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"Dieses Buch muss raus in die Welt! So eine persönliche und ehrliche Geschichte mit so vielen Tipps, Anregungen und Tools habe ich noch nie gelesen." Kristin S., Freundin und Yogalehrerin Ich schildere in "Der Weg zurück in mein Herz" gefühlvoll, wie ich auf meinem bisherigen Lebensweg mein verlorenes Selbst- und Urvertrauen wiederfinde. Wie ich einen Lebensplan loslassen kann, um einen anderen mutig zu gestalten. Dieses Buch handelt von meinen Erfahrungen mit Depressionen und Krisen. Ein in jungen Jahren erlebtes Trauma, ein unerfüllter Kinderwunsch, jahrelange Hormonbehandlungen und eine Fehlgeburt werfen mich aus der Bahn. Meine beste Entscheidung: Hilfe suchen. Dieser erste Schritt führt mich nach und nach zurück in mein Herz. Wie ich das schaffe, zeige ich mit selbst geschriebenen Gedichten, Auszügen aus meinen Tagebüchern und aus Briefen. Die Lesenden lernen meine Herzensöffner kennen: meine Therapeutin, Yoga, meine Krafttiere. Ich stelle der Leserschaft die Fragen, Menschen, Ratschläge, Tools und Erkenntnisse vor, die mir geholfen haben, die Person zu sein, die ich heute bin. Mehr noch: Ich werfe Fragen auf und inspiriere die Lesenden, diese mutig auch mit ihren Herzen zu beantworten. Das Reisen empfinde ich als essenzielle Heilmethode. Deshalb nehme ich die Lesenden auch mit in meine Seelenheimat Costa Rica – und auf die spirituelle Reise zur Quelle meines wahren Seins. "Diese Geschichte ist berührend, inspirierend und macht Mut. Ich habe geweint, aber auch an vielen Stellen geschmunzelt und gelacht – so, wie es bei einem guten Buch sein soll." Anja B., Freundin und Vielleserin "Es kommt der Tag, an dem Mut dich an die Hand nimmt." Ann-Kristin Soyk nimmt uns mit auf ihren Weg, zu jahrelangen Kinderwunschbehandlungen, einer Fehlgeburt und Depressionen. Zu einem Trauma, das sie mit sechzehn erlitt und das erst zwanzig Jahre später heilt. Ihre Lebensgeschichte schenkt Inspiration. Sei mutig, sagt sie, triff deine Entscheidungen. Sie zeigt, dass ein Lebensplan zerbrechen und ein anderer entstehen kann. Therapie, Yoga, Reisen und ihre Seelenheimat Costa Rica führen Ann-Kristin zu ihrer Spiritualität und zurück in ihr Herz. Sie wünscht sich, dass dir ihre Geschichte den Mut gibt, deinen Weg zu finden und dich selbst zu verwirklichen.
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Seitenzahl: 388
Veröffentlichungsjahr: 2024
Prolog
Hier war ich schon einmal
Umzugskartons
Der Regenbogentukan
Abschied nehmen
Der Ozean ist unberechenbar
Ich brauche Hilfe!
Liebes, das Universum hat etwas anderes mit dir vor
Nur Mut!!!
Triff deine Entscheidungen
Meine Schubladen
Wer bist du?
Ich bin ein Reiseherz
Liebe auf den ersten Blick – im Doppelpack
Es bedarf innerer Stabilität, um zu fliegen
Wegbegleiter und Wegbegleiterinnen
Muttersein
Ein Jahr, acht Monate und sechsundzwanzig Tage
Was würdest du mehr bereuen?
Dank
Die Autorin
Cover
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
© 2024 Ann-Kristin Soyk · @_reiseherz_
Lektorat: Melissa Loh · lueckenlos-uebersetzungen.de
Satz u. Layout / E-Book: Büchermacherei · Gabi Schmid · buechermacherei.de
Covergestaltung: Corina Witte-Pflanz · OOOGRAFIK · ooografik.de
Bildquellen: Privatarchiv Autorin; AdobeStock #304988733, #308484850, #308484850, #612494339
Druck und Distribution im Auftrag des Autors/der Autorin: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg
Softcover: 978-3-384-41765-7
Hardcover: 978-3-384-41766-4
E-Book: 978-3-384-41767-1
Hallo, du Herzensmensch,
ich freue mich, dass du mein Buch in deinen Händen hältst, in dem ich über meinen Lebensweg mit allen Höhen und Tiefen schreibe. Es ist mein erstes Buch, das ich meiner Großmutter Johanna widme. Alle Namen der im Buch genannten Personen wurden zur Wahrung der Persönlichkeit geändert.
Mit meinen Erfahrungen und meinen Tools möchte ich dich inspirieren. Ich stelle mir vor, wie wir zwei zusammen am Strand spazieren gehen und wie gute Freunde offen und ehrlich miteinander reden. Während des Schreibens habe ich immer das Bild vor meinem inneren Auge, dass ich dir auf irgendeine Art und Weise helfen oder dich anregen kann, den nächsten Schritt auf deinem persönlichen Weg in Vertrauen und Liebe zu gehen. Du bist einzigartig und ein Wunder. Wir alle sind das. Ich hatte das sehr lange vergessen und meine Wertschätzung mir selbst gegenüber verloren.
Ich war voller Enthusiasmus, als ich den Entschluss gefasst hatte, mein erstes Buch zu schreiben. Dieses Bild von uns beiden rief ich ab, wie wir einander zuhörend auf das Meer blickten, dort zusammensaßen und du mein Buch aus deinem Rucksack hervorholtest. Das Buch in deinen Händen zu sehen, bedeutete mir so viel.
Mich erfüllt eine riesige Freude, wenn ich mir während des Schreibens vorstelle, dich mein Buch lesen zu sehen. Ich sehe dein Lächeln und vielleicht auch eine kleine Träne in deinem Augenwinkel, die Ausdruck deiner Berührung, Dankbarkeit, Hoffnung und Freude ist, all dieser Gefühle, die sich beim Lesen in dir regen. Diese Bilder vor meinem inneren Auge halten mich davon ab, aufzugeben, wenn Zweifel meinen Raum der Kreativität betreten. Sie treiben mich an, am Ball zu bleiben.
Die Tür zu meinem Herzen hatte ich nicht nur für die Außenwelt, sondern auch für mich selbst für lange Zeit verschlossen. Ich war der Überzeugung, dass ich mich damit schützen konnte, sodass ich meinem Kopf zu hundert Prozent das Kommando übergab und meine Intuition ignorierte. Es gab immer nur Schwarz und Weiß. Hoch und Tief. Hell und Dunkel. Entweder-oder. Kein Dazwischen. Widerstand, Anstrengung, Leid, Kummer, Kämpfen und selbstvernichtende Gedanken- und Verhaltensmuster begleiteten mich ständig. Ich erlaubte mir nicht, Pausen einzulegen. All das sei normal, dachte ich. Das ist halt das Leben. Ohne Fleiß kein Preis. Wer rastet der rostet.
