Petra - Matthias Hartje - E-Book

Petra E-Book

Matthias Hartje

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Beschreibung

Ronald und Petra, ein geschiedenes Ehepaar, einzigartig in ihren Charaktereigenschaften, in ihren Gefühlen zueinander, zu ihren Kindern und der Umwelt dagegen nicht. Ronald malt und schreibt, doch sein Talent findet keine Anerkennung. Er wendet sich von der Kunst ab, heiratet ein zweites Mal und wird zum dritten Mal Vater. Er stellt sich der Realität, der Wahrheit und seinen Ängsten und führt ein erfülltes Leben. Petra, seine Ex-Frau, dagegen nicht. Von der Scheidung und einem verkorksten Leben frustriert, verschließt sie sich Ronald, der Wahrheit und ihren Kindern und öffnet sich ihren Ängsten. Durch ihren ausschweifenden Konsum von Zigaretten stirbt sie schließlich an Krebs. Ronalds Entwicklung seit dem Kindesalter gleicht in vielerlei Hinsicht dem Leben des Autors. So entsteht eine Freundschaft zwischen beiden, innerhalb derer sie sich über gleichgeartete Interessen, wie Gott, Religion, Liebe, Wahrheit und Demenz austauschen. Sie begleiten gemeinsam das Leben und den Tod von Petra, ihre Vorlieben und Ansichten über die Welt und stellen fest, dass falsche Entscheidungen zu tödlicher Einsamkeit führen können.

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Acht Wochen später

Zwei Jahre später

Einige Zeit später

Fünf Jahre später

Kapitel 3

Nachwort

Vorwort

Reicht dieses Vorwort aus, um mein Anliegen zu erläutern? Ich weiß es nicht. Meine Geschichte ist von Gedanken beseelt, die mir manchmal das Gefühl geben, die Literatur ganz verlassen zu wollen. Aber die Literatur weiß nichts von meiner Vergangenheit oder von den wertvollen Denkern, die ich in den letzten Jahren kennengelernt habe. Diesen Denkern zu begegnen, war mir nicht zu jedem Zeitpunkt vergönnt. Ich musste die Momente abwarten, die mir Licht ins Dickicht der Literatur brachten.

Und dann war es da, das Licht. Langsam und behutsam durchdrang es das Dunkel. Einige Nächte vergingen. Einige Winde verstreuten Neugierde und Wasser drang über die Ufer. Ich fand einen Text, der dem Buch den Anfang geben sollte. Er schien mir etwas verwegen. Ich schaute auf andere Denker, die zu jeder Stunde ein Buch lasen. Ich rief meinen Namen von den Gipfeln ins Tal und lauschte, ob ein Echo zu hören war. Im Tal aber blieb es still, denn Regen fiel und der Pfad zum Gipfel wurde unpassierbar. Kieselsteine auf dem Weg forderten mich auf, sie aufzusammeln. Ich tat es nicht. Verträumt sehnte ich mich nach Ruhe. Es genügte mir, nachzudenken. Ich tat so, als hätte ich keine Muße, das Buch überhaupt anzufangen. Ich besuchte abends sogar ein Kino, um mir einen Film über die Ewigkeit anzuschauen. So lernte ich sie kennen, die Ewigkeit. Der Vorhang fiel und meine Vorstellung von einer heilen Welt auch. Was blieb mir übrig? Was sollte ich tun? Reichte ein Spaziergang, um den Gedanken für ein neues Buch aufzugeben? Nein! Im Gegenteil. Jede Zeile war schon in mir. Jedes Lindenblatt stand mir schon zur Verfügung, um all die Bienen einzufangen, die den wunderbaren Duft der Fantasie mit sich trugen. Sie schwirrten umher und berührten meine Haare, als wären sie ein sicheres Zuhause, um Wissen unterzubringen. Und genau das taten sie auch. Tausende von Bienen gaben mir ein Geschenk, das mich Dankbarkeit fühlen ließ. Ich begann zu schreiben.

Kapitel 1

Ich erwähne deinen Namen jetzt noch nicht, bemerke aber einen Widerspruch in mir, der mir kaum Hoffnung gibt, dich in der Zukunft mit einem Lächeln zu sehen.

Als ich gestern die Berliner Zeitung aufschlug, stand dort geschrieben, dass die Liebe einfach so erlernbar sei. Natürlich gibt es Situationen im Alltag, in denen man für gute Leistung oder gutes Benehmen mit Liebe belohnt wird. Manche Denker, die ich kenne, sind der Meinung: „Wer sich wirklich Mühe gibt, wird auch geliebt. Wer aber boshaft ist, darf nicht glauben, dass ihm Liebe gegeben wird.“ In meinen Augen ist das ein Gedanke, den ich ablehne – auch im Bewusstsein, mit dieser Einstellung die Gesellschaft als Ganzes zu verurteilen. Aber was steckt hinter diesem Gedanken?

Mein Vertrauen schwindet, wenn ich nur daran denke. Tut mir leid. Ich verzichte erneut darauf, deinen Namen zu erwähnen, da von dir ohnehin keine Reaktion auf meine Frage, was du unter die Liebe verstehst, kommen würde. Leider ist mein persönlicher Zustand nicht sehr gut. Anders gesagt, ich bin krank. So würde der morgige Tag für dich mehr Sonnenschein bereithalten als für mich und dir behilflich sein, anders über die Liebe zu denken. Da fällt mir der Artikel in der Berliner Zeitung wieder ein. Er hat mich die ganze Zeit beschäftigt. Ich fragte mich, wie ich die Sache mit dir verändern könnte. Ich überlegte, wie ich dir klar machen könnte, dass eine gute Leistung nicht unbedingt den Ausschlag gibt, um Liebe zu erhalten. Die Liebe ist nicht auf der Straße zu finden und schon gar nicht in der Wertschätzung oder im Respekt. Wer denkt, Liebe durch Anerkennung zu bekommen, der wird arm zugrunde gehen.

Früher nannte ich gern deinen Namen. Der Gedanke an dich löste etwas in mir aus. Ich spürte eine sinnliche Gelassenheit und war von purer Neugierde auf dich geprägt. Selbst beim Schreiben bekam ich oft Lust, dein Wesen in Worte zu fassen. Dadurch konnte ich wieder lächeln. Heute sieht die Realität anders aus. Gute Nachrichten erzeugen in mir eine gewisse Behaglichkeit. Bei schlechten Nachrichten spüre ich ein körperlich schmerzhaftes Unbehagen, das mich den ganzen Tag krank macht. Also habe ich schlechte Nachrichten sofort ignoriert und ein Thema gewählt, das uns beiden guttat.

Doch alte Gewohnheiten leben eben länger als man es erwartet. Dein Name löst an manchen Tagen noch immer ein Unwohlsein bei mir aus. Ich muss dann lange Spaziergänge unternehmen, um mich irgendwie abzulenken und auf andere Gedanken zu kommen. Ich will damit das Negative aufweichen, ohne mich zu verlieren. Ich darf nicht zulassen, dass mich negative Gedanken belasten. Ich muss einen Ausweg finden, um mich irgendwie zu retten. Unruhe und Chaos führten mich durch den Alltag. Die Nacht rief den Krieg in mir aus. Ich musste, auch wenn ich es nicht wollte, gegen die Sichel des Mondes ankämpfen, um Schlafen zu können. Meistens verlor ich den Kampf. Das Feuer der Unruhe loderte in mir noch eine Weile weiter. Sprach ich dann deinen Namen aus, gab mir das eine gewisse Sicherheit. Wenn es möglich war, reichte ich dir meine Hand, um Vertrauen zu schaffen und im Vorfeld Missverständnissen entgegenzuwirken. Ich sehnte mich nach Frieden und vermisste die Zeit, in der ich mal nicht an mich dachte. Jeden Tag nahm ich intensiv wahr und wollte den nächsten Tag heiligsprechen, um ans Ziel zu kommen.

