Portrait eines jungen Mannes aus alter Zeit - Hermann Kinder - E-Book

Portrait eines jungen Mannes aus alter Zeit E-Book

Hermann Kinder

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Beschreibung

Entlang der Einträge in Es Heften, entlang eigener und imaginierter Erinnerung entwirft Hermann Kinder hier das Porträt von E, der große Talente hatte, der aber sein Leben nicht meistern konnte. Zur Welt gekommen als der letzte große Krieg noch tobte, die Kindheit geprägt von Bomben, Bedrohung, Hunger und Flucht. In der Nachkriegszeit eine Jugend auch voller lichter, heller Bilder. Und in den Jahren, als es in der jungen Bundesrepublik bergauf ging, der Wunsch, Künstler zu werden, Schauspieler. Doch der Empfindsame, der Zweifler zerbrach - an was? Am Leben, an den Möglichkeiten, an der Geschwindigkeit, den Wunden, den Abgründen? Tagebücher, Kladden, Bilder. Über 50 Jahre nach Es Abschied blättert der Erzähler durch die Erinnerung an einen geliebten Menschen. Es sind staunende, rücksichtslose, manchmal wehmütige Blicke auf den Wandel der Zeit. Nach seinem hochgelobten Buch Der Weg allen Fleisches (2014), der würdevollen Schilderung einer unvorstellbaren Krankheitsgeschichte, greift Hermann Kinder nun weit zurück in die 1950er Jahre. Er erzählt von der Kindheit und Jugend von E, der vor einer Karriere als Schauspieler stand – und der sein Bruder hätte sein können.

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Seitenzahl: 216

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Impressum

Hermann Kinder

Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit

Roman

© Weissbooks GMBH Frankfurt am Main 2016

Alle Rechte vorbehalten

Konzept Design

Gottschalk+Ash Int’l

Satz

Publikations Atelier, Dreieich

Umschlaggestaltung

Julia Borgwardt, borgwardt design

Foto Hermann Kinder

© Helmut Voith

Erste Auflage 2016

ISBN 978-3-86337-102-9

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich

ISBN 978-3-86337-096-1

weissbooks.com

Hermann KinderPorträt eines jungen Mannesaus alter ZeitRoman

Der Verlag bedankt sich bei der Literaturstiftung Oberschwaben, beim Sparkassenverband Baden-Württemberg sowie der OEW Energie-Beteiligungs GmbH für den großzügigen Druckkostenzuschuss.

Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit

Inhalt

Eden

Erstes Dorf

Zweites Dorf

In der Stadt

Der sanfte Heinrich

Parathion oder E 605

Glaswolle, Paketmühle, Gummistiefel, Kellnern

Die Verlorenen

Glogauerstraße

Hamburg I

Hamburg II

Wien

Eden

Als E geboren wurde, brannte die Stadt. Vor dem tobenden Feuersturm rannte Roland Freisler, Hitlers Bluthund, durch die Hohenzollernstraße in seiner um ihn schlagenden Robe, so rot, wie sie die Karlsruher Richter heute noch tragen. Der Vater erfuhr nichts von Es Geburt. Im Balkankrieg wurde keine Post zugestellt.

