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Lena, eine Frau, die sich in der heutigen Gesellschaft neu orientieren möchte, sucht Anerkennung in der Kunst. Sie wurde von ihrer Mutter nie beachtet und erlebte eine kalte, herzlose Kindheit. Sie kennt nur ihren Vater, der ein sexbesessener, bösartiger Mensch ist und ihre Vorstellung von einer liebevollen Männerwelt zerstört. Ihrer Ansicht, dass ein Mann anders sein kann als ihr Vater, schenkt sie keinerlei Beachtung mehr. Sie will keinem Mann trauen oder dessen Nähe zulassen, bis eines Tages ein Mensch ihren Weg kreuzt, der sich in sie verliebt. Doch wird diese Begegnung ihre innere Zerrissenheit heilen, ihre Wut, ihren Hass auf Männer? Die Frau in Ton ist ein Buch des Autors Matthias Hartje.
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Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Lena, eine Frau, die sich in der heutigen Gesellschaft neu orientieren möchte, sucht Anerkennung in der Kunst. Sie wurde von ihrer Mutter nie beachtet und erlebte eine kalte, herzlose Kindheit. Sie kennt nur ihren Vater, der ein sexbesessener, bösartiger Mensch ist und ihre Vorstellung von einer liebevollen Männerwelt zerstört hat. Ihrer Ansicht, dass ein Mann anders sein kann als ihr Vater, schenkt sie keinerlei Beachtung mehr. Sie will keinem Mann trauen oder dessen Nähe zulassen, bis eines Tages ein Mensch ihren Weg kreuzt, der wahrhafte Liebe für sie empfindet.
Matthias Hartje, geboren 1960, absolvierte eine Lehre als Filmkopierfacharbeiter und später als Druckformhersteller. Viele Jahre hat er in einer Wohngruppe für demenzerkrankte Menschen gearbeitet, wo er sich für den Beruf als Wohngruppenfachkraft für Demenz entschied.
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Für Björn & Sven
KAHLERT
Prolog
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechszehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Zweiter Teil: Am nächsten Tag
Kapitel Vierundzwanzig
Kapitel Fünfundzwanzig
Kapitel Sechsundzwanzig
Kapitel Siebenundzwanzig
Kapitel Achtundzwanzig
Kapitel Neunundzwanzig
Letztes Kapitel
Liebe mich! Liebe dich! Liebe die Welt und renne die Straße hinunter, wo die Flammen der Vergesslichkeit aufsteigen, die dich in deinen dumpfen, belanglosen und chaotischen Gefühlen erhitzen. Liebe den Mohn! Liebe das Zurückliegende, das Verwahrloste! Liebe das Elend und den Schmutz deiner verfälschten Dankbarkeit! Liebe den Schmerz, der dich spüren lässt, dass du jemand bist, der du nicht sein willst! Dein Antlitz zeigt die Sorge und aufgewühlte Musik, die von deinen Fingernägeln erklingt. Sie erreicht den Kelch der Hilflosigkeit bei Weitem nicht. Der Nebel mag dein Wesen, die unsinnigen Momente deines Lachens. Dicht gefolgt von Angstschweiß, der die erbärmliche Niedertracht von oben herab umarmt.
Du, das scheue Reh, das Gaben verschenkt, die dir nicht gehören? Nur dein Gedanke, der sich von der Liebe abgewendet hat, um nicht aufzufallen, was das Gefühl von dir will, wurde an jenem Ort verbrannt. Und deshalb wird die schwache Kraft in dir das wuchtige aus Blei gegossene Tor nicht öffnen können. Der kalte Wind war es, der deine süßen, geschmeidigen Lippen zerrissen hat, um das Gesagte nicht zu dulden. Deine erbärmlichen Gedanken zerstreuen das blutgetränkte Ufer, das deiner erhärteten Welt sehr nahe steht. Deine schnellen Küsse waren nicht begehrenswert. Sie taugten nichts. Selbst deine heruntergekommene Würde erschien beim Schlendern in den Gassen sehr frivol und feige – man kann sagen, sehr eigenartig und aggressiv. Besser noch, das seltsame Gehen deines Schrittes auf dem Kopfsteinpflaster erwürgte deine Erscheinung als wäre der Leichengang ein Tanz deiner Fröhlichkeit.
Der Gang deiner Schritte erzählt vom wahren Epilog, dem wahren Verächter, der von dir erdachten Muse. Alles scheint dir leicht zu fallen. Man könnte denken, dass deine Talente in jedem deiner Moleküle bereitstehen und darauf warten, das Leben einer weiblichen Prinzessin von anno dazumal zu führen. – Hast du nicht bewusst diese Stadt ausgesucht, in der das Altertum und die Monarchie noch zusammenpassen, in der die Ampelschaltung, die an der einzigen Kreuzung im Ort rot leuchtet, auf dein Kommen wartet? Und wenn du es schaffen würdest, diese bizarre Situation mit einem Lächeln zu überschatten, dann könntest du ein Balsamholz in die Hände nehmen, das dir all die Geschichten von der Liebe erzählt. Aber leider! Ja, leider war es dir nicht vergönnt, die Liebe und den Hass in Verbindung zu bringen. Die verblassten Rollos an deinen Wohnzimmerfenstern verkriechen sich unter dem wackligen Blumenbrett, das nur den Kaktus der Freude festhält. Das kann doch nicht alles sein?
Deine Wände sind feucht geblieben. Die Tapeten haben sich gelöst und gleiten nach unten. Dein Briefkasten ist voll. Dein nicht fertig gemaltes Aquarellbild erbricht die letzte frivole Heuchelei, und du bestickst damit dein Leichentuch. Alles in dir scheint so leer, als würdest du die Armut bitten heimzukommen. So infam und unberechenbar ist dein Ego.
Kein Witz erreicht deinen Verstand, kein Wahnsinn sprengt deinen verletzten Geist. Kein Spott verdirbt deine Angst. Kein Licht erklimmt die gedachte Illusion, die deiner unreinen Haut einst so nahe kam. Zu nahe, denn die Ideen, die keine Silben deines Vornamens kannten, wurden auf dem Aquarellpapier von dir zerschnitten, zerquetscht, verworfen, verdrängt und letztendlich ertränkt. Und das alles mit dem Sinn, aufzufallen, wichtig zu sein und der Dominanz den Lack abzulecken. Pfui Teufel! Und nun ist dein Weg in Gefahr, denn die Einsamkeit lässt die Luftballons fliegen, die du jetzt herunterholen musst. Die Andacht einer Umkehr der Veränderung wagt das Schachspiel im Zuge deiner Überlegung. Nur, dass der Anfang gemacht werden muss.
Das Knarren der abgelaufenen Holzdielen im Arbeitszimmer erzählt nur mühsam das Haltbarkeitsdatum des Inventars deiner Psyche. Nur langsam sieht das Auge das Mobiliar, das ohne Licht auskommen muss. Kalt ist der Raum. Spinnweben kennen ihren Preis und lassen Fliegen sich im Netz verfangen. Verstaubt und verschrammt ist der Kleiderschrank. Der aufgewirbelte Staub kennt seine Tarnung und sucht die Holzkisten aus, die Jahrzehnte lang unter dem Bett standen. Die Deckel sind brüchig, denn die Nässe lässt sich Zeit, um jene Erinnerungen wegzubewegen, die keinen Halt mehr finden.
Chaos ist entstanden. Loses Blätterwerk liegt auf dem trockenen Boden. Ungelesene Bücher liegen zerrissen auf dem aufgewühlten Bett. Bunte verblasste Stoffe hängen über den Stühlen. Heruntergerissene Gardinen flattern bei offenem Fenster unruhig im Wind und die leeren Blumenkästen dürsten nach Wasser. Abgerissene Regale prägen die heimische Idylle, die den Gestank der schlechten Luft mit sich nahm. Ein gefüllter Aschenbecher und abgebrochene Bleistifte senken den Traum von heller Freundlichkeit. Die Stafette liegt zerbrochen auf dem Boden, gibt keinen Gedanken mehr weiter. Die Farbschalen sind getrocknet und warten ab, bis sich die Pinsel selbst entfremden, um hart zu werden, wie du erhoffst. Zerrissenes Aquarellpapier versumpft in den Ritzen, die dein Treiben nicht mehr tolerieren. Das Lampenglas der Schreibtischlampe liegt zersplittert auf dem zerfransten, mit Öl getränkten Teppich. Das Muster, das du nicht sehen willst, ist gut sortiert.