Und was ist daraus geworden? Außer billige Worte ist nichts geschehen, denn es macht keinen Sinn, die Zeit in meinem Leben festzuhalten, um schließlich den alten Verhaltensmustern zu widersprechen. Ich bemerkte, dass es eine Utopie war, von der ich unbedingt loskommen musste. Der innere Kampf wurde emotional. Ich gestand mir ein, dass ich etwas verändern musste.

Modisch bunt und strahlend sah die Welt ja nicht mehr aus, wenn ich aus dem Fenster blickte. Die Corona-Pandemie hat einen Weg genommen, den ich lieber nicht kennen will. Sogar der Wind in den Laubbäumen rief ab und zu leise deinen Namen, damit du die Rinde berührst. Ich war überzeugt, dich bei deinem Neuanfang, der dich mehr und mehr von deinen Vergangenheitsritualen abbrachte, unterstützen zu können. Das Echo deines Namens, das nun zum zweiten Mal aus dem Tal kam, verschwand. Die Felsen blieben still. Die vier Himmelsrichtungen gaben dem Universum immer einen guten Grund, die Spiritualität neu zu erfinden, um uns Denker wie Schafe zu (ver)führen.

Haben wir verstanden, welches Schicksal uns ereilt und mit welcher Kraft es kommen wird? Du konntest mir keine Antwort darauf geben. Was macht es dann für einen Sinn zu beweisen, dass unser Leben eine Illusion ist? Ich zweifle schon lange an der These, dass Gott unter uns lebt. Für mich, meine Gute, ist die Natur der Gott. Sie umarmt mich jeden Tag. Nur sie entscheidet, wann es regnet oder die Sonne scheint, wohin die Winde wehen, wo das Feuer entfacht wird und wann die Jahreszeiten ihre Pforten öffnen, um Vergangenes abzulösen.

Doch wie gehen wir mit dem Glauben an Gott um, wie mit dem Schicksal, dem Tod und der Geburt? Ist die Natur das Gleiche für dich wie für mich? Was verstehen wir unter Natur? Wer sind wir innerhalb der Natur? Denker? Tiere? Wagemutige? Opfer? Oder sind wir jene Sünder, von denen in der Bibel berichtet wird, die alles auf der Welt planen, regulieren erneuern, austauschen, zerstören? Kein Denker sollte mehr mit der Plastiktüte in den Wald gehen und Pilze sammeln. Doch sie tun es. Stattdessen sollten sie an den Papst herantreten und Frieden für die Welt einfordern, und zwar in jedem Gebet. Dabei höre ich nur leere Gebete, fadenscheinige Losungen sinnloser Hilfsbereitschaft und leere Ratschläge, wie man die Welt retten kann.

Ja, meine Gute. Man möchte die Welt nicht retten, denn sonst müsste man den für den Untergang verantwortlichen König benennen. Lieber kriechen alle in ein Zelt mit Löchern. Deine Freunde in der Kapelle sehen so aus als würden sie lieber den dunklen Weg gehen, um nicht aufzufallen. Ich meinte mal zu dir, dass ich den Eindruck habe, die gläubigen Denker würden lieber den ganzen Tag beten, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was in dieser Welt passiert.

In allen Städten lauern gewaltige Ängste. Auch wenn die Pfarrer meinen, Ängste durch Gebete kompensieren zu können – ich sehe darin keine Lösung. Deshalb musste ich etwas lächeln, als dein Pfarrer nach dem Gottesdienst seine „Schäfchen“ vor der Kirche mit einer hastig angezündeten Zigarette verabschiedete. So mächtig ist das Weltliche, das Chaos der Gefühle. Zuvor die Anerkennung der Angst und im gleichen Moment die Verdrängung seiner Angst. Schon deshalb bin ich überzeugt, dass unser Überleben nicht vom Glauben abhängt, sondern wie gut oder schlecht wir mit der Natur umgehen.

Meine Unruhe kam auf leisen Sohlen daher. Ich sah die Brücke zwischen Gesellschaft und Religion, zwischen der Wahrheit und dem Aberglauben. Warum behaupten also christliche Denker, sie wären in ihrem Glauben unangreifbar, wenn sie diese Brücke doch nur überschreiten brauchen? Ich hätte sie fast ausgelacht, aber dann empfand ich nur noch Mitleid für sie. Nein, die Wolken werden vom Wind getrieben. Die Jahreszeiten geben das Klima vor. Und wir alle tragen zu Veränderungen im Klima bei, zur Ausbeutung der Ressourcen, zur Verschmutzung der Meere, zur Erwärmung der Atmosphäre und zum Abschmelzen der Gletscher und Polkappen. Gott, wer immer das auch sein soll, hat damit nichts zu tun. Ich kann mich nur der Denkweise anschließen, die mir die Naturgesetze wissenschaftlich und damit logisch erklärt. Alles andere ist Pseudowissenschaft. Wer an Gott glaubt, soll es tun. Das steht jedem frei. Niemand darf dafür verurteilt werden. Ich aber glaube an die Natur und ihre Gesetze, denn ich beobachte die Vorgänge darin sehr genau.

Ich vergaß, deinen Namen auch am nächsten Tag zu erwähnen, obwohl ich dich bereits gut kannte. Meine Worte klagten, bezweifelten und deuteten an, das Verhältnis zu dir zu verbessern, um es schließlich zu tolerieren. Ich konnte nicht einschätzen, dass auch in dir ein ängstliches Gefühl lebt, welches starken Stimmungsschwankungen unterworfen ist. Meine Sensibilität gab mir eine klare Botschaft. Ich konnte deine Mimik stets gut einordnen. Wie du weißt, ist mir deine Sensibilität, die ich in deinem Gesicht erkannt habe, sehr wichtig. Gerade dieser Augenblick berührt die Liebe in mir. Sie beschenkt mich, um frei zu entscheiden.

Sie ist in der Lage, die innere Verbundenheit zwischen Leben und Natur klar hervorzuheben. Denn es ist mir wichtig, dass wir davon profitieren. Die Trennung der chaotischen Welt von den Erkenntnissen über die Natur gibt der Gesellschaft die Möglichkeit sich anzunähern. Aus dem Grund wird fast jede Situation dramatisiert, was zur Folge hat, dass gewaltige Katastrophen und Naturphänomene entstehen, die wir hätten verhindern müssen, aber nicht getan haben. Wir bezeichnen das alles als Klimawandel, und das war es schon. Dass sich aber die Erde erwärmt, wird nur am Rande erwähnt.

Du wusstest schon, warum ich das immer wieder ansprach. Die Bäche im Eschengrundtal sind trocken und nicht mit Wasser gefüllt. Wer was anderes behauptet, versteht das Klima nicht. Die Bachläufe sind schon seit Langem trocken und zeigen Steine und Geröll. Leben ist nicht möglich. Wegen des fehlenden Wassers sind auch Äcker und Wiesen nicht mehr fruchtbar. Die Winde versanden den Mutterboden. Sie treiben die letzte Feuchtigkeit aus.

Ich habe dir verdeutlicht, dass unser Planet um die Sonne kreist, dass unser Magnetfeld eine zentrale Rolle für unser Überleben spielt. Aber nicht jeder Planet in unserer Galaxie besitzt sein eigenes Energiefeld, doch alle treiben sie auf festen Umlaufbahnen um ihre Sonnen. Die natürliche Ordnung haben wir Menschen auf der Erde längst zerstört. Wir sind daran schuld, dass es keine richtigen Jahreszeiten mehr gibt, dass sie sich zeitlich verschoben haben. Winter und Frühling sind zu warm und zu nass, der Sommer ist zu heiß und reicht bis in den Herbst hinein. Und einen Herbst wie wir ihn vor 50 Jahren hatten, den gibt es längst nicht mehr. Das alles hat Auswirkungen auf Flora und Fauna, auf Menschen und Tiere. Wir zerstören uns selbst. Die Erde aber wird noch existieren, wenn wir längst nicht mehr da sind.