Zu Es Geburt war die Mutter zu Gast in der Heimatstadt gewesen. Nun ging es zurück nach Berlin, zurück in Zügen, die, da sie selten und ohne Fahrplan fuhren, immer übervoll waren. Es älterer Bruder lag mit dem Koffer im durchhängenden Gepäcknetz, das aus gelber Schnur geknüpft war und stank. Zurück in den geliebten Fuchsbau in der Motzstraße, der ihr Familiennest war, wenn der Vater mal wieder verwundet und auf Genesungsurlaub war. So, als der Vater östlich von Leningrad wegen diverser schwerer Entzündungen bewegungsunfähig wurde und in einem Berliner Lazarett behandelt werden musste. Später hatte der Vater im Genesungsurlaub Rekruten bei seinem Ersatzbataillon in Eberswalde auszubilden. Frau und Söhne besuchten ihn, wohnten in der Kaserne, und die Söhne spielten am liebsten in der Waffenkammer und dreckten sich ein bei den Rekruten, die, ihrem Vorgesetzten zuliebe, die Söhne nicht fortschickten. Dem Vater gefiel es. Nicht der Mutter, die allabendlich in der Kasernenwaschküche die verölten Kleider zu reinigen versuchte. Dann führte der Vater seine ganz »zusammengeschlagene Kompanie« in »fürchterliche Abwehrkämpfe« nördlich von Orel. Ihm erfror ein Fuß, aber er blieb an der Front und musste wieder in ein nahe Berlin gelegenes Lazarett, als er durch Granatsplitter schwer an Kopf und Hals verwundet worden war. Frau und Söhne besuchten ihn am Müritzsee, und sie verbrachten schöne, klare Herbsttage am See im gebuckelten Fachwerkhaus eines Kriegskameraden. Der Vater in ausgestellten grünen Breeches über den Knobelstiefeln, die Mutter mit einer irdenen Schüssel voller Kartoffelsalat, über die sie ein geblümtes Küchenhandtuch gebunden hatte [keine Alufolie, keine Frischhaltefolie]. Die Söhne buken Kuchen im Sand mit Schüppe und Eimerchen. E trug gestrickte Strümpfe, gestrickte Hosen, auf dem Querriemen der Hosenträger brüllten sich zwei Hirsche aus geschnitztem weißen Horn an. E war nun zwei Jahre alt, hatte helles, fast rotes Strubbelhaar und wurde Männlein genannt. »Glückliche Tage am Müritzsee«, schrieb der Vater.

Die Bomben fielen dichter, öfter auf Berlin. Die Frauen unterschieden zwischen leichtem oder schwerem oder einem Na?-Alarm. War der Alarm nicht schwer, gingen die Frauen des Fuchsbaus zum nahen Wittenbergplatz ins Kino und rauchten. Als der Alarm schrill wurde, rannten sie zurück in den Fuchsbau, in dessen Etage, in der die Mutter wohnte, hell das Licht brannte. Es Bruder hatte die Verdunkelungen abgehängt, um besser nach draußen und zu den Bomben schauen zu können. Das gab Kloppe für den Bruder, für die Mutter einen Verweis des Blockwarts und Strafstunden beim Entrümpeln der Keller für den Luftschutz.

[Provinzialhauptstadt Münster. Bomben. In den Ruinen zu spielen, hastig meist auf dem Weg zur Martin-Luther-Grundschule, dann zur Überwasserschule, mehr noch auf dem verbummelten Nachhauseweg, war für uns ein lockendes, verbotenes Spiel. Man konnte verschüttet werden. Es konnten düstere Gestalten aus den Kellern der Ruinen auftauchen und nach uns werfen. Fast nur noch im arg bombardierten westlichen Westdeutschland sind nackte Brandmauern zu sehen; in den Nischen stehen zwischen den hohen Häusern, alt oder neu, einstöckige Flachbauten, gerettete Unterstöcke der zerbombten Häuser, gern sind es Fußballvereinsgaststätten oder ein Blumenladen, hinter dem in der Tiefe des Hinterhofes ein Glashaus steht, ein Komposthaufen, auf den sich, wenn die Floristin im dicken Wattemantel aus dem Arbeitshof in den Laden gegangen ist, Vögel von den hohen Hausmauern links und rechts hinunterstürzen, leider keine Spatzen mehr. Wo die Ruinenlücken zeitmodisch mit weißen Häusern mit geraden Linien, viel Glas und viel Leichtmetall plombiert wurden, sitzen auf den neuen Dachterrassen und in Wintergärten Stadtmenschen und lesen »Landlust«, stricken, nachdem sie Hanno Rauterbergs Lob des »Urbanismus von unten« gelesen haben, Mützchen für die Poller auf ihrer Straße, lange bunte Ärmel für die Fahrradständer, bepflanzen die Grünstreifen der Stadttangenten mit Tulpen und Rosen, womit sie »eine Wette auf den Gemeinsinn« machen. Auf die gehen aber die Jungen und Mittelalten nicht ein, die nachts in Herden auf dem Kulttreff im kleinen Park mit Bierkiosken vor den Häusern der virtuellen Landsehnsüchtler stehen und laut lustig sind. Alle Mediationen vergeblich; sie kacken und pissen weiterhin in die schmalen Vorgärten der Bombenlückenfüllerhäuser im Retro-Bauhausstil. Manchmal aber müssen die Eventler und die Anwohner gemeinsam flüchten, weil wieder ein scharfer Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt wurde in der letzten Baulücke.]

