Der Weg allen Fleisches - Hermann Kinder - E-Book

Der Weg allen Fleisches E-Book

Hermann Kinder

0,0

Beschreibung

"Sterben mag ich nicht - das ist das Letzte, was ich tun werde." Mit diesem Satz von Roberto Benigni endet dieses Buch, endet eine bewegende, ja erschütternde Geschichte. Hermann Kinder erzählt, wie ihn, den sportlichen, kräftigen Mann, eines Tages eine Krankheit heimsucht und ihn bald immer vehementer überwältigt. Doch er nimmt den Kampf an und behauptet das Leben - mit einer Mischung aus Trotz, List und radikaler Offenheit. Entstanden ist eine Erzählung, in die der Autor ihn bedrängende Träume und farbige Zeichnungen einstreut, ein Buch, "luzid und buchstäblich Atem beraubend." (Klaus Merz).

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 123

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Hermann Kinder

Der Weg allen Fleisches

Erzählung

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2014

Alle Rechte vorbehalten

Konzept Design

Gottschalk+Ash Int‘l

Illustrationen

Hermann Kinder

Umschlag

Julia Borgwardt, borgwardt design

ISBN 978-3-86337-083-1

Erste Auflage 2014

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich.

ISBN 978-3-86337-077-0

weissbooks.com

Hermann Kinder

Der Weg allen Fleisches Erzählung

Inhalt

IDu stirbst in Stücken

II»Im Traum bin ich Fußgänger«

IIIAls ob ich noch wandern könnte

»Es gibt keinen schrecklicheren Unterschied als den zwischen einem Kranken und einem Gesunden.«

Martin Walser

Mit Unterstützung der Literaturstiftung Oberschwaben, des Zweckverbands Oberschwäbische Elektrizitätswerke und der Stadt Konstanz

Der Weg allen Fleisches

I Du stirbst in Stücken

Er erwachte vom Kampf der Krähen und Elstern um den obersten Nestsitz in den sich im Wind wiegenden alten Kastanien. Licht fächerte durch die Fugen des Fensterladens und seefrische Luft. Gewaschen und duftend zog er die elastische schwarze Hose an und ruckte die Ledereinlage zurecht. Das Gemächt eingekugelt. In die gepolsterten Handschuhhände geklatscht. Den treuen abgewetzten Geierschnabel gestreichelt. Lauernd hinter der Sonnenbrille durch die Stadt mit gemäßigter Kraft. Aber dann los über die bekannten Hügel, hinab in die Täler und hinauf in die Berge, stehend im Hüftschwung, um das Tempo zu halten, an den Schienbeinen traten die Radfahrermuskeln heraus. Er war ins Toggenburg gekommen und trank am Bahnhofskiosk Büchsenwasser. Ein altes Paar kam hinzu. Er hatte sich bei ihr eingehängt und zog sie krumm hinab. Wie übergelaufen wellte der fette alte Mann über die Bank und fragte nach seiner Velostrecke. Man kam von Ritzeln auf Lenker- und Pedalabbrüche. Der alte dicke Mann – vielleicht achtzig, dachte er, vielleicht aber auch neunzig oder fünfundsiebzig, mit einem kahlen, braun gefleckten Schädel, an dem noch etwas Flaum klebte – erzählte, dass er früher mehrfach an der Nordwestschweizer Rundfahrt teilgenommen habe, die nun Berner Rundfahrt heiße, die Räder hätten noch Holzfelgen gehabt, keine Schaltung und Vollgummireifen; er habe auch ein wenig gewonnen. Er hatte Mitleid mit der Erinnerungsmumie. Das passiert mir nicht, sagte er sich, dankte, grüßte und stampfte in den Anstieg nach Wildhaus hinauf. In einer steilen Kehre, kurz vor Wildhaus, verließ ihn die Kraft. Er wollte weiter, aber es ging nicht. Er hechelte heiß. Es gelang ihm nicht mehr, die Pedale nach unten zu drücken. Er rettete sich in eine Straßenbucht und kippte samt Renner um. Eine Horde schnurstrackser Büffel zog an ihm vorbei und rief ihm Hoi und Hepp und Allez zu. Manche waren deutlich älter als er und hatten schwere Trikotranzen, die, sehr konvex, fast bis zum Rahmenrohr hinunter hingen. Schon waren sie hinter der Biegung verschwunden; er hörte noch das feine Sirren der gut geölten Ketten. Er musste bergauf schieben, hängte die Kette vom Kranz und tat so, als habe er einen technischen Defekt. Doch dann hinab nach Altstätten, ins Rheintal. So wehend, dass ihn in den Serpentinen kein Auto überholen konnte. Sie versuchten es, mussten aber vor den Kurven abbremsen, durch die er in Ideallinie flog und wieder voraus war. Sein Tacho flirrte zwischen 55 und 80 km. Er trug keinen Helm. Der perlende Schweiß trocknete im Fahrtwind zum Salzgeröll, das er schmeckte, wenn er sich die Lippen leckte. Abfahrend ließ er die kleinen Krämpfe aus den neben den Pedalen herabhängenden Beinen schwingen. Und dann war er nur noch Rennmaschine und pedalte Ortsschild für Ortsschild hinter sich, über den Lenker, den er am unteren Horn gefasst hatte, gekrümmt, erhöhte auf den Ebenen heimwärts den Stundenschnitt und hielt endlich den Kopf unter das schwarze Rohr des letzten Dorfbrunnens, kalt übers Genick, über Puls und Arme – und dann stolz zum Biergarten getändelt.