Wir wissen zu wenig über die Erde und das Universum. Zu kompliziert sind die Berechnungen der Planetenstellung, auch wenn Hunderte Satelliten auf ihren Umlaufbahnen die Erde umrunden. Dabei wäre es bedeutend zu erfahren, was es für Planeten im Universum gibt, ob sie für uns bewohnbar sind und wie sie sich zu ihrem Zentralgestirn verhalten.

Unser altes Weltbild wird sich in der Zukunft verändern. Irgendwann mal werden Nordpol und Südpol sich umkehren. Auch der Mond, der sich jedes Jahr um einige Meter von uns entfernt, wird eines Tages verschwunden sein. Und ob wir dann noch existieren, ist fraglich. Man stelle sich nur vor, dass unser Deutschland vor etwa dreihundertfünfzig Millionen Jahren in der Nähe vom Äquator lag und erst durch die Plattentektonik nach Norden driftete. So wie die Kontinente auseinanderbrachen, sich verschoben oder zu einem Superkontinent vereinten. Die Erde lebt, und das seit Milliarden von Jahren.

Und wie wir das Leben betrachten, zur Liebe und Wahrheit stehen, so behandeln wir auch die Natur. Ich will sagen: Wir wollen Widersprüche erklärbar machen, wo es keine gibt, und ignorieren Veränderungen, die wir besser beachten sollten. Denn von unserem rationalen Verhalten hängt unser Überleben ab.

Sieh uns doch an! Wer sind wir denn? Nichts als kleingeistige Wesen. Wir fragen uns ständig, woher wir kommen, wohin wir gehen und ob wir allein sind in der Weite des Universums. Statt diesen Fragen hinterherzujagen, sollten wir uns besser auf unser Leben konzentrieren, auf unsere Mitmenschen. Niemand kann uns diese Fragen beantworten. Der Papst macht es sich einfach. Er sagt, dass Gott, eine imaginäre Figur, die Welt erschaffen hat. Doch ist das die Wahrheit? Die Wissenschaft sagt Nein und beantwortet unsere Weltfragen auf ihre eigene Art und Weise. Dabei geht es nicht nur um die physikalischen Gesetze des Universums, sondern auch um Fragen, die uns Menschen betreffen – Stichwort Liebe, Wahrheit, Schuld, Religion, Gerechtigkeit, Adam und Eva usw. Ob die Antworten auf diese Gesichtspunkte der absoluten Wahrheit entsprechen, weiß man auch in der Wissenschaft nicht. Man versucht, sich ihr allerdings so weit wie möglich anzunähern.

Kürzlich hatte ich wieder ein Buch ausgelesen, war mir aber nicht ganz sicher, ob ich es behalten soll. Ich behielt es, weil mir die Gestaltung des Buches gefiel. Und es inspirierte mich für mein eigenes Buch. Deine Frage, warum ich nicht selbst ein Buch schreiben würde, so viel wie ich lese, war berechtigt. Kaum war deine Frage raus, verspürte ich auch schon das Bedürfnis dazu. Ich wollte wissen, welche Sprache ich finden würde.

All die Jahre war es mir nicht vergönnt eine einzige Silbe zu schreiben, da meine Eltern das nicht wollten. Melancholie lag in meinem Herzen. Irgendwie musste ich mein Leben retten. Aber es blieb in seiner Grundhaltung gefangen, obwohl ich versuchte, mein Erdachtes, Erträumtes, meine Sehnsüchte einzufangen. Das Leben brannte sich in mir ein: das Böse, die Lüge, das Trauma, das Chaos. Ich versuchte, das alles zu ignorieren, wollte lieber einen kleinen Stoffhasen umarmen, der meine Seele streichelt. Doch dazu kam es nicht. Noch heute kann ich das Chaos nicht verlassen und den Hasen finden, der mich tröstet.

Leider überraschte uns eine Pandemie. Dein Zustand verschlimmerte sich Tag um Tag. Ausgangssperren wurden befohlen. Abstandsregeln und Mundschutze angeordnet. Und Gesetze wurden verabschiedet, um der Lage Herr zu werden. Wir gaben dem Virus sogar einen Namen: „Corona“. Am Anfang dachte ich mir nichts dabei und glaubte an einen kleinen Mückenstich, der in einigen Tagen verheilt sei. Auch da brauchte ich dich nicht beim Namen rufen, denn deine Überlegungen waren nicht weit weg von einer Hysterie. Selbst Goethe hätte es nicht geschafft, die bösen Träume mit Gedichten aufzuhellen. Sie waren schon nutzlos, als ich geboren wurde. Schau dir doch die Weltpolitik an. Diktatoren leben immer noch unter uns und führen ihre Völker in den Tod.

„Tun sie das mit Absicht?“, hast du gefragt. Natürlich sind ihre Vorgehensweisen berechnend. Ihre Macht wollen sie zu keiner Zeit verlieren. Sie denken, in ihrer Kindheit genug Armut erlebt zu haben. Der Wind, der damals um ihre Häuser wehte, war kalt und die Umgebung blieb dunkel. „Was mir widerfuhr, soll auch meinem Volk widerfahren.“ So denken und reden sie. Wie stumpfsinnig. Was für ein Wahnsinn. Menschen, die wenig Liebe erfahren, geben auch wenig Liebe ab. Das trifft oft zu.

Auch diesmal rief ich nicht deinen Namen, denn der Glaube im Volk ist stark brüchig und keine Religion kann ihn festigen. Schau deinen Glauben an! Der Sommer ist noch nicht ganz rum und doch zeigt er uns im Vorfeld, was die Dürre im Land anrichtet. Der Asphalt weicht in der Hitze auf und der Kampf um Wasser hat begonnen. Hunger und Elend werden siegen. Doch wir ignorieren das.

Du bist allerdings der Meinung, dass das Elend nur Einbildung sei und sie uns allen nicht schaden würde. Ich bin mir da nicht ganz sicher und schrieb aus Sicherheitsgründen eine Postkarte an den fremden König, dass er den Ostwind zur Schwüle ins Land schicken möge, damit dem Volk die ausgesprochene Warnung offenkundig wird. Vermutlich wird aber unser Berlin eine Wüstenstadt, in die Einsamkeit Einkehr hält.

Ich mochte weder dein Unwohlsein noch dein Gähnen in manch brenzligen Situationen oder dein seltsames Gehabe bei Überlegungen, die eine Welt erklären wollten, die nicht der Realität entsprach.

Ja, sie ist wahrlich nicht mehr bunt und frisch wie ein Kopfsalat. Ich musste manchmal echt überlegen, welche Welt du gemeint hast. Die Welt, die du akzeptierst, werde ich nicht anerkennen. Sie steht im Widerspruch zu dir. All die Jahre hast du von deiner Welt geredet. Du hast sie bunt ausgekleidet, mit kleinen silbernen Fäden überzogen. Den Anfang hast du sehr geschickt eingefädelt. Ich glaubte fest daran, dass deine Illusionen der Wahrheit entsprachen. Gott sei Dank kam irgendwann der reinigende Regen vom Himmel. Die Erde wurde nass. Die Wolken verdeckten die Sonne. Erst da wurde mir klar, dass du mich reingelegt hast. Du wolltest, dass ich die Schuld trage und gleichzeitig Henker bin. Das war dein Plan. Und mir zu sagen, dass der Erstgeborene einer Familie die Verantwortung für den Schutz der Familie trägt, dafür war es leider zu spät. Du hast so viel Unsinn geredet, nur um das Leben kostbar zu halten. Deine Meinung war nicht meine. Aber deine Lippen waren aus purer Seide. Die Gebote, von denen wir früher sprachen, hast du vor einiger Zeit verspottet, selbst als die DDR-Halunken noch die Fäden unseres kranken Volkes führten und den Sieg des Sozialismus vorhersagten. Jeder Denker, der an Gott glaubt, glaubt an einen König, der keiner ist. Und Demokratie, Freiheit und freie Wahlen? Alles nur leere Worthülsen? Bei genauer Betrachtung schon, aber unumgänglich für die Menschheit. Leider ist viel Zeit ins Land gegangen. Die Völker wählten vor den zwei Weltkriegen falsche „Könige“ und danach auch. Sie waren gut ausgebildete Narzissten, agierten aus der Angst heraus und zettelten dadurch Kriege an, die Millionen Denkern das Leben kostete. Die Folgen spürst du heute noch.