Dem Vater war der Kiefer durchschossen worden, ein paar Tage im Fuchsbau, danach wieder an die Front nördlich Rogatschew zu seinen Panzergrenadieren. Die Motzstraße wurde getroffen und brannte. In tagelangen Löscharbeiten gelang es, den halben, den unteren Fuchsbau zu retten. Für Es Familie blieb nicht ein Raum übrig zum Wohnen. An der halben schwarzen Wand hingen brandschwarze Treppenteile und verbogene schwarze Rohre und der schwarze Rest der Badewanne. Die Mutter fand Unterschlupf bei einer Großtante in Fürstenberg an der Havel. Die Mutter litt an Gelbsucht und Rauchvergiftung, die Söhne wohlauf, gesund, genährt. Seit der Vater sich mit seiner »prachtvollen 5. Panzer-Division« bei Borrosow an der Beresina den Russen entgegen geworfen und einen Lungenschuss abbekommen hatte, hörte die Mutter nichts mehr von ihm. Die Söhne vergaßen den Vater.

Der einzige Zug fuhr von Fürstenberg nach Sachsenhausen. Zu Fuß ging es weiter, bis sie in Oranienburg einen Zug nach Berlin, Bornholmer Straße, erwischten. Sie wurden mit anderen Flüchtlingen, die sich vor den Russen retten wollten, in eine Schule gepfercht, in der es keine Schulkinder mehr gab. Die einzige s-Bahn fuhr bis Spandau. So kamen sie bis Spandau und tippelten los. Bis nach Nauen und Dreibrück. All ihre Habe befand sich in einem Kinderwagen, von dem das vordere linke Rad sich immer wieder löste und dem Kinderwagen ein Stück seitlich vorauslief, bis es kreiselte und umfiel. Es Bruder hatte sich um dieses Rad zu kümmern. E saß, wenn er nicht mehr laufen konnte, auf dem Wagen obenauf. Sie schliefen in verlassenen Häusern und Gehöften, in die nachts die Russen kamen und sich zunächst alte und junge, dann nur noch die jungen Frauen herausholten. Jemand nahm sie mit nach Eden, wo die Mutter für die befreiten italienischen Fremdarbeiter im Garten arbeiten musste, was sie gern tat. Es waren »glückliche Maientage«, erzählte die Mutter. Die Söhne durften bei der Erdbeerernte helfen und bekamen rot verschmierte Münder, über die die Italiener lachten. Dann besetzten die Russen Eden. Die Söhne kletterten außerhalb der Pflückzeit, der Bruder immer voran, das rote Männlein E hinterher, über das Gartentörchen und stopften sich mit Erdbeeren voll, wurden von den Russen erwischt und bekamen Gartenverbot. Die Russen fingen Wildkaninchen und brieten sie am Spieß, tranken, sangen und befahlen der Mutter zu kommen. Die Mutter rannte weg, die Soldaten waren zu betrunken, um ihr folgen und sie einfangen zu können. Besser, die Mutter machte sich wieder auf den Weg. Sie tippelten los und kamen wieder nach Nauen. In Nauen fuhr kein Zug. Sie lagen mit den anderen Flüchtlingen auf dem Boden des Bahnhofs und warteten. Dann kam ein Zug, hoch beladen mit Kartoffeln, auf den die Mutter und der Bruder den Kinderwagen und E hievten. Der Zug fuhr nach Berlin. Die Freundin im halb zerstörten Fuchsbau riet der Mutter, in Berlin zu bleiben. Es gebe Wohnungen genug hier. Ein neuer Bewohner des Fuchsbaus war ein Verfolgter gewesen, der nun für die Alliierten arbeitete und Wohnungen vergab. In der ersten, die sich die Mutter ansah, stand das Kaffeegeschirr noch auf dem Tisch, der Kaffee in den Tassen eingetrocknet. Da wusste sie, dass es Wohnungen von Juden waren. Sie packte das Grauen, wollte weg aus Berlin, auch weil sie mit ihrem Mann vereinbart hatte, dass sie sich nach dem Krieg, sofern sie überlebten, in München treffen wollten. Die Mutter ging zur amerikanischen Kommandantur und bekam, weil sie mehrere Familienadressen in München angeben konnte, einen Zuzugsschein für die amerikanische Zone.

