Der verwelkte Mann - Matthias Hartje - E-Book

Der verwelkte Mann E-Book

Matthias Hartje

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Beschreibung

„DER VERWELKTE MANN“ ist quasi eine Abrechnung des Erzählers mit sich selbst, ein tiefgründiger Rückblick auf sein Leben, seine Kindheit, die damit verbundenen Ängste, kindlichen Dummheiten und der fehlenden Liebe durch das Elternhaus. Sein ganzes Leben jagt er einer falsch verstandenen Liebe hinterher und findet keinen Weg seine Ängste abzustreifen, die ihm schon als Kind aufgezwungen wurden. Nur langsam tastet er sich an die Frage heran, wie sein Ego und das innere Kind in ihm auf die Probleme des Erwachsenwerdens reagieren, was er unterdrücken und was er befördern muss. „DER VERWELKTE MANN“ bringt dem Erzähler Leid und Schmerzen, aber auch Erkenntnisse, die ihn von seinen Ängsten befreien. Lesen Sie selbst, welch innerer Auseinandersetzung sich zwischen dem Ego und dem inneren Kind eines Mannes abspielt und woraus dieser Kampf resultiert.

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Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Das Nutzlose in mir

war oft ein Ergebnis dessen,

was ich nicht getan habe.

Und wenn ich etwas getan habe,

war es nur leeres Geschwätz.

Für meine Mutter

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Die erste Seite

Die zweite Seite

Die dritte Seite

Die vierte Seite

Die fünfte Seite

Die sechste Seite

Die siebente Seite

Die achte Seite

Die neunte Seite

Die zehnte Seite

Die elfte Seite

Die zwölfte Seite

Die dreizehnte Seite

Die vierzehnte Seite

Die fünfzehnte Seite

Die sechszehnte Seite

Die siebzehnte Seite

Die achtzehnte Seite

Die neunzehnte Seite

Die zwanzigste Seite

Die einundzwanzigste Seite

Die zweiundzwanzigste Seite

Die dreiundzwanzigste Seite

Die vierundzwanzigste Seite

Die fünfundzwanzigste Seite

Die sechsundzwanzigste Seite

Die siebenundzwanzigste Seite

Die achtundzwanzigste Seite

Am anderen Tag

Die neunundzwanzigste Seite

Die dreißigste Seite

Die einunddreißigste Seite

Die zweiunddreißigste Seite

Die dreiunddreißigste Seite

Die vierunddreißigste Seite

Der zweite Tag

Die fünfunddreißigste Seite

Die sechsunddreißigste Seite

Die siebenunddreißigste Seite

Die achtunddreißigste Seite

Die neununddreißigste Seite

Die vierzigste Seite

Die einundvierzigste Seite

Die zweiundvierzigste Seite

Die dreiundvierzigste Seite

Die vierundvierzigste Seite

Die fünfundvierzigste Seite

Die letzten Stunden

Eine Woche später

Buchempfehlungen

Prolog

Es ist schon verwunderlich, dass ein männlicher Charakter in dieser wilden, unaufgeräumten Welt immer nur wie ein alter, eleganter Oldtimer wahrgenommen wird, der das Herz eines Mannes erfreut. Verwunderlich ist dagegen nicht, dass ein maßgeschneidertes, enges Damenkleid die Aufmerksamkeit eines Mannes erregt, ohne dass er seine Umwelt noch richtig wahrnimmt. Dabei wird der Mann einem Schubladendenken ausgesetzt, wo nur die ermüdende, sich ständig wiederholende, unermessliche, schroffe, Angst machende, erpressbare, androhende, treue, belanglose, unaufhörliche, stichelnde, mörderische, unerfreuliche und langweilige Sexualität im Vordergrund steht.

Es ist maßlos übertrieben, dass der Mann weniger Gefühl in der Seele oder gar andere Empfindungen hätte als eine Frau, die ihre empfindsame Weiblichkeit der Welt mit vollen Händen offenbart. Im Mann verbergen sich zwei Denkarten, so wird es seit Jahrtausenden beschrieben: das gefühlvolle und das egozentrische Denken. Beide stehen in sehr engem Kontakt, nicht aber immer im Einklang. Leider konnte ich in meinem langen Bücherregal zu Hause kein Buch über einen solchen Mann finden. Ein Buch, das über einen männlichen und wahrhaft lebenden, ehrlichen und liebevollen Charakter berichtet, der nicht schwanzgesteuert denkt und fühlt, sondern von der Umwelt so wahrgenommen wird, wie er wirklich ist. Da es also kein solches Buch gibt (ich wollte es ja verschenken), habe ich selbst ein Buch über einen Mann geschrieben, der anders denkt und fühlt, um anders zu lieben, und der das „Innere Kind“ und das „Ego“ zu gleichen Teilen in die Waagschale wirft.

Der Gedanke, dass der Mann nur ein sexistisch geprägtes Wesen ist und nicht darüber nachdenkt, wie es wirklich in ihm aussieht, macht mich wütend. Ich möchte die Flucht nach vorn antreten, dieses Missverständnis aufklären und beschreiben, warum mich dieses Thema so beschäftigt. Die Frage ist nur: Wer entscheidet in mir? Wer ist für meinen Charakter und für meine Launen zuständig? Und warum versuche ich stets aufzupassen, dass mich ja keiner angreift? Oder anders gefragt: Was bestimmt in mir, welche Frau ich wähle? Ist es der immer wiederkehrende Fortpflanzungstrieb oder die Dominanz meiner Männlichkeit? Ist die Wahl ein schönes Hemd zu kaufen vom Stand der Sonne abhängig oder davon wie man geschlafen hat oder mit welcher Frau man die letzte Nacht verbracht hat? Die ständige Suche nach Antworten macht mich mürbe. Und der Versuch, die Darstellung von Lebensabläufen zu prüfen, macht mir einfach Angst. So ist es auch mit der Verantwortung, wie ich ein Buch zu lesen oder einen Obstsalat herzurichten habe. Ich vermerke ausdrücklich, dass diese Frage nicht sonderlich interessant ist, aber dennoch den wahren Unterschied zwischen mir und dem anderen Teil in mir in den Vordergrund rückt. Ich kann nichts dagegen machen, auch wenn ich am Tag hundert Mal schreiben würde: MIR IST ALLES EGAL. Um das herauszufinden, müsste ich ein Abziehbild finden, das mein Gesicht darstellt. Es sei denn, ich male es selbst. Aber auch dann ist es fraglich, ob dieses Bild meinem Gesicht gleichen würde. Nun, es gibt viele Möglichkeiten seine Identität darzustellen. Es gibt viele Masken, die die Falten der Last, der Scham, der Gefühle und des Stolzes verbergen. Es gibt viele Wege, sich so wahrzunehmen, wie man ist. Man muss nur einen davon finden.

Kann es ein Vorwort werden oder sollte ich einen Anfang finden, der meine Gedankengänge nicht gleich wieder beendet?

Ich habe oft gesehen, dass die Traurigkeit sich ihr Antlitz beim schönsten Sonnenschein verbrennt. Ich habe genug vom Ruß und von diesem verölten Boden, um die Ratte zu retten, die mich am Hals packte, als die Schwäche in mir zum Vorschein kam. Ich lehne das Streichholz ab, das den dichten, gelben Nebel zu lichten vermag, der weit unten im Tal die Ruinen vor mir versteckt. Ich wollte nicht begreifen, dass die Hitze von Kampf und Krieg zur Erlösung führt. Ich wollte den inneren Wunsch durchdenken, so wie das kühle Nass mich benetzt, damit ich ab heute nicht mehr zu weinen brauche.

Egal was heute noch geschehen mag; ich sehe zu, dass der Staub aus Beton und Putz von meiner Jacke verschwindet und ich endlich einen Weg finde, der mir ein winziges Korn des Vergessens schenkt. Es ist gut, dass diese Ruine den Schwefelgeruch bindet, damit ich endlich in einem Café sitzen und eine Reise beschreiben kann, die ich Tage vor meinem Zusammenbruch nie für möglich gehalten hätte.