Mein Tiefpunkt und schließlich Wendepunkt war eine Depression. Ich suchte und fand Hilfe. Mit dieser Entscheidung begann mein Weg heraus aus dem Tal der Depression und hinein in mein Herz. Dieser Hilferuf war der erste Schritt zurück zu mir und zu meiner Wahrheit. Ich habe die Schutzmauern um mein Herz zu Fall gebracht. Schritt für Schritt. Ich entschied, mich zu zeigen und wurde jeden Tag mehr ich selbst.
Heute gehe ich bewusst mit offenem Herzen auch die Gefahr ein, verletzt und enttäuscht zu werden. Zugleich steht mein Herz auch auf Empfang für all das Schöne, Gute und die Wunder, die das Leben für uns alle bereithält. Heute ist mein Herz weit und offen, ich meditiere und bin eine Yogini – on and off the mat. In meinem Leben scheint heute deswegen nicht jeden Tag die Sonne. Schwierige Herausforderungen, Tage der Melancholie, des Zweifelns, der Traurigkeit, Angst und Dunkelheit begegnen mir nach wie vor, aber ich bin heute anders aufgestellt als damals. Meine Lebensfreude ist meine Basis. Meine positive Energie, meine Liebe und mein Vertrauen in mich, meine Fähigkeiten und in das Universum – in Gott – lassen mich innerlich wachsen. All dies hilft mir, auch in stürmischen Zeiten gegenwärtig zu sein und meinen Optimismus zumindest nicht langfristig zu verlieren. Mein tiefer Glaube daran, dass alles aus einem bestimmten Grund passiert, lässt mich innehalten. Ich stelle mich der jeweiligen Situation. Annehmen und Reflektieren: Welche Aufgabe ist für mich in dieser Herausforderung verpackt, die mich in meiner Persönlichkeitsentwicklung wachsen lässt?
All die Fragen, Menschen, Ratschläge, „Werkzeuge“ und Selbsterkenntnisse, die mir in meinem Leben bis heute begegnet sind und mir geholfen haben, die Person zu sein, die ich heute bin, teile ich in diesem Buch mit dir. Ich liebe diesen Weg der Persönlichkeitsentwicklung, die mich lebenslang begleiten und erst am Tag meines letzten Atemzugs enden wird. Weil ich ein Reiseherz bin, freue ich mich über alle Kostbarkeiten, die mich auf meinem Weg begleiten. Eine dieser Kostbarkeiten ist die Dankbarkeit für dein Interesse an meinem Weg zurück in mein Herz.
Ich wünsche dir viel Freude und Inspiration auf deinem Weg des Wachstums und deiner Selbstverwirklichung.
Ann-Kristin
Ich zog meine Koffer hinter mir her und verließ das Flughafengebäude. Die warme Abendluft atmete ich tief ein, blieb stehen und zog meinen Pullover aus. Diese Wärme tat so gut. Lächelnd sah ich mich um. Über mir lag der funkelnde, mit Sternen übersäte Nachthimmel. Ich war glücklich. Es fühlte sich irgendwie vertraut an, hier zu sein.
Da hörte ich eine Stimme und drehte mich um. Ich wunderte mich, denn da war niemand, der mich ansprach. Schnell wurde mir klar, die Stimme, die ich wahrnahm, kam aus meinem Inneren und sie sagte zu mir: Hier war ich schon einmal.
Sie war leise, vielleicht auch noch etwas müde von dem zwölfstündigen Direktflug von Frankfurt, aber trotzdem voller Klarheit. Sie klang ruhig und sehr deutlich mit einem Hauch einer beglückenden Überraschung. Es war die Stimme meines Herzens. Eine kribbelnde, kraftvolle Welle floss aus meinem Herzzentrum durch meinen Körper – dabei jede einzelne Zelle berührend. Dieses Gefühl erinnerte mich an das Prickeln auf meiner Zunge, sobald das Brausepulver sich auflöste, das mich als Kind zum Kichern und Hüpfen gebracht hat. Jetzt schäumte dieses bunte, knisternde Gefühls-Brausepulver durch meinen gesamten Körper.
Dieser elektrisierende Energieschub hatte wohl zeitgleich meinen Kopf aufgeweckt, denn er erwiderte mit einem Mal hellwach: Wie bitte? Was redest du da? Du bist doch zum ersten Mal in dieser Stadt. Hey, was soll das denn jetzt? Das ist Blödsinn. Du bist zum ersten Mal in deinem Leben überhaupt in diesem Land. Kann doch gar nicht sein, dass du schon einmal hier gewesen bist. Du bist hier eine Fremde. Ja, das stimmte. Als Ann-Kristin war ich hier vorher noch nicht gewesen, doch ab dem Moment meiner Ankunft hier erfüllte mich ein tiefes Vertrauen. Ganz gelassen dachte ich sogar, dass ich mir ein Taxi nehmen, in die Stadt fahren und eine Unterkunft finden würde, falls ich den Reiseleiter nicht antreffen sollte. Ich war sorglos und unbeschwert.
Noch vor einigen Jahren belasteten mich Themen, die tief in meinem Unterbewusstsein schlummerten und mit ihrem Gewicht die Stimme meines Herzens mehr und mehr verstummen ließen. Innerhalb Deutschlands war ich mit all den mich belastenden Inhalten ein paar Mal umgezogen, ohne den ein oder anderen schweren Karton vorher auszupacken, um mit leichterem Gepäck weiterzureisen.
Heute höre ich meiner Herzstimme zu. Ja, ich höre sie! Ich folge ihr. Sie erklingt in einem kurzen Satz und manchmal kommuniziert sie mit mir nur in Form eines Bildes oder Wortes, ganz kurz. Es ist ein Impuls, der nur wie ein Windhauch die Haut berührt und wie feine Haare sanft kitzelt. Diese intuitive Stimme wird ab heute nicht mehr übertönt von meiner ohne Punkt und Komma quasselnden, auf Fakten pochende Kopfstimme. Dies ist lange Zeit der Fall gewesen. Heute haben beide gleichberechtigtes Stimmrecht. Ich verfolgte diesen nur wenige Sekunden andauernden Dialog zwischen Herz und Verstand und nahm tief in mir wahr, dass in diesem Moment etwas ganz Besonderes begann. Etwas Wundervolles. Magie lag in der Abendluft und vielleicht spürte sie sonst niemand, aber für mich war sie da. Es war meine Magie.