Ist hier die Einsamkeit entstanden, die dir nicht mal genug Zeit ließ, die Seiten des Buches auf dem Tisch zu verschließen? Ist das deine Entscheidung von Flucht oder Ankommen? Schon deine Anwesenheit hier im Raum bringt dem Bettler von der Straße die besten Gaben zu sich nach Hause und vermischt die Langeweile mit Elend. Erbärmlich und verdreckt liegt dein Gesuch an jenem Ort, der dich einst zum Wahnsinn führte. Dein Kommen ist nicht gewollt. Nur das Hinterfragen macht einen Sinn, den Anfang zu wagen.
Was ist geschehen? Wer erfuhr das Gesagte und warum ist das Gefühlte verloren gegangen? Ist die Utopie ein Märchen, das den Krieg mehr liebt als den Verwundeten? Lass die Ruhe dort grasen, wo sich der himmlische Rauch mit deinen Sinnen verbindet! Lass deine geschlossenen Augen weiter zu und beschenke deinen Traum mit bunten Farben, die du brauchst, um zu sehen, was im Dunkeln liegt! Lass sichtbar werden, was du verdrängst, was nicht spürbar ist! Inhaliere deine Zigarette vergnüglich und bitte darum, dass auch dein letztes Lachen vom Wissen über den Tod gekrönt wird! Entwerfe das unerprobte Lebensmodell von Neuem und begrüße den letzten Pinselstrich am Tag, der gestern das Aquarellpapier noch nicht mochte! Halte aus und verbringe die Zeit in Geduld! Aus ihr werden deine Ideen geboren. Sie werden deinen Weg begrüßen. Sie werden die geraden Linien biegen, um sie in den langen Schatten zu ziehen. Sie werden den Schatten verlängern, um aus dem heißen Ort deiner Mitte zu entkommen. Berühre dein Mitleidmantel aus Fell! Berühre mit dem Licht die dünne Schale aus Blut! Treib das vertrocknete Balsamholz fort und geh auf die Brücken, die dich tragen, um den gefallenen Soldaten zu empfangen! Verlasse deine verkorkste Kindheit, aus der dein Name entsprang! Verdränge dein geschriebenes Gedicht und erkläre, dass der gefundene Weg ein Irrtum bleiben muss! Nur das schlichte Maß von Elend reicht dir die Hand, um dir das schöne Wort zu entreißen. Deine Sprache kennt deinen Namen nicht. Gönne dir das Gemach der langsamen Heuchelei, die deine Gier befriedigen will!
Was kannst du mit dem Glauben anfangen, der deinen Gedanken gegenübersteht und sie doch ablehnt, der dich unter dem Regenschauer erdrückte, als die Gnade dich umarmte! Gönne dir die Auszeit mit dem eisigen Wind, der sich am Zaun verfängt! Gönne dir den Traum von unverstandener Wut, die ein Entkommen ermöglicht! Gönne dir die Zeit des Weinens, die dich befreit und mit ultrahellen Reflexen beglückt! Hole dir die übrig gebliebene Hoffnung, aus der die dünnen Fäden einer Zukunft gesponnen werden, die brennend auf deiner Haut zucken und jucken als würden sie eine Erklärung suchen, die dir aber nicht weiterhilft, um dein Überleben abzusichern. Nur deine Gleichgültigkeit, die dem Geschmack von Blut und nassen Wunden nahe kommt, kannst du noch lieben.
Auch die jungen Sänger an deiner Haustür werden den Refrain nicht kennen, da sie nichts über die Wahrheit wissen. Keine Lebenswaage wird das Gewicht der Scham und der Neugierde halten können. Sie geben deinem Gefühl keine Ruhe. Sie trotzen und agieren bunt in dir weiter und rufen den Marktschreier in dir auf, der die Wahrheit weiß. Die Stimme wird laut, aufdringlich und kommt dir sehr nahe. Sie wird zur schweren Last, und deine Ablehnung spaltet sich auf, um die Hierarchie deines Ichs in einer Nacht nachzuempfinden. Aber es ist nicht möglich, weil das Wilde, das Schlimme, das Arge in dir kein Wasser findet.
Der Grund deiner eigenen Ablehnung ist schwer zu beschreiben, denn das ehrenhafte Gefühl ist dir längst abhanden gekommen. Du hast es nicht bemerkt. Deine Neigung zum Leben und zum Tod kennt nur den Verdacht von Verrat. Die Spaltung deiner Ideen wird die Empfindung in dir wild wuchern lassen und nicht mit dir eins werden, um das ewige Feuer zu löschen, selbst wenn du sagen würdest: „Ich liebe dich!“ Du hast vergessen, was Verachtung für eine Rolle in deinem Leben spielte. Du hast stets vergessen, dass die männlichen Kreaturen das Schachspiel aus Zwang spielen, um Reife und Genesung zu riechen.
So kannst du in Ruhe deinen Tee trinken und mit der Verpflichtung die Hände zusammenfalten, dass die innere Neigung feinfühliger wird als das Bildnis deiner Kindheit. Aber das tritt nicht ein, denn die Unentschlossenheit nagt an deiner Seele, die dich weiterhin krankmacht. Nicht einmal die winzige Möglichkeit der Freude wird von dir aufgerufen, um deinen Lippen ein winziges Lächeln abzuluchsen. Nicht einmal das seltene Geschenk der Zuneigung war dir ein Lächeln wert. Leider! Und doch ist das Glück in dir vorhanden. Es ist klein und versucht trotzdem den Weg zu finden, um dir die innere Flucht zu ermöglichen. Dein Gesichtsausdruck von fremder Bewunderung kennt keine Grenzen, und doch tust du so, als wäre der Gesang, der immer wieder von den benachbarten Straßenzügen zu hören ist, für dich das Langweiligste auf Erden.
Leere Straßen verwalten deine verbitterten Gedanken über die Unehrlichen, die Parasiten, die Verdammten, die keine Neigung für das Schöne haben. Diese Gedanken fordern dich auf, den geplanten Bluff zu befolgen, der dein Lebensschema jeden Tag neu kopiert. Du siehst etwas, das nicht da ist. Du kannst dich nicht hassen und gleichzeitig lieben. Du wirst nicht mit der rechten Hand die Dunkelheit berühren und im Licht leben können. Deine Gedanken führen dich ins Chaos. Missverständnisse entstehen und dienen deiner Angst, denn sie lebt davon. Nur deine zierlichen Fußabdrücke lassen erahnen, dass die Holzdielen die eigentlichen Zeugen deines Seins auf Erden sind. Mehr war auch nicht das Ziel deiner Täuschung, deiner Verirrung, deiner Missverständnisse. Nur die Symbole haben dich erreicht – Symbole, die keine Mahnungen kannten. Deshalb fordert die Angst die Lüge auf, alles neu zu erfahren, um nicht zu vergessen. Fatal, denn du forderst stets die Schuld auf, jene Motive zu finden, die deine Verletzungen geprägt haben.
Du bist du. Schuld und Schmerz stellen keine Fragen, ließen dich aber in Ruhe – bis heute. Die starke Ignoranz in dir keimte leise an der Zunge empor, sollte jede Blume zum Erblühen bringen. Keine menschliche Seele würde dich auf einem Bahnsteig ansprechen, nur weil dein dünnes Haar sich mit dem Sturm dort draußen verbindet. Deine Nase nach oben gerichtet, dann erblindet im Regen die Krone der Schöpfung. Deine Augen sehen nicht die Armut, die ein aufeinander Zugehen ermöglicht, um sich mitzuteilen. Nein, es ist deine innere Stimme, die das spielende Kind anschreit, um sich zu behaupten.
Dein übergroßer Filzmantel passt dir schon lange nicht mehr. Du hast auch ohne ihn inzwischen begriffen, wie man ein Fenster öffnet, um sich im Winter der Kälte bewusst zu werden. Die Ruinen aus dem Hinterland werden der Keuschheit ihre hilflose Aufwartung machen. In voller Erwartung werden sie dir von einer heilen Welt erzählen. Aber denke daran, dass die heile Welt nicht aus Watte besteht, denn deine Gedanken sollen in deiner Seele ein festes Fundament erhalten. Die pure Täuschung ist der brutale Schakal des Denkens. Irren ist ein Wesen der Angst.
Das angeblich bescheidene Leben, das du immer wieder betonst, kennt keine bunte, hell erleuchtete Reklametafel, worauf geschrieben steht: „Umarme dich selbst!“ Dein Zorn kennt bereits alle Warnsignale, die deine spirituellen Bezeugungen in Gefahr bringen. Und doch ist dein Unwissen von einer angeblichen Wahrheit über dich die Inszenierung einer unendlichen Verlogenheit. Und diese Verlogenheit kennt keine Dankbarkeit, keine Musik einer friedlichen Zerstreuung. Sie wird dich nur zur mehrfachen Teilung deiner Angst verführen.