Der Nullpunkt meiner Lebenslinie, der Schmerz, machte sich, wie vor vielen Jahren schon, am selben Tag breit. Alles ist über mich hereingestürzt, wurde mir genommen: der Job, der mich ernährte. Die Familie, die mich beschützte. Die Gesundheit, die mir Stärke gab. Und die Seele, die mir die Gewissheit gab, ich sei unantastbar. Ich konnte nichts mehr sehen, und das Gespür von Nähe und Anziehung war verschwunden. Der Name war gelöscht. Das Konto war gesperrt. Das Geburtsdatum war verschwunden und meine Jeanshose war verdreckt, stank nach alter Zeit und nach Ruß. Ich saß auf einem dieser Baumstämme, die Straßenmarkierungen darstellen sollen, damit kein Auto an diesen Stellen parkt. Dem gegenüber sah ich die Trümmer eines Wohnhauses, aus dem nur noch feuchter Dampf aufstieg. Nichts ist mir geblieben. Ich sah den verkohlten Kühlschrank und den Flachbildschirm, der mir abends eine bunte, heile Welt bescherte. Kühle Luft streichelte mich, sodass ich zu frösteln begann. Eine Jacke hatte ich auch nicht mehr. Mir blieb nur eine schwarze Aktentasche, die ich früher immer zur Arbeit mitgenommen habe. Darin war ein Handy, das nicht mehr ging, ein Kamm, ein Buch mit dem Titel: Das Kind umarmen, ein A4-Notizbuch und die Frage: Wie geht es jetzt weiter?

Eigentlich hätte ich alles so stehen lassen und das Feld aus Silber verlassen können, ohne mich aufzuregen oder mir darüber Gedanken zu machen, wie mein Leben weitergehen würde. Lange habe ich überlegt und die Blätter des Baumes gezählt, der viele Jahre von meinen Beeten umsäumt wurde. Mir fiel auf, dass dieser Baum verschont geblieben ist, dass ihm die Hitze und das Feuer nichts ausgemacht hat. Er hat diesen Widrigkeiten wie ein einsamer König getrotzt.

Ich holte mein Notizbuch und meinen Bleistift heraus und skizzierte diesen wunderschönen Baum in meinem Buch. Und beim Zeichnen gingen mir so viele Gedanken durch den Kopf. Dabei spürte ich, wie sich mein Lebensfaden neu aufspulte. Und gerade beim Zeichnen dieses Baumes (es war ein alter Apfelbaum), hatte ich eine Idee. Dieser Idee wollte ich nachgehen, sie beschreiben. Ich brauchte dazu meine ganze Vorstellungskraft, um an den Ort des Geschehens zurückzukehren. Meine Gedanken trieben mich einfach fort.

Ich sah die Trümmer meines abgebrannten Hauses, wo der Rauch nach Heilung suchte. Und dann sah ich eine Kreatur im Rauch – erst den Umriss, dann den Kopf. Es war ein alter Mann, der an einer Mauer lehnte. Er schaute mich an und winkte mir zu wie ein Freund, der ein Zeichen geben wollte. Er löste sich von der Mauer und drehte sich langsam um, lief leise aus dem Ruinenfeld heraus und verschwand in einer der vielen grauen Rauchwolken. Nur ein schmales, ausgebranntes Fenster konnte ich sehen, das mit einem Netz unterschiedlicher Grautöne versehen war. Meine Welt lag im Dunkeln. Die Wände waren grau und kalt. Die schlichten Farben sprengten förmlich meinen Kopf, sodass ich meine Erinnerungen nicht mehr ordnen konnte. Sie flogen über mich hinweg. Ich bekam keinen noch so winzigen Gedanken mit meinen schmutzigen Händen zu fassen. Ich sah meine Gedanken verstreut auf einer grünen Wiese liegen, als ob ich sie nur aufzusammeln bräuchte. – War das eine neue Chance? – Ich ließ sie liegen und spürte eine neue Zeit, die mich berührte. Eine Zeit, die von Melancholie und Wahrheitsfindungen bemuttert und passend gemacht wurde. Dabei konnte ich auch diesen Gedanken nicht festhalten, weil die Nachdenklichkeit meine Müdigkeit wach hielt. Ich wurde in eine erstaunliche Euphorie versetzt, die den Verlauf des Geschehens nicht verriet. Und dennoch wollte ich die Straße verlassen, um den Mann zu suchen, der in dieser nebelhaften Lücke verschwunden war. Ich hörte nur das leise Knistern in der Glut der niedergebrannten Ruine, die das Löschwasser in sich aufsaugte.

Meine Gedanken entflohen mir noch immer. Ich wollte schon diesen Kampf aufgeben, als eine neue Lücke sich auftat und meine Erinnerungen aufsaugte. Ich konnte die prallgefüllten Fächer der vielen Gedanken vor mir sehen. Sie war nicht weit geöffnet, sodass ich nur erahnen konnte, was die Gedanken in den vielen Fächern mit mir machen würden. Nur ein einziger Gedanke kam zu mir, überreicht von dem Mann, der in dieser Lücke verschwunden war, der mich berührt hatte. Er huschte in Sekundenschnelle an mir vorbei und bemerkte durch eine kurze Berührung meiner Hand, dass ich meinen Namen nicht mehr kannte. Alles schien sich aufzulösen. Alles! In dem Augenblick wusste ich, dass die Lebensspule in mir wieder zu arbeiten begann. Ich öffnete mein Tagebuch und schrieb diese Geschichte auf. Eine Geschichte, die ich vorher so nicht kannte. Ich muss aber gestehen, dass ich vorher auch nie ein Tagebuch besessen habe. Als ich aber zu Hause ankam, lag ein Tagebuch auf meinem Küchentisch, das noch unbeschrieben war.

Ich weiß noch, wie ich vor langer Zeit in einem Bistro saß und mir einen Kartoffelsalat bestellte. Das Bistro war dunkel, abgelegen und wurde von einem U-Bahn-Viadukt überdeckt.

Eine Kerze erhellte den Kartoffelsalat auf dem Tisch, der mir von einem muffig riechenden und übel gelaunten Kellner serviert wurde. Ohne mir einen guten Appetit zu wünschen, drehte er sich dann um und ging in seine Küche zurück. In dem Augenblick kam ein alter Mann mit einer dicken Zigarre im Mund ins Bistro und steuerte langsam auf meinen Tisch zu. Er fragte mich, ob er sich setzen dürfe. Mit einem Kopfnicken stimmte ich zu. So nahm sich der Alte den zweiten Stuhl zur Hand und setzte sich ebenso langsam mir gegenüber an den Tisch.

Ich mochte ihn sofort. Ein verknitterter, grauer, leicht verschmutzter langer Regenmantel machte seine Figur schlank. Sein lindgrüner, dicker, aus Baumwolle gestrickter Schal, der seinen Hals warm halten sollte, machte ihn irgendwie zu einem Halunken, ähnlich denen aus den dreißiger Jahren. Dazu kam sein unrasiertes, ungepflegtes Gesicht, das ihn noch älter wirken ließ, als er schon war. Seine achtzig Jahre würde er bestimmt auf dem Buckel haben, schätzte ich, denn auch seine Hände sahen danach aus.

Ich spürte eine leichte Unruhe, die von ihm ausging. Ich sah seine nervös funkelnden Augen den Raum abtasten, bis er den Kellner erblickte und ihn heranwinkte. Leise, fast unhörbar sagte der alte Mann, dass er eine Bratwurst und eine Schrippe haben wolle. Der Kellner brauchte nicht lange und servierte den Teller mit der bestellten Bratwurst und dem Brötchen. Gierig biss er in die Bratwurst hinein und schaute dabei nur auf seinen Teller. Was um ihn herum geschah, interessierte ihn nicht. Die schmatzende Art, wie er seine Bratwurst aß und wie seine fettigen Hände das Brötchen zerlegten, amüsierte mich. Ich fragte ihn, ob er mit mir eine Tasse Kaffee trinken würde. Seine kleinen Kinderaugen schauten mich erstaunt an. Er nickte wortlos, etwas zögerlich aber freundlich.

Ich hatte den Eindruck, als wäre ihm das Scheue angeboren, denn seine Augen versanken in Scham. Es schien ihm unangenehm zu sein, von einem Fremden etwas angeboten zu bekommen. Er schaute mich eine Weile nicht mehr an, was aber nichts zu bedeuten schien. Ich spürte seine Aufregung, denn seine Hände begannen zu zittern. Er hatte Schwierigkeiten, den Rest der Bratwurst in den Mund zu stecken, und versuchte mit seinen zwei verknöcherten Fingern den Zipfel der Bratwurst hinterher zu schieben. Dabei lief ihm an den Mundwinkeln der Saft bis zum Kinn herunter. Er spürte die Nässe und wischte sie mit seinem Handrücken einfach weg. „Mach alles in Ruhe, alter Mann!“, meinte ich zu ihm. „Wir haben Zeit, und diese Zeit nehmen wir uns einfach!“

Er schaute mich überrascht und auch etwas misstrauisch an, wischte nochmal über seinen fettigen Mund, legte die benutzte Serviette dann säuberlich auf seinen schmutzigen Teller und brachte ihn nach vorn zur Geschirrablage.

