 © Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2012 Covergestaltung: Nina Rothfos & Patrick Gabler, Hamburg Covermotiv: Eine Fotografie der Entschädigungsbehörde Berlin Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

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Inhaltsverzeichnis

COVER & IMPRESSUM

PROLOG

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

EPILOG

DANK

QUELLEN UND LITERATUR

BILDNACHWEIS

PERSONENREGISTER

Guide

PROLOG

Die Geschichte beginnt im September 1938 mit einem Mord, der Schlagzeilen macht. Das Mordopfer ist ein blondes Mannequin namens Tilly A., der Tatort liegt im mondänen Berliner Westen am oberen Kurfürstendamm. Die Kriminalpolizei vernimmt in fünf Tagen dreißig Zeugen und Verdächtige. Alle Befragten heben Tillys Schönheit hervor, ihre elegante Kleidung, ihren kostbaren Schmuck. Ein charmantes Glamourgirl soll sie gewesen sein, immer dort zu finden, wo etwas los ist: auf der Sommerolympiade, auf dem Filmball, in den Kinos, Cafés und Tanzbars rund um den Kurfürstendamm. Ein Friseur und eine beste Freundin sind der Kripo behilflich, Tillys Liebhaber zu identifizieren – darunter zwei Attachés der lettischen Gesandtschaft und ein adliger Fliegeroffizier, ein Fabrikant und ein Hauptmann der Schutzpolizei, ein Sportlehrer oder Autoverkäufer oder Gigolo aus der Schweiz. Am sechsten Tag wird das Verbrechen aufgeklärt. Der Mörder, ein kleiner Angestellter der Likörfabrik Mampe, ist der jüngste und attraktivste Liebhaber des Mannequins gewesen. Nachdem er Tilly in der Nacht zum 17. September erwürgt hat, setzt er ihr Schlafzimmer in Brand und flüchtet mit Schmuck und Pelzen. Er ersticht sich, Minuten vor seiner Verhaftung, in Mampes Herrentoilette mit einem Kampfmesser.

Diese Mordakte, die ich im Landesarchiv Berlin gefunden habe, wäre, so dachte ich anfangs, der ideale Stoff für einen spannenden Berlin-Krimi mit Dreißiger-Jahre-Touch. Die Tatsache, dass einer der verdächtigen Liebhaber Jude gewesen ist, hätte auf den düsteren Hintergrund des schillernden Zeitkolorits verwiesen. Dieser Verdächtige aber, ein unauffälliger Mann mit unauffälligem Namen und unauffälligem Beruf, hat meinen Blickwinkel radikal verändert – mit dem Ergebnis, dass der Mordfall an den Anfang einer ganz anderen Geschichte gerückt ist. Deren Erforschung glich dem Öffnen einer Falltür. Nach und nach wurde sichtbar, wie sich in einem einzelnen Leben und seinem allernächsten Umfeld die Maßnahmen zur Aushöhlung und Zerschlagung menschlicher Existenzen wie in einem Brennglas gebündelt haben. Nun zeigten sich auch in der Mordakte selbst reale und zeichenhafte Verweise auf das Zeitgeschehen hinter der grellen Kriminalstory.

Tilly A. hört am 16. September 1938, dem Abend vor ihrem gewaltsamen Tod, in ihrem Volksempfänger die 22-Uhr-Nachrichten des Reichssenders Berlin. Hauptthemen sind »der tschechische Terror« gegen Sudetendeutsche und Slowaken, die sudetendeutschen Flüchtlingsströme ins Reich, die Erklärung von Premierminister Chamberlain über sein freundschaftliches Treffen mit Hitler auf dem Obersalzberg. Es ist das Vorspiel zum Münchener Abkommen, das zwei Wochen später die Brücke zu Hitlers Angriffs- und Vernichtungspolitik bauen wird.