Tränenreich stehst du vor einem verschlossenen Kleiderschrank und weißt bis heute nicht, wann die Zugvögel vorbeiziehen. Du weißt nichts! Der trockene Mund unterbricht dein Nachdenken. Die pure Euphorie, die beherrschende und stetig wachsende Kunstwelt zu verstehen, versagt zu jeder Tageszeit und kann nicht aufgerufen werden. Blind ertastest du deine jetzige erbärmliche, versaute, dreckige, elende Welt. Stumm tastest du mit deinen zarten Fingern über das nicht gemalte Bild. Du tappst wie ein junger Frosch auf dem Trockenen umher und hoffst auf Nässe, die in der Wüste nicht zu finden ist. Deine Erlebnisse werden vergessen bleiben, weil dein Film nie gedreht wurde. Alles zerbricht, du schwankst auf einer Schaukel, die dich nicht mehr lange trägt. Den Anschluss, der dein Pseudoleben entfremdet, wirst du erneut verpassen. Du bist mit dir selbst fremd gegangen und verfolgst kühle Schatten, in denen du deinen Feind vermutest. Vor dem Hintergrund, den einzigen silbernen Faden der Begierde aufzuspüren, hast du die Straßenseite gewechselt. Deine Augen tränten und die Gase der Vergesslichkeit zwickten in deinen Haarwurzeln, die du schließlich im Wind verloren hast. Vielleicht sind deine hasserfüllten Erinnerungen in eine langsame und eklige Musik übergegangen, die an so manchen Tagen deine Stimmung aufhellen soll. Die traurige Stimmung in dir, die dich ständig heruntergezogen hat, erkannte die Besonderheit nicht, was gute Ideen im geistigen Denken auslösen können. Die leeren Tulpengläser mit dem Wappen der Angst im Glasschrank warten darauf, mit diesen Tränen gefüllt zu werden. – Du kennst den Rhythmus der Naturbegabungen, die in unterschiedlichen Wahrnehmungen betrachtet und bei gelangweilten Denkern für schön empfunden werden. Es gibt kein Zurücklehnen! Du wolltest die Leistung erbringen und dir Respekt verschaffen. In der Vielzahl deiner melancholischen Lebenssituation, die eine dir typische Sicht für das Seltsame entfacht hatte, bist du stecken geblieben. Natürlich war ein sanfter Sonnenuntergang mit den rötlichen Nuancen eines Regenbogens unbekannt an dir vorübergezogen. Du hast die seltenen Augenblicke, die du erhaschen konntest, verschenkt. Zu mächtig war das Bild der Freude, die als kleine Zeichnung einer Angst zu sehen war.
Ohnmächtig steht dein Geist jenem gegenüber, der dir Zuspruch gibt und sagt: „Gib nie auf!“ Nur ein Wunder kann deine Prämissen der Verdrängung stoppen. Ja, das wäre ein Wunder! Denn in dir baut sich ein Widerstand auf, der das Chaos schürt und den Werdegang deiner Heilung immer wieder zerstört. Diese Gefahr musst du erkennen! Aber leider ist es dir nicht gelungen, aus dem Wulst von Verquickungen herauszukommen, denn die Wahrheit lag nicht einfach auf der Straße. Man musste selbst nachschauen, um den Ast seiner Persönlichkeit zu finden. Viele „Alte Denker“, die dich kennen, werden die gestrigen Zeitungen wieder wegwerfen, denn sie wissen bereits, wann die Züge abfahren müssen. Kein heiliges Wissen ist erforderlich, um mit gutem Betragen und feinen Kleidern durch die Straßen zu stolzieren und Anerkennung zu bekommen – die du angeblich brauchst. Gesehen wird man gewiss, das solltest du wissen! Kleider machen Leute, und schlechte Stoffe erkennen den wahren Charakter, der in der Bibel durch sündige Seelen gut beschrieben wird. Und was sagt man dazu? Man kann in einer Höhle wohnen und das Selbstbildnis im Traum noch mal nachzeichnen, gleichwohl bleibt die Höhle kalt, auch wenn der Traum warmherzig sein mag. Ob du das verstehen kannst? Ich weiß es nicht! Wie lautet dein Name? Unter welchem Sternzeichen hast du monatelang gelegen und die Sternschuppen am Himmel gesucht, die dich nie erreichten? Unbekümmert und unbeachtet bist du allein durch die Straßen gelaufen und deine trockenen Blicke verfingen sich im Kopfsteinpflaster. Deine Scham macht das Bild perfekt. Du kennst keine Freunde, keinen Nachbarn und keinen „Alten Denker“, der am Gemüsestand das verfaulte Obst herausholt, um dich anzusprechen. Du erkennst keinen gut geschnittenen Mantel mehr. Du gehst auf der anderen Straßenseite, verschickst im gleichen Atemzug kalte Grüße mit der linken Hand und schiebst leise eine eiserne Maske über dein Gesicht als wäre ich für dich ein fremder Mann, der das Schafott mehr liebt als das Leben. Kannst du nicht erkennen, dass ich „Ich“ bin? Ich trage einen anderen Mantel und mein Herzschlag klingt anders. Selbst meine Stimme sucht das Liebliche, das Erfreuliche, das Hüpfende, das Verspielte in dir. Mein Eindruck täuscht mich nicht, wenn ich eine deiner Türen öffnen möchte, aber nicht kann. Schwere Balken hindern mich daran, das Licht in deine Schmerzkammer zu lassen. Kein Wunder, dass du krank geworden bist. Denn es war ja angeblich richtig, dass du mit der Einsamkeit den Bund fürs Leben geschlossen hast. Kein Wunder, dass du mit schwarzem Asphalt deine Puppen verformt hast, um das verbrannte Innenbild in dir nicht zu löschen.
Es ist dir schon bewusst, dass dein Familienname auf vielen dieser Krankenakten mit diversen Aufklebern überschrieben wurde und dass bereits vergangene nicht geheilte Schicksale aus dieser weißen Klinik vor deiner Zeit das Weite suchten, um nicht noch kränker zu werden. Aber nein, du gehst einsam die Straße entlang und schaust dir die Geschäfte an, die nichts weiter in ihren Auslagen haben als nackte Illusionen, die keiner wissen will: Schultheiß-Bier, Neckermann-Reisen, Fleischerei, Apotheke, Bäckerei, Wäscherei und die endlosen Kneipen mit der Bitte einzutreten.
Ja, komm herein! Sie werden dir zeigen, wie man das falsche Feuer entzündet, um dir fettigen Ruß um deinen Bart zu schmieren. Komm trink etwas, damit das Vergessen reizvoller wird! Sie wollen dir Gutes tun. Sie wollen, dass die Angst verschwindet, dass du dich wohlfühlst und einem besonderen Hobby nachgehst – einem Hobby, dem viele kranke Seelen bereits gern nachgehen. Und dieses Hobby hat viele Namen: „Die erleuchtende Sucht“, „Süße Alkoholsucht“, „Eingelegte Nikotinsucht“, „Weiß eingefasste Drogensucht“ oder „Leere Magersucht“. Ist das die Perspektive, die du gesucht hast, oder ist die Übernachtung unter der Brücke eine bessere Variante? Wahnsinn! Seltsam schön! Überall diese Störungen, Konflikte, Unruhen, Täuschungen, Irritationen, die dich davon ablenken, wer du wirklich bist. Sie wollen dich vermischen, verwechseln und letztlich verwirren, um dich zu zerdrücken. Oder willst du gar nicht mehr du selbst sein? Ist die Zeit leise an dir vorübergegangen und hat sich mit einem Kalkül vermischt, das die Gefühle in dir nur noch mehr aushärtet? Jenseits deiner Maske sind dein Stolz und dein Mitgefühl in dir verwittert wie Baumrinden, deren inneres Gewebe von Maden zerfressen wird. Aber nein, du hast deine Entscheidung gefällt und wirst den Verrat vollstrecken, der in deiner Kindheit nur kurz verkündet wurde. Und nun bist du verbittert und lehnst das männliche, angeblich weiche Leder ab, nur weil die Angst dir sagt, dass es wieder geschehen wird. Was wird wieder geschehen? Was könnte dir denn geschehen, wenn am Tag ein einziger Sonnenstrahl deine Haut verbrennt?