Mein umherschweifender Blick blieb auf dem hochgehaltenen gelben Schild des Reiseanbieters hängen. Okay, da war wohl mein Reiseleiter. Unsere Blicke trafen sich. Ich ging los, Schritt für Schritt auf ihn zu. Als ich vor ihm stand, sagte ich: „Hola“, nannte meinen Namen und – Juchu! – ich stand tatsächlich auf seiner Liste. Hier war ich richtig. Dieser Mann war der erste, den ich kennenlernte, von einer Gruppe, mit der ich die nächsten fünfzehn Tage verbringen würde. Er sprach mit mir. Seine Lippen bewegten sich, doch ich hörte nichts. Ich war versunken in meinen Gedanken.
Während ich zu dem Café ging, auf das er gezeigt hatte, schwirrten die Fragen in mir: Was passiert hier mit mir? Wer ist dieser Mann?
Da stand ich Ende 2013 mal wieder im Keller, mitten in einer der Aufräumaktionen, die seit dem Umzug immer noch gelegentlich nötig waren und da waren sie, die erwähnten Umzugskartons. Diese in meiner Außenwelt mit verschiedenen Dingen gefüllten Kartons verdeutlichten mir Folgendes: Sie alle spiegelten in meinem „inneren Keller“ Abgestelltes, lange nicht mehr Angesehenes und zum Teil tief im Unterbewusstsein Ruhendes wider.
Manche waren inzwischen schon ausgepackt und standen zusammengefaltet lässig an der Wand lehnend. Ich lächelte bei ihrem Anblick. Dann fiel mein Blick auf diejenigen, die irgendwie nicht ihren Platz fanden. Sie waren schon oft von links nach rechts verschoben worden. Kaum sichtbar waren die besonders schweren, von Spinnweben versiegelten Kartons, die ganz hinten in der Dunkelheit das beste Versteck im Kellerraum gefunden hatten. Sie waren regelrecht mit dem Fußboden verankert. Haben sie sich über die Jahre bereits der Farbe der Wand und des Fußbodens angepasst? Wie ein Tier, das nicht erkannt werden möchte, wenn es eins wird mit den Farben der Natur, die es umgibt? Aus ihrer guten Tarnung heraus flüsterten sie meinem Unterbewusstsein jedoch etwas zu: Lass uns nicht hier im Dunkeln verstauben. Zieh uns bitte ins Licht und wage es, noch einmal mit all deinen Sinnen in unsere Themenbereiche deines Lebens einzutauchen. Wir beschweren dich, solange wir hier unbeachtet mit dir verwachsen.
Mir kam dieses Bild der steilen Treppe in den Sinn, die in den Vorrats- und Heizungskeller und die anliegende Waschküche im Haus meiner Großeltern führte. Als Kind hatte meine Fantasie die schleudernde Waschmaschine zu einem Poltergeist verwandelt. Die klopfenden und zischenden Geräusche, die sich über die Heizungsrohre bemerkbar machten, fand ich unheimlich. Ist dort unten jemand, der gefangen ist? Oder ist es vielleicht auch eine gefährliche Person, die sich versteckt? Es hatte mich manchmal richtig Überwindung gekostet, hinunterzugehen, sodass ich immer ganz langsam eine Stufe nach der anderen nahm. Unten angekommen nahm meine leicht schwitzende Hand das Glas mit der Erdbeer-Rhabarber-Marmelade aus dem Regal, nach dem mich meine Großmutter Johanna dieses Mal geschickt hatte. Mmh, für einen Moment sah und roch ich die frisch aus dem Garten geernteten Früchte, die meine Großmutter in ihrer gemütlichen Küche zu diesem köstlichen Brotaufstrich verarbeitet hatte. In diesem Moment vergaß ich meine Angst.
Im Sommer tanzte ich gern in meinem blau-weißen Matrosenkleid – mich immer und immer wieder um mich selbst drehend – barfuß auf dem mit Gänseblümchen bedeckten Rasen im Garten, während meine Großmutter mit flinken Händen die Bohnen, Erdbeeren oder anderen Früchte Reihe für Reihe von den Pflanzen erntete und sich ihr Plastikeimer dabei in Rekordzeit füllte. Sie war konzentriert und lächelte, wenn sie mich ansah und ich ihr kichernd zurief, dass mir von den vielen Drehungen ganz schwindelig war. Dann lief ich zu ihr und meine kleinen Arme umschlossen ihren warmen Hals. Mein Großvater hielt seinen täglichen Mittagsschlaf in der im hinteren Teil des Gartens liegenden lauschigen Gartenlaube, die ganz zugewachsen und dadurch schwer einsehbar war. Wenn es regnete, fand ich es in ihr besonders gemütlich, da ich dann nur umgeben von den schönen Blumen, den Tieren und Naturgeräuschen war. Ich blätterte in einem der Bücher, die hier in einem schmalen Regal für eine kleine Auszeit standen oder sah hinaus in den üppigen Garten. Links und rechts an den zwei Fenstern hingen zarte Vorhänge, die meine Großmutter aus einem im Sonderangebot erstandenen mit Blüten besetzten, bunten Stoff genäht hatte. Mein jüngerer Bruder und ich schlichen zu gerne durch die Beete und naschten von dem reifen, süßen Obst, das direkt von der Hand in den Mund wanderte. Himbeeren, Erdbeeren, Stachelbeeren, Blaubeeren und Johannisbeeren waren hier alle in Fülle zu finden. Unsere Abenteuergeschichten wurden lebendig, wenn wir das verwilderte Grundstück der achtzigjährigen Nachbarin erforschten, die meistens im Haus und somit kaum anzutreffen war. Nur manchmal bewegte sich die Gardine, durch die sie kurz hinausblickte – oder war es der Wind, der für diese leichte Bewegung in dem sonst dunklen, stillen und scheinbar unbewohnten Haus verantwortlich war?
Zurückgekehrt von meinem kurzen gedanklichen Ausflug in den Garten, war es kindliche Neugierde, die mich nun doch dazu brachte, in den geräuschvollen Keller vorzudringen. Der Wunsch nach Aufklärung machte mich mutig, sodass ich bis zur nächsten Tür weiterging. Mit meiner freien Hand öffnete ich die Tür zum angrenzenden Raum, in dem die Quelle dieser unheimlichen Geräusche zu finden war. Durch den Spalt der geöffneten Tür sah ich nichts und niemanden außer der duftenden frischen Wäsche, die an der quer durch den Raum gespannten Wäscheleine zum Trocknen hing. Erleichtert und jetzt über meine Gruselgeschichte lachend, die in meinem Kopf entstanden war und sich so real angefühlt hatte, lief ich leicht und flink wieder hoch in die Küche. Ich umarmte meine Großmutter. Alles war gut.