Warum habe ich dir das erzählt? Ich hatte viele Fragen zur Entstehung von Kriegen. Die wichtigste, die ich als Junge hatte, war: Warum man Konflikte nicht schon im Vorfeld verhindert? Wie kann ein einzelner Mensch zu so viel Macht kommen und die Welt in den Abgrund stürzen? Die Antwort hast du mir vor langer Zeit gegeben: „In der Kindheit entstanden große und kleine Inseln gefühllosen Bodens. Liebe, Hoffnung, Vertrauen, Zuverlässigkeit oder Sicherheit konnten deshalb auch nicht gedeihen und zogen schlimme Folgen nach sich.“

In meiner Kindheit fand ich in mir drin nur eine leere Wüste vor, keine Liebe, keinen Glauben, eher Hass auf das Leben. Jahre wanderte ich durch die leere Wüste und fand eines Tages tatsächlich einen Spross, den ich pflanzte. Irgendwann wuchs daraus ein junger Trieb. Da wusste ich, dass sich in meinem Leben schon bald eine Wende abzeichnen würde. Ich achtete weiter auf das Werden und Wachsen des jungen Triebes. Ich trug Sorge dafür, dass die jungen Blätter keine braunen Spitzen bekamen, wendete jeden schädlichen Windstoß durch Vertrauen ab, durch innere Stärke. Ich kam deiner Frage zuvor, indem ich dir sagte, dass das Leben zu jeder Zeit im Jetzt zu verstehen ist.

Ich entdeckte durch Zufall, dass ein winziger Keimling in mir heranreifte und mir die Fähigkeit gab, entstehende Konflikte im gleichen Augenblick zu akzeptieren, ohne dich zu verurteilen. So bewahrte ich unbewusst den Frieden in mir und übte mich in Gelassenheit. Das gesunde Maß, auf das ich sehr stolz war, gab mir das Gefühl, dass mein inneres Kind lebte. Dasselbe könnte auch in dir geschehen, wenn du das Gefühl zulässt, darüber sprechen zu wollen.

Es machte Sinn, die inneren Verwandlungen zu erkennen. Denn es war ein erhabenes Gefühl, zum Vorwärtsstreben bereit zu sein. Dieses Gefühl lebt von der Liebe, und ich bekam nicht genug davon. Es tat mir leid, dass das für dich nicht greifbar war und dass du die Liebe, von der ich sprach, nicht nachempfinden konntest. Es tat weh, dass du der festen Meinung warst, dass dich der Glauben irgendwann mal berühren würde – dann, wenn du Lust hast. Ich wusste, dass dich die Einsamkeit belasten wird. Aber das Leben ist neutral, so wie wir es tagtäglich erleben, ohne Ausnahme. Ich habe für mich verstanden, dass andere ihre Konflikte auf mich projizierten, obwohl sie nie etwas mit mir zu tun hatten.

Ich habe deinen Namen aus meinen Gedanken verbannt und rief stattdessen den Namen meines inneren Kindes. Erst da wurde mir klar, dass die Zukunft mir nichts Neues mehr bieten würde. Egal welchen Namen ich aufrufen würde, ich allein musste erkennen, dass mein Name den inneren Glauben benennt und alles so stehen lässt. Alles davor war nur Chaos, den ich gern vermeiden wollte.

Wenn ich wollte, könnte ich morgen deinen Vornamen auf ein Blatt Papier schreiben und die Bitte formulieren, die Liebe wahrzunehmen. Du schreibst auf Facebook in fetten Lettern über das Sehen, das Verstehen, das Zuhören und vom Willkommen sein. Das fiel mir sofort auf. Aber was steckt hinter deiner Botschaft und warum versuchst du jeden Tag, bei den Usern Beachtung zu finden? Ich las lange Kommentare und fragte mich, was wohl dahinterstecken würde. Dann wurde mir klar, dass du auf die Anerkennung der User aus warst. Interessant für mich waren dein Dialog mit einem User über die „Dankbarkeit“ und das sogenannte „Bereit sein“.

Ich konnte beim Lesen nichts empfinden. Es klang irgendwie unglaubwürdig und langweilig. Du hast dich in den Vordergrund gestellt und besserwisserisch hingestellt. Die Sätze waren inhaltslos und die Gesinnung leer. Was für ein Unfug? Sollte das dein spiritueller Weg zur Liebe sein? Oh, sage mir, dass das nicht wahr ist! Dankbarkeit ist für mich ein großes Wort – ein königliches Wort –, denn um Dankbarkeit zu empfinden muss man sich mit viel Wissen und Erfahrung in den anderen hineindenken können. Ich war schon dankbar, wenn der Abend kam und der Mond den Vorgarten beschien. Wenn ich froh gestimmt war, einer alten Frau oder einem Kind geholfen zu haben. Wenn ich Ehrlichkeit spürte. Dann war ich auf dem richtigen Weg.

Deine Philosophie dagegen sah anders aus. Dich trieb eine böse Begierde voran, die selbst die kleinste Romantik abschwächte. Es wäre ein Glücksfall gewesen, wenn du eine Idee gehabt hättest, die dein Leben auf den Kopf gestellt hätte. Du aber konntest nicht mal erklären, was Gerechtigkeit für eine Wirkung auf dich hat. Selbst deine Lebensansichten hast du nicht so weit ändern können, dass deine Angst minimiert wurde. Du tappst weiterhin im Dunkeln, schreibst Texte auf Facebook und zelebrierst eine heile Welt, die nicht da ist. Ich habe sie gelesen, aber sie berührten mich nicht. Deine wahre Identität war da bereits in Gefahr. Immerzu hat dein Ego die Führung in dir übernommen, obwohl du eine Welt beschrieben hast, die du zwar gern gehabt hättest, aber nie haben wirst.

Wo war deine „Heilige Botschaft“, als du deine Liebe verlassen hast? Nichtsahnend warst du – hofftest, dass die Liebe dir trotzdem ein Geschenk machen würde. Nur dass kein Empfänger da war, dem du sie hättest schenken können. Keine Freunde zu haben, ist schon ein Drama. Und Facebook-Freunde sind und werden niemals wahre Freunde sein, aber das hast du ja gewusst. Also, was sollen diese Liebesgedichte über Schönheit und Wahrheit? Kein Denker würde dir sagen: „Schön, dass es dich gibt.“ Du hast dich ja selbst nicht mal gekannt und fandest keine Ordnung in den Wirren deiner Gedanken. Wieso glaubst du also, „die Wahrheit“ zu kennen, um daraus Kapital schlagen zu können?

Du hegst ein unmerkliches Motiv, das du als Wahrheit darstellst, als wäre es ein Plakat, das man aushängt. Du opferst die Angst, damit die Vergangenheit in dir verschwindet. So willst du zu Anerkennung kommen. Das nennst du „Wahrheit“? Deine Art, die Welt zu betrachten, war ansatzweise beachtenswert und frech zugleich. Die ungekämmten langen Haare auf deiner Schulter sollten ein Vergleich zu den langen Haaren von Jesus sein, als läge die Schöpfung in dir. Hast du das wirklich geglaubt? Man könnte meinen, Jesus würde in Hellersdorf auferstehen und das Wuhletal heiligsprechen. Meine Güte!