Obduktionsfotos zeigen die durch den Brand bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leiche des erwürgten Mannequins. Allein die sorgfältig gefeilten und lackierten Fingernägel erinnern noch an die schöne Tilly A. Ihre Haut ist schwarz verkohlt, die gebleckten Zähne im aufgerissenen Mund und die zu Krallen verformten Hände sind die eines rasenden Tiers im Todeskampf.

Ein sechseitiges Gutachten von Kriminalkommissar Theo Saevecke belegt mit hoher Detailgenauigkeit und Sachkompetenz, dass der Brand im Schlafzimmer von Tilly A. vorsätzlich gelegt worden ist. Mit siebenundzwanzig Jahren ist Saevecke in der Mordkommission bereits zum Leiter des Brand- und Katastrophendezernats aufgestiegen. Seine eigentliche Karriere beginnt ein Jahr später mit dem Überfall auf Polen, wo er einem der Exekutionskommandos angehört. In Libyen und Tunesien wird er die Einsätze jüdischer Zwangsarbeiter organisieren, als Gestapo-Chef in Mailand die Erschießung italienischer Zivilisten und die Deportation von über siebenhundert Juden in die Vernichtungslager befehlen.

Vor dem Brand hat unter dem Bett von Tilly A. ein Koffer gestanden. Saevecke schreibt in seinem Gutachten: »Der Koffer wurde zwischen dem Brandschutt auf der Straße gefunden. Unversehrt war nur der Boden mit den Scharnieren. Der Inhalt des Koffers ist unbekannt.«

Mit diesen drei Sätzen hat der Gutachter und angehende Kriegsverbrecher nichtsahnend ein Menetekel skizziert, aus dem sich der Titel des Buches herleitet, denn Der verbrannte Koffer steht als Chiffre für eine unheilvolle Assoziationskette. Die kaum zu identifizierenden Überreste von Tillys Koffer und dessen unbekannter Inhalt gleichen dem Urzustand der Geschichte, die hier erzählt werden soll. Um sie zu rekonstruieren, galt es, versprengte und oft bis zur Unkenntlichkeit zersplitterte Fundstücke in den Archiven auszugraben, zu deuten und neu zusammenzusetzen. Als unsichtbares Emblem begleitet der verbrannte Koffer eine Handvoll Menschen in einen ungesicherten Alltag, auf ihren Wegen ins Exil, in den Untergrund, in Gefängniszellen, in die Konzentrations- und Vernichtungslager. So umschreibt der Titel dieser deutschen Geschichte den Versuch, das Faktenskelett noch erhaltener Dokumente zu einer Erzählung zu verdichten, deren Grundmotiv die allmähliche bis rasende Zerstörung menschlichen Lebens ist.

ERSTES KAPITEL

Der Verdächtige

Am 20. September 1938 wird Walter Caro verhaftet. In der Nacht vom 16. auf den 17. September soll er seine Geliebte, das Mannequin Mathilde Albrecht, genannt Tilly, ermordet haben. Erwürgt habe er sie und anschließend ihr Schlafzimmer in Brand gesetzt, um das Verbrechen wie einen Unfall aussehen zu lassen. Die Aussage von Tillys Friseur ist ihm zum Verhängnis geworden. Caro sei sehr eifersüchtig gewesen, geradezu brutal und durchaus imstande, Tilly ein Leid anzutun, ja, sie zu erwürgen. Vor Caro habe sie wirklich Angst gehabt. Caro sei Jude, und er, der Friseur, glaube nicht an einen Unglücksfall. Eigentlich sei Caro schon seit 1933 nicht mehr ihr fester Freund gewesen. Vielleicht aber doch. Vor einem halben Jahr, Anfang März, habe sich Tilly auf dem Weg zum Filmball noch frisieren lassen. Da ihr Abendkleid im Rücken tief ausgeschnitten gewesen sei, habe er, der Friseur, auf ihrem rechten Schulterblatt einen blauen Fleck entdeckt und ihn weggepudert. Den habe ihr ein Mann beigebracht, so Tilly damals, auf den sie sehr wütend sei. Nein, einen Namen habe sie nicht genannt. Er habe sowieso des Öfteren blaue Flecken an Tillys Armen und Schultern bemerkt.

