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"Der verlorene Papagei" ist eine Sammlung von Kurzgeschichten. Es ist eine Einladung, die eigene Vergangenheit zu würdigen und mutig in die Zukunft zu blicken. Schilds einzigartiger Stil, der technisches Fachwissen mit erzählerischer Finesse verschmilzt, verleiht ihren Geschichten eine besondere Tiefe und Authentizität. Dieses kurze Erstlingswerk ist ein must-read für alle, die sich für Lebensgeschichten, Reiseerlebnisse und die kleinen Wunder des Alltags begeistern. Es bietet nicht nur Unterhaltung, sondern regt auch zum Nachdenken über die eigene Lebensreise an. Tauchen Sie ein in dieses kurzweilige, mit eigenen Skizzen illustrierte Buch.
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Seitenzahl: 56
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Vorwort
Januar – Von Wurzeln und Ästen
Februar – Der versprochene Papagei
März – Ein Haus am Meer
April – Nebel im Kopf
Mai – Crème de la Crème
Juni – Fernweh
Juli – Traumziele
August – Die neue Pyramide
September – Die Geburtstagsparty
Oktober – Die nächste Dekade
November – Mit Menschen
Dezember – Wo Kakao und Kaffee wachsen
Danksagung
Es begann mit meiner jährlichen Pilgerfahrt in die Züricher Stadtgärtnerei, um die bestellten Tomatensetzlinge abzuholen. Die sonst so belebte Gärtnerei lag in gespenstischer Stille da, außer mir war nur eine weitere Person an diesem nebligen Morgen gekommen. Es regnete fest, und ich hastete zurück zur Bushaltestelle, die braunen Papiertüten mit den Setzlingen fest an mich gedrückt. Zum Glück musste ich nicht lange auf den Bus warten. Alles, was jetzt zählte, waren die Vorbereitungen der Beete, damit der Verwandlung der Dachterrasse in einen üppig blühenden Garten nichts mehr im Weg stand.
In den folgenden Monaten entfaltete sich auf der Terrasse ein wundervolles Schauspiel von Farben und Aromen. Tomaten in allen erdenklichen Schattierungen und Formen reiften an den Zweigen, ihre Haut glänzend in der Sommersonne. Jede Ernte war ein Fest: Tomaten, noch warm von der Sonne, mit einer Prise Salz, cremigem Mozzarella oder zartem Fetakäse und Basilikum, oder im Ofen gebacken mit fruchtigem Olivenöl, Knoblauch und Oregano. Was übrig blieb, verwandelte sich in würzigen Sugo, ein erfolgreicher Versuch, den Geschmack des Sommers zu konservieren.
Immer mal wieder taucht in diesen Erzählungen ein Vogel auf, eine flüchtige Erinnerung an ein lang zurückliegendes Versprechen. Die Erlöse aus dem Verkauf dieses E-Books spende ich der Voliere in Seebach www.voliere-seebach.ch, um diesen besonderen Ort und seine gefiederten Bewohner zu unterstützen. Es ist mein Beitrag, die Magie der Vögel, die mich seit meiner Kindheit fasziniert, zu bewahren.
Ich wünsche viel Spaß beim Lesen.
Das Winterlicht hüllte die Stadt in ungewöhnlich mildes Licht, und auf unserer Dachterrasse schienen die kahlen Beete in einem tiefen Schlummer zu liegen. In dieser Stille des Jahresanfangs fand ich Zeit, Pläne für die kommende Saison zu schmieden. Ich zeichnete auf Papier, wie ich die Pflanzen in diesem Jahr anordnen würde: zusätzliche Tomatenstauden und neue Sorten, großzügigere Ernteflächen und die neuen Weinreben, die nun in symmetrischer Ordnung am neuen Drahtgerüst emporranken sollten. Auch für die Beerensträucher – Himbeeren, Johannisbeeren und Brombeeren – plante ich neue Standorte, um ihre Erträge zu optimieren.
Als die Planung abgeschlossen war, packte mich auf einmal das Ahnenfieber. Es begann mit der Suche nach Namen und Geburtsdaten einiger Vorfahren und führte mich zu längst vergessenen Verwandten, die nicht mehr im Familiengedächtnis existierten. Wer sich je mit einem Familienstammbaum beschäftigt hat, weiß vielleicht selbst, wie aus abstrakten Daten plötzlich etwas Lebendiges wird. Die Vergangenheit erwacht, und historische Ereignisse verschmelzen mit der eigenen Familiengeschichte. Ich wollte wissen, wo meine Vorfahren gelebt hatten, in welcher Stadt, in welcher Straße, wie alt sie wurden und woran sie starben. Mit Schrecken stellte ich fest, dass mütterlicherseits die meisten nicht älter als 56 und väterlicherseits 71 Jahre alt wurden.