[Breslauerplatz. Täglich kommt man von Köln Hbf mit dem Zug direkt nicht nur mehrmals stündlich nach Horrem, Kall und stündlich nach Au (Sieg), sondern auch nach Amsterdam, Basel, Bruxelles, Klagenfurt, Paris, Praha, Warszawa, Wien und Zürich. Das sind deutlich weniger Fernzüge als in den 60ern, als Züge auch nach Jugoslawien, Italien und Spanien fuhren, nach Rijeka, Skopje, Portbou, Catanzaro, nach Bukarest und Thessaloniki. Allerdings kommt man heute, ohne umzusteigen, mit dem Fernbus nach Bihac (BA), Istanbul (TR), Peje (KO), Poznan (PL), Sarajewo (BA), Srebrenik (BA), Tuzla (BA), Zagreb (HR), wohin zu Es Zeiten kein einziger Bus fuhr.

In keinem dieser Züge und Busse sind mehr Fenster zu öffnen. Kein Geschrei mehr der Alten, wenn Rücksichtslose die Fenster aufrissen, die Haare flogen, die braunen Gardinen aus dem Fenster gesogen wurden, kein Geschrei mehr über Nakkenschmerzen, kein Geschrei mehr der Jungen nach frischer Luft.]

Es fuhren aber keine Züge. Sie liefen täglich zum Bahnhof Zoologischer Garten, der weniger zerstört war als die anderen Bahnhöfe und von dem die einzigen Züge nach Westen hätten erreicht werden können. Aber dann, hieß es unter den Zerlumpten, manche trugen nur Lappen an den Füßen, es käme einer. Sie warteten am Bahnhof und es kam ein Zug. Ein Güterzug. Sie erkletterten den ersten Wagen hinter der Lokomotive und waren, als sie fast bis nach Magdeburg kamen, kohlrabenschwarz. Sie irrten um Magdeburg herum. E bekam einen Leistenbruch, der von einem wegen seines Verlustes eines Arms entlassenen Oberfeldarzt operiert wurde in einem katholischen Krankenhaus, vor dem die Frauen Schlange standen, deren Russen-Föten im von frommen Nonnen geleiteten Ordenskrankenhaus seriell und skrupellos abgetrieben wurden. Die Mutter machte sich nützlich und durfte bleiben. Sie bekamen zu essen, bis E, der in das Kleinkindzimmer geschoben worden war, wieder laufen durfte und sie dem Gestank von Blut, Eiter und Äther entkamen. Sie liefen nach Süden, orientierten sich an den Gleisen, und manchmal ging es ein Stück weiter mit einem Güterzug. Zweimal wurde die Mutter noch von Russen geholt, einmal schlug ihr ein polnischer Offizier mit dem Pistolenknauf Zähne aus dem Mund. Dieselben Flüchtlinge begegneten sich immer mal wieder, die Frauen bildeten einen Treck mit einem Plattenwagen, den sie, da es keine Pferde mehr gab, selbst schoben. Der Bruder den Kinderwagen mit E. Einmal fanden sie in einem verlassenen Hof ein Eimerchen mit Honig. Die Frauen trugen feste Kopftücher wie russische Babuschkas, manche hatten nach den Vergewaltigungen greisinnengraue Haare bekommen. Die russischen Soldaten ließen sie dann in Ruhe. Einer der Soldaten schenkte ihnen eine große Tüte voller Zucker, in dem Ameisen krabbelten. Das rettete dem entkräfteten E, der auf dem Wagen oft umsank, das Leben. Die Russen holten die Frauen, um sie das Wasser trinken zu lassen, das sie in Tonnen gefunden hatten oder aus einem tröpfelnden Hahn hatten zapfen können und von dem sie fürchteten, es sei von den Deutschen vergiftet worden. Die Frauen kamen mit ihrem Treck an die Grenze bei Hof. Alle wurden erst einmal in eine Lagerhalle geschubst. Die Mutter suchte mit den Söhnen in den herbstlichen Schrebergärten nach Essbarem, doch war alles abgeerntet, einen Wasserhahn fanden sie aber, unter dem die Mutter den Rest Gries in den Händen aufquellen ließ, den sie hungrig aßen. Dann prüften die Soldaten die Papiere der Frauen und schickten sie nach Norden zurück. Nur eine Wienerin und die Mutter durften die Grenze zum amerikanischen Sektor passieren, weil sie eine von der amerikanischen Kommandantur ausgestellten Schein vorweisen konnten. Und dann waren sie in Hof und fanden den Geschäftsfreund, den der Vater öfter erwähnt hatte. Der lebte noch und war da, und wie seine Frau schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. Mutter und Söhne waren so schmutzig, dass sie in eine Zinnwanne im Garten gestellt und abgespritzt wurden. Die Haare der Söhne verlaust, auch unter dem Kopftuch der Mutter, das sie nun abnahm, Läuse, Läuse und Dreck. Läuse auch um die offenen Stellen an den Beinen des Bruders. Auf dem Bahnhof in Hof stand ein Lazarettwagen der Amerikaner, »alles sauber, die pikfeinen Schwestern mit Häubchen, eine vergessene Welt«, der Mutter »fiel unter Tränen ein schwerer Schuppenpanzer ab«. Es kam auch ein Personenzug voller Italiener, die nach Hause zurückgefahren wurden. Ein altes Paar, das von der amerikanischen Militärpolizei abgewiesen worden war, warf sich vor den einfahrenden Zug. Die Italiener zogen die Mutter, den Kinderwagen, die Söhne durchs Fenster in den Zug und gaben ihnen Brot. So kamen sie nach München.