Dein Name steht auf Briefumschlägen, auf Namensschildern, auf Postkarten und in deiner Geburtsurkunde. Und diese Geburtsurkunde ist präsent, einleuchtend, grandios, edel und in seltenen Variationen deiner Gefühle lebendig.
Lena, die Auserwählte. Sie besitzt eine zarte Figur mit feinfühligen, dünnen und sensiblen Fingern, die sich so vorsichtig an eine Kaffeetasse herantasten als würde jeden Moment das Porzellan zerbrechen. Du kannst sie stehen lassen und so tun als wärst du mit dir allein auf der Welt. Du läufst die Straße entlang, ohne mich zu beachten. Früher war das anders. Wenn du mich schon von Weitem gesehen hast, bist du auf mich zugerannt und hast Tausende fliegende Küsse verteilt. Wie wunderschön doch dieser Anblick eines berauschenden Festes bizarrer Erinnerungen war, die ich immer noch in mir trage. Ich sehe noch deine kurzen Schritte, die deinen kleinen Körper hoben und senkten. Die zarte Brust schaukelte sacht und leicht, als ob das Leben sie rief. Die Sohlen deiner Schuhe tippelten hörbar auf dem nassen Asphalt und spielten eine taktile Musik. Übrigens, es war die erste und letzte asphaltierte Straße, die in deinem Dorf, wo du aufgewachsen bist, hergestellt wurde. Es war angeblich ein Geschenk aus der Hauptstadt – Ende 1988. Dein Dorf wollte man auf diesem Wege würdigen, weil die Bauern die meisten Schweine in den Ställen besaßen und stolz den Namen „LPG Ernst Thälmann“ trugen.
Du wirst dich sicher erinnern, wie im Dorf die ausgebleichten DDR-Fahnen an die Häuser gesteckt wurden. Jeder Garten schmückte sich mit roten Girlanden. Jungpioniere sangen das Lied „Die kleine Friedenstaube“. Die Genossen steckten sich eine rote Nelke an, dabei waren sie nur froh, dass sie nicht zur Arbeit brauchten. Nach dem Spalier vor dem Rathaus waren die Kneipen voll, denn der Bürgerrat und die Volkssolidarität spendierten dünnes selbst gebrautes Bier.
Ich sehe in deinem Gesicht, wie misstrauisch du grübelst und diese Zeit mit deiner linken Hand abwinkst. Aber es war so, und diese Zeit gehört zu uns.
Ich kenne die Geschichten der Verstaatlichung der Bauernhöfe auf den Dörfern, die dann schließlich zu LPGs umgewandelt wurden. Es ist gut zu wissen, wo man seine Ausbildung gemacht hat. Deine Alten haben es geduldet. Sie haben keine Fahnen an ihre Häuser gehängt. Die Veterinärausbildung in Erfurt war nicht dein Ding, und dennoch hast du sie mit Gut abgeschlossen. Du sagst heute, dass es verschenkte Jahre waren. Deine Alten haben es abgelehnt, dich auf eine Kunsthochschule zu schicken. Den Ablehnungsbescheid hast du heute noch. Immer und immer wieder hast du das beschissene Papier herausgeholt und dich darüber ereifert, warum gerade dir das passieren musste.
Selbst deine Mutter war am Anfang von dir begeistert. Sie hat gesehen, dass der Stift leicht in deinen Händen saß. Mit geübtem Schwung hast du die Linien gezogen. Schatten kamen hinzu. Wellen brachen das Licht und nach wenigen Sekunden lebte das Aquarellpapier auf. Nach der Schule hast du viel gemalt, vor allem Porträts, die du dann sogar mit kleinen Prosaversen versehen hast. Wie ein kleines Fotoalbum sah es aus. Eines der alten Alben hast du einer studierten Kuratorin gezeigt. Sie war von dir begeistert. Endlich eine Seele, die dich verstanden hat. Sie konnte in deinen Zeichnungen die Verletzungen erkennen, die in dir schlummerten. Eine Gleichgesinnte zu haben, war für dich wie ein kleiner Diamant. Und diesen Diamanten wolltest du mit keinem teilen. Aber deine Mutter entdeckte diesen Diamanten, den du lange Zeit verheimlicht hast. Dein Drang, nach der Schule oder nach der Arbeit ins Atelier zu gehen, um dort der Kunst zu frönen, war deiner Mutter ein Dorn im Auge. Der Kampf begann, ein Aufgeben gab es nicht. Der Zwang, die Hoffnung, das Zureden, das Zurechtlegen für den morgigen Tag, dass die Kunst bald dir gehören würde, war vergebens. Der Bluff deiner Mutter funktionierte, denn sie spielte mit der Zeit – mit deiner Zeit. Diese Zeit war für immer verloren. Jeden Morgen hast du die Kühe gemolken und ihnen Streu gegeben. Jeden Morgen. Woche für Woche. Und während du das Vieh versorgt hast, hat deine Mutter Skulpturen geformt und gebrannt. Ihre Macht weitete sich aus. Ausstellungen hatte sie vorbereitet, Flyer ausgehängt, Skulpturen ausgewählt. Die Plakate hingen überall in der Stadt. In Zeitungen wurden sie abgebildet und man nannte deine Mutter „Kunstkönigin aus Eichsfeld“. Für dich war das unerträglich. Überall bist du deiner Mutter begegnet. Und irgendwann wurde dir klar, dass sie dich auf den Arm genommen hatte. Sie hat dich nie ernst genommen. Das Schlimme war nur, du hast es mit dir machen lassen. Ihre Worte, dass du dumm und naiv sein würdest, stimmten nur zum Teil. Und das weißt du auch.
Im Leben geschehen viele unerklärliche Dinge, denen man keine große Bedeutung beimisst. Man nimmt sich selbst nicht so wichtig. Gefühle werden einfach heruntergeschluckt. Man wird mit der Hoffnung vertröstet, irgendwann die geliebte Kunst studieren zu dürfen. Irgendwann. In fünf oder zehn Jahren? Heute ist man an einem Punkt angelangt, wo man sich fragt: Was habe ich daraus gelernt? Wie habe ich diese Erfahrung zu meinem Vorteil genutzt? Ich glaube, diese Fragen hast du dir nie gestellt. Nie! Du bist in einer Falle zerbrochen und hast keinen Neuanfang gewagt. Zu keiner Zeit hast du den Mut gefunden, dem Fluch deiner Mutter zu entkommen. Mehr noch! Du wolltest ihr zeigen, dass du etwas bist. Dein späteres Studium war nur ein kleines Trostpflaster. Ich glaube, dass sich hinter dieser Fassade noch eine schreckliche Geschichte verbirgt, von der du dich bis heute nicht erholt hast. Es ist etwas geschehen, was die Einweisung in die Klinik notwendig machte.
Lena, was war geschehen, dass du an einen solchen Ort kommen musstest, wo Ärzte mit weißen Kitteln in langen Fluren herumrennen? Sie sind wie winzige Hornissen mit Namenschildern. Ich stehe vor dem imposanten Gebäude und verzähle mich andauernd in der Anzahl der Fenster der jeweiligen Etage. Neunzig habe ich gezählt. Dazu weiße Wände, unzählige Speisesäle und Tausende Hinweisschilder an den Wänden. Stressgesteuerte Schwestern laufen umher, die die langen Gänge herunterrennen. Jeder kranke Psychopath, der aus einer kaputten Gesellschaft anreist, bewohnt hier ein Zimmer. Du wohnst im vierten Stock rechts, neben dem Lift – Zimmer 412. Was ist aus deiner Welt geworden? Sind das die Überlegungen, die dich krank gemacht haben? Diese Frage steht im Raum.
Ich konnte während der langen Zugfahrt von deinem Dorf hierher gut nachempfinden, was in deinem Kopf vorgegangen ist. Ich glaube, dass der Überlebenskampf eine große Rolle gespielt hat, denn ich kenne solche Weltreisen. Neunhunderteinundfünfzig Kilometer, das ist die Entfernung zwischen meiner ausgekühlten Wohnung und dieser Klinik. Du hast den Antrieb, gesund zu werden. Willst wieder lachen dürfen. Ich kann das nachvollziehen. Man möchte aus dem schwarzen Loch herauskommen, Hilfe von draußen erhalten. Vielleicht gibt es Hoffnungsträger, die dich verstehen können. Hier im Gotteshaus?
