Der vierte Musketier - Henk Stoorvogel - E-Book

Der vierte Musketier E-Book

Henk Stoorvogel

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Beschreibung

Die Musketiere waren die Elitetruppe des Königs. Alles gaben sie für seine Ehre. Einer für alle - alle für einen. Dabei sind die Musketiere ein Spiegelbild männlicher Sehnsucht. Sie haben das, was Männer oft vermissen. Sie verkörpern das, wonach Männer suchen. Dieses Buch bestärkt Männer, ganz für ihren König zu leben. Und es geht um Vaterschaft, Partnerschaft, Freundschaft, um ein Leben aus dem Glauben heraus. Ein Leben für Gott, für die Familie, für die Gemeinde, für Gerechtigkeit.

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Henk Stoorvogel & Theo van den Heuvel

LEBEN IM DIENST DES KÖNIGS

Inspiration für Männer

Für Manuel, Chris und Luca – unsere drei Musketiere.

Ihr seid geliebt dafür, wer ihr seid.

Inhalt

Vorwort

von Henk Stoorvogel und Theo van den Heuvel

von Marc Stosberg

Prolog

Der Junge mit dem Jutesack

Unsere Geschichte

1. Dem Leben auf der Spur

Der innere Riss

2. Bindungen lösen

„Für meinen Vater“

3. Geliebt von Gott

„Ich will dich“

4. Für die Liebe kämpfen

Bereit sein zu sterben

5. Echte Freundschaft leben

Ich mache dich zu meinem König

Auf Abenteuer

6. Das Abenteuer Glaube

Schlafend auf die andere Seite

7. Gewaltig werden

Jagen wie Nimrod

8. Den Anfang wagen

Drei Musketiere

9. Ermutigung erfahren

Auf heißer Tat

Das Leeren des Jutesacks

10. Kontrolle abgeben

Die Aussage Jakobs

11. Freude am Spiel

Die theologische Bedeutung des Vogels Strauß

12. Lust besiegen

Die Schlachtung Olafs des Ochsen

13. Kapitale Gerissenheit lernen

Ping!

14. Verlust verkraften

Richtung Sonne fliehen

15. Freiheit finden

„Ich vergebe dir, Drecksack!“

16. Perspektive gewinnen

Das leere Ei

17. Das Erbe weitergeben

Gewinnen wie die Deutschen

Epilog

Der Mann mit einer Mission

Gebete

Quellenangabe

Studienmaterial

Dankwort

Über die Autoren

Vorwort

von Henk Stoorvogel und Theo van den Heuvel

Die Musketiere waren die persönlichen Elitetruppen des Königs. Alles gaben sie für seine Ehre. Ihr Leben: Einer für alle und alle für einen. Sie wussten, dass sie sich blindlings aufeinander verlassen konnten. Ihr Wort galt in Kriegs- wie in Friedenszeiten.

Einheit. Abenteuer. Heldentum. Hingabe. Kraft.

Musketiere sind ein Spiegelbild unserer männlichen Sehnsucht. Sie hatten das, was wir Männer oft vermissen. Sie verkörpern das, wonach wir suchen. In unseren Träumen lebt diese Vorstellung. Wir wollen, aber wir wissen nicht, wie.

„Der vierte Musketier“ will Männer stärken, ganz für ihren König zu leben. Dieser König war der Eine, der sich selbst hingab für alle. Wir wollen zusammen alles für ihn geben. Unser Dienst für ihn ist unsere größte Ehre. Sein Kampf ist unser Kampf. Seine Leidenschaft ist unsere Leidenschaft. Seine Ziele sind unsere Ziele.

„Der vierte Musketier“ wurde inspiriert durch den weltbekannten Historienroman „Die drei Musketiere“ des französischen Schriftstellers Alexandre Dumas (1802–1870). Die Geschichte spielt zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Frankreich. Der 18-jährige Edelmann D’Artagnan verlässt sein Elternhaus und macht sich auf den Weg nach Paris. Er ist fest entschlossen, ein Musketier zu werden.

Die drei Musketiere

Die Musketiere dienten als Soldaten dem französichen König Ludwig XIII. Sie waren seine Elitegarde. Allerdings war Ludwig XIII., verheiratet mit Königin Anna, ein schwacher Herrscher. Er stand unter dem starken Einfluss von Kardinal Richelieu, dem Oberhaupt der katholischen Kirche in Frankreich. Richelieu versuchte mit List und Betrug den König zu diskreditieren, um ihn absetzen und Frankreich regieren zu können. Unterstützt wurde er dabei durch die Femme fatale Milady de Winter.

Die drei Musketiere Athos, Aramis und Porthos setzten gemeinsam mit D’Artagnan alles in Bewegung, um die Pläne des Kardinals zu durchkreuzen und den König zu beschützen. D’Artagnan begann dieses Abenteuer als Gardist. Später wurde er wegen seiner Heldentaten zum Musketier ernannt. Zwischenzeitlich verliebte er sich in Constance, eine Hofdame Königin Annas, doch er konnte auch dem Charme der betrügerischen Milady de Winter nicht widerstehen.

Der Historienroman ist wunderbar zu lesen. Die vier Freunde erleben unglaubliche Abenteuer und treiben selbst den größten Unfug. Beim Schreiben hat sich Alexandre Dumas inspirieren lassen durch Geschichten von Musketieren, die im 16. Jahrhundert gelebt haben.

Der vierte Musketier – das Buch

Das Musketier-Motto „Einer für alle und alle für einen“ fasst in Worte, wie Jesus mit uns umging und wie wir miteinander umgehen wollen. In dem Buch „Die drei Musketiere“ geht es eigentlich um den vierten Musketier, D’Artagnan. Er ist der große Held der Geschichte. Wir folgen ihm auf seiner Reise, wie er aufbricht von seinem Elternhaus hinaus in die Welt. Wie er von einem Jungen zu einem Mann wird, vom Gardisten zum Musketier.

Auf gewisse Art sind wir alle der vierte Musketier. Jeder von uns Männern ist unterwegs und unternimmt die Reise durchs Leben vom Jungen zum Mann.

Die Idee, dieses Buch zu schreiben, ist aus dem Verlangen geboren, genau diesem Sachverhalt Form und Inhalt zu geben: „Einer für alle und alle für einen“ – du bist der große Held auf der Reise vom Jungen zum Mann – in der Geschichte deines Lebens im Dienst des Königs.