[Duisburg. Ich lief im Herbst 2014 durch Hbf Duisburg von Ost nach West: Herzlich willkommen! Welcome! Bienvenue! Starbucks Kaffee aus Leidenschaft nach 175m. Müller’s Bäckerladen. Meister Döner. Frucht-Oase. GEILE WARENAUTOMATEN. Ditsch. LECKER WURST knackig herzhaft scharf. Mjam mjam frisch lecker vital. TEA TO GO. Wasser aus aller Welt. LE CROBAG. GEILE WARENAUTOMATEN SNACKS & DRINKS. Nur wenige Meter zum perfekten Starbucks Erlebnis. Albert Heijn to go. HERZLICHEN DANK EINEN SCHÖNEN TAG NOCH UND BIS BALD. Köstliche Frische, beste Qualität, lekker. MÜLLER gegründet 1881 Duisburgs Lekkerbäcker. McCafé. BEST DÖNER. Enders WURST Spezialitäten Die schärfste Currywurst von Duisburg!!! Auf Wiedersehen! Good bye! Au revoir!

Xanten Bf nichts; Kleve Bf nichts.]

Doch war in München kein Wohnraum für sie. Die kleinen Wohnungen der beiden Cousinen waren voll belegt mit zugewiesenen Flüchtlingen. Ihr Zuzugsschein galt aber für die ganze amerikanische Zone in Bayern. Eine entfernte Bekannte der Cousinen erklärte sich bereit, sie in einem schwäbischen Dorf aufzunehmen. Es war ein harter Winter, das Wasser gefror in den unheizbaren Räumen in den Schüsseln, und Ratten huschten in der Dämmerung. Die Mutter musste zum Brotholen zu Fuß durch Schneeverwehungen, die die Straßen unauffindbar machten, sie schlug sich quer, sich orientierend am Sonnenfleck im Dunst, durch die Schneefelder in den ihr verbliebenen dünnen Kleidern und dem geliehenen Mantel ins nächste Dorf, das endlich sichtbar wurde mit dem Kirchturm, der schon im dünnen Blau über dem Donaunebel ragte. Dort gab es einen Bäcker, der einen runden, buckligen Steinofen hatte. Manchmal nahm der Milchmann sie in seinem Holzvergaser mit. Im Frühling aßen sie Brennnesseln vom Dorfwegrand und Löwenzahn aus den gelben Wiesen. E wurde rund. Die Beine des Bruders heilten. Als der Herbst kam, aßen sie so viele Baumnüsse, dass ihnen übel wurde und sie kotzen mussten. Das war ihre erste Wohlstandskrankheit. Ein Mann in abgerissener Uniform kam und sagte, dass der Vater lebe und mit Verdacht auf Typhus aus dem tschechischen Gefangenenlager entlassen worden sei. Es war aber kein Typhus, nur Durchfall von den Wassersuppen. Die Familie traf sich in München. E erkannte den Vater nicht, der Bruder erst nach Zögern. »Unter Lob und Dank gründeten die Eheleute ihre Familie neu in der Überzeugung, dass das, was sie an äußeren Dingen verloren hatten«, schrieb der Vater in Sütterlin, »in keinem Verhältnis steht zu dem, was sie trotz der furchtbaren Katastrophe gewonnen hatten.« Sie nahmen sich vor, »nicht klagend zurückzublicken, auf dass ja keine Wurzel der Bitterkeit erwachse, sondern fröhlich und getrost mit den Kindern vorwärts zu wandern.« An den äußeren Sachen fiel ihnen durch Hilfsbereitschaft bald das Notwendigste zu, einige Teller, etwas Besteck, ein krummer Löffel für E, ein Topf für alles, ein Tisch, Hocker und Stühle. Getrunken wurde Leitungswasser und Muckefuck. Nie mehr bereitete die Mutter aus Brennnesseln Suppe, Tee oder Gemüse, nie mehr aus Löwenzahn Salat.