Man möchte ankommen. Den Traum der Enge und der inneren Wut loswerden, dem Feuer entrinnen. Die innere Flucht steht auf der Tagesordnung. Der bevorstehende Therapieplan muss die äußere Erlösung aus dir herauspressen, denn die Zeit ist knapp. Sechs Wochen, dann musst du wieder funktionieren. Zwei Therapiegespräche in einer Woche sollten genügen, um alle inneren Konflikte zu lösen.
Du kannst dich gern im Spiegel betrachten, deine schwarzen langen Haare hinters Ohr legen und dich fragen: Na, komme ich voran? Du brauchst die Ruhe fürs ständige Kämmen und Schminken. Nur die verschlafenen Augen mit den dunklen Rändern geben deinem Teint eine Blässe, die du auf keinen Fall der Öffentlichkeit zeigen darfst. Da würde man ja denken, du wärst auf einem Bahnhof geboren worden.
Dein nervöser Blick, der in der Umgebung umherschweift, wird der äußeren Dynamik deiner Vergangenheitsaufarbeitung nicht gerecht. Und das mag gut sein, denn du hast sowieso nicht verstanden, was die Ruhe für dich bedeutet. Dein steifer Nacken unterstützt deine Unentschlossenheit noch zusätzlich. Du möchtest die Angst jeden Tag herzlich einladen.
Deine Körpergröße von 167 cm wird deinen Schatten leider kurzhalten. Du möchtest nicht, dass diverse Kerzen in deinem Wohnzimmer aufleuchten. Ein romantisches Geplänkel war dir immer zuwider. Lange oder kurze Röcke waren nie dein Ding. Enge Jeans sollten es sein, damit der Arsch gut zur Geltung kam. Darauf hast du immer achtgegeben. Selbst deine Blusen, die hell und schrill sein mussten, waren sehr figurbetont, sodass dein Busen bei jedem Gang leicht wippte. Alles sollte sexy wirken. Die roten Lippen, die im Sonnenlicht sanft glitzern und funkeln sollten, zeigten Frische. Die blauen Turnschuhe von „Nike“ mussten sein, damit deine Schritte nicht mehr zu hören waren. – Gute Tarnung! Nicht auffallen. Ernstes Gesicht und ein dominantes Lächeln waren an der Tagesordnung. Den Stift in der linken Hand und in der rechten ein Handy, das dich in eine andere Welt zog. Die brennende Zigarette wurde letztlich dein Markenzeichen. Und jetzt stehst du vor dieser beschissenen Kliniktür und ordnest deine Biografie, die du am Empfangstresen abgeben willst. Geboren mit einer beschissenen Kindheit, die dem Trotz nicht lange standhielt. Hast viele Narben erworben, die du hier gern loswerden würdest. Hab selten so gelacht. Was willst du damit erreichen? Zieh dich doch gleich nackt aus und masturbiere vor der verschlossenen Therapeutentür. Aber leider fehlt dir der Mut dazu. Schade.
War die Wende nicht chaotisch genug, um zu erahnen, dass eine zerstörerische, erpressbare Zeit heranreift? War das nicht der Zeitpunkt, als die Maschinenpistolen in die Waffenkammern zurückgeführt wurden, um das Volk zu retten, als die Massenarbeitslosigkeit ausgerufen wurde, um sich erst mal zu orientieren, wo das erstbeste Arbeitsamt die Tore öffnet? Achtundzwanzig Jahre hast du behütet gelebt. Das war ja doch reichlich genug, oder? Liebevoll gestreichelt zu werden und sich mit dem Stacheldraht anzufreunden, das war zwar nicht der richtige Weg, aber ein sicherer allemal. Anstand und Höflichkeit gab es damals noch. Doch als die Mauer fiel, wurden die Senioren in den Straßenbahnen von ihren Sitzplätzen gestoßen, weil sie nicht in die Zeit passten. Ja, die Wende war schon ein mächtiges Ufer, das nicht jeder erreichen konnte. Jetzt wird die Schwäche nicht mehr geliebt. Oh, nein! Sie wird heute bekämpft und ständig attackiert!
Wo der aufopferungsvolle Respekt dem unschlagbaren Gefühl der Schwäche und aufkommenden Wut gegenübersteht, wird heute vor dem Rathaus der Heil-Hitler-Gruß geduldet. Das egozentrische Denken bekommt einen modernen Anstrich, dem das Gefühl der Sensibilität genommen wird. Der Geschmack von Liebe ist fade geworden und der Kaufhausrausch wirkt heute wieder attraktiv. Jedem Geschmack wird entsprochen. Jeder intime Satz zerfetzt die Öffentlichkeit. Man jagt Neuigkeiten hinterher, die man eigentlich gar nicht wissen will, weil sie einen überfordern. Wo bekommt man die billigsten Bananen?
Kein „Alter Denker“ hebt den Zeigefinger und sagt: Hier ist das Volk! Flugzeuge wurden geordert und die Weltreisen begannen ihre Ziele neu zu definieren. Moskau, Polen, Ungarn, Rumänien sind fit genug, da die Perestroika ebenso versagt hat wie der Konsum in deiner Stadt. Palmen und weiße Strände waren Sehnsüchte, die keinem europäischen Winterparadies standhielten. Nicht mal die unzähligen Landungen auf fremden Kontinenten blieben in deinen Erinnerungen erhalten.
Ich sehe noch die hellerleuchteten Geschäfte vor mir, als wir auf dem Ku'damm in Empfang genommen wurden. In den prallgefüllten Obstgeschäften wussten die Verkäuferinnen nicht mal, was Vitamine sind. Und als ich weiterging, sah ich ein besonderes Schuhgeschäft. Die Schuhe aus Neu-Delhi hatten wirklich alle Farben in petto, aber man musste sie suchen, um sie kaufen zu können. Ich suchte allerdings auch die Freiheit, das demokratische Verständnis. Doch ich fand nur die Verarschung, dass der andere Teil Deutschlands angeblich aus Kannibalen und Dieben bestehen würde. Deshalb sollten auch Reisen nach Afrika hoch im Kurs stehen. Ich kann es nicht mehr hören, wie man uns für dumm verkauft hat. Leider ist die alte Markenbutter wieder schmackhafter gemacht worden, sodass man denken könnte, die alte Zeit wäre wieder da. Du hast dich gefreut, als die Konsumkaufhalle zumachen musste, weil der goldene Westen mit seinem Gummiplastikkram Platz brauchte. Alles roch nach Seife und süßer Haarspülung, nach Kaffee „HAG“ und Spülmittel, das dir deine Fingernägel verkürzte. Kein Regal glich dem anderen. Alles war mit Chaos dekoriert, das du bis heute heiligst, da es immer noch deine Erinnerungen sind.
Deine Schuhe zittern auf dem Boden. Dein Gang ist hörbar geblieben, und ich kann gleich erkennen, wer vor mir läuft und wer nicht. Selbst im Dunkeln würde ich wissen, dass du es warst, der damals siebzehn Uhr im Hausflur die Treppen nach oben gestiefelt ist. Mein Gott, es ist so lange her, dass dein schwarzes langes Haar im Wind tanzte, als wäre es eine riesige lange Welle. Natürlich erkenne ich deine Schwarz-Weiß-Bilder wieder, denn sie liegen säuberlich in einem der vielen Kartons auf dem Schrank. Ab und zu öffne ich sie, um die Bilder zu betrachten und zu sinnieren, wie schön die Zeit einmal war. Du hast jede Postkarte, die an dich adressiert war, gleich wieder weggeschmissen. „Was soll ich damit?“, meintest du einmal zu mir. „Was vorbei ist, ist vorbei!“ Ich habe das akzeptiert und die schönsten Postkarten heimlich wieder aus dem Papierkorb geholt. Ich fügte sie wie ein Puzzle mit Kleber zusammen und habe sie dann mit nach Hause genommen.
Wir sitzen beide in einer fremden Stadt, am Rande eines Kleingebirges im Westerwald, im Bistro eines Busbahnhofs und bestellen uns Kaffee, der aus einem schwarzen Automaten herauszischt. Die Kirchenuhr schlug gerade drei Uhr nachmittags. Der Bus ist schon lange weg. Dunkel ist das Wasser mit dem aufgeschäumten Kaffee, und der Dampf spendet ein Aroma, das an das Weihnachten von früher zurückdenken lässt. – In was für einer modernen Zeit wir heute leben. Früher wurde der Kaffee gemahlen und heute ist die Bohne zum Mahlen und Filtern in einem Apparat sichtbar.