Jedes Kapitel beginnt mit einem kurzen Zitat aus dem Roman „Die drei Musketiere“, das nicht näher erläutert wird, aber deutlich verbunden ist mit dem Inhalt des Kapitels. Um den Zusammenhang zu entdecken, empfehlen wir dir, nicht nur „Der vierte Musketier“, sondern auch „Die drei Musketiere“ zu lesen.

Der 4te Musketier – die Bewegung

„Der 4te Musketier“ ist auch eine in den Niederlanden gegründete und mittlerweile international aktive christliche Männerbewegung, die Charakterwochenenden organisiert. Zweimal im Jahr, im April und Oktober, zieht eine Schar Männer in kleinen Teams durch eine unnachahmliche Landschaft und Wildnis, beispielsweise der schottischen Highlands oder der belgischen Ardennen. Vier Tage lang erleben die Männer dort ein Abenteuer. In ihren Teams bekommen die Männer Aufträge, die ihre Erfindungsgabe, ihren Mut, ihren Teamgeist, ihr Durchhaltevermögen und ihren Charakter testen. Hinter jedem Auftrag verbirgt sich eine Idee. Gekoppelt an die körperlichen Herausforderungen sind geistliche Inhalte. Gemeinsam bilden sie Lebenslektionen, die den längsten Abstand der Welt bewältigen – den Abstand zwischen Kopf und Herz.

2008 fragte ich (Henk) meine drei besten Freunde Theo van den Heuvel, Jan Stoorvogel und Pieter Cnossen, ob wir einen Abend gemeinsam verbringen. Wir hatten zusammen bei „Athletes in Action“ gearbeitet und bereits viele Erlebnisse miteinander geteilt. Allerdings wohnten wir nun alle in verschiedenen Städten und sahen uns nicht mehr so regelmäßig. Ich fragte meine Freunde, ob sie zusammen mit mir eine Männerbewegung ins Leben rufen möchten, den 4ten Musketier. Wir wussten durch unseren Sporthintergrund, wie physische Herausforderungen auch eine geistliche Dimension transportieren können und entwarfen zusammen das Konzept der Charakterwochenenden.

Hunderte von Männern können sich seitdem Musketier nennen. Und jedes Charakterwochenende kommen neue hinzu. Sie haben ihr blutrotes Poloshirt mit einer blauen 4 darauf empfangen. Und wir haben Gott auf ergreifende und intensive Art wirken gesehen. Männer wurden durch ihn angerührt und haben ihr Leben geändert. Regelmäßig erzählen uns Frauen von Musketieren, wie sehr sich ihre Männer durch die Wochenenden in ihrer Haltung gewandelt haben. Das macht uns unglaublich dankbar und gibt uns neue Energie, um die Bewegung „Der 4te Musketier“ weiter aufzubauen.

Neben den Charakterwochenenden organisiert „Der 4te Musketier“ jedes Jahr auch ein Musketier-Event, einen Tag der Inspiration, mit einer Mischung aus geistlichem Inhalt und physischer Herausforderung. Zu diesem Tag sind alle Männer herzlich eingeladen.

Unsere Bewegung richtet sich zurzeit an Männer in den Niederlanden, Deutschland und den USA. Aber darauf ist die Arbeit nicht beschränkt. In Zusammenarbeit mit dem Patenschaftsdienst „Compassion“ sponsern wir viele vaterlose Kinder in Ruanda. Wir glauben, dass Gott uns Männern nicht zigtausend Euro im Jahr anvertraut, um nur für den eigenen Nachwuchs zu sorgen. Männer haben eine Verantwortung, die weiter reicht als ihre Familie. Aus unserem Überfluss dürfen, können und müssen wir uns engagieren für Kinder und junge Menschen in Not. Eine weitere Möglichkeit, dies zu tun, ist der jährlich stattfindende Musketier-Marathon in Uganda. Jeder Läufer hat im Vorfeld 10 000 Euro Sponsorengelder gesammelt, um bei dem Marathon starten zu können. Mit der Suche nach Sponsoren, dem monatelangen Training wie auch dem Lauf in Uganda setzen Musketiere ein Zeichen für globale Gerechtigkeit. Gemeinsam konnten wir 2013 so eine Summe von 1,3 Million Euro Hilfsorganisationen zukommen lassen.

Solltest du einmal zu einem Charakterwochenende kommen oder mehr Informationen über den Musketier-Eventtag sowie den Marathon haben wollen, dann gehe auf die deutsche Internetseite: www.der4temusketier.de.

Wir wünschen dir viel Segen beim Lesen dieses Buchs!

Für den König!

Henk und Theo

Vorwort

von Marc Stosberg

Was inspiriert Männerherzen? Das ist eine Frage, die mich schon seit Längerem beschäftigt. Persönlich in meiner Berufung als Mann, Ehepartner, Vater wie auch als Kopastor einer Gemeinde. Ich erlebe dort Männer, die ebenso auf der Suche sind und keine richtige Antwort finden. Und ich nehme wahr, wie sich Männer im christlichen Bereich zurückziehen. Unsere Gottesdienste, Lehre und Angebote sprechen oft Frauen an. Männern fehlt da irgendetwas. Auch in ehrenamtlichen Diensten engagieren sich überwiegend Frauen und immer weniger Männer. Im Job hingegen verwirklichen sie ihre Träume. Männer scheinen ein großes Defizit zu verspüren, was das Abenteuer im Reich Gottes anbelangt. Warum ist das so?

Mein Schlüsselerlebnis hatte ich an einem Sonntag im Frühjahr 2012. Ich brachte meinen vierjährigen Sohn in unseren Kindergottesdienst. Eigentlich hatte er keine Lust. Ich „lieferte“ ihn trotzdem ab, weil ich selber in den Hauptgottesdienst wollte. Da bereits hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, wusste aber noch nicht warum. Vor dem Gottesdienstsaal traf ich eine Gruppe Männer. Mit einem Kaffee in der Hand unterhielten sie sich über ihren Job. Sie hatten keine Ambitionen, in den Gottesdienst zu gehen. Ich tat es, obwohl ich mich eigentlich viel lieber zu ihnen stellen wollte. Aber so etwas macht man ja nicht als Pastor. Der Anfang des Gottesdienstes war nett, schön und so wie immer. Aber ich spürte etwas in mir, was mir sehr schwerfiel zu akzeptieren: Langeweile. Der Gottesdienst war nett, mehr nicht. Anschließend holte ich meinen Sohn ab, und wir fuhren nach Hause. Noch während ich vom Parkplatz fuhr, stellte er mir eine Frage, die mein Leben veränderte: „Papa, ist Gott langweilig?“ Mich traf fast der Schlag. Ich wusste, in diesem Moment würde etwas ganz Wichtiges und Grundlegendes passieren, deshalb fragte ich ihn, wie er zu dieser Frage gekommen war. Seine Antwort: „Weil die Gemeinde langweilig ist!“

Für mich persönlich ist das Leben mit Gott das größte Abenteuer überhaupt. Und unsere Gemeinde wird in der deutschen Gemeindewelt als eine der fortschrittlichsten, kreativsten und innovativsten wahrgenommen. Aber warum fehlt meinem Sohn, den Männern und auch mir etwas Entscheidendes? Warum ist das Gemeindeleben nicht ansprechend genug für Jungs, für Männer? Warum erleben wir dort oft keine Inspiration?