Ich dachte er würde jetzt gehen, ohne mit mir den Kaffee zu trinken. Aber er drehte sich um, kam zum Tisch zurück, setzte sich und schaute mir in die Augen. Dieser Augenblick warf mein ganzes Leben aus der Bahn. Den Blick in seinen Augen werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Ich konnte zum ersten Mal seine Augen sehen. Sie elektrisierten mich so sehr, dass ich nicht mehr in der Lage war, vollständige Sätze auszusprechen. Alles um mich herum verschwand. Nur ich schien noch im Bistro zu sein.

Ich habe in seinen Augen einen Kasper gesehen, der auf einer kleinen Bühne stand. Er fuchtelte mit einem Zauberstab herum und drohte der Welt mit der Hölle. Neben ihm sah ich einen winzigen Gnom, der aus Holz bestand und ihm zuredete, es nicht zu tun. Dieser Holz-Gnom war es, der mich mit grünen Augen ansah und mit seinem dicken Knuppelfinger auf mich zeigte. Ich sah deutlich, wie der Kasper erschrocken seinen Zauberstab fallen ließ. In dem Augenblick war der alte Mann am Tisch – ein gelöster und freier Mann, der still und bedächtig eine Bratwurst mit Brötchen verspeist hatte. Seine Falten im Gesicht bildeten sich zurück und die tiefen Furchen an den Augenrändern und der großen verkrümmten Nase verschwanden. Selbst die fettigen, kurz geschnittenen Haare wurden dunkler. Sie waren sorgfältig gekämmt. Ich konnte sehen, wie seine Ohren sauber und seine Zähne heller wurden. Der große dreckige Hut passte ihm nicht mehr, sodass er ihm fast vom Kopf fiel. Die unrasierten Kinnpartien waren glatt. Ich sah in seinen Augen, wie ein kleiner Junge über eine Wiese lief und mit einem Pferd spielte. Ich erkannte in seinen von Sonnenlicht durchfluteten Augen, dass ich es war, der dort mit dem Pferd spielte und ritt. Ich sah aber auch, wie dieser kleine Junge mich anschaute. Das Pferd machte eine Kehrtwende und verschwand im wilden Galopp. Ich konnte nicht fassen, was ich in den Augen des alten Mannes gesehen hatte. Ich begriff nicht, dass sich in diesen fremden Augen eine kleine Märchenwelt spiegelte, die mich förmlich einnahm. Die starke Anziehungskraft dieser Augen machte den Augenblick magisch, rätselhaft.

Ich bemerkte nicht, dass der unhöfliche Kellner erneut an unseren Tisch kam und uns den Kaffee brachte. Ich war von den Augen des alten Mannes wie gefangen und wollte mich auch nicht mehr von ihnen lösen. Nein, ich wollte miterleben, was jetzt weiter geschehen würde.

Ich sah den kleinen Jungen wieder, der auf einer Straße lief. Erst konnte ich ihn nicht gleich erkennen. Er war ganz weit entfernt. Winzig noch, fast verwischt sah ich seine Konturen. Aber dann bemerkte ich, dass dieser kleine Junge immer näher kam. Ich konnte sein gebügeltes Hemd sehen, seinen schönen Gürtel. Ich war erstaunt, wie säuberlich das Oberhemd unter dem Gürtel lag. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als dieser Junge in den Augen des alten Mannes ein graues Buch aus seiner Hosentasche zog und es mir gab. Ich nahm es in meine Hand. Es fühlte sich kühl an und wurde größer, Stück für Stück. Der alte Mann beobachtete diesen Vorgang mit Freude und beglückwünschte mich zu diesem Buch.

Das Buch war mit einem roten Ledereinband versehen, doch ich konnte den Namen des Buches nicht richtig deuten. Ich öffnete es und sah nur weißes Papier vor mir. Alles war weiß, leer. Und plötzlich sah ich einen schwarzen Strich auf einer Seite, dann den ersten geschriebenen Buchstaben. In Windeseile war die erste Seite des Buches fertig geschrieben. Ich blätterte um und sah, wie die weiteren Seiten beschrieben wurden. Das Buch wurde in meinen Händen immer dicker. Ich konnte die Zahl 4 erkennen und auf der rechten Seite die Zahl 5. Es erschien mir wie ein Traum, als ich 45 gebundene Buchseiten vor mir liegen sah. Ich war davon so beeindruckt, dass ich vergaß, das Buch weiter zu betrachten. Ich hörte nur, wie der alte Mann zu mir sprach: „Lies, was dort für dich geschrieben steht!“

Ich sah erneut in seine Augen und konnte diesmal nur seine braunen Pupillen erkennen. Alles andere war verschwunden. Der alte Mann beugte sich über den Tisch und bedankte sich für die Tasse Kaffee, die ich ihm spendiert hatte. Voller Dankbarkeit nahm er meine linke Hand und sagte zu mir, dass ich unbedingt dieses Buch lesen müsse. Mit Sorgfalt sollte ich den Text in mich aufnehmen und prüfen, wie nahe ich das Geschriebene an mich heranlassen kann. Jede Zeile kennt die Ehrlichkeit; und daher ist sie mit einer Seele wie der meinen verwandt. Sie wird im Buch lebendig und beschreibt das Gefühl der Angst, die ich damals fühlen konnte und die dennoch nicht mehr in mir lebt. Nur der Rhythmus meines Atems, so der alte Mann, kann die Wahrheit beschreiben, die ich auch verstehe. „Aber Vorsicht! Man bedenke, dass eine gelesene Seite nie wieder zurückkehrt. Jedes Wort, das dein Auge sieht und dein Geist aufnimmt, verschwindet, als wäre es nie geschrieben worden. Jedes Wort geht zu seinem Ursprung zurück und wird erst dann neu geschrieben, wenn ein neues Buch entstehen soll, wenn feststeht, wer es bekommt. Und im Moment, da die letzte Seite des Buches aufgeschlagen wurde, löst sich das Buch auf und verschwindet in einem wolkenverhangenen Nebel.“

Ich weiß nicht, wie lange ich am Tisch gesessen habe, als der Kellner erneut nach meinen Wünschen fragte. Ich hatte weder Durst noch Hunger, sondern nur das Verlangen nach Haus zu gehen und das Buch zu lesen. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich allein am Tisch saß und dass der alte Mann verschwunden war. Mir kam es so vor, als hätte ich das nur geträumt und der alte Mann wäre nie in mein Leben getreten. Nur das Buch in meinen Händen machte mir klar, dass ich nicht geträumt hatte.

Die erste Seite

Ich staune über mich selbst. Willensschwäche flackert über das Land. Der Sinn in mir zerbricht und die entartete Vollkommenheit besiegt die innere Seuche einer Einsamkeit, die in mir wie eine Kaktusblüte wächst. Das euphorische Denken ist verfehlt. Feige begrüße ich die erste Seite und beuge mich symbolisch nieder. Die schöpferische Ohnmacht wartet. Veraltete, törichte Gedanken kriechen nach vorn. Ich gehe zu Fuß, um mein Reich zu finden. Landschaften erquicken mich nebenbei. Mein Verlangen, etwas zu ändern, erstarrt. Eindrücke erliegen meinen Treppenstufen und führen meine Selbstgespräche dorthin, wo die Fenster weit geöffnet sind. Zurückgelassen und fast freudlos sichte ich den Umschlag des Buches. Noch namenlos erhält die gedanklich-freudlose Quelle in mir einen Titel. Selbstverachtung wird bemalt. Ich verwalte ab heute meine Zeit selbst, die ich glaubte verloren zu haben. Meine Absicht ist klar formuliert. Die dünnen Zweige eines Apfelbaums berühren meine Gedanken. Stumme Eindrücke wachsen aus den Knospen heraus und ich halte meinen Atem an. Lange habe ich gewartet, nun beginne ich zu lesen.