Meine Gedanken sind nicht bei mir. Ich kann sie nicht definieren, weil ich kein Gefühl der Sicherheit habe. Ich verspüre eine Unsicherheit, die unsere Atmosphäre vergiftet. Die Richtung, in die sie gehen, kann ich dir nicht beschreiben. Der Überblick fehlt mir. Deshalb suche ich etwas, das der Stimmung guttut. Und was kann es anderes sein, als an dich zu denken. Bitte mach kein Problem daraus, aber es amüsiert mich zutiefst, wie du mich damals auf dem Bootssteg küssen wolltest! Deine ahnungslose, unaufdringliche Verbitterung ließ es nicht zu, meine Antwort im richtigen Moment zu verstehen. Ich mochte dein verschämtes Gesicht. Es tat mir leid. Ich wollte nicht – aus Angst. Natürlich wusste ich nichts von dieser Angst und wie meine hitzigen Nerven mich innerlich zerfraßen. Heute kann ich es aussprechen, ohne mich dafür zu schämen. Aber ich weiß noch sehr gut, wie du dich verletzt gefühlt hast, dass ich dir den Kuss nicht erwidert habe. Weißt du, ich habe mit meinen jungen Jahren bereits geahnt, dass mir die Freundschaft zu dir kostbarer ist als eine billige Beziehung, die uns beiden nichts genützt hätte.
Erst später, als wir beide in Suhl waren, hast du mich noch mal gefragt, warum wir kein Paar werden können. Du konntest das nicht verstehen und hast mir böse Briefe geschrieben. Am Anfang las ich nur eine Zeile und warf dann den Brief in den Mülleimer. Ich wollte mich nicht verletzen lassen, nur weil ich mit meinen Gefühlen nicht klarkam. Es ging mir alles so schnell. Ich folgte meinem inneren Kind, denn es war zu dem Zeitpunkt der beste Ratgeber, den ich hatte. Es war seltsam schön, sich selbst zu entdecken. Ich war im Prozess der Wandlung, des Reifens, des Wachsens, des Erlebens und der vielen Umwälzungen. Mein Weg gab mir die Richtung, die ich als die richtige Entscheidung ansah. Entweder die Anerkennung nachzeichnen und sich alles gefallen lassen oder sich verstecken und das Papier zerreißen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich eine Familie, die ich sehr liebte. Wichtig war mir aber auch deine Freundschaft, die du letztendlich zerbrochen hast. Heute kann ich damit umgehen und bin nicht nachtragend. Ich hege keinen Groll. Meine Erinnerungen verweilen sehr oft im Positiven. So erinnere ich mich an unseren ersten Spaziergang im Park am Rhein. Die Strömung sang uns seine innere Stärke. Das Wasser war dunkel. Eine frische Brise gab uns an jeder Bucht Freude. Sie tat uns beiden gut. Es war wunderschön, wie du vor mir gelaufen bist, um als Erste auf einer Anhöhe mit einem Fernrohr anzukommen. Ich erinnere mich auch, wie du dich in einer alten Ruine versteckt hast, sodass ich dich erst nach einer gewissen Zeit wiederfand. Plötzlich hast du hinter mir gestanden und wolltest mich zum zweiten Mal küssen. Es war nicht aufdringlich. Nur der Versuch, meine Lippen zu berühren, war für mich wie eine Warnung aufzupassen. Auf was, das kann ich dir nicht mehr sagen. Ich hatte wohl eine Eingebung, die Dinge, die geschehen, einfach so hinzunehmen, ohne sie zu beurteilen. Ich wollte Vorsicht walten lassen, und das hast du damals sofort verstanden. Du hast dich gleich von mir gelöst. Abwartend hast du mich von der Seite angeschaut, als ob ich ein Schwefelmond wäre, der nicht verlöschen würde. Wir haben voneinander nichts verlangt. Wir waren keinem rechenschaftspflichtig. Die Blicke gingen ins Leere. Das Gesagte war belanglos, der Händedruck scheu, zurückhaltend. Ich wagte es nicht, auch wenn der Impuls für eine kurze Zeit da war, dich zu berühren. Ich wollte es nicht. Ich hatte kein Bock darauf, mich mit der Liebe auseinanderzusetzen und ständig mit Liebesbriefen zu hantieren, die meinen Alltag begleiten. Es ging nicht um meine Frau. Es ging nicht um die Kinder oder gar um das Machogehabe eines sexsüchtigen Reiters, der ständig einem falschen Alibi hinterher rennen muss. Ich wollte nicht umarmt werden, wenn die Gefühle nicht am Leben sind, oder heucheln für eine Sache, die nicht wahrhaftig ist.
Meine Vorstellungskraft dämpfte ich ab, indem ich mein Gewissen aufrief. Ich wollte die Ehrlichkeit niederschreiben und die Flut der Lügen nicht empfangen. Dabei hast du mich auf einen anderen Weg gebracht. Er war entzückend. Er war bereichernd. Es war der Umstand, nein zu sagen und nicht den sexuellen Begierden zum Opfer zu fallen. Mehr noch! Ich war bereit, eine andere Art von Liebe zu leben. Eine Liebe, die ihre eigene Sprache hat. Die mich anspricht, wenn ich allein bin. Wenn ich in der Einsamkeit versank, um die wilde Vegetation zu umgehen, die durch die Wut zerbrach, habe ich die Führsorge für mich selbst entdeckt. Meine Seele hegte den Wunsch nach Ruhe – den aufbrausenden, wütenden Widerspruch zu stoppen, um so die bunt gefächerte Fantasiewelt aus mir herauszukitzeln. Ich wollte kein falsches Alibi erlernen, um andere „Alte Denker“ zu verletzen. Es hätte sich schlecht angefühlt, mit dir zu schlafen und dir eine falsch verstandene Liebe unterzujubeln. Selbst deine Frage, ob ich deinen Körper nicht schön finden würde, wäre sinnlos gewesen. Ob dein Arsch nicht knackig genug ist? Oh, nein! Es ging nie darum, die Gefühlsebene zu analysieren oder das Äußere für gut oder schlecht zu befinden. Ich wollte nicht filtern oder abwägen, ob sich eine Liebe anlernen ließe oder zu uns passen würde. Selbst die Vermutung, ob eine Liebe im Nachhinein entstehen könnte, stand nicht im Raum. Oh, nein! Ich wollte diese Schablone nicht erneuern wie andere männlichen Hornissen, die ständig irgendwelche Blüten anfliegen, um an den süßen Nektar heranzukommen. Sie können nie genug kriegen. In ihnen herrscht eine Sucht nach Liebe, die sie nie erhalten. Sie möchten nur naschen. Egal was das Gefühl aus ihnen macht.
Aber das war alles Okay. Ich bin ehrlich zu dir. Zu gern habe ich deinen Arsch angeschaut, konnte mich an manchen Zeiten nicht sattsehen. Da gab es Situationen, wo ich dir bewusst den Vortritt gab, um eine Treppe nach oben zu steigen. Deine Hüften schwangen dabei so zart, dass ich in Gedanken meine Zunge zwischen deine Pobacken gleiten ließ.
Ich habe alles verworfen, sofort. Ich wollte keinen Kompromiss eingehen. Ich habe natürlich gesehen, wie hübsch du dich anziehst, wie dezent du deinen Lidstrich ziehst. Es waren schöne geheimnisvolle Augenblicke, die mich zur Vorsicht mahnten. An manchen Tagen war dein langes, schwarzes Haar offen und dein Lächeln verschwand darin. Es war entzückend, aber auch gefährlich. Ich will diese Zeit nicht rückgängig machen. Sie war so.
Heute sitzen wir im Bistro und ich sehe die gleichen Augen wie damals in Suhl. Ein komisches Gefühl entflammt in mir, denn mein Gefühl zu dir hat sich bis heute nicht geändert. „Freundschaft“ nannte ich mein Boot, um Fahrgäste wie dich mitzunehmen. Leider hast du meine Hausordnung nicht akzeptiert, und so ist die Reise mit dem Boot ohne dich vonstatten gegangen. Vergangen sind nun zehn Jahre. Verschenkte Zeit? Ich weiß es nicht.