[Berlin, Bolle. Exkurs über Essen&Trinken. Es wird 1961 in Berlin gewesen sein, dass E das erste Schaschlik sah und aß. Es hieß ungarisches und war die einzige Alternative zur Currywurst. Manche, die in Italien im Urlaub gewesen waren, machten sich zu Hause eine Pizza oder Spaghetti. Es Mutter blieb bei dem, was sie von ihrer Wuppertaler Mutter gelernt hatte, Endivienuntereinander zum Beispiel. Jüngere Hausfrauen, die Pizza machten, verachtete sie ihr Leben lang. Sie kochte, war der Vater da, immer etwas mit Fleisch oder Wurst. Heimlich auch Pferdefleisch, das war billiger, der Vater mochte es nicht, merkte es aber nicht. Quark kam nur bei Abwesenheit des Vaters auf den Tisch. Der Quark wurde selbst gemacht, in einem Handtuch gepresst, und zum Abtropfen wurde das schwere Tuch zwischen zwei Stühlen am Teppichklopfer über eine Schüssel aus Blech gehängt, die zu allem diente. E verabscheute nicht viele Gerichte; aber er kotzte, wenn es Huhn oder Hase gab, zu Silvester einen Karpfen, was seine Gründe hatte. Nie hat sich E Wasser gekauft. Es floss aus dem Kran. Stilles oder klassisches Wasser in 1,5-Literflaschen aus quietschendem Plastik aus dem ALDI, LIDL, NETTO, PLUS oder KAUFLAND zu schleppen, blieb ihm erspart. Aber auch E fuhr zum Savignyplatz, um im revolutionären Bolle einzukaufen, von dem ganz Westberlin sprach, denn der hatte seinen Laden modern umgerüstet. Dort musste man sich die Sachen selbst aus den Regalen holen und an der Kasse abgeben, wo der Betrag von einem Fräulein in eine Registrierkasse eingetippt wurde. Er kaufte sich Pichelsteiner Topf der Marke Erasco. Nie hätte E auf die Idee kommen können, im Gehen und im Freien etwas zu essen und zu trinken. Nur einmal: Gerührt erinnerte er sich, dass er damals bei einem Volksschulausflug ein Brot, einen Apfel und ein hartes Ei mit Salz gegessen hatte, das aus einem aus einem gewendeten Briefumschlag geschnittenen Tütchen gerieselt war. Sie hatten auf den harten Seitenbänken des von Mailaub grün durchflochtenen Leiterwagens gesessen. Die Kinder konnten fast nichts von der Gegend sehen, durch die sie fuhren, so hoch stand das wogende Korn. (Für seinen Film »Die andere Heimat« hat Edgar Reitz, las ich, eigens auf einem Acker langstieliges Korn säen lassen, weil es sonst nur noch kurzstieliges gibt, das nicht zu eichendorffischem Wogen taugt.) Aber den Feldrain sahen die Kinder durch die Ritzen des Mailaubs; er war voller Mohn, Margeriten, Wegwarte und Kornblumen. Unsere Philosophen und Soziologen, welche seit geraumer Zeit alles aus der Steinzeit erklären, vermuten die Ursache des Essens beim öffentlichen Gehen darin, dass die Männer auf der Jagd nach Wisent und Bison sich nur beim Rennen schnell etwas zur Stärkung einstopfen konnten, bevor sie die Beute in die Höhle zu den Frauen schleppten, die dort immer saßen und alles um sich herum haben mussten, Kinder, Nähzeug, Gerät, woraus sich, sagte der Oberphilosoph P.S., die Handtasche der Frauen erklärt. Kaum wahrscheinlich, dass E je in seinem Leben Pommes sah, gar aß. Bei »Schranke rot-weiß« hätte er nur an einen Bahnübergang gedacht. Manchmal setzte die Mutter aus den Söhnen undurchschaubaren Gründen die Schüssel so auf den Tisch, dass das Endivienuntereinander bis an die Wand spritzte, und fuhr stante pede zu ihren Eltern nach Wuppertal. Dann aß sonntags der Vater mit den Söhnen in einem bürgerlichen Wirtshaus, in dem das Essen um die zwei Mark kostete, einschließlich Tagessuppe. Allergien und andere Lebensmittelunverträglichkeiten waren unbekannt, auch Nahrungsergänzungsmittel außer Kaisers Natron und Knoblauchpillen aus einem Papprohr, auf dem das Gesicht eines uralt gewordenen und gewiss noch älter werdenden bulgarischen Bauern abgebildet war. Zu kaufen war das Papprohr in der Drogerie, die noch kein Drogeriemarkt war, in der es auch die Kernseife gab, mit der die Haare gewaschen wurden. Allerdings bekamen die Mutter und E Pusteln auf den Armen, wenn sie Erdbeeren aßen. Auch das hatte seine Gründe.