Der Verdacht gegen Caro erhärtet sich dramatisch durch die Aussage von Tillys Freundin. Mit dem Juden sei Tilly, trotz ihrer zahlreichen Liebhaber, besonders eng verbunden gewesen. Sie habe ihn sogar heiraten wollen, aber die Nürnberger Gesetze hätten ihr das unmöglich gemacht. Daher habe sie Englisch gelernt, um mit ihm nach England überzusiedeln. Also wird Walter Caro unter dem doppelten Verdacht, ein Mörder und ein Rassenschänder zu sein, in Untersuchungshaft genommen.

Das Vernehmungsprotokoll der »Mordkommission Albrecht« vom 20. September hält fest, dass Walter Caro, geboren am 23. Mai 1899 in Berlin und mosaischen Glaubens, tatsächlich einen gültigen Auslandspass für England besitzt. Der Neununddreißigjährige ist stellvertretender Geschäftsführer in der Fabrikations- und Exportfirma für Damenkonfektion Siegfried Heumann. Der Untersuchungshäftling sagt aus, dass er Frau A. vor zehn Jahren kennengelernt habe, als sie als Vorführdame in der Firma Heumann angestellt worden sei. Einige Jahre lang, aber nur bis 1933, habe er sie, damals noch als Vertreter, auf mehrwöchigen beruflichen Reisetouren begleitet. Niemals habe er zur A. ein Liebesverhältnis unterhalten. Zuletzt getroffen habe er die A. zwei Tage vor ihrem Tod im Café Zuntz in der Leipziger Straße, um ihre nächste Reise nach Ostpreußen und Schlesien zu besprechen. Diese Reise sollte die A. zusammen mit seinem Bruder Werner unternehmen, der seit drei Jahren als Vertreter ebenfalls bei Heumann arbeite. In etwa zehn Städten sollten die beiden die neuesten Modelle vorführen und Kommissionsverträge mit den Modehäusern abschließen. Am Vormittag des 16. September habe die A. ihn im Büro angerufen, um letzte Details dieser mehrwöchigen Reise zu klären. Seit diesem Freitag habe er nichts mehr von ihr gehört. Am Abend sei er um 20 Uhr nach Geschäftsschluss mit einem Taxi nach Hause gefahren. Er habe sich nicht wohlgefühlt und deshalb ein heißes Bad genommen und sich ins Bett gelegt. Zeugen dafür seien seine Mutter, sein Bruder Werner und zwei Besucher, Salomon Bernstein und dessen Frau Erna. Nein, er habe das Haus bis zum nächsten Morgen nicht mehr verlassen. Am Sonnabend sei er von 9 bis 14 Uhr im Büro gewesen und habe dort in der Zeitung gelesen, dass die A. in der Nacht zuvor ums Leben gekommen sei. Zu Hause habe er sich wieder ins Bett gelegt und den Arzt Abramsohn zu sich gebeten. »Auf Befragen« teilt der Verdächtige mit, dass er vor etwa sieben Jahren, er könne sich nur vage erinnern, ab und zu nach Geschäftsschluss bei der A. zu Hause gewesen sei, aber immer nur beruflich wegen der gemeinsamen Reisetätigkeit.