An diesem Sonntagmorgen begann Gott, mich auf eine Spur zu setzen. Mit dem, was mein Sohn gesagt hatte, machte er meinen Blick weit. Und er sensibilisierte mich neu für meinen größten Traum: dass Männer beflügelt werden und erkennen, dass Jesus nachzufolgen und im Reich Gottes zu dienen, das größte Abenteuer ist.

Bereits am nächsten Tag traf ich Henk Stoorvogel bei einem Pastorenmeeting. Unser Kreis hatte den holländischen Kollegen eingeladen für einen Nachmittag der Inspiration. Er referierte über das Thema „Mannsein“ und stellte eine Männerbewegung vor, die sich „Der 4te Musketier“ nennt. Ich wusste, hier wurde ein göttlicher Moment offenbar. Denn in Holland greift diese Männerbewegung genau das auf, was ich auch in Deutschland als Defizit verspüre.

Ziel dieser Bewegung ist es, Männerherzen zu inspirieren. Sie will Männer stärken, sich für Gottes Reich, Familie, Gemeinde und Gerechtigkeit einzusetzen. Alles verbunden mit dem Erleben von Abenteuern, Herausforderungen und Gemeinschaft unter Männern. In Holland hat diese Bewegung einen enormen Zulauf erlebt und die dortige Gemeindewelt nachhaltig geprägt. 7000 Männer haben bereits an dem Herzstück, den sogenannten „Charakterwochenenden“ – verlängerten Wochenenden in unnachahmlicher Wildnis –, teilgenommen. Männer, die gestärkt, ermutigt und verändert nach Hause und in ihre Gemeinden zurückgekehrt sind.

Im April 2012 durfte ich bei einem Charakterwochenende im schottischen Hochland dabei sein, um zu prüfen, ob sich das Konzept unserer Nachbarn auch nach Deutschland transportieren ließe. Natürlich verlangte die raue Landschaft Schottlands einiges ab, aber die Outdoorerfahrung und körperliche Herausforderung standen nicht im Mittelpunkt. Sie waren nur Mittel zum Zweck. Ziel eines jeden Charakterwochenendes ist es, Männer in eine Begegnung mit sich selbst und mit Gott zu führen. Raus aus den Komfortzonen und Taktungen des Alltags, hinein in eine physische und geistliche Reise.

Wer bist du, wenn du nicht mehr flüchten kannst?

Was passiert, wenn andere Männer dich schleifen und herausfordern?

Wie verhältst du dich, wenn du an Grenzen stößt?

Und mir wurde deutlich, worum es eigentlich geht: Charakter und die persönliche Beziehung zu Gott. Das Buch greift genau diese Thematik auf und nimmt jeden Mann mit auf eine abenteuerliche Reise – hin zu sich selbst, zu seiner Geschichte und zu Gott.

Mittlerweile ist „Der vierte Musketier“ als Bewegung auch in Deutschland gestartet, denn ich glaube daran, dass sich viele Männer nach einer solchen Inspiration sehnen. Unsere ersten Charakterwochenenden haben das gezeigt. Männer wurden ermutigt und gefestigt. Und sie nehmen ganz anders als zuvor Verantwortung für Gott, Familie, Gemeinde und Gerechtigkeit wahr – weil sie sich selbst erfahren haben in dem großen Abenteuer, ein Leben als Diener des Königs zu führen.

Marc Stosberg (EFG Erkrath „Treffpunkt Leben“)

„Der 4te-Musketier“-Deutschland

Prolog

Der Junge mit dem Jutesack

Ein kleiner Junge bestieg gemeinsam mit seinem alten Vater einen hohen Berg. Ein Stier und ein Rabe begleiteten die beiden. Mühsam kämpfte sich die kleine Gruppe den steilen Weg hinauf. Es war ein Ort für Götter, nicht für Menschen. Nur ein paar Bäume boten Schutz und Halt.

Der Junge trug auf seinem Rücken einen schweren Jutesack. Sein Vater war Kartoffelbauer, und es war der Wunsch des Vaters gewesen, diesen schweren Sack mit nach oben auf den Berg zu nehmen. Schließlich mussten sie doch oben etwas zu essen haben.

Der Junge indessen hatte darauf bestanden, den Stier auf das gemeinsame Abenteuer mitzunehmen. Der Vater fand das seltsam. „Wer besteigt schon einen Berg mit einem Stier“, dachte er. Aber sein Sohn war nicht eines Besseren zu belehren, und so kam das Tier mit – auch wenn es selbst nicht verstand, warum.

Der Rabe wiederum hatte sich aus eigenen Stücken der Reisegruppe angeschlossen. Er kannte den alten Mann und seinen Sohn nur allzu gut. Oft saß er auf dem Zaun, den das Kartoffelfeld von dem kleinen Bauernhof trennte, in dem Vater und Sohn wohnten. Als der Rabe sah, dass die beiden auf Reisen gingen, sprang er von seinem Platz auf und flog einfach mit.

Die Besteigung des Berges wurde immer beschwerlicher. Längst schon sahen die beiden keinen Pfad mehr. Er war in Geröll und glatte Felsen übergegangen. Je höher sie kamen, desto steiler wurde der Berg. Um sie herum gab es kaum noch Bäume und ein kleines Stück höher lag bereits Schnee. Und verräterisches Eis.