Und was wäre dagegen einzuwenden, wenn tatsächlich ein Heiliger käme und dich freispräche? „Nichts!“, wäre meine Antwort. Und deine? Du hättest sicher keine, wegen deiner Angst. Denn dein Narzissmus ist so stark ausgeprägt, dass du sie zurücknehmen würdest, um die Welt in ihrer Realität zu sehen. Dann wärst du auch in der Lage, die Dinge auf Facebook anders zu betrachten. Die meisten User wollen nicht, dass sich die Welt zum Guten wendet, und schon aus dem Grund solltest du das laute Getöse über das Böse überhören und nicht annehmen. Ihre Fantasie ist begrenzt. Sie denken, die Freiheit zu haben, die Schuld für ihre verschrobene Meinung bei den anderen Usern zu suchen. Also sei vorsichtig!

Es gab eine Zeit, da wurde ein Blumenbeet vor deinem Wohnhaus liebevoll umsorgt und die Tulpen im Frühling blühten wunderschön. Du wusstest nicht, wer diese Blumen umsorgte. Dieses Jahr wuchert das Unkraut auf den Beeten. Ich sah Brennnesseln und anderes Gestrüpp darauf. Meine Hilfe hast du abgelehnt, hast dich benommen, als würde es mich nicht mehr geben. Was war vorgefallen? Die nun verdorrten Blumen waren nicht schuld. Sie vertrockneten einfach. Was also war vorgefallen?

Ich erinnere mich: Am letzten Sonntag hattest du mich gebeten, mit dir in die Kirche zu gehen. Du wolltest mal eine Messe erleben. Sie sollte dich seelisch auffangen, weil es dir nicht gut ging. Ich verstand die Situation und begleitete dich. Doch als wir die Kirche betraten und das Leuchten der Altarkerzen sahen, hatte ich den Eindruck, dass du wieder rausgehen wolltest. Ich dagegen wollte bleiben. Ich nahm die Bibel vom Kirchendiener entgegen. Das Buch war schwer. Ich spürte ein unbehagliches Gefühl, das später wieder verschwand. Der Pfarrer eröffnete den Gottesdienst, indem er Gott willkommen hieß. Ich hörte ihm zu, wie er die Messe las. Er hob beide Arme und sendete uns allen in der Kirche einen heiligen Gruß. Deine Augen waren indes auf den Boden gerichtet, du wolltest dem Pfarrer nicht in den Augen schauen. Ich ahnte die Angst in dir. Ich akzeptierte dein Verhalten, wollte aber dennoch mehr von der evangelischen Religion erfahren. Die Kirchenorgel spielte. Entweder die Gläubigen fanden die Töne der Musik rührig und besonnen und schenkten dem Pfarrer ein Lächeln oder sie ließen sich nicht darauf ein und spielten mit ihrem Smartphone.

Ich gab dir Raum, dich zu besinnen. Indes erinnerte ich mich an die Wendezeit, als ich zum ersten Mal in der Kirche im Berliner Stadtteil „Prenzlauer Berg“ saß. Es ist schon so lange her. Wir alle suchten damals in der Kirche Schutz vor der Stasi, um einer Verhaftung zu entgehen. Viele Freunde habe ich damals aus den Augen verloren. Später erzählten sie mir von der brutalen Haftzeit in Hohenschönhausen. Da war ein Gottesdienst noch was wert und brachte Nutzen für die Denker von damals. Vielleicht war die Demokratie die Quelle, um die DDR-Machthaber in die Knie zu zwingen und dem Volk die Sprache zurückzugeben. Ich weiß es nicht.

Gern hätte ich deinen Namen auf einem der damaligen Protestplakate gesehen. Wir liefen in Massen am Palast der Republik vorbei und riefen laut: „Die Mauer muss weg!“ Überall war die Polizei und du bist neben mir gelaufen. Schüchtern erst, dann sicheren Schrittes und mit lauter Stimme. Heute kannst du dich nicht mehr so genau daran erinnern. Für uns war das eine sehr lebendige, aufregende Zeit.

Bei dem Gedanken musste ich ein wenig schmunzeln. Dann kam die Traurigkeit, ich musste weinen. Ja, ich wurde traurig, weil die Ostdeutschen sich von der DM und dem grenzenlosen Reisen blenden ließen. Schon nach einem Jahr sah man die Armut in den Straßen flanieren. Der INTERSHOP war nicht mehr da und der KONSUM hatte sich selbst abgewickelt. Zeitgleich wurde der Kurfürstendamm eine Königspromenade. Dort traf man sich, dort wurde man gesehen, dort gab es Aufstiegschancen und endlich auch den Straßenstrich. Der Palast der Republik war nicht mehr modern. Nur wenige begehrten auf, als er abgerissen wurde. In Leipzig blieb das Gewandhaus und die gelbe Kloake in Bitterfeld wurde saniert, was der Umwelt guttat.

Als dich fragte, ob du dich als Deutsche fühlst, hast du den Kopf zur Seite gelegt, als würdest du nicht verstehen, was ich meine. Aber mit Heimatgefühl konntest du nichts anfangen. Mein Herz raste vor Wut. Und das genügte mir, um ein Aquarellbild zu malen, das die Wende vor dreißig Jahren als Bruch in mir darstellte. Jeder wollte mir von da an was sagen, den Chef spielen, die Regie übernehmen, mich bevormunden, alles besser wissen, mir den „richtigen“ Weg zeigen. Vor dem Hintergrund, ihre Auffassung zum Recht zu legitimieren, nahmen sich die narzisstischen Denker das Recht heraus, darauf hinzuweisen, dass ich die Klappe halten soll, bevor ich sage, was nicht genehm ist, da ich immer noch ein Ostdeutscher zweiter Klasse sei. Und wenn der 197er Bus nicht pünktlich abfahren oder ankommen würde, sollte ich in Zukunft schweigen und besser zu Fuß gehen. Eigenartig, ich kannte das Gefühl der Demütigung von früher genau, weil ich als Kind schon meine Schnauze halten musste. Daher fiel es mir auch nach der Wende nicht schwer. Mein Stolz blieb. Was nicht immer leicht war, den zu behalten, denn meine Nachbarn im Haus waren ebensolche Narzissten. Sie gaben sich nicht mehr mit einem Lada ab, sondern leisteten sich einen Audi der Oberklasse, um zu zeigen, wer sie sind.

Die Mauer war endlich gefallen. Nun konnte ich ans Brandenburger Tor gehen und sogar hindurchlaufen. Vor dreißig Jahren war das gar nicht vorstellbar, denn da bewachten noch Grenzsoldaten mit Maschinengewehren im Anschlag die sogenannte Staatsgrenze. Kein DDR-Denker durfte auch nur in seine Nähe kommen. Erst als die Mauer fiel, kamen sie zuhauf.

Berlin eine geeinte Stadt?

Die zerstörte Mauer machte es jetzt möglich, als hätte es die DDR nie gegeben. Ich erinnere mich an dein zorniges Gesicht, als wir von Kindern an der ungarischen Grenze erfuhren, dass sie von ihren Eltern im Trabi und Wartburg zurückgelassen wurden. Sie haben geweint und wussten nicht, was geschehen war. Die Eltern haben nur an sich gedacht. Manchmal stand die Seitenscheibe etwas offen, sodass die Kinder wenigstens frische Luft bekamen. Was ging in den Köpfen dieser Eltern nur vor? Wie kann man seine Kinder in einem fremden Land zurücklassen, ohne Trost, Wärme und in tiefster Dunkelheit? Jahre später kehrten sie zurück und behaupteten, die Heimat und ihre Kinder geliebt zu haben. Was für eine Farce? Es würde mich nicht wundern, wenn es die gleichen Kreaturen gewesen sind, die vor dem Reichstag standen und: „Wir sind das Volk!“ riefen. Der Verdacht liegt nahe.