Meine Großmutter war für mich wie eine zweite Mutter, mit der ich eine sehr enge Beziehung, eine besonders tiefe Verbindung, hatte. Ich verbrachte bereits als zweijährige ein paar Tage ganz alleine ohne meine Eltern bei meinen Großeltern in Dithmarschen. In der ruhigen Wohnstraße in ihrer Siedlung lernte ich drei Jahre später auf meinem roten Fahrrad das Fahrradfahren und ich erwischte meine Großmutter mit staunenden Kinderaugen, als sie als der „Osterhase“ durch den Garten hoppelte, Schokoladenostereier in den Beeten versteckte und ich meine Eltern fragte: „Ist Großmutter der Osterhase?“
Früh morgens unter ihre riesige Daunendecke in ihr Bett zu schlüpfen, wenn ich bei ihr übernachtete, um dort in dieses überwältigende Gefühl der Geborgenheit einzutauchen, mich dabei dicht an ihren warmen in ein Nachthemd gehüllten Körper zu kuscheln, lässt mich heute noch bei dieser Gedankenreise in meine Kindheit schnurren wie ein Kätzchen.
Oft fuhren wir hintereinander auf unseren Fahrrädern zu einem Bauernhof, der in der Nähe ihres Hauses lag. Unsere Haare wehten im Wind und ich beobachtete als junges Mädchen im Grundschulalter fasziniert und mit stolz geschwellter Brust, wie sie an jeder Straßenecke fröhlich Menschen grüßte, die uns zuwinkten und lachten. Von dem Bauern bekamen wir direkt im Kuhstall die warme Milch, die in die von meiner Großmutter mitgebrachten Behälter gefüllt wurde. Ich genoss diese ländlichen Erlebnisse, bei denen ich sie in ihrem Alltag auf ihren routinierten Touren durch die Kleinstadt in Dithmarschen begleiten konnte, als „Stadtkind“ ganz besonders.
Morgens saß ich halbwach im Schlafanzug auf der urigen Küchenbank, sah ihr dabei zu, wie diese fettreiche Milch auf dem Herd von ihr erhitzt und zu einem leckeren Kakao für mich angerührt wurde. Mein Großvater saß neben mir am Tisch und toastete ununterbrochen eine Brotscheibe nach der nächsten, um sie ordentlich in dem Toastbrothalter aufzureihen. Ich habe es nie verstanden, warum er das tat, denn sie kühlten ab, wurden pappig und ich fand es doch besonders lecker, wenn die Butter gemeinsam mit dem Honig oder der Marmelade auf der noch warmen, knusprigen Toastbrotscheibe zerfloss. Währenddessen alberte ich herum und setzte mir zum Spaß den geflochtenen Deckel des hellroten Eierwärmer-Korbs als Kopfbedeckung auf, bevor die noch im kochenden Wasser im Topf springenden Eier, die wir ebenfalls auf unserer tollen Radtour vom Bauern mitgebracht hatten, in diesen Korb gelegt wurden.
Eine glückliche Sommerferienerinnerung verbinde ich mit dem sechzehnten Juli 1991, als ich in Begleitung meiner sportlichen Großmutter auf dem Sportplatz in ihrer Kleinstadt mein deutsches Jugendsportabzeichen absolvierte. Der Prüfer notierte alle erreichten Zeiten und Entfernungen in den verschiedenen Kategorien: Zweihundert Meter Schwimmen, Hoch- und Weitsprung, Hundert-Meter-Lauf, Schlag- und Wurfball sowie Tausend-Meter-Lauf. Als ich mit vierzehn Jahren die Urkunde über das Bronzeabzeichen vom Dithmarscher Kreissportverband des Landessportverbandes Schleswig-Holstein e. V. in meinen Händen hielt, war ich sehr stolz.
Wenn sie backte, liebte ich es, die restliche – extra mit einem Vanillezucker-Tütchen gesüßte – Schlagsahne aus der Rührschüssel mit meinem dafür geschaffenen rund-gebogenen Zeigefinger – so wie sie es mir gezeigt hatte – zu naschen und den restlichen Kuchenteig von dem Knethaken des Handrührgeräts zu schlecken. Das tue ich heute noch und lächle mit geschlossenen Augen bei dem Geschmack auf meiner Zunge und dem Gedanken daran, wie ich ihr, während wir zusammen Kuchen backten, alle meine Fragen stellte und ich mich einfach unbeschreiblich wohlfühlte, wenn sie in meiner Nähe war.
Mit ihr zusammen war ich im Einklang – fröhlich, glücklich und zufrieden. Ich habe immer zu meiner Großmutter aufgesehen, habe sie bewundert und trug ihren Namen bei „mein Lieblingsstar / mein Idol“ in eines der vielen Freundebücher ein, die in der Schule an alle Klassenkameraden und Klassenkameradinnen weitergereicht wurden.
Und immer wenn ich mein Gefühl – so wie dieses – als Wort vor mir sehe, erhalte ich Klarheit und Antworten. Ich sortiere mich, indem ich meine Emotionen formuliere und aufschreibe. Das war schon immer so.
Als ich nun mit Mitte dreißig in meinem eigenen Keller stand, die Umzugskartons betrachtete und feststellte, dass ein nicht geheilter Schmerz einen zu großen Raum in mir einnahm, fühlte ich mich genauso wie damals mit sieben. Dieser Schmerz rumpelte wie dieser Poltergeist aus meiner kindlichen Fantasie bereits seit Jahrzehnten in mir. Mein „Keller“ war für mich angsteinflößend. Bisher war ich nicht so mutig gewesen wie das kleine Mädchen, das sich mit schwitzenden Händen seiner Angst gestellt hat.
Ich besaß ein paar Kartons, mit denen ich von meiner Geburtsstadt von der Ostseeküste in die große Hafenstadt, die über die Elbe mit der Nordsee verbunden ist, und von dort in ein norddeutsches Dorf mit weniger als tausend Einwohnern gezogen war. Keinen davon ließ ich irgendwo auf einem Rastplatz zurück. Ich fuhr nicht mit einem letzten, flüchtigen Blick in den Rückspiegel ohne sie weiter. Nein, sie begleiteten mich bei jedem meiner Schritte und jeder meiner Handlungen. Tag und Nacht, vierundzwanzig Stunden. Denn ihr Inhalt war in mir gespeichert. Jahrelang hieß meine Strategie Verdrängung, Verleugnung und Selbstbetrug, doch das führte nicht dazu, dass sie sich in Luft auflösten. Sie wollten, dass ich sie wahrhaftig ansah, tief in sie hineinblickte und mich mit ihnen auseinandersetzte, damit ich meinen Frieden finden konnte. Ich wollte nicht noch mehr Jahre bei jedem meiner Schritte und bei jeder Entscheidung von Schmerz, Wut, Verlustangst und Trauer erfüllt sein, die diese Altlasten mir auferlegten. Dieser eine schwere Karton rief immer lauter aus seinem Versteck: Du steckst fest. Deine Vergangenheit ist durch mich deine Gegenwart und wird auch deine Zukunft sein.