„Ich muss mich kurz ausruhen“, keuchte der alte Mann und lehnte sich an den letzten Baum vor der endlosen Leere des Bergkamms. Der Stier schien froh über die Pause und blieb mehr schlecht als recht auf einem großen rutschigen Felsen stehen. Der Rabe flatterte zu einem tief herabhängenden Zweig. Und der Junge legte den schweren Jutesack behutsam auf den Boden. Seine Schulter schmerzte vom Tragen. Er massierte sie, während ihm der Schweiß von der Stirn tropfte.

„Ein Sturm zieht auf“, sagte der alte Mann, und er zeigte mit seinen krummen Fingern nach oben. „Wir müssen zurück.“

„Aber, Vater“, antwortete der Junge, „ich will nicht zurück. Ich will diesen Berg besteigen.“

„Wenn wir weiterklettern, wird dieser Berg unser Tod“, sagte der Vater und schloss seine Augen. „Wir gehen zurück!“

„Nimm ein paar Kartoffeln, Vater, dann geht es dir bestimmt besser.“

Der alte Mann antwortete nicht. Nur schwach schüttelte er seinen Kopf.

Es blieb eine Weile still.

Dann öffnete er die Augen, schaute seinen Sohn ernst an und sagte: „Junge, wir gehen jetzt zurück. Der Berg ist zu gefährlich. Zu steil. Zu hoch. Du bist zu jung, um diesem Berg gewachsen zu sein, und ich bin zu alt. Und es zieht ein Sturm auf.“

Der Junge biss sich auf die Lippe. Eine Träne wallte inseinAuge,sprangüberdenRandseinesAugenlidsundrolltelangsamherab.

„Vater, ich steige weiter hoch. Ich will diesen Berg besteigen. Das ist mein Traum, von dem Moment an, seit ich diesen Berg das erste Mal gesehen habe.“

Der Junge hob den Jutesack wieder auf seine Schulter. Er lief zu dem Stier, packte ihn beim Seil, schlug es zweimal um sein rechtes Handgelenk und begann wieder zu klettern. Der Rabe sprang von seinem Ast und flog mit dem Jungen mit. Ein rauer Wind kam auf. Kein Strauch oder Schutzraum war mehr zu erkennen. Wolken zogen am Gipfel auf wie die Verteidigungslinie einer belagerten Stadt, bereit, jeden Angreifer des Gipfels so tief wie möglich in den Abgrund zu werfen. Niemand sah die Tränen des Jungen. Und niemand sah die Tränen des alten Mannes.

Während der Junge weiterstieg, merkte er, dass sein Jutesack sich leichter anfühlte. Wie konnte das sein? Der Stier hatte bestimmt ein Mittagessen gestohlen. Tapfer lief er weiter in Richtung der immer wütender und schwärzer werdenden Wolken.

Der Sturm verschluckte ihn, verschlang ihn, als wäre er eine Kartoffel, die im Innern eines Stiers verschwand. Der Junge ließ sich auf seine Knie fallen, um zu verhindern, dass er vom Berg herabgeblasen würde, und kroch weiter. Er hielt sich an Felsvorsprüngen und Zacken fest. Das Heulen des Sturms übertönte das des ängstlichen Stiers. Immer öfter rutschte der Stier aus. Immer heikler wurde der törichte Streit des kleinen Jungen mit dem Jutesack und seinem Stier. Wenn der Junge seinen Stier retten wollte, gab es nur eine Möglichkeit: umkehren. Doch der Junge stieg verbissen weiter. Der Berg gehörte ihm.

Bei einem Blitz passierte das Unvermeidbare. Der Stier war wieder weggerutscht, aber dieses Mal fand er keinen Halt mehr. Er rutschte ab. Das Seil schnitt in die Hand des Jungen, und fast wäre der Jutesack mit den Kartoffeln gefallen. Der Junge konnte das Seil nicht loslassen, selbst wenn er dies gewollt hätte. Es war um sein Handgelenk geschlungen.

Der Stier begann im Fallen den Jungen mit sich zu ziehen, hinab in den Abgrund. Der kleine Junge kämpfte mit aller Macht dagegen, stemmte sich gegen das Verhängnisvolle und schrie vor Anspannung. Das stramm gespannte Seil scheuerte über einen scharfen Felszacken und plötzlich federte der Junge zurück. Durch den Ruck schlug der Jutesack auf den Felsen. Mit dem Stier verschwanden einige Kilo kostbarer Kartoffeln in der endlosen Tiefe.

Verwundert blieb der Junge liegen, während der Sturm sein Bestes tat, um dem Stier hinterherzuwehen. Nach einer halben Stunde, oder waren es drei ganze, krabbelte der Junge vorsichtig wieder auf seine Hände und Knie. Den Jutesack mit den übrig gebliebenen Kartoffeln warf er über seine Schulter und kroch weiter. Kam es ihm nur so vor oder war der Sturm nicht mehr so bösartig wie zu Beginn? Mechanisch kroch er weiter. Rechte Hand, linkes Knie. Linke Hand, rechtes Knie. Zentimeter für Zentimeter kam er näher zum Gipfel.

Plötzlich war es still. Die Wolken waren weg. Der Wind hatte sich gelegt. Der kleine Junge mit dem Jutesack blickte auf. Über sich, ungefähr zehn Meter weiter, sah er das letzte Stück Berg, das überging in endlose Luft. Er stand auf und lief die letzten Meter zum Gipfel. Einige Minuten später stand er an dem Ort, von dem er schon immer geträumt hatte. Das Dach seiner Welt. Überall um ihn herum die mit Schnee bedeckten Gipfel majestätischer Berge. Hier stand er, allein, zwischen Himmel und Erde. Allein? Der Junge schaute noch einmal genau. Über, unter, neben sich. Nirgends war der Rabe zu sehen. Wahrscheinlich, nein, sicherlich war er durch den wütenden Sturm weggeweht worden wie der Stier. Und so viele seiner kostbaren Kartoffeln. Kartoffeln. Auf einmal merkte der Junge, dass er sehr hungrig war und Lust auf eine Kartoffel hatte. Die hatte er sich jetzt doch wohl verdient. Er schwang den seltsam leichten Sack von seiner Schulter und schaute hinein. Leer. Während des letzten Anstiegs war der Sack hinter einem scharfen Felszacken hängen geblieben und aufgerissen. Alle Kartoffeln waren verschwunden. Futter für die Raben und die Stiere. Der Junge blickte auf. Mit einem Lächeln von größter Reinheit. Wer will schon eine Kartoffel, wenn er oben auf einem Berg steht?