Mit 50 ein Säntis-, ein Schwägalp-Fahrer zu sein, 1000 reine Höhenmeter, hatte er sich versprochen. Nun gab er es auf. Einmal noch schaffte er es auf den Hörnlipass, 550 reine Höhenmeter, und fegte in einem Schwung hinunter ins Thurtal und den Klacks von Seerücken hinauf und hinunter nach Konstanz. Keine Krämpfe. Den nächsten Angriff zum Hulftegg-Pass unter dem Hörnli verlor er. Der Rückweg von den Höhen hinunter war eine Erlösung. Er würde nie ein Schwägalp-Fahrer sein. Die Touren wurden kürzer. Er suchte die flachen Wege, nahe dem See. Um den Obersee, immerhin an einem Tag, während andere dafür drei Tage brauchten. Und er gewann neues Vergnügen. Hatte er zuvor allein auf die anstrengende Leistung gezielt, möglichst ohne einmal anzuhalten, so saß er nun gern ab; in Rorschach schon, am Bahnhof Rheineck, am Rohrspitz, in Bregenz, Lindau, Wasserburg, wo er das erste Weizenbier trank. Er schaute sich um, hatte drei Länder gesehen, drei Sprachen gehört, und beim zweiten Weizenbier in Immenstaad rötete sich die Sonne und sank flimmernd hinter den Abenddunst über dem Bodanrück. Der See dunkelte ein. Der Himmel wurde strahlend abendblau, durch den die noch immer von der untergegangenen Sonne beleuchteten Flugzeuge ihre rot verfliegenden Schweife zogen nach Zürich oder Rom, nach Frankfurt oder Moskau. Und dann blinkte der Polarstern. Und dann stieg der volle weiße Mond auf und schüttete sein Silber auf die Wellen des Sees. Die Fülle des Daseins. Zuvor war er nur gekeucht und gerast, nur Körperkraft gewesen. Nun auf ebenen Wegen nach Singen und zurück. Durch die Heimlichkeiten von Hemmishofen, Bibermühle, am belassenen Feldblumenfeld vorbei, unter den Apfelbäumen saß er zwischen Mohn, Kornblumen. Er sammelte Bärlauch, später Pilze. Dann nach Singen und doch, er war zu erschöpft, besser mit dem Zug zurück. Die einst kleinen Buckelchen bei Eschenz, an der Bibermühle, an denen er nie aus dem Sattel gemusst hatte, um das Tempo zu halten, waren zu plagenden Steigungen geworden. Und wenn er nicht auf dem Renner über alle Berge gefahren war, war er um den Mindelsee gerannt, allerdings nur anfangs ganz.