Ganz deutlich hatte ich das mal wieder kurz zuvor gespürt, als meine Eltern auf die kanarische Insel Fuerteventura in den Urlaub flogen und ich Stunden nach ihrer planmäßigen Landung kein Lebenszeichen von ihnen erhalten hatte. Meine Sorge, dass ihnen etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte, war sehr groß. Meine Angst vor dem Tod zeigte sich, denn meine irrationale Verlustangst – geliebte Menschen, wie meine Eltern, plötzlich verloren zu haben – war an diesem Tag das ausschließlich vorherrschende Gefühl in mir. Augenblicklich liefen vor meinem inneren Auge die schrecklichsten Szenarien wie in einem Film ab. In mir stieg eine Panik auf, da ich mit jeder weiteren Stunde mehr daran glaubte, dass sie tödlich verunglückt und mein Bruder und ich nun Waisen seien. Diese Gedanken nahmen mir meinen Atem und ließen mich regelrecht ohnmächtig durch meinen Tag laufen. Bis ich endlich voller Erleichterung den Telefonhörer auflegte und die glückliche Stimme meiner Mutter noch in meiner Ohrmuschel nachklang, die sagte: „Du weißt doch, keine Nachrichten sind gute Nachrichten. Das Flugzeug hatte eine Verspätung, aber uns geht es fantastisch. Wir mussten erst einmal eine Runde durch die Hotelanlage drehen, etwas essen und einen kurzen Spaziergang am Strand machen.“
Nach diesem Erlebnis, meine verstaubten Kartons im Keller im Blick, stellte auch ich mich schließlich dieser Angst, zu diesen ignorierten – und besonders diesem einen mit mir verwachsenen Umzugskarton – vorzudringen.
Es kommt der Tag, an dem Mut dich an die Hand nimmt. Es kommt der Tag, an dem die Bereitschaft dich dabei begleitet, hinein- und hinzusehen und dich den zigmal hin- und hergeschobenen verschlossenen und versteckten Kartons in deinem eigenen Tempo zu stellen und sie zu öffnen. An diesem Tag begann ich, indem ich einen Termin bei einem Hypnotiseur vereinbarte. Mit seiner Hilfe stellte ich mich einem meiner verschlossenen Umzugskartons. Vorher war ich nicht in der Lage, mich noch einmal emotional auf das einzulassen, was ich 1993 erlebt hatte.
Am dritten Oktober feiert Deutschland den Tag der DeutschenEinheit. Es ist ein Feiertag, doch für mich ist dieses Datum auch verbunden mit einem Abschied, der eine große Veränderung für mein Leben bedeutete. Ich hatte an diesem Tag meinen ersten Nervenzusammenbruch. Damals wusste ich das noch nicht. Diesen Zusammenbruch erlebte ich zu Hause, als mein Vater mir mitteilte, dass meine Großmutter gestorben war. Meine Beine hielten mich nicht mehr. Ich sackte zusammen und lag schreiend auf dem Teppich. Schnell stand ich wieder auf, riss mich zusammen – wie mein Vater es mir gesagt hatte – und rannte nach diesem Erlebnis noch schneller als vorher durch meinen Alltag. Ich war eine sechzehnjährige Jugendliche, die in die neunte Klasse der Realschule ging, ihre Klausuren alle bestand und sich bei einem Fachgymnasium, einer weiterführenden Schule, mit ihren guten Noten im Zeugnis bewarb. Dort erhielt ich vier Jahre nach diesem Zusammenbruch mein Abiturzeugnis. In diesen Jahren machte ich viel, war immer beschäftigt, aber eines tat ich nicht: an meine Großmutter und meinen großen Verlust denken. Eine Verarbeitung der Trauer fand nicht statt. Vor diesem tiefen Schmerz in mir rannte ich davon. Ich war ständig außer Atem.
Rückblickend weiß ich: In der Familie waren alle traumatisiert. Wir sprachen nicht über unsere Gefühle, unseren Schmerz und nicht über meine Großmutter. Wir durchliefen nicht gemeinsam die sogenannten Phasen der Trauer, um zu verarbeiten, was uns alle aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Jeder und jede von uns suchte sich einen eigenen Weg, um im Leben weiterzugehen und um irgendwie mit dem Tod der Ehefrau, Schwester, Mutter, Großmutter, Freundin – was sie auch für uns war – zurechtzukommen.
Neben der Schule machte ich an den Wochenenden eine zusätzliche Ausbildung zur Übungsleiterin, um im Sportverein Fitnessstunden und Jazzdance unterrichten zu dürfen. Als Teenager stürzte ich mich in die „Arbeit“, lenkte mich ab und forderte das Leben heraus, indem ich Risiken einging. Ich war richtig zornig auf das Schicksal oder darauf, was beziehungsweise wer auch immer dafür verantwortlich war, dass meine lebensfrohe, großherzige, überall beliebte und geliebte Großmutter Johanna so früh sterben musste. In mir schrie ich immer und immer wieder die Worte: Warum?! Das ist nicht fair! Ich ging über meine Grenzen hinaus und rief provokant aus meinem Inneren: Na, Gott! Bist du da, um mich zu beschützen? Oder lässt du mich genauso wie meine Großmutter im Stich?! In mir tobte eine Wut, die sich vollständig über meine Traurigkeit legte. Sie betäubte diesen Teil in mir, da ich nur so weitermachen konnte. Die Wut schützte mich vor einem erneuten Nervenzusammenbruch, den ich erlebt hätte, wenn ich mich ganz und gar meinen Gefühlen der Trauer hingegeben hätte.
Mir fehlte der Halt – der Zusammenhalt – und Austausch innerhalb meiner Familie. Es überforderte mich, mich dieser Traurigkeit allein zu stellen und diese zu verarbeiten. Deshalb griff ich nach dem Rettungsring Wut. Sie feuerte mich an. Ja, im wahrsten Sinne des Wortes: Sie entzündete ein Feuer in mir, das brodelte, meinen Motor am Laufen hielt und auch vieles, an das ich vorher geglaubt hatte, verbrannte. Sie lenkte mich ab. Sie veränderte mich. Das erkannte ich jedoch erst viele Jahre später.