E hat zum Beispiel nie gegessen oder gekannt: Auberginen, Avocados, Elstar (und Braeburn, Gloster, Golden Delicious, Jonagold, Alkmene, Gala, Cox, Idared, Pinova), Kresse, Ruccola, Kaki, Kiwi, Litschi, Maracuja, Chili, Nektarinen, Radicchio, Schalotten, Zucchini, Melone, Ingwer, keine Austernpilze und anderes mehr nicht. Kokosnuss gab es. Sie hatte ein Auge in der braunen haarigen Schale, an dem man den Nagel ansetzen und mit dem Hammer zuschlagen sollte. Schon hatte E einen blauen Daumen, den er in den Mund steckte, und hickelte auf einem Bein durchs Zimmer. Dann holte Es Bruder den Fuchsschwanz. Der rutschte ab, und nun hatte Es Bruder einen blutigen Finger. War die Schale der Kokosnuss geknackt, wurde die Schale in Schnitzel zersägt und wurden diese mit Mehlpapp (kein Uhu, kein Pattex, keine Zweikomponentenkleber) zusammengeklebt und auf das nächste seichte Wasser gesetzt. Sie gingen sofort unter. Dann waren entschälte Kokosnussschnitzel auf dem Jahrmarkt zu kaufen, aufgehäuft zu Schnitzelbergen, zehn Pfennig das Stück.