Früher bist du gern durch ein Getreidefeld gegangen, hast die bunten Schmetterlinge berührt und sie aufgeschreckt, um ihnen für eine kurze Zeit nachzujagen. Aber dennoch machte es dir keine Freude, weil die Sonne in der Mittagszeit sehr hoch stand. Keine Wolke konntest du am Zenit sehen, hast Ausschau Richtung Westen gehalten. Du wusstest, dass der Wind dort seinen Anfang nehmen würde. Du konntest sehen, wie der kleine Kondensstreifen am Horizont immer dicker wurde. Die Haufenwolken, leicht ergraut im Schatten der Sonne, nahmen den Himmel ganz langsam ein, um sich endlich von jener Nässe zu befreien, die zuvor deine Tränen waren. Zu gern hast du über dem Hügel die einzelnen Blitze am Himmel gezählt. Der Wind nahm an Stärke zu, sodass dein dünnes Haar durcheinander wirbelte. Du bist aufgestanden, hast deine Arme weit von dir gestreckt und gedacht, du wärst ein bunter Vogel. In deinem Gesicht nistete sich der scharfe Wind ein und schloss dabei deine Augen, um deine Gedanken in die Fantasie einzubinden. Du hast die Wolken gesehen, in die du als „Seele einer fremden Freiheit“ eingetaucht bist. Kleine Häuser und Bäume flogen unter dir dahin, die du mit deinen Fingern nicht mehr berühren konntest, als ein Licht dich erleuchtete. Da hast du deine Welt plötzlich so wahrgenommen, wie du sie früher gern gesehen hättest. Du wolltest wieder ein kleiner Junge werden, der mit den bunten Marsmenschen redet. Mit ihnen wolltest du die Sterne der Milchstraße in eine Reihe sortieren.

Du wolltest die entferntesten Galaxien besuchen, um zu erfahren, ob dort die Liebe wohnt. Deine Sucht nach der Suche, ob die Liebe auf dem Saturn oder auf dem Jupiter wohnt, hast du nie verloren. In dir wuchs eine besondere Kraft von Zuneigung und Neugier. Du sahst sie, als du diese irdische Welt betreten hast. Du sahst die vielen Geschenke am Bettgitter hängen, die in einzelnen Paketen verschnürt waren. Du hattest nicht den ausgeprägten Willen, die Rätsel dieser Pakete zu lösen. Man sagte dir, dass du viel Zeit hättest und dass das Leben gerade erst in dir zu wachsen beginne. Du wurdest in eine weiche Jacke gepackt und hast die enge Not gespürt, die du heute als „Sinnesangst“ bezeichnen würdest. Das grelle Licht verbrannte frühzeitig dein Herz, und der endlose Trommelschlag aus den Maschinenhallen machte deinen Geist zu einer weichen Torte. Immerzu kam der weiße Hirsch an dein Bett und wünschte sich, dass du den gewaltigen Schrei unterlässt. Du durftest nicht schlafen und deinen Träumen nachjagen. Du wurdest in die Arme gekniffen, um jedes andere Gefühl in dir zu unterdrücken. Die blauen Flecke haben dich gemahnt. Keine Widerrede war erlaubt, denn die Pakete am Bettgitter kannten ihre Jahreszeiten, die du als Baby nie sehen durftest. Das Verbot war wie eine rote Ampel, die dich ständig angeleuchtet hat als wärst du in einer Trockensauna, die keine Luftfeuchtigkeit abgibt. Allergien waren die ersten Geschenke, die du nach ein paar Monaten ertragen musstest. Ein Weihnachtslied mit der fröhlichen Botschaft von Frieden ließ man im Radio nicht mehr spielen. Die Traurigkeit sollte eine andere Wellenlänge erhalten. Man hat die Angst gesehen, und der Westwind drehte sich. Der Wind wurde kühler und eisiger. Es schneite langsam vor sich hin. Und du durftest deinen Roller zersägen, weil der Winter kam und es nichts zum Heizen gab. Holz war Mangelware und die Liebe entfernte sich schneller als du je geahnt hast. Du hattest die Hoffnung, dass die Liebe ihr Gebet hinter sich lässt. Du hast gesucht und konntest nur ein bisschen Brennholz finden, das deinen winzigen Lebenspfad beleuchtete. Der blutige Tanz entglitt dir durch deine ängstlichen Gedanken, da die Unfruchtbarkeit nicht zu oft das Licht erblickte. Die „Alten Denker“ hätten genug zu tun gehabt, sich mit dem Gebären zu beschäftigen. Der Hunger konnte sich nicht verkriechen. Und das Butterfach des Zorns „streichelte“ die ängstliche Zukunft, die dich später wieder einholte.

Der Durst nach Bananensaft verlangte sein frühes Opfer, um den Zugang zum Schlachtfeld zu erlangen, das unter dem Wohnzimmertisch zu deiner Spielwiese wurde. Die Muttermilch wurde mit Rosenwasser verdünnt, sodass deine Zerwürfnisse wie bittere Mandeln kaschiert wurden. Es waren wunderbare Emotionen, die deine Hände weich und geschmeidig umarmten. Trotzdem ist dein Leib, wo sich jede Falte mit Wasser füllte, begutachtet worden. Den Strampler aus Marzipan konntest du auf der Toilette liegen lassen, sodass du immer eine Fluchtmöglichkeit in Sichtweite hattest.

Selbst am Taufbecken gab es keine Gedanken; die Grübelei hörte dort auf. Denn die Reise mit dem Kinderwagen ging immer weiter, und die Ruhepunkte fehlten ganz. So war es auch, als Impfungen auf dem Plan standen. Die „Alten Denker“ prophezeiten damals schon, dass für jedes Gefühl in dir ein Gegenmittel gefunden würde, damit du nicht jetzt schon ans Sterben denkst. Natürlich warst du froh darüber, welche Führsorge dir zuteil wurde, um nicht auf einem Friedhof das Spielzimmer suchen zu müssen. Gebrechlichkeit und Keuchhusten konntest du dagegen besser einordnen als den braunen Teddybär, der in der Küche in einer Tiefkühltruhe lag und an seinen bunten Bausteinen lutschte, um nicht auch noch zu erkranken. Deshalb durftest du dem Teddybär, der sein Taschentuch unter einer Bettdecke versteckte, um dir nicht zu zeigen, dass er schon vor dir traurig wurde, nicht deine Hand geben. Du konntest die Wirklichkeit nie in einem Bild erfassen, denn die Erregung zelebrierte in deinen Blutbahnen Dinge, die deine Halsschlagader brutal verengten. Wie gelähmt hast du die Abdrücke deiner Vorfahren gesehen. Nun versuchst du, ihre Kleidergröße herauszubekommen.

Du wolltest wissen, wo die Orte sind, die den Reichtum seltener Liebe verheißen. Du hast nach den Abdrücken alter Vorfahren gesucht, die über die endlosen Weiten verbrannter Erde gegangen sind, da ihre Wunden nie heilten. Suche die Gene jener, die geheimnisvolle Botschaften in den Himmel schreien, die das Bajonett mehr lieben als das Gebetsbuch, das ihnen angeblich Schutz bieten soll! Vertrauen ist ein fremdes Wort, das ist nun gewiss. Aber dass ein Acker bis zum Sonnenuntergang brach liegt, ist die Schuld derer, die sich selbst verdrängen.

Die Idee sich zu besinnen, bewirkt eine Leere. Und diese Leere ist eine Moral, die keine Idee kennt. Und Sie kannten nicht diese Seite eins.

Die zweite Seite

Ich laufe versonnen in den kühlen Tag. Ich ziehe die Gedanken von meiner Haut und versinke in Erinnerungen, um mich in ihnen reinzuwaschen. Mehr noch! Die Gedanken quellen auf und zerbrechen mein angstvolles Gesicht. Alles sieht verbraucht aus, als ob der Zeiger meiner Armbanduhr nie zuvor über die 12 gesprungen wäre.

Ich sitze am Tisch und sehe in Gedanken den Kellner, der mit einer Tomatensuppe herumhantiert und überlegt, ob er sie zum Gast bringen oder selbst verspeisen soll. Er tut weder das eine noch das andere, sondern stellt den Teller wieder hin, hackt etwas Petersilie klein und streut sie liebevoll über die Suppe. Durch das Geräusch des Hackens der Petersilie werde ich wach; die Welt war wieder vor Ort. Ich blättere das dicke Buch des alten Mannes auf und zerreiße meine alte Zeit. Säuberlich lege ich das Buch auf meinen Wohnzimmertisch und spüre eine Spontanität, die mich nicht mehr loslässt. Es pflanzt sich etwas in meine Seele, zuckt an meiner Nase. Es vibriert in mir leise Musik, der ich nur zaghaft zuhöre. Eine Musik, die keine Noten kennt, keinen Traum, nur das Echo eines Schmetterlings.