Deine zweite Tasse Kaffee wird von der Kellnerin serviert. Ich sehe in dir den gewohnt aggressiven Blick, der mich von der Seite trifft als wäre ich ein Straftäter, der seine Zeche nicht begleicht. Den Blick kenne ich noch sehr gut, als du das Gerichtsgebäude mit einer Scheidungsurkunde in den Händen verlassen hast. Es war mir damals klar gewesen, in welcher Situation du mit deinen zwei Kindern warst. Ich mochte deine Kinder und deine Kinder mochten mich, das hast du gewusst. So fing deine Wendezeit an – 1989, eine Wahnsinnszeit. Sie war chaotisch und frauenfeindlich. Ich habe dich sehr oft zu Hause besucht. Der Tierpark war die weiteste Reise, die du und deine Kinder jemals unternahmen. Das Geld reichte geradeso, um über die Runden zu kommen. Du konntest endlich ein neues Leben anfangen, ohne Zank, Alkohol und Lügen. Auf unseren langen Spaziergängen haben wir die unterschiedlichsten Anekdoten durchgespielt und frönten dabei unserer Fantasie. Wir liebten es, die „Alten Denker“ zu beobachten, wie sie so unzufrieden mit ihrer Welt umgingen, wie sie herumnörgelten und an den schmutzigen Kaffeetischen in ihren feuchten Nasen popelten, als ob das Schlaraffenland ganz nah bei ihnen wäre.
Gern hast du dich rechts bei mir eingehakt und auf meine Lippen geschaut als wären wir eine ganz normale Familie. Ich bemerkte nicht sofort, dass deine Nähe mir nicht gut bekam. Ich fühlte eine Ohnmacht in mir hochsteigen, wenn wir über einfache Dinge sprachen. Jeder darf seine Ansicht vertreten und auf seiner Meinung beharren. Alles Super! Unrecht und Recht haben, das sind für mich belanglose Aspekte, die ich nicht mehr will. Diese Dinge sind für mich unwichtig geworden. Mir ist es egal, ob die Sonne im Osten oder im Süden aufgeht. Wenn du der Meinung bist, sie würde im Westen aufgehen, dann ist es eben so. Kein Beweis würde deine Meinung ändern. Du würdest nie nachgeben, egal welches Thema zur Diskussion steht.
Ich kenne diese Art der Diskussion sehr gut. Tausendfach habe ich sie durchlebt und auf mein Verhalten abgestimmt. Bei dir ist aber das Nichtnachgeben so tief verankert, dass du sogar den Tod mit einkalkulieren würdest, um Recht zu bekommen. Und Meinungsverschiedenheiten sind wichtig, um zu lernen. Du aber hast nicht gelernt, wie man streitet oder einen Dialog auf Augenhöhe führt, wie man teilt und einen Kompromiss aushandelt. Deine „Alten Denker“ im Elternhaus haben es dir nicht beigebracht. Jeder von euch war der Sieger. Jeder hat auf sein Recht gepocht. Und so wurden Meinungsverschiedenheiten verdrängt, unter den Tisch gekehrt. Eine Lösung wurde nie gefunden. Wer nicht nachgab, der wurde überschrien. Wenn das nicht half, hat man mit der Faust auf den Küchentisch gehauen. Man wollte durch lauten Protest seine Meinung durchsetzen, bis man das eigene Wort nicht mehr verstand. Schweißgebadet und abgekämpft wurde dann das Feld geräumt und man war stolz darauf, den „Gegner“ niedergemacht zu haben. Weiter ist man nicht gekommen. Und so ist es mir mit dir ergangen. Ich hatte keinen Bock mehr, mit dir über die Kunst zu sprechen, sie zu analysieren, zu charakterisieren. Du hast immer über diesen Dingen gestanden, und ich hatte keine Wahl überhaupt was dazu zu sagen. Jeder von mir angefangene Satz wurde von dir unterbrochen, weil meine Meinung nicht in dein Schema passte. Das tat mir am Anfang weh. Heute bin ich darüber hinweg. Ich kann diese Dinge so stehen lassen und meine Meinung äußern. Ich kann sie mit dir teilen und einen Weg finden, beide Meinungen zu berücksichtigen. Ich habe es lernen müssen, denn ich konnte ein Teil meiner Seele, die letztlich zu meiner Insel wurde, in Ordnung bringen.
Aber bei dir war es immer kalt. Es gab Tage, da habe ich gefröstelt. Deine unbegründete Ablehnung und die forschen, unüberlegten Verurteilungen gegenüber anderen machten mir Angst. Ich spürte deine innere Haltung, schwere Geschütze auffahren zu wollen. Brutal wolltest du dich auf der Bühne präsentieren. Und gerade bei den männlichen Kreaturen auf der Straße hast du jeden kaltgestellt, aber auch wirklich jeden. Ich schüttelte nur den Kopf, bedauerte das Vorgehen. Es tat mir weh. Deine kühle, abweisende Art erschuf ein unsicheres Tor in mir, wo ich nicht gern hindurchging. Das Schlimme daran war, wenn du deine Abwehrhaltung sehr streng genommen hast, konntest du deinem Gegenüber nie richtig in die Augen schauen. Eine Zigarette hast du dir schnell gedreht, um die unerbittliche Sucht in dir zu stillen, die zu einem markanten Zeichen deiner Unsicherheit wurde. „Tarnung mit Angst“ nannte ich das.
Du hast dich zu gern hinter dem dichten Zigarettenqualm versteckt. Deine Aufmerksamkeit richtete sich dabei in die Ferne. Ein intensiver Zug von der Zigarette löste deine Angst in dir kurzzeitig auf. Inhalierend und nachdenklich hast du dein Vorbild wahrgenommen. Es nahm kein Ende. Mit welcher Inbrunst du das getan hast, war mir unheimlich und schürte nur meine Abgrenzung von dir. Dein heftiger Reizhusten verwandelte deine versteckte Schönheit in ein braunes Gewand, das sich auflöste, wenn der Zigarettenqualm verschwand. Deine unterschiedlichen Ansichten über das Kunstverständnis, das Geschriebene (das selbst du nicht richtig verstanden hast), die nicht erklärbaren Bilder mit ihren abstrakten Formen lagen lange Zeit in einem der vielen Kühlräume herum. Du hast den Arbeiten anderer keinerlei Beachtung geschenkt. Es war deine pure Eitelkeit, sich ein Urteil anzumaßen, er oder sie sei schlecht. Hinzu kam, dass du nicht zuhören wolltest. Nur du warst eine wahre Poetin, die für andere nur ein Kopfschütteln übrig hatte und sich eiskalt abwandte. Aber dieses Kopfschütteln von dir war gewollt. Es war Absicht, eiserner Trotz. Du wolltest deinen Protest zu einer Essenz machen. Jedes Wort hast du auf die Goldwaage gelegt und mit dem Inhalt balanciert – sehr feinfühlig, wie ich zugeben muss.
Du hast darauf geachtet, wie man es sagt. Und viel wichtiger, wie und was gesagt wurde. Kritische Meinungen waren dir ein Dorn im Auge und wurden sofort bekämpft. Du hast gelernt, alles zu bekommen.
Deine Mutter duldete auch in ihrer Kunst keinen Widerspruch. Es gehört sich nicht. Man wäre unhöflich. Das machte dich zum dominanten Star, auf den keiner mehr Lust hatte. Ich wollte diese Bühne verlassen und es hinter mich bringen. Deine Einsamkeit wuchs langsam heran. Und die Isolierung, die dein Ego schützen sollte, ließ es geschehen. Dein Wille prägte deine innere Stärke. Die Behauptung, sich orten zu wollen, verfehlte dein feinfühliges Gefühl auf ganzer Strecke. Rechthaberische Kulissen bewachten deinen Geist. Und die Spitzfindigkeit hast du jeden Tag mit Wasser gegossen, um nicht schlapp zu machen. Die aufgewendete Energie nahm ab. Tag für Tag wendeten sich deine Freunde und Bekannte von dir ab. Bekannte Mystiker schrieben dir nur selten noch eine Postkarte, und das Telefon sprach kein Wort mehr mit dir. Die Fenstervorhänge blieben verschlossen und die Angebote für Galerien blieben aus. Keiner grüßte dich oder stellte dir Fragen. Wozu auch? Du hast dir selbst die Antworten gegeben. Der Absturz musste kommen. Wie ein ungeschriebenes Gesetz brach er über dich herein und zählte die Paragrafen einzeln auf, die ein Krankheitsbild aufzeigten, von denen du im Leben nicht geträumt hast.
Ja, Lena, die Lebensgeschichten wiederholen sich. Und es ist wirklich so. Die eigentliche Wahrheit kommt nicht immer über das Telefon oder durch ein buntes Plakat an der Litfaßsäule. Oh, nein! Sie schleicht sich zaghaft in deine Seele und möchte anerkannt werden. Sie lebt in dir und wagt einen Tanz mit dir. Aber deine stille Ablehnung ist die Folge von Unverdrossenheit und Dummheit zugleich. Es erging dir schlecht. Du wolltest Hilfe, konntest deine Hände aber nicht ausstrecken. Die bizarre Angst brach deinen Verstand und vergiftete die letzten guten Gedanken in dir. Wenn es dunkel wurde, brannte kein Feuer der Erleuchtung vor deiner Haustür. Jeder Gedanke verbrannte allein. Ein Weiterkommen lähmte dich, weil deine Angst neue Nahrung bekam.