Deinen Namen in den nächsten Tagen in „Helle Mitte“ vor dem Rathaus zu erwähnen, wäre nicht ratsam. Auch hier standen sie mit Pappschildern und forderten die Regierung auf, sich aufzulösen. Fassungslos stand ich da und vergaß zur Bank zu gehen, um mir Bargeld zu besorgen. Ich bezahlte meinen Einkauf mit Karte und trank später einen Kaffee zu Hause. Ich musste verstehen lernen, was aus der Demokratie geworden ist. Ich habe nicht vergessen, wie wir auf dem „Hackeschen Markt“ standen und du einen Stasimann erkanntest, der früher dein Nachbar gewesen war. Wegen deiner dünnen Stimme wurde er nervös und wollte das Weite suchen. Die Polizei aber hatte ihn schon erkannt und abgeführt, da ein Haftbefehl gegen ihn vorlag, wie sich später herausstellte. All deine Freunde haben sich für dich gefreut – für deinen Mut und deine Courage, diesen Denker angezeigt zu haben. Er war Oberstleutnant, der sich als ein Bürgerrechtler ausgab. Wendehälse nannten wir solche. Sie verstanden schnell, die Seite zu wechseln. Nach der Nazizeit war es ähnlich. Viele alte Nazis bekleideten in der alten Bundesrepublik hohe politische Ämter. Aus Braun wurde rot, gelb oder grün.

Die deutsche Geschichte ging ab Ende der 40er-Jahre mit zwei Staaten BRD und DDR weiter. Vor dreißig Jahren sagte man mir, dass jeder Bürger auf deutschem Boden die gleichen beruflichen Chancen bekäme. Ich zweifelte damals daran. Ein ehemaliger Klassenkamerad hat in den 80er-Jahren sein Abi in der DDR absolviert und Maschinenbau studiert. Später, da er nach der Wende keinen Job bekam, studierte er Politologie. Nach dem Studium fand er auch keinen Job und musste sich arbeitslos melden. Er bewarb sich auf Anordnung des Arbeitsamtes in einem Callcenter mit einem Stundenlohn von 7,89 Euro. Er hat die Stelle nicht angenommen. Dafür meldete er sich beim Jobcenter am folgenden Tag wieder ab, machte sich selbstständig und nahm an einem Lehrgang teil, um Demenzberater zu werden. Nach erfolgreichem Abschluss fand er durch Zufall im Pflegeheim eine Anstellung und hält heute anerkannte Vorträge über Demenz. Seine Vortragsreihe in Bischofswerda machte ihn so bekannt, dass er die Anerkennung bekam, die er brauchte, um ein normaler Denker zu sein, der er immer sein wollte. Er ist bescheiden, kann ohne staatliche Hilfe seine Miete zahlen, fährt in seiner Freizeit Motorrad und liebt die Natur.

Ich kenne die Herkunft meines Namens und weiß, was es heißt, sich mit einem deutschen Namen im Jobcenter anzumelden. Dort wird Klartext gesprochen: Sparbücher, Versicherungen, Kredit, Kontostand. Man muss sich offenbaren. Und wo bleibt da die sogenannte „unantastbare Würde“ des Menschen? Die hat man dir genommen, und das vor einem hochmodernen Schreibtisch, mit einem fragwürdigen Berater für Arbeitsbeschaffung.

Ich sei zu blöd, eine erfolgreiche Bewerbung zu schreiben, belehrte man mich im Jobcenter. Man müsse mir erst zeigen, wie es in der Republik langgeht. Im Alter von 25 musste ich mir sagen lassen, dass ich als Ossi eine „Dumpfbacke“ sei. Und eine „Dumpfbacke“ könne eben nur minderwertige Arbeiten verrichten. Daher wäre es angebracht, einen Job als Bauhilfsarbeiter oder als Transportarbeiter anzunehmen. Andere Berufe kämen für mich nicht in Frage. Für eine Umschulung wäre ich schon zu alt und hätte leider keine Möglichkeit, einen Bildungsgutschein zu erhalten.

Ich verließ den grauen Betonklotz mit seinen schrecklich westorientierten Denkern fluchtartig. Auf dem langen Flur hallte es vom Berater noch zu mir herüber, dass ich endlich eine richtige Arbeit aufnehmen soll. Glaub mir, in dem Augenblick vergaß ich alles und war innerlich nur noch extrem wütend. Ich sah mich in einem Teufelskreis, in meinem Beruf gab es keine Anstellung und für andere Berufe war ich nicht ausgebildet. Also lernte ich, den Sonnenaufgang zu genießen und dabei einen heißen Kaffee zu trinken. Ich wollte meine weiteren beruflichen Chancen abwägen. In meiner Ausbildung als Filmkopierer in der DDR konnte ich eine Menge Erfahrungen sammeln und erfuhr viel über die DEFA. Ich lernte zum Beispiel Schauspieler kennen, die darauf hofften, dass ihr Film von der „Staatlichen Prüfkommission“ abgenommen wurde.

Es gab tatsächliche einige Spielfilme, die in der DDR nicht aufgeführt werden durften, da es darin Szenen gab, die gegen die DDR-Regierung gerichtet waren. Jahrelange Drehzeit war dahin, man musste wieder von vorn anfangen. Ein Kameramann nahm sich danach mal das Leben, weil er es nicht ertragen konnte, wie man mit ihm umgegangen ist. Ich erfuhr, dass ein ganzes Filmteam sich vor einem Gericht verantworten und mit einer Haftstrafe rechnen musste.

Ich wollte den richtigen Weg einschlagen, ohne zu wissen, dass das Leben mit all seinen Widerständen und Kompromissen eine ganz andere Richtung für mich ausgewählt hatte. Ich ahnte ja nicht, dass der Sozialismus über achtundzwanzig Jahre eine leere Hülle sein würde. Im Gegenteil. Meine Vermutung war, dass die Staatsführung das Volk nur beruhigen wollte, damit es nicht wegen Bananen und Apfelsinen in den Westen abhaut. Und die Regimetreusten standen im Gemüseladen und kauften die Bananen aus Kuba. Alles schon vergessen, werte Denker? Wir haben doch am siebten Oktober die wehenden Arbeiterfahnen auf den Balkonen und Baugerüsten gesehen. „Hoch lebe die DDR“, stand auf Plakaten und Fahnen. Eine fast vergessene Propaganda, von der man sich mehr und mehr distanzierte und später nichts mehr wissen wollte.

Ich erinnere mich auch an die Schattenseiten des DDR-Alltags. Selbst die Kirchen hatten sich der sozialistischen Ideologie zu fügen. Da fragte man keinen Pfarrer, ob man seine Kirche im Grenzstreifen sprengen darf. Alles vergessen? Deshalb fand ich es damals spannend, als junger Gläubiger, dass in Hellersdorf eine Kirche gebaut wurde. Gleich nach der Wende war die dortige Gemeinde auf der Suche nach einem geeigneten Baugrundstück. Man ließ sich Zeit. Die abgedankte Partei hatte mit der Religion nichts mehr am Hut und genehmigte im Chaos der politischen Umbrüche den Bau der Kirche. Trotzdem wuchs der Druck im Volk. Mit großem Aufwand wurden Demonstrationen organisiert. Die Genossen in Marzahn und Hellersdorf waren anfangs von der Idee einer Kirche nicht gerade begeistert. Aber sie konnten letztlich nicht verhindern, dass Gott in den zwei Stadtbezirken Wurzeln schlägt. Lieber wäre den Genossen natürlich ein SED-Prachtbau gewesen. Aber sie gaben den Widerstand gegen die Religion auf. Einen marxistischen Glauben anzuvisieren, das war gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vorgesehen. Dazu holten sie sich den dummen Ulbricht ins Boot. 1973 kam der Spinner Honecker an die Macht, der sogar prophezeite, dass die Mauer noch über 100 Jahre stehen würde. Gott sei Dank kam es nicht dazu, und somit wurde die Grundplatte für die erste Kirche in Hellersdorf gegossen. Zwischenzeitlich wickelte sich die DDR selbst ab. Trotzdem gab es keine Baustoffe zu kaufen. Kies und Sand im Baumarkt zu kaufen, war nicht üblich. Fenster und Dachziegeln im Tausch, nach Art der DDR, das gab es auch nicht – nicht im Kapitalismus. So war der Alltag.