Du hast das Geleit deiner Zukunft in dir gesucht und konntest den Zank und Streit nach Gerechtigkeit nicht verstehen. Die ewige Auseinandersetzung zwischen Schmach und Eitelkeit befriedigt dich nicht mehr. Du hast die sanfte Helligkeit begrüßt, die dich für den Augenblick erleuchtete, sodass du den Spaziergang ganz allein machen konntest. Zu oft war die Angst an deiner Seite, die dir ihr Unwesen immerzu massiv aufdrückte, sodass du nicht mehr atmen konntest. Die Wahl, die Angst beiseite zu schieben, hattest du nicht, denn die Angst war immer in dir. Die Ideen der Angstnovellen waren groß. Selbst die entgegengesetzten Äußerungen von dir, dass du die Idee der Angst abscheulich findest und sie nicht anerkennst, waren ebenso unwichtig. Du hast erst spät begriffen, dass es nicht relevant ist, einem „Alten Denker“ zuzuhören oder ihn zu verstehen, wenn die Angst regiert. Die Angst überhört die Sprache und verhindert das Zuhören. Die „Alten Denker“ spüren die Angst und hören sich gern darüber reden. Sie führen Regie. Kein anderer darf etwas sagen. Widerspruch wird nicht geduldet. Du brauchst nichts zu sagen. Du brauchst nichts zu verstehen. Du musst nur dabei sein und zuschauen, wie der „Alte Denker“ spricht.

Und diese „Alten Denker“, die ihrem Herrgott sehr ähnlich sehen, wollen dir beibringen, wie du zuzuhören und ihren Unsinn im Leben anzuwenden hast? Du brauchst dir keine Mühe geben, denn diese Sinnlosigkeit, die ihrem Geist entspringt, wurde dir bereits in der Wiege gelegt. Schon da hast du gespürt, dass diese „Alten Denker“ die falsch verstandene Liebe nie zugeben würden. Den zynischen Unterton der „Alten Denker“ hast du wahrgenommen. Sie müssen ihre zerbrochenen Mauern immer wieder neu aufschichten, um zu beweisen, dass sie heute noch etwas zu sagen haben. Der Abstand zwischen Realität und Traum, den du nie wahrhaben wolltest, konnte dein anfängliches Abenteuer nur noch gefährlicher machen.

Du darfst in einem Glashaus sitzen und den Text ihrer alten Weisheiten infrage stellen. Du kannst alles infrage stellen. Betrachte das alte Fotoalbum der „Alten Denker“ und die widerlichen Orden und Medaillen an ihren Brüsten! Beweisen sie, dass sie wahre Männer sind? Sie haben ihre Schulterblätter dekoriert, um den bunten Hahn im Stall nachzuäffen. An jeder Hand eine kluge Henne, die aber nie patriotische Eier legen wird. Der abgerundete Stoppelbart zeigt sein männliches Gesicht. Die gelben Zähne, vom Nikotin verursacht, haben dir nie das Vertrauen geschenkt, das du als Kind eigentlich gebraucht hättest. Die Spitzenhaube krönte den stolzen Mann auf Straßen und Plätzen; sie gab ihm Macht. Heute laufen die Männer mit ihren schwarzen Adidas-Stiefeln auf Schulhöfen herum, um den „starken Mann“ zu markieren. Dabei haben sie dieselbe Angst wie jeder andere auch. An manchen Tagen haben sie vierzig Zigarren geraucht, nur um stark zu wirken, um sich zu schützen. Ein „Alter Denker“ in Uniform und ein Mann ohne Verstand. Denn was macht es für einen Unterschied, wenn du nicht weißt, wie ein „Alter Denker“ denkt und was ein Mann fühlt, wenn die Enttäuschung ihn berührt? Welche Erfahrung eines „Alten Denkers“ darf einem Kind mitgegeben werden? Reicht es aus, den Eisblock ihres Herzens schmelzen zu lassen, damit ein Gefühl entsteht? War ihnen nicht bekannt, dass ein Gefühl Bilder malen kann und die Ruhe von Erfahrungen ihnen gute Dienste leisten würde? Waren diese Aspekte den „Alten Denkern“ nicht geläufig? Sie sind doch die Erfahrung selbst. Das zumindest geben sie kund, um dann doch wieder alles runter zu schlucken und so zu tun, als wäre die Erfahrung gar nicht am Leben. Sie wollen mit dem Gefühl nichts mehr zu tun haben, denn die Erfahrung lehrt sie, welchen Schaden das Gefühl anrichtet, wenn es angesprochen wird. Sie verstehen sehr gut, mit Anstand und falsch verstandener Philosophie ein Kind frühzeitig angreifbar zu machen, um schließlich doch die Gewissheit zu bekommen, dass alles in Ordnung sei. Doch der Schein trügt. Das Gefühl lebt und wird weiter rebellieren, bis es der Liebe begegnet. Und du wirst daneben stehen, das Verhalten der „Alten Denker“ betrachten und beobachten, wie das Elend des alten Denkens von regenbogenartigen Viadukten überspannt wird. Wehe denen, die das letzte Wort für sich in Anspruch nehmen! Wehe!

Die Idee sich zu besinnen, bewirkt eine Leere. Und diese Leere ist eine Moral, die keine Idee kennt. Und Sie kannten nicht diese Seite zwei.

Die dritte Seite

Auf welche Szenen meiner Vergangenheit kann ich zugreifen? Ist der fremde Parasit aus dem Fluch meiner „Uralten Denker“ hervorgegangen? Rituale und Gewohnheiten sind fertige Bilder, die einem zeigen: Hier ist der gedeckte Tisch und um sechs Uhr fährt die S-Bahn pünktlich zur Arbeit. Zwei Weißbrotschnitten zum Frühstück, ein halb gekochtes Eis dazu, gegen zwölf Uhr sind die Kartoffeln gar und der dunkle Bock, der mit leichtem Schaum in eine Tulpe gegossen wird und auf einem Untersetzer zu stehen hat, sollte nicht kälter sein als maximal fünf Grad. Ach, das geliebte Ritual. Und tatsächlich, mein Bier stand ebenso im Gemüsefach des Kühlschranks wie bei meinen „Alten Denkern“. Jetzt bemerke ich, dass gerade diese drei Bierflaschen seit Monaten im Gemüsefach lagern, ohne dass ich den Wunsch hatte sie zu trinken. Ich berührte eine der Bierflaschen und erinnerte mich, wie Mutter eine Flasche zum Abendbrot für meinen Vater auf den Tisch stellte: Punkt 18:00 Uhr.

Ich schaue auf meine Küchenuhr, die kurz vor sechs Uhr anzeigt. Mein Gefühl täuscht mich nicht, es ist präsent in mir.

Der reuige Fluch lähmte dich und du sahst einen Sonnenaufgang, der deine Augen blind machte. Es schauderte dich an jeder Haustür, denn du hast dort Unheil vermutet. Ein Unheil, das deinen Gedanken entsprang. Denn du wolltest erleben, wie die Jahreszeiten den inneren Widerspruch begleiten, der dann feinfühlig und offen von dir gezeichnet wird. Du hast das unheimliche Wesen in dir, das in seiner Form des Auftretens eher leise wirkt, deutlich wahrgenommen. Unscheinbar ist sein Gesicht. Seine dunkelblaue Mütze sitzt tief, sodass der Schatten die Haare verbirgt. Die fettige Schürze, mit Sauerrahm und Käsequark beschmutzt, umarmt den dicken Bauch als wäre sein Reich in Gefahr. Du hast ihn erkannt, den Milchmann, der an der Ecke deiner Straße die Alukannen mit Milch füllte. Seine Augen haben nie das Licht erblickt. Dunkel ist seine Stimme, übel riechend sein Schweiß. Ein unrasiertes Getreidefeld umrahmt sein Kinn und verdreckte Ohren sitzen über einem falschen Lachen. Sein Mundgeruch gleicht der Gülle, die abends nach Feierabend weggespülte wird. Aufdringlich und nah lagen seine dicken, fettigen Hände auf deinen Schultern, als ob sie Brüderschaft vollziehen wollten. Es war ein widerliches Gehabe von falscher Freundlichkeit. Er liebte den Sauerrahm und die vergorene Buttermilch, von der du noch heute deine Mitesser im Gesicht ernährst. Er liebte auch das Kleine, wo unten der Urin seinen Weg findet, wo dich der zarte Griff den Henker spüren ließ, als würde er das Ende einläuten. Keine Salbe befreite dich von dem Ekel und den schadhaften Bakterien, die deinen Darm zerfraßen. Die Angst hat an deiner Seele genagt. Und an dem Schokokuss, den du zum Schluss von ihm bekamst, hast du nie wieder genascht.