Tilly Albrecht, um 1936

Walter Caro stammt aus einer alteingesessenen Berliner Kaufmannsfamilie, die seit Jahrzehnten in der Schönhauser Allee 62 im Bezirk Prenzlauer Berg wohnt – Vater Julius, Taxator und Auktionator bei der Berliner Polizei, seine Frau Else und die drei Söhne Kurt, Walter und Werner. Alle fünf gehören der Jüdischen Gemeinde an. Der Vater ist schon 1915 gestorben; seine Familie hat ihn auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee beerdigt. Da war Mutter Else fünfzig, Kurt zwanzig, Walter sechzehn und Werner dreizehn Jahre alt. 1926 heiratet Kurt und zieht mit seiner jungen Frau Frida in eine eigene Wohnung. Frida ist keine Jüdin, und vielleicht hat es Mutter Else nicht gern gesehen, dass ihr Ältester eine »Schickse« heiratet. Walters Tilly mochte sie jedenfalls gar nicht. »Sie war böse zu mir«, hat Tilly ihrer Freundin erzählt. Auch Kurts politische Aktivitäten mögen der Mutter nicht geheuer gewesen sein. Ende 1931 tritt er der Eisernen Front bei, einem Zusammenschluss der SPD, des Reichsbanners und der Gewerkschaften, gedacht als Gegengewicht zur rechtsradikalen Harzburger Front. Kurts Mitgliedschaft währt nicht lange, denn Anfang Mai 1933 wird die Eiserne Front verboten.

Seitdem im September 1935 auf dem »Reichsparteitag der Freiheit« in Nürnberg die »Judengesetzgebung« beschlossen wurde, gelten die Caros als »Volljuden«, denn sie alle, auch die Mutter und der tote Vater, haben je vier jüdische Großeltern. Ab sofort gehören sie qua Gesetz einer als minderwertig deklarierten »jüdischen Rasse« an, sind keine gleichberechtigten deutschen Reichsbürger mehr, sondern Staatsangehörige zweiter Klasse, ohne Stimmrecht. Die Heirat und jeder sexuelle Verkehr mit »Deutschblütigen« ist ihnen unter Strafe verboten. Die dumpfe Animosität überzeugter Volksgenossen gegen die jüdischen »Blutsauger« hat nun ganz offiziell den Rückhalt »von oben«. Und der ihnen biologistisch attestierte »Blutadel« legitimiert den verächtlichen Blick »nach unten«. Über den »Nürnberger Gesetzen« flattert die Hakenkreuzfahne, die auf demselben Parteitag zur alleinigen Reichs- und Nationalflagge erklärt worden ist.

Am bisherigen Alltag der Caros ändert sich scheinbar erst einmal nichts. Alle drei Brüder verdienen ihr Geld in der Textilbranche, und keiner verliert seinen Arbeitsplatz. Walter hat es am weitesten gebracht. Während Kurt und Werner 1938 immer noch für ein Monatsgehalt von 750 Reichsmark plus Provision als Reisevertreter arbeiten, hat er sich bei der Firma Heumann in zehn Jahren zum Einzelprokuristen hochgearbeitet und ist – noch – ein mächtiger Mann mit einem hohen Maß an Verantwortung für das Wohl der Firma und der über hundert Mitarbeiter. Walter verdient beachtliche 1500 Reichsmark im Monat und trägt, laut Mordakte, teure Maßanzüge. Er und Werner sind nicht verheiratet und leben in der mütterlichen Wohnung.

Leiter der »Mordkommission Albrecht« ist Kriminalkommissar Werner Togotzes. Während er und ein zweiter Kommissar Walter Caro in die Zange nehmen, schwärmen einige Kriminaloberassistenten aus, um dessen Aussagen zu überprüfen. Zwei von ihnen durchsuchen unangekündigt wegen »Gefahr im Verzuge« die Wohnung in der Schönhauser Allee und versetzen die Anwesenden in Angst und Schrecken. Es sind dies Else Caro, inzwischen dreiundsiebzig Jahre alt, und das Hausmädchen Ruth Reinstein. Man stelle sich Elses Entsetzen vor, als ihr die beiden Polizisten mitteilen, ihr Sohn sei wegen Mordes in Haft. Die Beamten finden nichts Belastendes, ziehen unverrichteter Dinge ab und hinterlassen vermutlich eine Spur der Verwüstung.