Er setzte sich, sodass er in vollen Zügen die Aussicht genießen konnte. Die Schönheit der Schöpfung trank er wie den süßesten Nektar. Langsam aber sicher verwandelte die untergehende Sonne die blaue Luft, die beschneiten Bergspitzen und grünen Wälder in einen rosa-goldenen Engeljubel, um die Größe Gottes zu besingen. Und während der Junge so schaute, sah er ihn auftauchen, direkt vor der untergehenden Sonne. Graziös schwebend in dem herrlichen Meer von Licht – den Adler.

Der Junge stand auf und streckte seine steif gewordenen Glieder.Es war Zeit, um nach Hause zu gehen. Vorsichtig stieg er hinab.

Den zerrissenen Jutesack ließ er auf dem Gipfel liegen.

Unsere Geschichte

Unser Leben besteht nicht aus zufällig aneinandergereihten Begegnungen und Situationen, die nichts miteinander zu tun haben. Eher ist es wie ein zusammenhängendes Buch. Jedes Kapitel baut auf dem vorigen auf und beeinflusst das nächste. Zusammen erzählen die Kapitel eine Geschichte – unser Leben. Wir sind eine Geschichte. Oft mehr, als wir begreifen, beeinflusst unsere Vergangenheit unsere Zukunft und unsere Motive.

Was ist deine Geschichte? Für wen lebst du?

Antworten auf diese beiden Fragen zu finden, ist lebenswichtig, denn sie geben unserem Leben Halt und machen uns empfänglich für die Stimme aus dem Himmel. Sie legen unsere tiefsten Motive und größten Träume bloß, die oft weniger mit Gott zu tun haben, als wir zugeben wollen. Und sie öffnen auf eine überraschende Art und Weise unser Leben für Schönheit und Freundschaft.

So ist denn auch dieses Buch keine zufällige Aneinanderreihung einzelner Kapitel, die nichts miteinander zu tun haben. Es ist ein Ganzes und erzählt eine Geschichte. Es ist die Geschichte des Jungen mit dem Jutesack, der auf dem Weg ist, ein Mann mit einem Auftrag und einer Vision zu werden.

„‚Nein, ich meine den Herrn de Tréville, der früher neben uns wohnte und der die Ehre hatte, als Kind mit unserem König Ludwig XIII., Gott segne ihn, zu spielen! (…) Im Widerspruch zu allen Urteilen und Erlassen ist er doch Kapitän der Musketiere geworden. Das heißt: der Kopf einer Legion Cesaren, mit denen der König enorm viel Probleme löst und wovor der Kardinal Angst hat, während er ansonsten doch keine Furcht kennt, wie jeder weiß. Darüber hinaus verdient der Herr de Tréville Zehntausende Dukaten im Jahr: Er ist also ein großer Herr. Er hat genauso angefangen wie du. Geh zu ihm hin mit diesem Brief und halte dich an ihn, um genauso viel zu erreichen wie er.‘“

Alexandre Dumas

Kapitel 1

Dem Leben auf der Spur

Der innere Riss

Im Frühjahr des Jahres 1990 verschwand Chris McCandless. Ohne seinen Eltern Lebewohl zu sagen. Der 22-Jährige aus wohlhabender Familie hatte gerade sein vielversprechendens Studium beendet. Karriere, Erfolg und Wohlstand warteten auf ihn. Doch Chris hatte anderes im Sinn. Warum sollte er sich einer karrierefixierten Leistungsgesellschaft ergeben, die ihm schon jetzt vorkam wie eine Zwangsjacke? Und das freiwillig? Karriere zu machen sei nur eine minderwertige Erfindung des 20. Jahrhunderts, ließ Chris seine Eltern nachdrücklich wissen. Eher Last als Vorteil. Und so spendete Chris sein Erspartes, ungefähr 24.000 US-Dollar, kurzerhand einer Hilfsorganisation. Anschließend stieg er in seinen alten gelben Datsun und machte sich auf den Weg hin zu seinen Träumen. Symbolisch für sein neues Leben gab er sich selbst unterwegs den Namen: Alexander Supertramp.

Er fuhr in den Südwesten Amerikas. Dann ging es per Anhalter weiter, nachdem er sein Auto bei einer plötzlichen Überschwemmung verloren hatte. Mit einem Kanu paddelte er nach Mexiko. Er arbeitete in den endlosen Kornfeldern von South Dakota. Sein Weg führte ihn immer weiter weg von der Zivilisation. Oft blieb ihm nur eine kleine Ration an Essen und Trinken. Doch trotz aller Strapazen folgte Chris seinem Traum: Leben – mit groß geschriebenem L.

Sein Vater Walt hatte eine große Rolle dabei gespielt, dass Chris diesen Weg einschlug. Nicht dass Walt ein schlechter oder gewalttätiger Vater gewesen wäre. Walt war ein brillanter NASA-Gelehrter. Und Billie, Chris’ Mutter, war seine große Liebe und zweite Frau. Mit keinem der Kinder hatte Walt so viel gespielt und unternommen wie mit Chris. Und dennoch lag auf der Beziehung ein Schatten. In seiner Studienzeit, während einer Reise, hatte Chris entdeckt, dass sein Vater immer noch zu seiner ersten Frau ging, obwohl er bereits lange mit Billie zusammenlebte. Walt hatte also eine Zeit lang heimlich von zwei Tafeln gegessen. Viele Jahre war das her, doch Chris hatte den Verrat seines Vaters nie richtig verkraftet. Alles, was sein Vater sagte und tat, wurde von Chris an dieser Untreue gemessen. Chris wollte nicht so werden wie er. Darum zog es ihn in die Weite. Auf eine persönliche Reise. Eine Suche nach Sinn und nach sich selbst. Oder war es doch eine Flucht?

Entdeckungsreise

Unterwegs lernte Chris einen alten Mann mit Namen Franz kennen. Ihm schrieb er folgende Zeilen:

„Das Grundlegendste der menschlichen Geisteskraft ist das Verlangen nach Abenteuer. Die Lebensfreude fließt aus unserer Berührung mit dem Neuen, und dadurch gibt es keinen größeren Genuss, als einen sich immer wieder verändernden Horizont vor dir zu sehen und jeden Tag unter einer anderen Sonne zu laufen.“

Chris war getrieben vom inneren Kampf mit seinem Vater, der ihn letztlich in die raue und unberührte Natur Alaskas führte. Ihr setzte er sein Herz aus. Allein und nur auf sich gestellt.