Zwei Jahre schrieb ich kein Wort über dieses traumatische Erlebnis, obwohl mir das Schreiben schon immer geholfen hatte, in mir Schlummerndes genauer zu betrachten. Sämtliche Gedanken an meine Großmutter verdrängte ich, da ich sofort von dem Schmerz überwältigt wurde, sobald ich mich diesem „Karton“ nur näherte und ihn vorsichtig berührte. Ich war noch nicht bereit oder im Stande dazu, mich zurück in dieses halbe Jahr ihrer schweren Krankheit zu versetzen. Im Sommer 1995 schrieb ich das erste Mal ein paar Zeilen in mein Tagebuch, mit denen ich versuchte, mein Trauma zu verarbeiten:
Ich würde gerne mit meiner Großmutter zusammen sein, wie früher. Ich möchte sie umarmen, riechen, spüren, lachen hören, sehen, mit ihr joggen, tanzen, feiern, bummeln und reden. Ja, ich möchte für alles in der Welt mit ihr reden können. Manchmal fühle ich mich ihr auch heute noch sehr nahe. Sie wollte uns noch Kraft geben, dass wir es nicht zu schwer sehen und nehmen sollten, wenn sie immer wieder zu uns sagte: „Nicht weinen. Ich sterbe nicht. Ich gehe nur für längere Zeit von euch weg.“ Ich glaube, sie hätte mir noch viel auf meinem Weg mitgeben können. Sie hätte mir die Kraft und Stärke gegeben, die ich brauche und nun woanders suchen muss. Es war verletzend und erschütternd, mit anzusehen, wie eine Krankheit, die sich Krebs nennt, einem Menschen in wenigen Monaten all seine Lebensenergie nimmt. Erschöpft sah sie mich an, wenn ich sie besuchte.
Wir saßen auf der schmalen, alten und windgeschützten Holzbank im Hinterhof ihres Hauses und sprachen über Gott und die Welt, als sie meine Hand nahm und sagte, dass es zu schön sei, dass sie uns alle hat. Dass ihre ganze Familie sie liebt, wir sie in uns weiterleben lassen und sie nie vergessen werden. Ich atmete ihren Geruch ein und wollte sie gar nicht wieder loslassen. Wir sahen uns in die Augen und ich dachte nur mit einem Kloß im Hals, der immer dicker und gewaltiger wurde, wie sehr ich sie liebte, schätzte und wie wichtig sie mir war. Laut aussprechen konnte ich es nicht. Ich hatte keine Kraft, gegen den Kloß im Hals anzugehen. Ich schluckte. Er blieb. Ich schluckte noch mal. Er wuchs.
Es war unsere letzte Umarmung, in der wir uns als Großmutter und Enkeltochter festhalten konnten. Wenige Tage später ist sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht ruhig eingeschlafen, zu Hause mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern. Sie hatte keine Schmerzen mehr. Sie brauchte keine Medikamente mehr. Sie war auf keine Hilfe mehr angewiesen. Sie war frei. Frei von allem Schmerz, der ihr Leben zum Schluss nur noch zu einer Qual machte. Es war für keinen von uns leicht, sie leiden zu sehen. Hilflos zu sein, ist schwer zu akzeptieren. Vielleicht war der Tod für sie schon die gewisse Rettung. Eine Erlösung aus diesem Leiden, das diese Krankheit mit sich brachte.
Es vergingen weitere zwei Jahre seit diesem ersten Tagebucheintrag, doch bei all den Aktivitäten und Ablenkungsmanövern suchte sich meine Traurigkeit doch einen Weg, gehört zu werden. In stillen Momenten machte sie sich bei all dem Trubel, den ich selbst kreierte, bemerkbar. Und ich fing wieder an, ihre an mich gerichteten Worte aus meinem Inneren aufzuschreiben. Als inzwischen zwanzigjährige junge Frau vertraute ich meinem Tagebuch Folgendes an:
Ich kann mir selbst nicht vergeben, dass ich meiner Großmutter nicht noch einmal gesagt habe, wie sehr ich sie geliebt habe. Zu ihrer Beerdigung konnte ich nicht mitgehen, da ich zu aufgewühlt war. Ich hatte nicht die Kraft, gemeinsam mit der gesamten Familie zur Kirche und zum Friedhof zu gehen. Heute habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich mich an diesem Tag wie ein kleines Kind auf dem Dachboden versteckt und mich dieser Situation nicht gestellt habe. Die halbe Stadt war zu der Beerdigung erschienen. Meine Familie ging durch ein Spalier von Menschen, die weinten und trauerten. Sie hörten von hunderten, mitunter auch fremden Menschen „Mein herzliches Beileid“, schüttelten Hände und blieben dabei aufrecht stehen. Ich blieb im leeren Haus meiner Großeltern, verkrümelte mich in ein Zimmer. Hier war es still. Ich sah mir alle Fotoalben der Reihe nach an, die ich im Bücherregal fand, und weinte leise.
Jetzt denke ich an den Sommerurlaub 1993 in Frankreich, als ich in der Hängematte liegend in den weiten Sternenhimmel hochgesehen habe. Mein Blick hatte sich in den unendlich vielen hellen Lichtern, Punkten und Zeichen verloren, die am Himmel erschienen waren. Ich liebe Sterne! Ich habe gebetet, dass Großmutter wieder gesund werden würde, dass sie den Krebs bekämpfen und nach und nach neue Kraft tanken möge. Eine große Hoffnung hatte ich in mir, dass sie wieder die fitte, kraftvolle, lustige, aufgeweckte und lachende Frau würde, die sie immer war.
Seit ihrem Tod glaube ich an das Schicksal, daran, dass jedem Menschen eine bestimmte Zeit vorgegeben ist, leben zu dürfen. Als ob bei der Geburt eine Uhr aufgezogen wird und „tick tack, tick tack“ Sekunde für Sekunde abläuft. Bei dem einen Lebewesen gibt es neunzig Jahre, bei jemand anderem nur vier Jahre und meine liebste Großmutter hatte siebenundfünfzig Lebensjahre, um als Mensch auf dieser Erde zu sein. Ich denke an sie und vermisse sie.