Man diagnostizierte ein Lungenemphysem. Die kleinen Lungenbläschen verklumpen sich zu großen, der Gasumtausch nimmt ab, die aufgeblähte Lunge drückt aufs Herz, Sauerstoffmangel. Machen Sie Atemübungen, riet der Arzt, gewöhnen Sie sich die Stoppatmung an. Als er auf einer Bank der Badi von Tägerwilen saß, sah er, wie ein Junge ihm den Radcomputer vom Rennradlenker stahl. Er ließ es geschehen. Er tauschte die Rennmaschine gegen einen behäbigen Haflinger, ein Tourenrad, und war befreit vom Stieren auf den Tacho, dem unaufhaltsam absinkenden Kilometerschnitt. Keine Radhandschuhe mehr, keine schnittigen Hosen und schweißabsorbierenden Hemden. Er fuhr im Alltagszeug. Er gewöhnte sich ab, als erstes nach den Marken-Schriftzügen auf den Edelrahmen zu schauen. Er war nicht einmal mehr für die rüstigen Rudelsenioren auf dem Bodenseeradrundweg ein Konkurrent. Bevor das Keuchen begann, lag er schon an einem Wiesenrand zwischen Löwenzahn, sammelte Sauerampfer und schaute den Wolkenzügen nach, beobachtete das Aufballen der Wolken im Westen, das Giftig-, dann Schwarzwerden der Wolkenvulkane, sah über das Wasser, das sich im nahenden Sturm riffelte, schließlich aufrauschte. Als erster der vielen folgenden Ärzte hatte der Lungenarzt ihn ermuntert, sich seines Lebens zu erfreuen. Und jedes Mal, dachte er hinzu, und jedes Mal banger: Solange es noch dauert. Er fuhr gern zu heimlichen, schief gezimmerten Bänken ins kohlig riechende Tägermoos, las etwas oder auch nicht, beobachtete die Krähen in den Nussbäumen, an die ein Schild genagelt war: Jeder dritte Nussdieb wird erschossen, zwei waren heute schon da. Die Krähen kümmerten sich nicht drum. Sein Leben war ruhig und genau geworden. Statt Speichen und Felgen zu polieren, beglich er Arztrechnungen und reichte sie bei der Krankenkasse ein. Früher hatte er Beitragsrückerstattungen bekommen wegen Nicht-Inanspruchnahme der Krankenkasse. Nun schämte er sich.

Im Amt sprang er, was er, wenn er unbeobachtet war, zwanzig Jahre lang getan hatte, nicht mehr über den breiten Fußabstreifer hinter der Eingangstür; nahm nie mehr zwei Stufen auf einmal. Es kam schlimmer: Als der Aufzug im Amt defekt war, schlief er in seinem Dienstzimmer und hoffte, anderntags werde der Aufzug ihn wieder vor den Treppen retten. Die Todesvarianten beim Lungenemphysem sind, las er im Netz, Herzinfarkt oder Ersticken. Der einzige Kollege, dem er davon erzählte, antwortete: Ich habe einen Nachbar, der steht immer am Fenster und sagt: Ich habe ein Lungenemphysem und warte auf das Ende. Ging er mit anderen die Amtstreppen hinauf, ließ er sich, damit es nicht so auffiel, dass er beim Gehen, erst recht atemlosen Steigen nicht mehr reden konnte, eine Frage einfallen, die die Kollegen über die Stockwerke hin in einen Monolog riss. Auf den Treppenkehren legte er den Kollegen die Hand auf den Arm und fragte so intensiv, dass sie stehen blieben und er wieder zu Luft kam. Sein Atemluftstoßmessgerät stagnierte bei der Lungenleistung eines 83-Jährigen.

Langsam war er geworden. Das hatte Vorteile. Er brauchte nicht mehr zu hetzen. Schlief länger. Er saß nun am liebsten auf Bänken, die mit Bus und Bahn zu erreichen waren, und beobachtete die eiligen Menschen an Bahnhöfen und Haltestellen. Er war’s zufrieden. Aber dann begannen die Beine, die Gelenke an Händen und Armen zu schmerzen, als hätte er Rheuma oder einen gehörigen Muskelkater. Wovon jedoch Muskelkater? Die Rheumadiagnose war negativ. Immer ein kleines Fieber. Statt mit dem Rad auf Schleichwegen, die nur ältere Kollegen benutzten, fuhr er nun mit dem Bus ins Amt und lernte Kollegen kennen, die einen Herzinfarkt erlitten, eine Chemotherapie überstanden hatten oder die von einer unbegreiflichen Autoimmunerkrankung geplagt wurden. Seine Ärzte konnten sich seine Schmerzen nicht erklären.

Als er, um die Vorbereitungen zur Feier seines 60. Geburtstages zu besprechen, zu einer noch heimlichen Besenwirtschaft, zu der er oft gewandert war, von Berlingen hinauf, über den Weißen Sandsteinfelsen, an dem verschliffene Namenskritzeleien zu sehen waren, von dem er hinab geschaut hatte über den von blauen Vogelschutznetzen verfärbten Weinberg, hinübergeschaut hatte zum See, zur Höri, zum Schienerberg, bevor er hinab gesprungen war, den Wiesenpfad neben dem Weinberg, in dem Karbidböller krachten und Raubvögel aus den Lautsprechern schrien, um dann, nach einigem Most, zwischen Schafen und Apfelbäumen hinab nach Steckborn zu wandern, mit leichten Füßen zum sich nähernden See – als er nun zum Jochental hinauf wollte, wurde ihm fieberheiß, ihn schwindelte, die Füße ließen sich nicht heben und stolperten über einen Kiesel. Nach 30 Metern verließen ihn Atem und Kraft. Er rutschte an einem Apfelbaumstamm, an dem er sich hatte erholen wollen, ab und kam nicht mehr aus der Hocke. Er gab auf. Sie fuhr ihn anderntags zur Wirtschaft hinauf. Der Arzt war ratlos. Eine Bekannte erinnerten seine Symptome an die Symptome, die eine Bekannte von ihr gehabt hatte, die an einem Morbus litt. Der Arzt schickte ihn zum Radiologen, der keinen Hinweis auf irgendeinen Morbus fand.