Ab und zu ist noch ein Lächeln möglich, doch nur dann, wenn du an deinen Geburtstag denkst, der mit einer Kerze begann. Diese erste leuchtende Kerze brannte leider zu kurz. In der Kirchenhalle hallten deine Schreie wider. Der Griff einer Hand war heftig. Du wolltest einatmen und den Weihrauch inhalieren. Das Gebet verging und auch das Getue von frommer Fröhlichkeit, das dich fast erdrosselt hat. Du wolltest wissen, aus welchen Buchstaben dein Name besteht. Die kühlen Fingerspitzen berührten dich am Kopf, und die Rufe des Priesters, der seine leere Welt mehr liebte als sich selbst, klangen nicht verheißungsvoll. Er kannte das Evangelium nicht und verfluchte die Götter, die neben ihm saßen. Er faselte etwas von Frieden und vom ewigen Leben, das schon längst hinter dir lag. Seine glasigen Augen tasteten deinen kleinen Schwanz ab, und er befruchtete seine davor liegende Bibel und die Maria Gottes mit seinen kalten Fingern. Seine langen Fingernägel prangten aus den Seiten der Bibel hervor und zeigten jedem ein Reich, das dir fremd war. Du hast kein Reich bekommen. Du konntest kein Reich spüren. Du hast diese Schmach entwürdigend empfunden, da der heiße Docht in dir schmerzte, als der Priester den dicken Qualm der Öllampe in deine Nase wedelte, sodass dir übel wurde. Möge dir der Herrgott den Frieden auf Erden bringen und dir gnädig sein! Amen! Du hast geschrien. Du wolltest die Enge verlassen und deine juckende Haut zerkratzen, die deine Selbstlosigkeit imprägnierte, sodass die fremden Tränen darauf abperlten. Aus weiter Ferne hast du den Donnerschlag eines herannahenden Gewitters gehört. Die Kirchenhalle öffnete sich, damit dich die vielen Regentropfen reinigen konnten. Das kühle Nass lächelte dich an, als wäre dieser Eisblock eine einst verschwundene Düne deiner Träume, die dich kurz nach der Taufe verließen. Du hast Traurigkeit erhalten, die dich wie schweres Gestein belastete, die dich zermalmte, um deinen Widerwillen zu brechen – die dich daran erinnerte, dem widerlichen Ego in dir jeden Tag den Hof zu machen. „Kehr aus und gib der Versuchung nach, nur du der Gnade willig zu sein!“

Die dicke, leicht grüngesprenkelte Kutte des Priesters löschte die brennenden Altarkerzen beim Vorbeigehen. Er sah dich dabei an, als wärst du der Teufel persönlich. Seine kalten Augen prägten den dir versprochenen Schmerz mit einer solchen Intensität, dass du den Fluch, wie mit einem Siegel eingebrannt, auf deiner Haut gespürt hast. – Wir entfernten uns gemeinsam vom Altar und die Engelsfiguren oben an der Decke bekreuzten dich wie einen Halunken, der sein Altpapier aufsammelte. Der geflochtene Babykorb schleifte über den gekachelten kalten Boden, sodass das Gefühl eines ständigen Eisregens über dich hinwegfegte. Selbst dein Hilferuf erstickte vor Gott. So ist die Einsamkeit in deinen Schlüpfer gekrochen. Und du hast dich bemüht, diese schwere Decke abzuschütteln, um den Erhängten zu sehen, der angeblich dein Onkel Jesus sein soll. Es hat nichts genutzt. Die Paten waren glücklich und spendeten nach der missglückten Taufe den „Orbi Delekti“ in Form eines alten Forumschecks aus Ost-Berlin.

Die Kirchenglocken schlugen den geformten Stahl, der mit einem Riss seine falschen Töne freigab. Die Bewohner, die seit vielen Jahren neben dieser Kirche wohnten, mussten ihre Fenster weit öffnen, um den Schall durchzulassen, der ihnen Angst machte. Nur bei dir war es so, dass die fettige Substanz von Hühnerscheiße und Babyspeck, die du nach neun Wochen guter Ernährung auf deinen Hüften trugst, ein schlechtes Omen ausstrahlte, weil du dich vor einem Jesuskreuz auskotzen musstest. „Halleluja!“, konntest du da nur sagen, denn mit Gott wäre dir kein besserer Einstieg gelungen als dieser. Würdest du dir einreden gern zur Schule gegangen zu sein, dann müsstest du lügen. Du würdest auch lügen, wenn du sagtest, nach dem Unterricht in einem der vielen Eisdielen dein geliebtes Schokoeis gegessen zu haben. Es war dir im Grunde egal, ein zahnloser Papagei oder eine zersägte Schildkröte zu sein. Die „Alten Denker“ würden ohnehin selbst entscheiden, was sie sehen und wen sie verletzen wollen. Der wahre Unterschied würde von keinem bemerkt werden, da sie ständig durch ein dünnes Weisheitscocktailglas hindurchschauen wollen, um nicht selbst gesehen zu werden. Und so warst du in der Lage, deine Weltschablone selbst auszumessen. Du hast feststellen können, wie klein deine Welt hinter dem Bettgitter war und wie bunt deine Spielwiese auf der Toilette mit Girlanden geschmückt wurde.

Du hast stets ein Trostpflaster bekommen, das deine Zunge zur trockenen Oase eines Vorgartens machte, sodass du den ganzen Tag nach Liebe dürsten musstest. Die frische, warme Schrippe vom Bäckerladen nebenan konntest du nie selbst nach Hause tragen, da man dir Beklemmung und Angstneurosen nachwies. Du warst nicht in der Lage, einen Wunsch alleine zu äußern. Alle zwei Jahre wieder kam einer der vielen „Alten Denker“ an dein Bett und las dir aus der Gesundheitsfibel der dritten Klasse vor. Zum Beispiel, dass Bettnässen etwas damit zu tun habe, den „Alten Denkern“ nicht gehorchen zu wollen.

Die Strafkolonie aus dem tiefsten Sibirien erdachte für dich Regeln eines Spiels, das dem Galgenspiel sehr ähnlich war. Dabei soll man sich auf einen hohen Küchenhocker stellen, einen dicken Strick um den Kinderhals legen und abwarten, bis der „Alte Denker“ nach Hause kommt, der dich dann befragt, ob die Hausaufgaben gemacht wurden. Sagt man ja, würde der Hocker unter den Füßen weggestoßen. Und bei Nein würde der Hocker noch schneller unter den Füßen verschwinden. Also was ist der Unterschied zwischen einem bewölkten Himmel und einem wolkenlosen Himmel? Du würdest keinen Unterschied finden, denn du sollst ja den Himmel gar nicht kennenlernen. Die Erfahrungen fehlen dir.

Die Idee sich zu besinnen, bewirkt eine Leere. Und diese Leere ist eine Moral, die keine Idee kennt. Und Sie kannten nicht diese Seite drei.

Die vierte Seite

Mein Wohnzimmerfenster ist leicht geöffnet, ich höre auf der Straße den Verkehr. Alles geht rasant an mir vorüber, die Schnelligkeit hat ihren Preis. Die Wege blockieren sich und lösen das Durcheinander der Worte auf. Das Rascheln der Straßenbäume wäre in den Geräuschen fast untergegangen, wenn ich nicht gespürt hätte, dass mich unter meinem Zwerchfell ständig das Fremde zwicken würde. Sind es die Zeichen einer Veränderung oder möchte ich die Zeichen eines Umbruchs verhindern? Wird die innere Sehnsucht wieder in mir zersägt? Genügt ein Hinsehen auf das Grab meiner Vorfahren, die in der Not das Gedeck verbrannten, um ein Zeichen zu setzen, und die mit den Fackeln jedes Bild ihrer Kindheit verbrannten, um sich von jener Zeit zu befreien, die nicht ihre war? Sie sagten: „Abstand halten!“, und verblieben dabei immer im Dunkeln. Ich sah sie nicht. Ich konnte sie wahrscheinlich nicht sehen, da mir das Gefühl für ein genaues Hinsehen fehlte. Man hatte mir nicht beigebracht, solche Dinge wahrzunehmen. Mit den lieben Worten war in mir eine total schöne Welt geblieben, auf die ich ungern verzichten wollte. Ich sollte ehrlich sein, um der Abgebrühtheit in mir auf die Spur zu kommen.

Die Ozeane schäumen auf und tragen ihre Wellen weit hinauf in den Himmel. Sie sprengen die Strömung aus der Flut heraus. Der Sturm nimmt zu. Das Rauschen ertönt unterm Bug, bricht das nasse Element aus dem Sog und senkt sich nieder, um die Fahrstraße der Lügen zu orten. Die Fahrt nimmt zu und reißt den Nebel auf. Die Möwen verweisen auf die Richtung des Hafens. Das Boot will kentern, bekommt Schlagseite. Backbord. Steuerbord. Dann wieder Stille. Das Netz hat sich verfangen, das Steuer wird herumgerissen. Keiner weiß Bescheid. Der Regen setzt ein. Wind peitscht die Reling. Man duckt sich und sucht Schutz. Man möchte leben, weiterleben. Aber die „Alten Denker“ werden nicht aufgeben. Sie wollen weiterfahren und den Hafen der Wut erreichen. Sie beten. Sie wollen gute Denker werden und rufen nach Gnade. Gnade, damit das Meer sie trägt. Die Not ist erfinderisch. Sie tragen das gute Wort an Bord und wollen geben, was in ihnen schon immer fehlte. Sie geben alles zu. Aus heiterem Himmel soll alles wieder gut werden. Doch nur, wenn der stille Hafen erreicht wird. Dann ist alles möglich, meinen sie. Die „Alten Denker“ zittern ängstlich am ganzen Leib und stochern im erloschenen Schmerz, aber der Sturm nimmt zu. Der zerbrochene Bug unterm Wasser bleibt am Schiff haften. Die Reling ist verbogen.