BIO kam spät. E hat es nicht mehr erlebt. Erst recht nicht Bärlauch. In Hamburg hatte ihn eine Zimmerwirtin zu Reformkost überreden wollen und ihm ein abgegriffenes Büchlein gegeben, in dem vor allem Ausländischem, insbesondere Mate-Tee, gewarnt wurde. Alle Erwähnungen des Vegetariers Hitler waren von Hand geschwärzt worden. Zu Es Zeit gab es selbst in den damals noch seltenen, schlechten Ketten-Buchhandlungen kein einziges Regal mit Ernährungsratgebern, Reiseführern oder Do-it-Yourself Büchern. Bibeln schon. Heute wissen wir aus Büchern, Funk, Fernsehen und über Google alles mehrfach. Doch glauben nach einer britischen Untersuchung 29 % der Grundschulkinder, dass Käse aus Pflanzen, 34 %, dass Nudeln aus Fleisch gemacht werden, ebenso viele, dass Brot von Tieren stammt und Fischstäbchen aus Hühner- oder Schweinefleisch bestehen. Ich lernte frischen Spargel erst kennen, als ich schon erwachsen war, und verfiel gleich dem Spargel-Wahn. Bei Es Mutter hatte es nur Spargelspitzen aus der Dose, aus Taiwan, gegeben, die bei festlichen Abendessen auf den mit roter Bete gefärbten Heringssalat gelegt wurden oder auf das Schnittchen mit Lachsersatz. Meine Mutter liebte Braunschweiger Teewurst. Mein Problem war, ob ich die stets abgelehnten, aber immer heimlich in meinen Koffer geschmuggelten Brote mit Braunschweiger Teewurst, die leider mit dicken Scheiben von Schwarzem Rettich und mit halbierten Maiskölbchen belegt waren, aus dem noch zu öffnenden Zugfenster werfen sollte oder nicht. Ich warf sie nie aus dem Zugfenster, weil ich mich schämte, sie in die Scheiße auf den Schwellen zu werfen. Ich ließ sie zu Hasenbroten trocken und bogig werden und aß sie nachts, wenn mir der Wein genug Hunger gemacht hatte. Es macht einsam, dass alle nur noch die Rügenwalder Teewurst kennen. Es gab die Braunschweiger Teewurst wirklich. E wäre mein Zeuge. Gäbe es sie heute noch, wäre sie, trumpfte ich auf, sicher nicht vegetarisch.]

Erstes Dorf

Nach dem Krieg fand die Familie in einem Dorf zusammen, in dem der Vater bäuerliche Kameraden aus der Kriegsgefangenschaft hatte, die mal einen Krug Dünnbier schenkten, mal eine Wurst, mal ein Säckchen Mehl, mal einen Karpfen, den die Mutter auf dem Küchentisch zu töten versuchte, indem sie dem Karpfen mit dem Brotbrett auf den Kopf schlug, doch der Karpfen schnellte auf den Küchenboden und schnappte da und zappelte aus, bis der Vater kam und den Tod vollzog. Mal schenkte ein alter Kamerad ein Huhn, dem auf dem durchfurchten Holzklotz hinter dem Haus der Kopf abgehackt wurde. Es flatterte kopflos davon, ein Blutbrünnlein sprang aus seinem Hals. Mal lag auf dem Küchentisch ein gefrorener Hase, den ein Freund von der Winterjagd mitgebracht hatte, am Näschen und in den Barthaaren geronnenes Blut; langsam taute er auf und stank. Ein paar Häuser weiter hatte ein Metzger in einer größeren Garage seinen Schlachthof. E sah, wie den Kühen mit einem Beil auf die platte, braun gekräuselte Stirn geschlagen wurde, bis sie in die Knie knickten. Er sah, wie das angepflockte Schwein mit dem Beil etwas betäubt wurde und dem noch schrill quiekenden Schwein die Halsschlagader aufgeschnitten wurde, aus der das Blut hoch heraus pumpte. Später lag das Schwein in einer Wanne und wurde entborstet. In einem Bottich wurde dann aus dem Blut des Schweins mit einem langen Holzstab die Metzelsuppe gerührt.

1948 saß E auf der spreißligen Holzrolle eines Wehres über einem versumpften Dorfbach, der verbohlt worden war und nur an dieser Stelle frei lag zwischen Haus und Platz, und stürzte von der Rolle in den Bachmorast und lag dort gesichtsunter, moorschwarz und sehr stinkend. Im selben Jahr half E beim Entleeren der Odelgrube hinter dem Haus und tauchte den zinnernen Eimer, der an einer langen Holzstange befestigt war, in die Jauchegrube, um ihn hochzuheben und in die Öffnung des Odelwagens zu drehen. Doch E verließen die Kräfte. Er stürzte, stolperte unglücklich in die Jauchegrube und musste herausgefischt werden, bevor er dort unten erstickte. E stank, man reinigte ihn gründlich mit zugehaltener Nase. Eine glückliche Zeit war es nicht in dem Dorf. E geriet unter die Deichsel eines von einem Kaltblüter gezogenen Leiterwagens, als er unbesehen, so dachten die Eltern, aus dem Haus auf die Straße rennen wollte. Es blieb bei einer Schramme auf der Stirn. E war nun der Unglücksrabe und wurde statt Männlein Schnüffel genannt.