Am Tag vor seinem 60. Geburtstag zerrten, drückten Schmerzen so seine Brust, dass er nicht mehr hoffen konnte, es auszuhalten bis zum ausgemachten Nachmittagstermin bei seinem ratlosen Arzt, dass er sich von einem Taxi, sich krümmend auf dem Sitz, zur Notaufnahme des Klinikums fahren ließ. Er schrie, ganz wider Willen, und kam sofort auf den Schragen und an Schläuche. Als er aufwachte, lag er in einem abgedunkelten Saal mit frischen Bypass-Patienten, denen die Brust aufgesägt und auseinander geklemmt worden war. Sie war die Nacht über her gereist, war vor Schrecken bleich. Ihm war nur ein Stent gelegt worden. Zum ersten Mal musste er eine an seinem Bett hängende Urinflasche benutzen. Am Zustand der Urinflaschen, an ihren rostenden Halterungen, an billigeren und platzenden Urinbeuteln lernte er später Kliniken zu unterscheiden. Die Ärzte gratulierten ihm zu seinem 2. Geburtstag, der zufällig auch sein 60. war: Glück gehabt. Er lebe noch. Als er ein Jahr später auf einer österreichischen Autobahn fast tödlich verunglückt wäre, hätte er seinen dritten Geburtstag feiern können. Der Stent war ihm gelegt worden im Herzzentrum, das in Schweizer Hand war; zwei Tage danach wurde er, auf seinem Schoß eine von seinen Kleidern breite Plastiktüte mit der Aufschrift »Eigentum des Patienten«, im Rollstuhl unterirdisch 100 Meter weiter ins Klinikum überführt. Sie sagten: »nach Konstanz«. Im Kellertunnel standen Geschirrcontainer. Und hier, vermutete er, würden auch die Toten, die so tun, als seien sie nur Scheintote, und scheinbar furzen und stöhnen, wenn ihr Leichengas austritt, auf Bahren entlang gerappelt und in die Bestattungswagen entsorgt. Seinen Herzinfarkt fand er glimpflich und überwindbar. In der dritten Nacht nach der Operation zog er die Schläuche ab und ging aufs Zimmerklo. Schriller Alarm. Die Nachtschwester riss die Türe auf und schrie. Eigentlich hätte er, meinte er, sofort wieder nach Hause können. Es wurden aber sechs Klinikwochen. Seine Zimmerkameraden wechselten. Er blieb und lernte, dass es im Krankenzimmer das Wichtigste war, wer die Hoheit über das Fenster, die Tür, das Bad und das Schnarchen gewann und behielt. Es war seine Art, den Kampf nicht anzutreten.

Der Herzinfarkt erklärte nicht die durch seinen Körper vagabundierenden Schmerzen. Richtig krank fühlte er sich nicht; war er aber doch wohl. Medikamente und Infusionen hatten die Schmerzen gedämpft. Ein gefährlich unklares Blutbild. Er brachte wieder den Morbus, von dem ihm die Bekannte erzählt hatte, ins Spiel. Die Ärzte notierten sich das und schickten sein Blut nach Nord und Süd, bis eindeutig war: Er litt am Morbus Wegener, einer Autoimmunkrankheit, die zuerst die kleinen Blutgefäße zerstört und dann vielleicht, Organ nach Organ, den ganzen Menschen. Vielleicht waren seine sich rapide beschleunigenden Krankheiten, auch die, die er jetzt aber noch nicht alle ahnte, eine Folge des Morbus. Aber sicher war das nicht. Medizinische Diagnosen waren keine richtigen oder falschen Rechnungen. Cortison in hohen Dosen, dazu in der Krebstherapie und bei Organtransplantationen bewährte Chemopillen, Immunsupressiva gegen den Morbus bekam er und würde er bis zum nicht mehr ganz unabsehbaren Ende seiner Tage einnehmen müssen. Na denn, sagte er sich. Sie sprach, so oft sie kam, mit den Ärzten und war viel besorgter als er.