Ein weiterer Kriminaloberassistent begibt sich zur Firma Heumann ins Hausvogteiviertel, zur Adresse Jerusalemer Straße 29. Leider ist der Firmeninhaber, Siegfried Heumann, nicht anwesend, so dass der Beamte mit der Buchhalterin vorlieb nehmen muss, die aber schon seit dreiundzwanzig Jahren dort arbeitet und einen »äußerst vertrauenerweckenden Eindruck« macht. Sie bestätigt, dass Walter Caro am Sonnabend, dem 17. September, in der Firma gewesen sei. Er habe sie in sein Büro gerufen und ihr den Zeitungsartikel über den Tod der A. vorgelesen. Er und sein ebenfalls anwesender Bruder Werner hätten »einen äusserst deprimierten Eindruck gemacht und gleichzeitig den Tod der A. sehr bedauert«. Ja, Herr Caro habe sich schon am Freitag »unpässlich« gefühlt und sei am Abend mit dem Taxi nach Hause gefahren. Von einem eventuellen Verhältnis zwischen der A. und Walter Caro habe sie ebenso wie die anderen Angestellten nie etwas bemerkt. Der Kriminaloberassistent wird Zeuge eines Anrufs von Werner Caro aus Königsberg, der am Tag zuvor mit einer anderen Vorführdame die Reise nach Ostpreußen angetreten hat. Er habe schon mehrmals angerufen und wolle absolut nicht verstehen, dass sein Bruder »in der Zwischenzeit vorläufig festgenommen« sei. Werner Caro werde seine Reise abbrechen und am nächsten Tag nach Berlin zurückkehren. Der Beamte weist ihn an, »sich umgehend bei der Mordkommission zu melden«.

Die Vernehmung Werner Caros am 21. September durch Kommissar Togotzes wirkt sich für seinen Bruder verheerend aus. Walter habe im Juli 1935, vielleicht aber auch erst im Winter 1935/36, die letzten beiden Reisetouren mit der A. durchgeführt. Und: »Es war mir bekannt, dass mein Bruder der A. sehr zugetan war.« Was hat Werner zu dieser Aussage getrieben, die seinen Bruder zusätzlich belastet? Er kennt doch, wie jeder andere auch, die »Nürnberger Gesetze«, er weiß, dass »Rassenschande« seit Januar 1936 mit Gefängnis oder Zuchthaus bestraft wird. Aber Werner steht unter Schock. Sein eigener Bruder ein Mörder? Diese Vorstellung muss für ihn wohl so unfassbar sein, dass die »Rassenschande« dahinter verblasst. Er ist direkt vom Bahnhof zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz gehetzt und sitzt nun in der Mordkommission wie gelähmt Togotzes gegenüber, der ihn durch sein Monokel anblitzt. Werners Verstand steht still.

Daraufhin muss Walter Caro zum zweiten Mal zum Verhör und gibt »auf Vorhalt« an: Er habe gestern »in Gegenwart einer Dame«, der Stenotypistin, nicht »über geschlechtliche Dinge« sprechen wollen. Er habe von Ende 1931 bis Anfang 1932 eine kurze intime Beziehung zur A. gehabt. Allerdings sei es in dieser Zeit nicht »zu regelrechtem Geschlechtsverkehr gekommen, da ich infolge einer Operation an den Hoden, die im Jahre 1910 stattgefunden hat, wenig potent bin«. Die A. habe ihn daher »auf anormale Weise« befriedigt. Da sie sich aber während ihres Verhältnisses auch »mit anderen Männern eingelassen hat, kam eine Heirat für mich nicht in Frage«. Seit 1932 habe er ihre Wohnung nicht mehr betreten. Die Hodenoperation des damals Elfjährigen im Jüdischen Krankenhaus ist verbürgt. Die Folgen können, müssen aber nicht Erektionsstörungen oder Impotenz sein.