Im Februar 2014, als ich zu meinem ersten Termin mit dem Hypnotiseur ging, war ich sehr aufgeregt. Einen kurzen Moment zögerte ich, als mein Zeigefinger über dem Klingelknopf schwebte. Sollte ich wirklich in diese Praxis und in meine Vergangenheit hineingehen?Ja, ich klingelte. Aus dieser Sackgasse wollte ich heraus. Mein Wunsch war es, dieses Schuldgefühl, das auf mir lastete, aufzulösen, eine Lösung zu finden, die mich in die Selbstvergebung führte. Zu lange wurde ich hier an dieser Stelle schon mit hartnäckigem Klebstoff, der an meinen Fußsohlen haftete, festgehalten. Schließlich erlebte ich inzwischen, wie dieser nicht verarbeitete Schmerz und diese Verlustangst mich auch in anderen Lebensbereichen und in zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflusste.
Mit dem Hypnotiseur zusammen, nicht allein, stellte ich mich diesem einen besagten, mit Spinnweben besetzten Karton, der zwanzig Jahre zwischengelagert war. Er half mir, ihn hervorzuholen, zu öffnen und mich Sitzung für Sitzung an seinen gesamten Inhalt zu erinnern. Ich begann, in mein Unterbewusstsein zu reisen. In dieser ersten Hypnose führte mich der Arzt zurück zu dem Tag, an dem meine Großmutter und ich uns umarmten, tief in unsere Augen sahen und still leb wohl sagten. Ich begann zu weinen. Mein gesamter Körper lag nicht mehr entspannt, sondern wie ein Flitzebogen aufgespannt auf der Liege. Ich begann zu zittern – vor Überspannung. All der Schmerz, der in jeder Zelle meines Körpers gespeichert war und durch die fehlende Verarbeitung dort seit zwei Jahrzehnten festsaß, erhielt die erste Chance, sich zu lösen. Mein ganzer Körper schüttelte sich und währenddessen weinte ich all die zurückgehaltenen Tränen. Als der Hypnotiseur mich zurückholte, lag ich vollkommen erschöpft und sprachlos auf dieser bequemen, weich gepolsterten Liege. Vorher hatte ich keine konkrete Ahnung gehabt, wie ich diesen Trancezustand der Hypnose erleben würde, aber mit dieser extremen körperlichen Reaktion hatte ich keineswegs gerechnet. Noch einige Tage später hatte ich Muskelkater, als ob ich ein außergewöhnlich starkes Training absolviert hätte. Im gewissen Sinne hatte ich genau das getan.
Den ersten Schritt hatte ich geschafft, indem ich es noch mal durchlebt hatte. Meine Mama hatte mir immer wieder gesagt, dass es nicht notwendig gewesen sei, ihrer Mutti noch mal zu sagen, dass ich sie liebte, da sie es wusste. Sie meinte, dass ich mich mit diesem Gedanken nicht länger quälen sollte. Aber ich musste es mir selbst vergeben können. In der Begleitung des Hypnotiseurs konnte ich emotional diesen Abschied erneut durchleben. Dieses Mal spürte ich, dass in unserem Blick, den wir lange hielten, unsere gesamte Liebe füreinander lag und deutlich sichtbar war. Ich fühlte in dem Hypnose-Zustand unsere gegenseitige große Liebe während dieser Begegnung mit ihr. Die Worte „ich liebe dich“ mussten sich damals gar nicht durch den Kloß in meinem Hals kämpfen. Unsere Seelen sprachen über unsere Augen miteinander. Als ich das verstanden hatte, begann ich, mir zu verzeihen.
Mit jeder weiteren Hypnose-Sitzung fiel mehr und mehr Licht durch den geöffneten Deckel des Kartons, in den ich alles geschmissen hatte, was mich an meine Großmutter erinnert hatte. Ich sah und erlebte Momente und gemeinsame Erlebnisse mit ihr, die von Fröhlichkeit, Lachen und Geborgenheit erfüllt waren. Diese schönen Erinnerungen waren vollkommen überdeckt gewesen von den sechs Monaten ihrer schweren Krankheit und dem schmerzerfüllten Abschied. Es war pure Heilung, diese wunderschönen Erinnerungen, die einen viel größeren Anteil unserer gemeinsamen Zeit ausmachten, wieder emotional in mein Bewusstsein zurückzuholen.
Während jeder weiteren Hypnose-Reise in meine Vergangenheit, tauchte ich tiefer und tiefer in diesen Umzugskarton ein. Nach jedem Hypnose-Tauchgang, schwimmend in meiner Unterwasserwelt, stieg ich an der heller werdenden Oberfläche erleichtert auf. Ich kam mit weniger Trauer und Wut in mir leichter in mein gegenwärtiges Leben zurück. Bei jedem Zug bemerkte ich, wie ich mich von dem Schmerz befreite. Ich saß nicht mehr in meinen Selbstvorwürfen fest, diesen sich immer wiederholenden Vorwürfen, nicht mehr alles gesagt zu haben und den Vorwürfen, die ich gegen Gott gerichtet hatte. Allmählich nahm Dankbarkeit für sechzehn gemeinsame Jahre mehr und mehr Raum in mir ein.
Mit der Hypnose schaffte ich es, dieses Trauma zu heilen. Ich fand Frieden. Mit dem Tod meiner Großmutter hatte ich auch all das Schöne der gemeinsamen Jahre verdrängt. Als der Schmerz, die Selbstvorwürfe, die Wut und die Trauer in mir Heilung fanden, hatten all die glücklichen und lichtvollen Momente mit ihr die Chance, sich auch wieder von der Last zu befreien und sich zu zeigen. In meinem inneren Raum entstand neuer freier Platz, als ich diesen Umzugskarton zusammenfaltete und zu den anderen an die Wand stellte.
Die Liebe, Warmherzigkeit, Freude und Weisheit meiner Großmutter werden immer in meinem Herzen bei mir sein.