Für uns – wir waren gerade mal 19 Jahre alt – war hinter der Mauer das Land der Superlative, das Reich der bunten westlichen Konsumgüter. Wir dachten, unsere Welt würde an der Mauer für immer zu Ende sein. Die politischen Verhältnisse in der DDR waren ja auch katastrophal gewesen. Jeder Genosse stand dem westlichen Weltbild skeptisch gegenüber, zumindest offiziell. Die DDR sollte das „Schlaraffenland“ werden. Der Kapitalismus im Westteil von Berlin, so die Genossen der Partei, sei brutal und kenne nur die nackte Arbeitslosigkeit, Drogen, Diebe und Asoziale. Die wenigen in Lohn und Brot könne man an einer Hand abzählen. Und dann sahen wir in diese andere Welt, als die Mauer fiel. Wir sahen den Luxus und auch die Penner am Bahnhof Zoo. Und weiter? Hatten wir in der DDR keine Penner und keine Arbeitslosigkeit?

Aber dann zogen irgendwann tatsächlich die bösen grauen Wolken über Deutschland auf, und als die Wende an der Staatsgrenze anklopfte, schien für die Genossen keine Sonne mehr. Was sollten sie dagegen tun? Der saure Regen über dem Thüringer Wald gab sein Bestes, um auch den restlichen Wald langsam zu vernichten. Mehr noch! Eisenhütten und Bitterfeld rühmten sich, unter einer dicken Dunstglocke aus Ammoniak und Schwefelsäure zu liegen, sodass die giftige Luft auf die Gesundheit ging. In Flüssen und Seen haben die Russen und die NVA ihre Panzer gewaschen. Der Ölfilm auf der Wasseroberfläche war tagelang zu sehen. Nicht genug, werte Denker. Das Öl wurde aus den Panzern und Gefechtsfahrzeugen sogar abgelassen und sickerte ins Erdreich. Ölwechsel auf Kosten der Natur. Alles schon vergessen?

Auf alten Fotos sah man heruntergekommene Wohnhäuser in der Innenstadt von Berlin, allerdings nicht nur da. Auch in den Dörfern und Kleinstädten, wo alte Fachwerkhäuser darauf warteten, dass man sie endlich instand setzte, schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Das war so Ende der 70er-Jahre, als ich eine Lehre als Filmkopierer begann. Bei mir ging es mehr um Brigadeversammlung und Planerfüllung. Du dagegen hattest die EOS besucht und warst in der FDJ. Das „Blauhemd“ stand dir gut. Bei Arbeitseinsätzen, auf Plätzen im öffentlichen Raum und bei Demonstrationen zum ersten Mai oder zum Jahrestag der DDR war es Pflicht, dieses Hemd zu tragen.

Nach mehr als 30 Jahren fühle ich mich immer noch nicht als Westdeutscher. Und die „Einheit“, wo ist die? Meine Heimat ist das nicht. Mir war stets egal, woher all diese Denker kommen oder welchen Glauben sie haben. Ich stehe zu meiner Vergangenheit. Ich habe die lebendige Zeit im Ferienlager in Brandenburg gemocht. Acht Wochen Sommerferien an der Ostsee oder die Kartoffelferien im Oktober. Was war das für eine Zeit?

Zusammenhalt wurde großgeschrieben. Solidarität und die Friedenstaube gehörten zusammen, und ich würde heute rot unterstreichen, dass mir das alles gutgetan hat, weil es der Wahrheit entsprach. Alles andere war Lüge und Betrug, war SED-Heuchelei und hatte nichts mit der Wahrheit zu tun. Eine Arbeiterklasse gab es nur auf dem Papier, in einem Statut der FDJ und der Partei. Man tat so, als wäre die Arbeiterklasse in der DDR die Weltelite. All die Genossen, die daran glaubten, glaubten an Illusionen. Sie wussten nichts von Armut oder ignorierten sie. Verbote und unterdrückende Methoden in der Erziehung wurden mit immer raffinierter ausgebaut.

Am Ende der 80er-Jahre hörte ich den Namen „Gorbatschow“ und den Begriff „Perestroika“. Das war die Zeit, als die letzten DDR-Demonstrationen auf der Karl-Marx-Allee stattfanden und nur noch wenige Honecker und Krenz zuwinkten und auf dem Platz des „Himmlischen Friedens“ in China viele Demonstranten niedergeschossen wurden. Damals dachte ich daran, wie wohl die Genossen damit umgehen würden, wenn erst Blut an ihren Händen klebt. Der Marx-Engels-Platz, wo heute das stümperhaft gebaute neue Schloss steht, war schon immer Zeuge von Unterdrückung und Aufmärschen. Es war schön, sich an „Gorbi“ und seine „Perestroika“ zu erinnern, auch wenn Kohl anfangs noch zögerte und die Entwicklung abwartend beobachtet hat.

Die Mauer hat schon mir ihrer Errichtung angefangen zu bröckeln. Mir war klar, dass nun eine neue Zeit beginnt und die letzten DDR-Fahnen verschwinden würden. Honecker hätte sich mal besser um seine Kindheit kümmern und daraus therapeutische Rückschlüsse ziehen sollen, aber Therapeuten hat es in der DDR kaum gegeben.

Na ja, sei’s drum. Ich bin immer gern mit der S-Bahn gefahren und habe mir den Alexanderplatz von der Brücke aus angesehen. Die Brücke, über die die S-Bahnen fuhren, war grau und hässlich. Sie musste dringend saniert werden. Aber leider war die DDR-Regierung dazu nicht willens und nicht in der Lage. Dafür wurden der Fernsehturm und das Hotel Stadtberlin gebaut. Meiner Meinung nach waren diese Bauten Zeichen der Unvernunft, denn das alte Berlin, mit seinen Hinterhöfen, seinen ruhigen abgewinkelten Straßenzügen und kleinen Plätzen, wo einst ein Springbrunnen stand und rundherum die Denker auf den Bänken sitzen konnten, musste dafür weichen.

Alt-Berlin! Den Zeichnungen von Heinrich Zille war es zu verdanken, dass die Welt einen Einblick bekam, wie die Berliner damals lebten und wohnten. Ganze Straßenzüge wurden später abgerissen, um große Plätze zu schaffen, um imposante Paraden und Aufmärsche abzuhalten. Ich erinnere mich gut an die Plakate mit den Aufschriften: „Wohlstand und Sozialismus“, „SED, deine Partei“. Auf Parteiversammlungen wollten sie uns erklären, wie eine moderne Stadt auszusehen hat: Neubau, Neubau, Neubau und noch mal Neubau. Lange Straßenzüge ohne Baumbestand.

Zu hoch waren ihre Ziele. Zu verkommen war ihre Moral. Mehr und mehr konnte ich verstehen, warum die Mauer gebaut worden war. Langsam akzeptierte ich, dass die Tiefdruckgebiete im Westen blieben, die Fleischer im Osten früh morgens schon keine Schweinerouladen mehr hatten und die Westberliner der Meinung waren, dass wir in der Zukunft keine Straßenbahnen mehr bräuchten. Was für armselige Denker damals lebten und regierten!

Es sollte noch Jahre dauern, bis ich dich richtig kennenlernen durfte, Petra. Ich meine, woher kam deine Missstimmung oder deine Ablehnung, die dich den ganzen Tag begleitete? Warum bist du gegenüber Andersdenkenden so passiv geblieben, nur weil sie nach Liebe suchten? Woher kam deine Aggressivität, dein enorm hoher Zigarettenkonsum? Wolltest du damit etwas kompensieren? Deine unruhigen Phasen häuften sich und du hast verängstigt auf deine Umwelt geblickt, als ob etwas Bedrohliches auf dich zukäme. Wahrscheinlich war es deshalb auch kein Zufall, dass ich dich traf. Oh, nein! Die Natur und seine Jahreszeiten gaben dir deinen Weg vor. Schon nach wenigen Atemzügen können Begegnungen stattfinden, die wir vorher nicht für möglich gehalten hätten.