„Hart Backbord!“

„Wenden!“

„Holt Hilfe! Schnell, wir gehen unter! Das Schiff ist bald nicht mehr zu retten!“ Die letzte Messe wird gelesen. Der Abgesang klingt kläglich. Die Angst ist stolz und taucht in den Abgrund als wäre der Schmerz noch am Leben.

Die „Alten Denker“ stochern blind in ihrem Schmerz, suchen ihre eigene Schuhgröße aus, die ihnen die Fähigkeit gibt besser verstanden zu werden. Sie brauchen die Gewissheit, dass Missverständnisse das Übel aller Dinge sind, selbst wenn es nur darum geht, ein Gebet aufzusagen, um den erwünschten Segen zu bekommen. Warum dann die schwarzen Kutten anziehen, wenn das eine Auge noch blind ist? Warum Hilfe anbieten, wenn die eigene Seele entzwei gegangen ist? Das Vertrauen lebt und beschenkt die Gebenden. So oft hast du in diesen Bankreihen der Kirche allein gesessen und die Mücken bemerkt, die im Farbenspiel des Lichts herumschwirrten und deine Wangen berührten. In der Kirche faselten sie von Heiligkeit und besinnlicher Zeit, wobei das nur ein Pfarrer verstehen und dabei Wein trinken konnte. Die schön verzierte goldene Bibel nahm den ganzen Platz auf dem verschrobenen Altar ein. Kein Wunder, dass gleich zwei Kerzen die dunklen Seelen der „Alten Denker“ belichtet und die Seiten der Bibel mit Wachs bekleckert haben. Moderne Floskeln haben sie überhört, denn sie glaubten selbst nicht an den Fluch der alten Griechen, die ihnen das Märchentor von Jerusalem stahlen, um die Auferstehung ständig zelebrieren zu können. Es ist schon erschreckend, wenn der Pfarrer leicht alkoholisiert seine Sonntagspredigt mit der Weissagung hält, dass der Teufel in uns allen steckt. Die Hölle wartet auf jeden, der eine Sünde begangen hat. „Seid vorsichtig mit Äußerungen, die nicht selbst erfahren aber zu oft angepriesen wurden, um das Gewissen zu erleichtern.“

Du hast diese „Alten Denker“ gesehen und wolltest ihre schwarzen Kutten vom Kreuz rauben. Sie waren nicht würdig das Taufwasser über deinen Kopf zu schütten. Du konntest das abgestandene Wasser riechen, das seit Tagen und Wochen auf den wartete, der nicht im Recht war mit sich selbst Frieden zu schließen. Und du hast deinen inneren Frieden nicht gefunden. Denn woher solltest du auch die Kraft nehmen – du, ein junger Mann, der den „Dreißigjährigen Krieg“ auf einem Blatt Papier verhindern wollte, in dem er einen skizzierten Krieger wieder wegradierte? Woher solltest du wissen, dass die Weltwunder dieser Erde ihre Geheimnisse nicht verschenken und dass ein Kind wie ein großer Berg lebt und den kleinen Hügel der Angst nicht annehmen kann. Mehr noch! Woher solltest du wissen, dass dieser kleine Hügel in jedem „Alten Denker“ zu finden ist? Du hättest deinen nackten Arsch verwettet, dass die „Alten Denker“ gern wissen würden, wie die Quantentheorie funktioniert und woher die negativ geladenen Teilchen kommen. Das aber steht in der Bibel nicht geschrieben, und so ist das formlose Runterbeten der Menschwerdung sinnlos und geschmacklos. Keines dieser Worte würden sie je verstehen. Aus diesem Motiv heraus wird das Gebet immer wieder erneuert und mit träumerischen Fakten beweiskräftig gemacht – bis man denkt, es gebe den Weihnachtsmann tatsächlich.

Zu oft hast du am „Heiligen Abend“ vor der Haustür gesessen und auf den Schlitten gewartet, der angeblich deine Geschenke bringt. Zu keinem Zeitpunkt hast du den Weihnachtsmann gesehen. Nur die Straßenbahn hast du gesehen, deren Räder in den Kurven schleiften und einen hohen Ton pfiffen. Da wusstest du, es gibt keinen roten Mann, der dich ins rechte Ohr kneifen und fragen würde: „Na, war man immer noch unartig?“ Diesem Mann ist nicht zu trauen, er führt nichts Gutes im Schilde. Die eklige Fratze, die manche Hampelmänner als Weihnachtsmaske aufgesetzt haben, gab kein Vertrauen, sie machte Angst. Und der weiße Bart entsprang nur einer fantastischen Idee. Man betrachtete den Weihnachtsmann im damaligen Olymp als Hausmeister, der dafür sorgte, dass die Haustüren stets verschlossen blieben. Mit Plastik und Watte verfälschten die „Alten Denker“ die Attribute einer missverstandenen Idee, die nur den Hintergrund bediente, dass das Kind bestehende Grenzen nicht überschreiten darf. Würde es die Grenzen überschreiten, würde kein Weihnachtsmann je einen Leinensack öffnen. Denn Strafe muss sein. Strafe ist wichtig.

Güte und Gnade sind dagegen Relikte einer Fantasie, die einen jungen Buben nie hinter dem Ofen hervorlocken könnten. Du müsstest die Seiten deines Tagesbuches löschen, um zu beweisen, dass der unbekannte Wallfahrtsort an der Stelle zu suchen ist, wo du ohne Angst deinen Weg beschreiten kannst. Doch das ist keiner großen Bedeutung zuzuordnen, denn die „Alten Denker“ haben nie verstanden, dass dieser Ort ein heiliger Ort ist, an dem man beichtet, um sich zu befreien. Was dann geschieht, kann man auf einen winzigen Zettel schreiben: Chaos! Das Chaos einer unreifen Zeit. Aber ist das alles nichts wert, was man in der Liebe bewusst oder unbewusst andeutet, anbietet, anschaut oder annimmt? Ist denn Güte in der Liebe kein Geschenk? Denken denn die „Alten Denker“, man würde ihnen etwas wegnehmen, wenn sie fühlen? Du wirst nachschauen müssen, um den Beweis zu bekommen, denn sie sind schnell dabei, ihn für ungültig zu erklären. Du lässt alles für sich sprechen.

Du kannst dir einreden, dass einen die Unkenntnis über Ehrlichkeit und Glaube schwer belasten. Man sucht nach Motiven, die einen ständig begleiten und den Geist jeden Tag durcheinander bringen. Genügt es nicht, das Gelernte einfach umzusetzen und den „Alten Denkern“ zu folgen, bis der Abgrund vor den nackten Füßen liegt? Du hast den letzten Schritt nie wagen können, denn was sich hinter der Dunkelheit verbirgt, ist noch nicht erklärbar. Niemand konnte dir erklären, wie die Hölle aussieht, wie man den Tod erlebt und welche Märchenfiguren auf dich warten, wenn deine Seele auf einen verlassenen Ort zuschreitet. Aber das sind die Dinge, die du erfahren möchtest. Die „Alten Denker“ faseln von Utopien, die den Aliens sehr ähnlich sind. Sie faseln von einer Musik, die noch keiner komponiert hat, und lassen Straßen und Brücken entstehen, die du noch nie gesehen hast. Sie wollen Bücher schreiben, die beweisen sollen, dass nur ein Wort des Glaubens all die inneren Ängste erklärbar macht und dass belanglose Hemmungen den inneren Frieden bringen. Aber es sind nur Worte, und die kann man nicht sehen, weil das Licht fehlt. Die „Alten Denker“ wollen nicht aufgeben. Sie wollen einen Beweis erbringen, dass nur die Bibel das alleinige Recht besitzt, die Liebe zu erklären und dass der Glaube in einem das sät, was später geerntet wird. Sie wollen beweisen, dass die vielgepriesene Ewigkeit mit der Gnade eine Hochzeit eingeht? Lasst uns eine Welt betreten, wo der Fortschritt des verwahrlosten, unreifen Mannes nicht mehr allein über Alleen gehen muss. Die Alleen sind bereits mit einer dicken Hecke zugewachsen, aus der kein Entkommen möglich ist. Mehr noch! Du hast deine innere Scham nicht preisgegeben und kanntest die Zeit, als die Missverständnisse ihren Anfang nahmen. Hier waren die verlassenen Fundstellen, die du jahrelang gesucht hast, um dich selbst zu finden. Die Reifezeit deiner Erfahrung gedeiht in den Fundstellen, obwohl du geglaubt hast, es wären nicht deine Erfahrungen. Verpönt und ängstlich hast du sie verdrängt, um sie nicht dem Zufall zu überlassen. Die Selbstkontrolle bewahrt sein eigenes Gewitter, das den Ort findet, wo Wut und Groll ihren Platz haben. Die Gradwanderung zwischen Tun und Unterlassen konntest du nur mit ungelernten Gütern eines dir fremd gebliebenen Lebens nachempfinden. Diese Güter von Anständigkeit und Wohlwollen hast du in den dir entgegengebrachten Worten hoch geschätzt, aber leider immer missverstanden. Möge der Glaube in dir daran schuld sein, dass du es nicht besser konntest! Möge dein inneres Wesen nicht richtig erkannt haben, was ein feinfühliges Gefühl für Tore öffnen kann! All das sind Inseln, die du in einer Kirche nie sehen durftest. Selbst das damalige Taufbecken präsentierte sich als eine Art Schlaraffenland, umgeben von Stacheldraht und hassorientierten Bluthunden, die einem schwachen Kind die Kehle durchbeißen wollen.