Eine quälende Frage drängte sich in den Vordergrund: Sollte ich meine eigenen DNA-Daten in das Ahnensuch-Programm hochladen, um potenzielle DNA-Verwandte zu entdecken? Die Versuchung war groß, doch das Risiko, dass diese Daten eines Tages in falsche Hände geraten könnten, ließ mich zögern. War die Neugier, Verwandte in anderen Teilen der Welt zu finden, dieses Risiko wert?
Innerhalb weniger Tage wuchs der Stammbaum exponentiell. Die einst überschaubare Familie verwandelte sich in einen Clan, der sich über acht Generationen und mehr als 400 Menschen erstreckte. Zu meinem Erstaunen fand ich die Kontaktdaten eines Cousins zweiten Grades, der am Flughafen Zürich arbeitete. Seine Großmutter war die Schwester meiner Oma, und plötzlich erinnerte ich mich an die grob gehäkelten Bett-Wollsocken, die sie mir einst geschenkt hatte. Das Kratzen der Wolle auf meiner Haut war so lebendig, als trüge ich sie gerade jetzt.
Die Lücken im Stammbaum waren wie weiße Flecken auf einer alten Landkarte – sie forderten mich heraus, sie zu füllen. Ich schickte den ersten Entwurf meines Ahnenberichts an meine Eltern und Onkel. Die Rückmeldungen kamen prompt und öffneten neue Türen in die Vergangenheit. »Auf den ersten Blick gibt es einige Ungenauigkeiten, besonders auf der Seite meines Vaters«, bemerkte ein Onkel. »Zum Beispiel, wer wohnte eigentlich auf dem ›Witteli‹?« Auch der jüngste Onkel erinnerte sich an Geschichten von einer ›Witteli-Grit‹, die auf einem Berghof gelebt haben soll, der im 19. Jahrhundert abgerissen wurde. Mein Vater erzählte von einem Ausflug mit seinem Vater zu den Ruinen des Hofs, bei dem sie hofften, auf Überbleibsel zu stoßen – offenbar vergebens. Sie vermuteten, dass dort der Urgroßvater gelebt hatte. Dann tauchten zwei alte Fotoalben auf, wahre Schatztruhen der Erinnerung. Dutzende Schwarz-Weiß-Fotos, sorgfältig beschriftet in der geschwungenen Handschrift meiner Großmutter, erzählten stumm von vergangenen Zeiten. Es müssen bedeutende Anlässe gewesen sein, bei denen die Menschen zusammenkamen, um sich aufwendig frisiert und in ihren besten Kleidern fotografieren zu lassen. Mit ernster Miene blickten sie in die Kamera – als Teil einer Familie, einer Hochzeitsgesellschaft, einer Schulklasse oder als Feldkameraden. Ab den 1950er-Jahren änderte sich der Charakter der Bilder. Mit dem Aufkommen eigener Kameras wurden Ausflüge auf Berggipfel und Städtereisen zu beliebten Motiven, die einen Hauch von Freiheit und Abenteuer vermittelten.
Die Neugier trieb meinen Onkel und mich schließlich ins Stadtarchiv von Grenchen. Die Beamten dort, scheinbar gelangweilt von unserer Begeisterung, erzählten uns routiniert, welche Daten sie hatten und welche nicht. Die historischen Daten waren überall verteilt – im Archiv, der Einwohner- und der Bürgergemeinde des Heimatorts der Personen und zum Teil noch beim Kanton. Doch unser Eifer wurde belohnt: Wenige Tage später schickte uns die Bürgergemeinde tatsächlich sieben Register von Schild-Ahnen, die den Stammbaum weiter anwachsen ließen.
Nachdem etwa 420 Personen erfasst waren, legte ich das Projekt zur Seite. Gerade erfuhren wir, dass mein Cousin eine Bananenkiste mit zwanzig Kilogramm Material bei sich aufbewahrte. Zu schwer für die Post, aber eine Einladung für weitere Entdeckungen. Ob ich der Fährte noch nachgehen würde, konnte ich nicht vorhersagen. Bisher war die Ausbeute an Erkenntnissen eher mager gewesen. Abgesehen von wohlklingenden Namen wie Rosina und Ambroise, den würdevollen Familienfotos und dem schönen Wappen der Familie Schild blieb vieles mysteriös und lückenhaft. Es fehlte an Erzählungen, die das Gedächtnis der Familie erhalten hätten. Zu wenig wurde dokumentiert oder mündlich weitergegeben, und so würde ein großer Teil der Wurzeln wohl für immer verborgen bleiben.