Es mag seltsam klingen: Als du mit deinen Nerven am Boden lagst und nach Hilfe gerufen hast, war es plötzlich möglich mit dir Dinge zu besprechen, die vorher nicht denkbar waren. Wir schrieben in dieser Zeit belanglose Texte und ließen uns von einer wilden, unerklärbaren Poetik inspirieren. Viele Aphorismen wurden geboren und wir liebten dabei den ungefilterten Kaffee. Wir haben geschrieben und gemalt. Deine Ideen reiften zu erstaunlichen Gedichten heran, die ich so schön fand, dass etwas Neid in mir aufkam. Nur kurz weilte dieser Neidgedanke in mir. Denn du hast meine gemalten Bilder auf dem Schreibtisch in die Hand genommen und warst erstaunt, wie man so ein Motiv malen kann. Mach weiter, hast du zu mir gesagt. Die Angst war verschwunden. In Augenhöhe haben wir uns gegenübergestanden. Ich bekam Vertrauen. Das tat mir gut. Auch für meine Berichte aus meiner Kindheit, Jugend, mit den „Alten Denkern“ von zu Hause, der Schule und den Lehrjahren, die einem das Leben zur Hölle machten, hattest du Verständnis. Du konntest das alles nachempfinden, nachvollziehen. Deine Augen waren bei mir. Ich sah deine Pupillen, die alles in mir abgetastet haben. Es war der reine Wahnsinn. Du konntest ohne zu überlegen die Arme öffnen und mich leicht drücken. Doch dann war plötzlich die Realität wieder da. Ich mochte nicht mehr von dir gedrückt werden. Ich fragte mich, wieso eine Frau gerade mich versteht. Wieso können weibliche und männliche Denker sich so gut verstehen, zum Beispiel hier in diesem Augenblick bei mir zu Hause, beim Kaffee trinken und Zigaretten rauchen.
Du hast mir mal einen Vogel gezeigt, weißt du noch? Ich holte eine große Kiste von einem Schrank herunter. Der Deckel ließ sich leicht öffnen, drinnen lagen viele Zeitungen und Prospekte. Es waren alte Zeitungsartikel aus den Jahren 57 bis 89. Das Thema war der Mann und die Frau, die im Einklang stehen und zusammenleben können. Man wollte herausfinden, wie viele Unterschiede es zwischen Penis und Vagina gibt. Wir haben beide darüber gelacht. Lange Zeit studierten wir diese und diverse andere Zeitungsartikel und fanden es witzig, wie mancher Journalist darüber geschrieben hat.
Keine These konnte uns davon überzeugen, dass ein Leben zwischen den Geschlechtern nicht möglich sei. Es waren nur Vermutungen, die einem die Zeit stahlen. Du hast gelacht, doch am nächsten Tag war wieder diese Traurigkeit, diese Abwanderung, diese Unnahbarkeit vorhanden. Meine Bilder im Raum fielen herunter. Da du früher schon geraucht hast, war auch dieser Aschenbecher bis obenhin voll und die vielen Kippen lagen verstreut auf dem Teppich umher.
Alles, was gestern noch möglich war, ging am anderen Tag plötzlich nicht mehr. Launisch und kämpferisch hast du dich gegen alles gewehrt. Diese Abwehrhaltung machte die Wut im Blick deiner Augen sichtbar und gab sie an mich weiter. Ich habe dich nicht verstanden. Oder ich wollte dich nicht verstehen.
Ich war froh, dass wir das Bistro verließen. Die laute Musik übertönte unsere Stimmen. Und das von uns Gesuchte blieb ohnehin aus.
Du hast eine sehr schnelle Gangart. Wo sollten wir beide also eine Rast einlegen? Die Bushaltestelle lag weit weg, so liefen wir auf die Stadt wild drauf zu. Die Sonne schien während unseres Spaziergangs kurz durch die Wolken. Mein Bus war ein stiller Diener, der mich von A nach B transportierte und dabei vergaß, dass eine Tasse Tee oder Kaffee ebenso dazugehörte wie die Pause an einer Raststätte. Beides wurde mir nicht erfüllt. Die Fahrzeit musste eingehalten werden, sodass ich Hunger und Durst verspürte. Sieben Stunden Fahrzeit ließen bei mir Spuren zurück, die ich durch deine Anwesenheit nicht einfach herunterschlucken konnte. Natürlich war auch die innere Aufregung daran schuld. Ich war mir unsicher, ob mein Besuch bei dir eine gute Idee gewesen ist. Aber dann fanden wir beide ein schönes Café. Es lag in einer Seitengasse, unweit vom Marktplatz. Wenn man die Gasse weiterging, kam man, vorbei an Einfamilienhäusern, direkt in einen schönen Wald. Ich hörte hier Meisen ihr Unwesen treiben. Es müssen mehr als zehn Meisen gewesen sein, denn das Spektakel war unüberhörbar. Wie bei einem Empfang haben sie uns begrüßt.
Als wir das Café betraten, waren deine Gedanken woanders. Schade, denn solche Augenblicke in der Natur sind ein Geschenk, das ich früher nicht hatte. Leichte Schweißperlen glänzten auf meiner Stirn, das hat mich etwas gewundert. Entweder war ich zu warm angezogen oder meine lange Jogging-Pause machte sich bemerkbar. Du hast gesagt, dass sich dein Gang nicht verändert hat. Dass deine Beine etwas molliger geworden sind, hast du aber nicht erwähnt.
Okay, ich kann es so stehen lassen! Heute kann ich die Dinge beim Namen nennen. Du hast geschmunzelt. Und ich sehe in deinen Augen, dass du anderer Meinung bist. Wären wir ein Paar, würdest du bestimmt sagen: „Du irrst dich, mein Freund!“ Wobei ich unsicher bin, ob das Wort „Freund“ über deine Lippen gekommen wäre.
Ach, wie kann unser Anfangstreffen schon mit einem Widerspruch beginnen? Wir haben nicht mal bestellt, da erlaube ich mir ein Gegenargument. Nun, das kenne ich woher? Wenn es dir nicht passt, darf es nicht gesagt werden. Basta! Punkt! Ich hab schon verstanden, meine Liebe. Hier spüre ich gleich den Abstand zwischen uns, den ich einhalten soll – was ich auch gern tu. Ich genieße den Abstand zwischen uns beiden und kann nur sagen, dass ich heute froh bin, keine Verbindung mit dir eingegangen zu sein. Denn sich zu binden bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Es reicht schon dieser augenblickliche Zustand.
Du bist in der Klinik und ich wollte dich besuchen. Ich kann dich ignorieren oder dich beachten und dir Freundlichkeit schenken. Und zu wissen, dass ich zu jeder Zeit diesen Platz verlassen kann, macht mich zutiefst froh. Auch wenn ich keine Verantwortung tragen will, mag ich dich ein bisschen, nur ein bisschen. Damit meine ich: Ich darf so empfinden, wie mir gerade ist, ohne dass es dich etwas angeht. Du hast das sowieso nie wissen wollen. Du bist in deiner eigenen Welt geblieben und hast nicht erkannt, was draußen geschieht. Heute weiß ich, dass es mit dir nichts zu tun hat, wie und was ich fühle. Ich spüre deutlich den Zwischenraum unserer beider Seelen, die unterschiedliche Muster bedienen. Es sind viele prägnante Muster am Leben, die man für sich selbst braucht, um zu überleben.
Das alte Klischee, das der männliche Denker nur mit dem Schwanz denkt und fühlt, ist weit von meiner Denkweise entfernt. Die Empfindungen sind dort zu suchen, wo Vertrauen liegt, wo die innere Kraft geweckt wird. Mein Gefühl mit fallenden Regentropfen zu vergleichen, das geht nicht. Sie gleiten einfach ab und ich fange an, sie zu suchen. Und diese Suche hört nie auf. Sie ist verbunden mit meiner Neugierde, die sich mit meinem Lachen verbindet, mit der übrig gebliebenen Einsamkeit, die mich ständig begleitet. Sie ruft nach Sicherheit und Vertrauen, das sich einbrennt, um die Angst in mir zu akzeptieren. Ich möchte weiter lernen und das sehen, was die weibliche Denkerin nicht sieht, was aber der männ