Im April 1992 gelangte Chris in den Denali National Park. Dort entdeckte er einen verlassenen Linienbus aus dem vorigen Jahrhundert. Eine Minengesellschaft hatte ihn zurückgelassen, nachdem sie versucht hatte, einen Weg durch die Wildnis zu bahnen. Vielen Jägern und Abenteurern hatte er seitdem als Biwak gedient. Auch Chris bezog den Bus. Er richtete dort sein Leben ein. Fortan ging er Enten und Stachelschweine jagen, und eines Tages erlegte er sogar einen Elch.

Je schöner sich das Leben für Chris in der Wildnis gestaltete, desto knapper wurde mit dem Wechsel der Jahreszeiten das Angebot an Nahrung. Chris entschied sich, wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Doch der Rückweg war ihm verschlossen. Der Fluss Teklanika war durch das Schmelzwasser so stark angeschwollen, dass es ihm unmöglich war, ihn zu überqueren. Notgedrungen kehrte Chris zum Bus zurück. Sein Gesundheitszustand wurde immer schlechter.

Am 6. September 1992 kamen zufällig sechs Jäger an dem alten Bus vorbei. Sie fanden dort einen Brief:

„S.O.S. Ich brauche Hilfe. Ich bin verwundet, fast tot, und zu schwach, um von hier wegzugehen. Ich bin ganz allein. Das ist kein Scherz! In Gottes Namen, bleib hier, um mich zu retten. Ich bin in der Nähe, um Beeren zu suchen, und komme heute Abend wieder zurück.

Danke, Chris McCandless.

August?“

Bemerkenswert, oder? Der Brief war unterschrieben mit Chris McCandless. Offensichtlich hatte Chris beschlossen, seinen echten Namen wieder anzunehmen. Und der Brief war mindestens eine Woche alt. Irgendwann im August hatte er ihn geschrieben. Doch wo steckte Chris?

Ein neuer König

Chris’ Reise hatte viel zu tun mit der vielschichtigen Beziehung zu seinem Vater. Die Bibel beinhaltet eine ganze Reihe von Geschichten, die davon erzählen, wie Männer in jungen Jahren Vater-Sohn-Konflikte oder -Krisen erlebten. Mose zum Beispiel wuchs ohne seinen leiblichen Vater auf. Josef wurde von seinem Vater derart verwöhnt, dass ihn seine Brüder dafür hassten. Und David galt in den Augen seines eigenen Vaters als gering und unbedeutend. Jener Mann, über den die Bibel später sagt, er war ein „Mann nach dem Herzen Gottes“.

Im ersten Buch Samuel nimmt die Geschichte von David ihren Anfang: Der Prophet Samuel, ein von Gott berufener Mann, hatte den Auftrag bekommen, in das kleine Dorf Bethlehem zu reisen, um dort den neuen König von Israel zu salben. Bethlehem war damals nichts weiter als ein kleines Bergdorf in der Nähe von Jerusalem. Nicht zu vergleichen mit der heutigen Stadt, die als Geburtsort Jesu weltbekannt ist. Bethlehem war klein und unbedeutend, wie Rondeshagen bei Lübeck. Die Nachricht, dass sich der große Prophet Samuel nach Rondeshagen begab, um dort einen neuen König zu salben, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Das ganze Dorf war in heller Aufregung.

Der Zeitpunkt für die Salbung war ebenso gut wie schlecht. Israel befand sich mitten in einer Krise. Moralisch war das Volk nahezu ausgehöhlt. Jeder tat, wozu er Lust hatte. Es gab weder Einheit noch Heiligkeit, geschweige denn Perspektive. Nur einen König hatte man – Saul. Allerdings entsprach sein Charakter keineswegs dem Glanz seiner Krone. Probleme genug, sollte man meinen. Doch auch politisch gab es Herausforderungen: die Philister. Israel stand diesen militärisch überlegenen Feinden gegenüber wie Mäuse Elefanten. Die Philister hegten ein Monopol auf Eisen, wohnten in Städten und rasten in gepanzerten Streitwagen herum. Die Israeliten hingegen besaßen kaum Eisernes, lebten meist in Zelten und rannten mit Heugabeln bewaffnet zu Fuß über das Schlachtfeld. Und dann war da noch die Sache mit den Riesen. Mitten in dieser Krise hatte Samuel einen neuen König zu salben.

Nachdem Samuel in Bethlehem eingetroffen war, lud er die Dorfältesten und einen Mann namens Isai samt all seiner Söhne zu einem Festmahl ein. Was keiner von den Gästen ahnte: Jeder von ihnen sollte Zeuge werden, wie ein Vater seinen Sohn aufs Tiefste verletzte. Samuel wusste, dass sich unter den Söhnen Isais der neue König Israels befinden sollte. Daher bat er Isai, ihm seine Söhne vorzustellen. Isai ging der Reihe nach vor. Doch immer wieder hörte Samuel deutlich Gottes Stimme: „Dieser ist es nicht!“ Alle sieben gingen an Samuel vorbei. Der Auserkorene war nicht unter ihnen.

Samuel verstand die Welt nicht mehr. Hatte er Gott missverstanden? Wohnten vielleicht noch andere Isais in Bethlehem? Völlig verzweifelt fragte er Isai, ob dies wirklich alle seine Söhne waren. Der alte Mann errötete und zupfte ein bisschen nervös an seinem Bart. „Hm, tja, wie soll ich das jetzt sagen, ich habe noch einen Sohn, den haqqaton, er ist draußen bei den Schafen.“

David, der Hobbit

Isai hatte acht Söhne, nicht sieben! Ausgerechnet an dem Tag, von dem jeder junge Mann träumte, dem Tag der Entscheidung, der Möglichkeiten, des Lebens, überging Isai seinen eigenen Sohn. Für das Dorf Bethlehem war die Salbung des neuen Königs die Sternstunde und Geburt eines neuen Zeitalters. Die weitere Geschichte und Bedeutung des Dorfes macht sich an diesem einen Augenblick fest und teilt sich in die Periode vor und nach Samuels Besuch. Isai war es nicht einmal die Mühe wert, angesichts dieses Höhepunkts seinen jüngsten Sohn herbeizurufen. Noch schlimmer: Im Kreis der Anwesenden, seiner Söhne, Samuel und den Dorfältesten, stellte Isai seinen Sohn hin als den „haqqaton“.

Das war kein nettes Wort. Es bedeutete so viel wie der Kleine, die Witzfigur, der Hobbit. Und es war das erste Wort, das nach der Bibel ein Mensch über David sagte.