Der Anfang steht ungebremst im Raum. Man wird geboren, um die Wunder der Natur in allen Facetten zu erleben. Die Erde dreht sich und spiegelt die Wahrheit der Jahreszeiten wider. Und aus einer Zelle entsteht das Wunder des Lebens, mit Augen und Haaren, winzigen Armen und Beinen, einem schwachen Herzschlag und der Unendlichkeit der Zeit. Du hast mich wie ein Kind mit großen Augen, die gerade erst das strahlende Licht der Welt gesehen haben, angeschaut und gelächelt. Ich hatte den Eindruck, als wolltest du das Tor der Neugierde aufgestoßen, um die Funktion des Lebens zu erfahren. Wie erstaunlich, zu beobachten, wie das Baby die ersten Atemzüge und den ersten Schrei in seinem Leben macht. Es ist nicht einfach, zu verstehen, was im Mutterleib geschieht – wie Nase und Ohren, Augen und Kopf, Brust und Arme oder die Organe heranwachsen. Worin liegt das Rätsel begründet, ob das Baby männlich oder weiblich wird? Nur ein Spermium von Millionen dringt in die Eizelle ein, um es zu befruchten. Was für ein Wunder, meine Gute. Ich kann nicht glauben, wie die Gene über Generationen hinweg weitergegeben werden. Gesichtsmerkmale ähneln dem Vater, Charakterzüge der Mutter oder umgekehrt. Botschaften, die belegen, dass die Kinder von ihren Eltern abstammen.

Auch dein Gesicht ähnelt deinem Vater, der im Zweiten Weltkrieg seine Eltern verloren hat und ins Kinderheim musste. Schon vergessen? Selbst seine Art zu lächeln hat er dir mitgegeben, und deine schmalen Lippen. Selbst dein Gefühlsleben ist deinem Vater ähnlich. Du hast wie er in bestimmten Situationen des Alltags stets schroff und ablehnend reagiert, zum Beispiel wenn es um die Wahrheit ging. Aber du bist auch so milde und verständnisvoll wie dein Vater. Nur dass er diese Milde mit Geschenken untermauert hat. Er hat sich die Liebe mit Geld und Geschenken erkauft und ist damit gescheitert. Du siehst, es macht irgendwie Sinn weiterzuschreiben, denn so erkenne ich deine Persönlichkeit. Mein Vater war oft in seiner Wut gefangen. Tage später erst konnte man mit ihm vernünftig reden. Dadurch hat er viel über seine Gefühle gelernt.

Für mich gab es viele schöne Momente in der Schönhauser Allee, vor allem am S-Bahnhof. Dort habe ich meine erste Einraumwohnung bezogen. Eine Außentoilette war damals purer Luxus. Im Winter sind die Wasserleitungen zugefroren und mein Gesicht konnte ich nur mit aufgefangenem Regenwasser waschen. Die Straßen waren grau und trist. Die DDR-Fahnen fielen im Straßenbild nicht sonderlich auf. Es herrschte damals Wohnungsmangel. Wir alle waren froh, wenn wir eine Wohnung von der KWV bekamen, egal ob Alt- oder Neubau. Hauptsache wir bekamen eine. Erst in den 70er-Jahren kamen die Genossen von ganz oben auf die Idee, in den Außenregionen Berlins Hochhäuser zu bauen – zum Beispiel in Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen. Diese neuen Stadtbezirke linderten letztlich die Wohnungsnot ein wenig. Diese neuen Wohnungen waren der pure Luxus: ein warmes Zuhause, fließendes warmes Wasser und Innentoilette. Hinzu kamen Kindergärten, Schulen, Sporthallen und Kaufhallen, Kneipen, Restaurants und ein Kino, das heute leider nicht mehr existiert.

Heute behaupten viele Wessis, dass die Kinder in der DDR eine schlechte Schulausbildung gehabt hätten. Das stimmt natürlich nicht. Mit ruhigem Gewissen kann ich sagen, dass wir mehr über das Leben gelernt haben als die Schüler von heute, die nur mit ihrem Smartphone herumspielen, nicht richtig zuhören und ihrer Muttersprache nicht mächtig sind. Da werden heute auch mal Lehrer aus Spaß auf dem Schulgelände verprügelt. Die Schüler benehmen sich wie sie wollen. Viele Väter machen es ihren Kindern doch vor, indem sie die Mütter erniedrigen, nur weil beispielsweise das Abendbrot nicht pünktlich auf dem Tisch steht. Und dann sieht man Kinder abends 11:00 Uhr vor dem Fernseher sitzen, wie sie sich Nazi-Filme ansehen. Ich habe das beobachtet, als ich vor langer Zeit Pizza auslieferte. Auf einem großen Plasmabildschirm im Wohnzimmer waren alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen über Juden zu sehen, die vergast wurden. Ich musste mich abwenden und übergab dem Vater seine Bestellung.

Petra, beim Schreiben stellte ich fest, dass mir dein Name unbekannt war. Ich wollte wissen, woher er kam. Meine Neugierde ließ mich nicht los. Ich folgte einer Spur. Aus dem Griechischen wird er abgeleitet und beschreibt „Petrus“, einen Jünger von Jesus. „Du bist der Fels“, soll Jesus gesagt haben, „auf dem ich meine Kirche bauen will.“

Als ich das herausgefunden hatte, strömte eine seltsame Ruhe durch meinen Körper. Ich hatte stets mit mir zu tun und war nie in der Lage, über meinen „Tellerrand“ zu schauen. Und dennoch begegneten mir fremde Denker. Einige nur mit Blickkontakt, mit anderen hatte ich eine Fernbeziehung, auch intim, und manchmal einseitig – die ich aber schnell wieder beendete. Worte wurden gewechselt und man umarmte sich zum Zeichen der Verbundenheit, der Solidarität, des Verständnisses. Manchmal gab es nur ein kurzes Winken, ein Lächeln, ein „Guten Tag“ sagen, einen wohlwollenden oder auch kühlen Blick.

Die Beziehung mit dir war gewollt. Ich habe nie vergessen, als ich dich zum ersten Mal in einem Bekleidungsgeschäft sah. In meinen Träumen sah ich dich als spielendes Kind umherlaufen: Dein Gürtel rutschte lose auf deinem Bauch umher, und ich sah dein dünnes langes blondes Haar, wie es sich im Wind bewegte. Ich sah dich als kleines Mädchen. Du hattest deine Augen geschlossen, dein Gesicht war zur Sonne gerichtet. Du hast die Sonnenwärme genossen und schienst inneren Frieden zu empfinden.

Als wir im Bekleidungsgeschäft vor einem Spiegel standen und unsere Blicke sich darin trafen, sah ich in meinem Inneren eine schöne Zukunft für uns. Unsere Blicke im Spiegel ließen kleine Unsicherheiten zu. Noch wussten wir nicht, was aus uns beiden werden würde. Der Zufall sollte unsere Emotionen begleiten, nicht der Automatismus. Es wäre fatal gewesen, ein Gefühl zuzulassen, das eisige Ablehnung anbietet, um eine falsche Freundschaft zu hegen. Das hätte nie funktioniert. Nach dem ersten Kuss war mir klar, in welche Haut ich geschlüpft bin. Ich war ein einfacher Denker in der realen Welt, ohne den Schnickschnack eines dicken schwarzen Audi oder einer goldenen Halskette. Ich lehnte schon in meiner Jugendzeit die grünen kunterbunten Lover ab, die immer nach den Ärschen der Mädels schielten. Sie brüllten immer stets blödes Zeug, um gesehen zu werden und Anerkennung zu erhalten. Sie zündeten sich lässig eine Zigarette an, lachten unverhohlen und dachten, richtige Männer zu sein. Ich erinnere mich gut,