Die Idee sich zu besinnen, bewirkt eine Leere. Und diese Leere ist eine Moral, die keine Idee kennt. Und Sie kannten nicht diese Seite vier.

Die fünfte Seite

Eine heftige Revolte durchzieht meine Gefühle wie eine eitrige Wunde, die sich nicht schließen will. Veränderungen schaffen? Die Wahrheit deutlich ansehen und das Gebet von Dummheit verwischen? Die Weltsicht neu definieren, die sich ihre Wohnecke für ein besseres Leben selbst einrichtet? Keiner darf sie betreten. Die Gerechtigkeit ist wie Schmierseife, die man sich vorher von den Fingern waschen sollte. Plakate und Uniformen, die sich in farblosen Landschaften niederlegen, verwalten den Zorn der „Alten Denker“, um nicht aufzufallen. Die Oberfläche der Edelstahlschränke macht einen krank. Gesten der Freundlichkeit verblassen. Der menschliche Ausdruck genügt dem Traum. Er hält sich zurück, um mich zu ergreifen. Nun ist die Angst wieder da. Schmerzende Scham erwürgt mich und meine Zunge, die ich vor Trockenheit nicht mehr spüren kann. Die Augen leuchten kurz, und dann sind die Tränen wieder an der Reihe. Das Interesse steigt und der Tanz wird mürbe und krank. Fühllos höre ich in mich hinein und baue mir meine Mauer wieder selbst. Der falsch verstandene Sonnenuntergang schlägt wieder zu.

Der verwelkte Baum zupft sich seine Blätter selbst zurecht, um seine Äste zu verdecken, ein Geheimnis zu bewahren und eine fremde Idee von ungeöffneten Knospen fernzuhalten. Kein Licht wäre in der Lage die Enden der Wurzeln zu versiegeln, um den Saft des Lebens zu erhalten. Erschreckend laut bläst der Wind ins Laub, will die Knospen herunterholen. Leise fällt Regen, und mit der erfrischenden Brise gewinnt die scheinbare Selbstlosigkeit in mir mehr Einfluss. Sie lässt mich schaudernd zusehen, wie der Baum sich erholt. Ununterbrochen wühlst du in der Muttererde herum und erkennst nicht die schlechte Gefühlslage, die in dir herrscht und nicht aufzufinden ist. Nur am Rand einer satten Wiese, die du früher mit Butterblumen bepflanzt hast, hoffst du, dass dich deine Gefühle an den Fußsohlen berühren.

Das umliegende Kornfeld kratzt deine Wunden auf, die du morgens müde verwischt hast, um deine Zeugungsfähigkeit nicht zu gefährden. Es macht keine Freude mehr, den Kalk heranzufahren, der mit der Muttererde vermischt wurde. Relevante Gefühlsausbrüche bleiben am Boden liegen – wie der Wind, der sich im Laub verkriecht. Du hast die vergangene Stille gehört und die Verlassenheit, die dich dazu aufrief, deine Kinder zu holen, deine offenen Briefe zu schließen, deine Notwehr sein zu lassen, Fragen zu stellen, die dich lächeln lassen, die deine Bescheidenheit vertrocknen lassen, um Ehrlichkeit zu bekommen.

Der alimentierte Tod verbüßt sein Geschehen selbst. Du aber kannst nur zusehen, wie die Worte auf dich prallen. „Ich kann das Spiel nicht mehr stoppen, das Fremde in mir wird den Hass lieben!“ Du kannst die zumutbare Offenheit nicht von jedem verlangen, denn das wäre ein kurzes Aufzucken dessen, was du seit gestern nicht mehr fühlst. Du hast das Paradies gesehen, die deine Mauern beschützten. Der kalte Wind macht dich krank und die Seele schreit nach Heimweh. Ein Kind kann nur säen, was es später ernten möchte. Die gebrochenen Stelen stehen auf den großen Plätzen der Stadt. Sie wollen mahnen, dass die Wahrheit in jedem Stein zu finden ist.

Der Mann, der seine körperliche Stärke in der Arena zeigt, ist nur eine Farce – eine Utopie, die keine Erfüllung braucht. Es sind verwischte Szenen eines Bildes, die man wie in einem Raster sieht. Sie halten jene Freundlichkeit verborgen, die dem Mann das Überleben ermöglicht. Doch es ist Vorsicht geboten, denn man begreift nicht sofort, wo der wahre Kern im Mann steckt, der seine Saat in der Kindheit gelegt bekam. Genau zu diesem Zeitpunkt geschehen die meisten Verletzungen. Verletzungen, die einem zu nahe kommen. So nahe, dass sie einen nicht mehr verlassen. Sie drängen sich einem auf. Sie erzählen ihre Geschichten, die Träumen ähneln. Es sind Träume, die eine Sehnsucht stillen sollen. Und der Mann braucht diese Träume. Sie sind für ihn lebensnotwendig, sie garantieren sein Überleben. Mit ihnen erkennt er seine unfaire Umgebung und kann sie besser machen. Er erkennt das Risiko seiner unterschiedlichen Ideen und ist in der Lage einen Weg zu finden.

Weit geöffnete Türen lassen den erzwungenen Gedanken frei, dass die Weiblichkeit im Mann einem neuen Maß von Willkür und Opferrolle unterliegt und ein endloses Gebet nach sich ziehen würde, um Wiedergutmachung zu erreichen. Alle Fesseln lassen sich lösen, um aus der Alibifunktion heraus zu kommen, die einem ständig zur Last gelegt wird. Sich zu finden. Sich zu orten. Sich dem Gegenüber zu positionieren, hat die krankhafte Simulation der „Alten Denker“ jahrelang überdauert und dir schlechte Träume beschert. Die Freude, die jeden „Alten Denker“ ermahnt, dass auch die Traurigkeit in einem Mann lebt, weilt auf einem hohen Podest allerdings nur kurz. Mögen die alten Fragen dieser Zeit in den Hintergrund treten, um einem unerforschten Kind neue Impulse zu geben. Jedes Kind hat den roten Stempel im Zeugnis, der bezeugt, dass die harte Zeit noch vor ihm liegt. Hartes Vorgehen ist überprüfbar und kann zu jeder Zeit die Zukunft aus der Verankerung des Kindes reißen. Dieser Bluff hält nur kurz an, dann werden die Spielregeln der „Alten Denker“ außer Kraft gesetzt. Denn sie verfolgen nur eine Tatsache, das Kind aus seiner Höhle zu locken. Ein scheues, verängstigtes Kind kennt kein Spielgerüst oder eine Kinderschaukel im Garten. Es wird auf weiter Flur nach Hilfe rufen. Beim Suchen wird der „Alter Denker“ seine harte Faust auf den Tisch schlagen und sagen: „Hier ist Schluss! Hier wird dem gehorcht, der das Geld nach Hause bringt!“

Kennt man doch! Die Idee sich zu besinnen, bewirkt eine Leere. Und diese Leere ist eine Moral, die keine Idee kennt. Und Sie kannten nicht diese Seite fünf.

Die sechste Seite