Der Hobbit – ausgesprochen vom eigenen Vater.

Der Hobbit – ausgesprochen über einen Sechzehnjährigen, den die jüdische Gesellschaft mit zwölf Jahren offiziell zum Mann ernannt hatte.

Der Hobbit – ausgesprochen über einen Mann, der bereits Löwen und Bären besiegt hatte.

Manche denken, David sei nicht gerufen worden, weil er weit weg auf dem Feld Schafe hütete. Aber David war nicht so weit entfernt. Samuel sagte: „Alles schön und gut, aber wir essen nicht, bevor David hier ist.“ Und siehe da, innerhalb kürzester Zeit wurde David hervorgezaubert, umgeben von einer Wolke Schafsgestank.

Das war der Beginn von Davids Geschichte: herabgewürdigt, erniedrigt, übergangen im wichtigsten Moment seines Lebens durch seinen eigenen Vater. Das zeichnet einen Mann.

Aschenputtel

Möglicherweise hatte Isais Verhalten noch einen anderen Hintergrund. Vielleicht war David ja das Produkt eines Ausrutschers seines Vaters gewesen? Zweimal erwähnt die Bibel, dass David rötlich war. Offensichtlich sah er anders aus als seine Brüder. Auch nennt die Bibel nirgends den Namen von Davids Mutter, obwohl dieser bei anderen Königen stets aufgeführt wurde. Wider Erwarten wurden seine Brüder auch nicht Heeresführer, sondern Abisai, Joab und Asael, Davids Cousins. Und Jesaja sprach in einer Ankündigung über die Geburt Jesu prophetisch über einen Spross, der aus dem abgehackten Stamm von Isai hervorkommen wird, einen „Spross aus seinen Wurzeln“. Ein „Spross“ ist ein wilder Trieb, der neben dem Stamm aus den Wurzeln wächst. Er hat dieselben Wurzeln, aber ist deutlich anderer Herkunft. Andererseits bedeutet der Name David „Geliebter“. David musste also auch irgendwie gewollt gewesen sein durch seinen Vater und/oder seine Mutter.

Wie dem auch sei, David erscheint in der ersten Szene, die wir über ihn lesen, als das Aschenputtel der Familie. Ein (Stief-)Sohn mit sieben älteren Brüdern, die ihn nicht leiden können, und mit einem Vater, der nicht das Geringste für ihn übrighatte. Isai würdigte David durchgehend als den Hobbit herab. Sein jüngster Sohn war ein Schafhüter. Mehr nicht.

Der innere Riss

Viele Männer spüren einen Riss in ihrem Leben. Er wurde ihnen zugefügt durch den eigenen Vater. Der amerikanische Schriftsteller und Redner John Eldredge beschreibt in seinem Bestseller „Der ungezähmte Mann“ diesen Riss als „Vaterwunde“. Und Benediktinerpater Anselm Grün nennt das gleiche Phänomen „innerliche Zerrissenheit“. Ob der Schmerz nun in der Beziehung zum Vater oder zur Mutter oder zu einem älteren Bruder liegt, viele Männer sind konfrontiert mit einem tiefen seelischen Schmerz.

Mir (Henk) erzählte einmal ein Mann: „Mein Vater fand Dinge immer wichtiger als mich, zumindest gab er mir immer das Gefühl. Einmal saß ich wackelnd auf meinem Stuhl und fiel um. Das Erste, was mein Vater kontrollierte, war, ob keine Macken in den Boden geschlagen waren. Danach fragte er erst, wie es mir ging.“

Ein anderer erzählte mir (Henk): „Mein Vater arbeitete immer. Sechs Tage die Woche, morgens, mittags, abends. Wenn er nicht arbeitete, spielte er Fußball. Sonntag war sein einzig freier Nachmittag. Dann lag er schlafend auf dem Sofa. Er liebte Fußball. Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass er sich je eins meiner Spiele angeschaut hat.“

Theo und ich könnten endlos viele solcher Geschichten erzählen. Geschichten von herzlosen Vätern mit viel zu losen Händen oder Füßen. Geschichten von trinkenden, nicht kommunizierenden oder abwesenden Vätern. Und Geschichten von kranken oder dominanten, verschwenderischen oder manipulierenden Müttern.

Reden ist Leben, Schweigen ist Tod

Wie gehst du mit einem solchen Riss in deiner Geschichte um? Wie verarbeitest du negativ Erlebtes? Und wie verhinderst du, dass dich das Geschehene lähmt und Ziele deines Lebens verfehlen lässt?

Daniel P. McAdam, ein renommierter Psychologe der US-amerikanischen Northwestern University of Illinois, behauptet, zwei Punkte seien wichtig, um ein Trauma zu verarbeiten und gestärkt daraus hervorzugehen. Zuerst müsse man der Wunde ehrlich gegenübertreten und sie benennen. Anschließend sollte die schmerzliche Erfahrung der Wunde mit anderen Menschen geteilt werden – durch Gebet, Gespräch oder andere Formen. Diese Empfehlungen McAdams sind nichts anderes als das, was David damals getan hat. In Psalm 27,10 betete er:

„Wenn Vater und Mutter mich verstoßen, nimmst du, Herr, mich doch auf.“

Wie fühlte sich David durch seinen Vater und seine Mutter behandelt? Im Stich gelassen. Allein. Verraten. Dieser Schmerz stand ihm vor Augen. Seine Gefühle darüber kleidete er in die Form eines Gebets. Und damit tat er genau das Richtige, er behielt seinen Schmerz nicht für sich, sondern teilte ihn, und zwar mit Gott.

Beide Empfehlungen McAdams sind in diesem einen Vers enthalten. Sich so zu verhalten, war für David keine einmalige Sache. Immer wieder ging er so vor. Seinem inneren Schmerz über die Beziehung zu seinen Brüdern gab er beispielsweise in Psalm 69,9 Raum:

„Meine nächsten Verwandten wollen nichts mehr mit mir zu tun haben, selbst meinen Brüdern bin ich fremd geworden.“

Den Schmerz vor Augen führen, ihn benennen und teilen – das ist der Schlüssel zum Leben. Erinnerst du dich noch an den Brief, den die Jäger am 6. September am Bus von Chris fanden? Schon vorher hatten sie einen seltsamen Geruch rund um den Bus bemerkt. Als sie in den Bus sahen, wussten sie, warum. Dort lag Chris. In seinem Schlafsack. Er war tot.

Die Menschen, die Chris McCandless während seiner zweiJahredauerndenSucheerlebthatten,erzähltenalle,dassChrisnichtsüberseineFamilieoderseinetiefstenMotiveloswerdenwollte.Chrishattebeschlossen,seinenSchmerzalleinzulösen.DieseEntscheidungführteihnauftragischeWeiseindenTod.

Wenn du beschließt, deinen Schmerz und deine Probleme für dich zu behalten, wirst du sterben. Buchstäblich. Bildlich. Der Weg zum Leben hingegen geht nur darüber, dass du dir selbst gegenüber ehrlich bist und deine Geschichte erzählst.

David war ehrlich zu sich und sprach über seine Vergangenheit. So konnte Gott anfangen in seinem Leben zu arbeiten und Schmerzen der Vergangenheit in Kraft und Stärke zu verwandeln. Dass das geschehen ist, macht seine weitere Geschichte deutlich. Kurz nachdem David Zuflucht vor König Saul in einer Grotte in der Wüste Adullam gefunden hatte, bekam er Gesellschaft von Hunderten anderer Flüchtlinge, darunter seine Eltern und Brüder. Sie kamen zu ihm auf der Suche nach Hilfe und Schutz.

Was würde David tun? Würde er es ihnen jetzt heimzahlen? Würde er sich rächen? Nein. David brachte seine Eltern bei einem befreundeten König in Sicherheit und nahm seine Brüder unter seinen Schutz. Er versorgte sie und er vergab ihnen.

Meine Geschichte

Als meine (Henk) Mutter mit mir schwanger war, hat mein leiblicher Vater uns verlassen. Verschiedene Gründe hatten dafür eine Rolle gespielt. Die Folgen waren: Ich wurde als Sohn einer alleinstehenden Mutter geboren und hatte keinen Kontakt zu meinem leiblichen Vater. Als ich zwei Jahre alt war, heiratete meine Mutter den Mann, den ich Vater nenne. Meine Mutter bekam mit ihm vier weitere Kinder, und wir bildeten zusammen eine große, glückliche Familie. Allerdings nagte jahrelang der Gedanke an mir, dass mein leiblicher Vater einfach so fortgegangen war. Als Jugendlicher war ich zeitweise sehr wütend auf ihn, hatte er ja mich und meine Mutter im Stich gelassen. Meine ganze Gefühlswelt bestand aus einer seltsamen Mischung. Auf der einen Seite erlebte ich Familienglück mit liebevollen Eltern, auf der anderen Seite existierte ein spürbares Loch, das durch den Verlust meines leiblichen Vaters entstanden war.

Als Ruth, meine Frau, mit unserem ersten Kind schwanger war, wuchs in mir das Verlangen, meinen leiblichen Vater kennenzulernen. Monatelang suchte ich nach ihm. Letztlich fand ich seine Adresse heraus. Hans (nicht sein richtiger Name) war inzwischen pensioniert und wohnte in Limburg. Ich schrieb ihm einen Brief, in dem ich ihn fragte, ob er sich mit mir treffen wolle. Mein Brief war der erste Kontakt, den es je zwischen uns gegeben hatte. Hans antwortete mir mit einem Brief. Er willigte ein. Wir verabredeten uns für ein Treffen in einem Restaurant in Amersfoort. Ich war als Erster dort und war unglaublich nervös. Hans kam an, und wir umarmten uns ungeschickt.

Zwei Dinge waren mir mit diesem Treffen wichtig: Ich wollte Hans vergeben für die Tatsache, dass er mich im Stich gelassen hatte. Vielleicht plagten ihn ja Gewissensbisse. Ich wollte, dass er seine letzten Jahre auf Erden in Frieden verbringen konnte. Außerdem wollte ich ihn kennenlernen. Ich wollte wissen, wer er war und ob wir eine Beziehung miteinander aufbauen könnten.

Das Gespräch verlief enttäuschend. Hans hatte meine Vergebung nicht nötig. Einen weiteren Kontakt fand er okay. Doch an≈seinem Verhalten spürte ich nicht, dass er mich wirklich wollte. Irgendwie hatte ich gehofft, dass er mich gerne kennenlernen wollte, dass er bereit wäre, das Risiko einzugehen, bei mir eine Grenze zu überschreiten. Hans aber nahm keine Risiken auf sich. Es war meine erste und einzige Begegnung mit ihm.

Was ist deine Geschichte?

Wie lautet deine Geschichte? Wir alle haben eine Geschichte. Wir sind eine Geschichte. Wir tragen unsere Geschichte mit uns herum wie eine Schnecke ihr Haus. Unser Leben heute ist eine Reaktion auf unsere Vergangenheit und gleichsam der Ausgangspunkt für unsere Zukunft.

Psychologen haben lange gedacht, der Mensch sei eine Ansammlung von Eigenschaften und Verhaltenskombinationen. Derzeit kommen allerdings immer mehr Forscher zu dem Schluss, dass der Mensch in erster Linie eine Geschichte ist und seine eigene Geschichte lebt. Ausgehend von dieser Geschichte entstehen Eigenschaften und Verhaltensmuster.

Unsere Geschichte ist letztlich in ihrem Kern aufgebaut als Reaktion auf ein paar Personen aus unserer direkten Umgebung. Menschen, die für uns bestimmend sind und die uns geprägt haben. Für die meisten sind das Vater, Mutter, Bruder oder Schwester. Unsere Geschichte geht hervor aus dem Verlangen, von ihnen akzeptiert, geliebt, gesehen zu werden. Oder sie ist der Versuch, Schmerz und Wunden aus der Vergangenheit einen Platz zu geben.

Unsere tiefsten Motive und größten Träume haben oft weniger mit Gott zu tun, als wir zugeben wollen.

„‚Schrecke nie zurück vor der Gelegenheit und suche unermüdlich nach Abenteuern. Ich habe dich gelehrt die Waffen zu gebrauchen. Du hast Muskeln aus Eisen und eine Faust aus Stahl; versäume keine Gelegenheit für ein Duell, umso weniger, da duellieren verboten ist und darum dafür ein doppelter Mut notwendig ist, um es zu tun. Ich habe dir, mein Sohn, nichts zu geben als fünfzehn Dukaten, mein Pferd und den guten Rat, den du soeben gehört hast. (…) Nutze dies alles zu deinem Vorteil und lebe lang und glücklich.‘“

Alexandre Dumas

Kapitel 2

Bindungen lösen

„Für meinen Vater“

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