Es war der neunundzwanzigste Februar 2020 und mein Reiseziel war Costa Rica. Bevor ich ins Flugzeug einstieg, machte ich ein letztes Selfie in Deutschland, am Flughafen Frankfurt Main. Zügig hatte ich meinen Sitzplatz 16G gefunden, meinen türkisfarbenen Trolley über mir in dem Fach verstaut und richtete mich hier jetzt für die nächsten zwölf Stunden gemütlich ein. Auf diesem Flug hatte ich mir erstmalig einen Sitzplatz mit mehr Beinfreiheit gegönnt. Freudestrahlend über diesen Luxus räumte ich alle meine Sachen aus meinem dunkelblauen Rucksack aus. Ordentlich sortierte ich sie um mich herum in die vorhandenen Taschen und Lücken, die ich finden konnte. Mit meinem kleinen Kuschelkissen und meiner eigenen Decke baute ich mir ein gemütliches Reise-Nest. Mein Hoody und meine Schlafmaske machten dieses Wohlfühlpaket für mich komplett, sodass ich sicher war, während des Flugs gut schlafen zu können. Ich liebe Langstreckenflüge und bin jedes Mal dabei wie ein kleines Murmeltier. Meine Ohren verschließe ich mit meinen Ohrstöpseln, die mich nahezu vollkommen von der Außenwelt abschotten. Anschließend rolle ich mich in meine kuschelige Decke ein. Wenn alles bequem ist, lasse ich die Jalousien herunter. Die Kapuze meines Pullovers und meine Schlafmaske vervollständigen alle meine Vorrichtungen für einen erholsamen Schlaf. Die kleine Mumie, zu der ich da werde, wird meistens erst durch den Geruch frischen Kaffees oder Essens geweckt, den ich irgendwann wahrnehme und der eines meiner Grundbedürfnisse aktiviert. Zusammengefasst verbringe ich so einen Langstreckenflug mit Essen, Schlafen, Filmegucken und wieder Schlafen. Herrlich! Meine durchsichtigen Täschchen mit Globuli, Kosmetikartikeln und Glücksbringern, mein Reisetagebuch sowie meine Kopfhörer und eine Wasserflasche hatte ich wie immer griffbereit verstaut. Ich schaute mich um, mit wem ich die nächsten Stunden verbringen würde und lächelte. Voller Vorfreude war ich glücklich und startklar. Von mir aus konnte es losgehen. Ein neues Abenteuer begann.
Ich hatte eine Rundreise gebucht. Keine Reise, bei der ich allein im Mietwagen das Land bereisen wollte. Nein, ich ließ mich auf eine Gruppenreise ein. Die zweite in meinem Leben. Diese hatte ich gebucht, bevor ich die erste überhaupt angetreten war. Verrückt, wenn man bedenkt, dass ich zu dieser Reiseform immer eine vorgefasste Meinung hatte. Gegenüber Gruppenreisen war ich sehr lange skeptisch eingestellt. An dieser Stelle möchte ich ehrlich zugeben, dass ich sehr schnell eine ziemlich überhebliche, ja, intolerante Vorstellung von den Menschen, die in einer Gruppenreise unterwegs waren, hatte. Pauschal hatte ich, ohne jemals eigene Erfahrungen gemacht zu haben, ein Bild in meinem Kopf, sodass ich immer überzeugt war, dass das nichts für mich ist, da ich eine Individualistin bin. Meine Meinung war, dass das ja schon spezielle Leute sind, die sich bei einer Gruppenreise anmelden. Mmh, bin ich nicht eine ziemlich spezielle Type? Ja, ohne Wenn und Aber. Außerdem war ich irgendwann selbst über meine Intoleranz erschrocken, weshalb ich mich entschied, mich für diese neue Erfahrung zu öffnen, und während meiner Planung auch die vielen Vorteile dieser Reiseform näher betrachtete und diese schließlich zu schätzen wusste.
Direkt nach der Landung in San José, an einem Flughafencafé, traf ich sie, „meine“ Gruppe für die nächsten fünfzehn Tage. Nachdem der Busfahrer uns für die erste Übernachtung in unser Hotel gefahren hatte, packte ich das Notwendigste aus und machte mich bettfertig. Beim Zähneputzen entdeckte ich eine Ameisenstraße in meinem Badezimmer, auf der unzählige, riesige Exemplare unterwegs waren. Ich redete mir ein, dass ich ihnen den Weg in Richtung meines Betts mit zusammengerollten Decken versperren könnte, die ich vor den Türschlitz zwischen Badezimmer und Schlafzimmer legte. Mit dem Gedanken schlief ich beruhigt ein. Während meine Augenlider schwerer wurden, hörte ich noch Musik aus der fernen Umgebung der Straßen San Josés und war voller Freude, was der nächste Tag für mich bereithielt. So hatte ich mich auch als Kind immer gefühlt, wenn ich leise glucksend unter meiner Bettdecke kicherte, wenn ein Familienausflug, mein eigener Geburtstag oder der ersehnte Besuch des geheimnisvollen Weihnachtsmannes für den kommenden Tag anstanden. Am liebsten wollte ich jetzt sogar juchzend auf der Matratze auf und ab hüpfen, wäre meine Müdigkeit nicht stärker gewesen.
Am nächsten Morgen führte unsere Reiseroute heraus aus San José bis an die Karibikküste. Der kleine Reisebus rollte über die Straßen zu den Rhythmen von Bob Marley, die aus den Boxen direkt in unsere Adern flossen und mich sogar dazu veranlassten, auf meiner Sitzbank mitzuschwingen und zu singen. Zugleich „filmte“ ich während der Fahrt die Landschaft mit meinen Augen und mit meinem Herzen. Nach ein paar Tagen, die wir in einer wunderschönen Lodge auf dem Festland verbracht hatten, hielt der Bus an einem Bootsanleger an. Von dort fuhren wir in einem kleinen Boot in den Tortuguero-Nationalpark.
Da saß ich nun auf der Veranda vor meinem Stelzenbungalow, als einer der örtlichen Guides daran vorbeikam und mir einen Tipp gab. Ich hatte ihn nicht vollständig verstanden, aber irgendetwas gab es wohl ganz in meiner Nähe zu sehen. Freundlich bedankte ich mich bei ihm und machte mich schleunigst auf den Weg in die Richtung, die er mir gezeigt hatte. Nur wenige Schritte später entdeckte ich ihn. Hoch oben auf einem Ast sah ich zum allerersten Mal in meinem Leben einen Tukan – einen wunderschönen Regenbogentukan. Ich war sofort absolut verzaubert von seinem Anblick. Sein Schnabel sah aus wie eine Leinwand, auf der mit viel grün, orange, blau und rot ein Regenbogen mit Tusche gemalt wurde. Im Vergleich zu seinem kleinen Körper und Köpfchen war er riesengroß und schön bunt. Die Größe des Schnabels ließ mich vermuten, dass dieser auch ein entsprechendes Gewicht hatte, doch ich erfuhr später von unserem Reiseleiter, dass Tukan-Schnäbel federleicht sind und diesen wunderschönen Lebewesen nicht nur als Schmuckstück dienen, sondern auch zur Temperaturregulierung des Körpers. Ein Tukan befördert sein Blut in den Schnabel, um Wärme abzugeben. Durch die Umgebungsluft wird das Blut im Schnabel kühler. Das abgekühlte Blut fließt von dort durch seine Blutbahnen und kühlt seinen gesamten Körper ab.
Der Regenbogentukan posierte auf seinem Ast wie ein Model für mich. Er drehte sein hübsches Köpfchen nach links und rechts, blieb ruhig in einer Pose sitzen und ich stand beeindruckt da und lächelte. Nachdem ich ein paar tolle Fotos von ihm auf meiner Speicherkarte hatte, schaute ich ihn mir noch sehr lange an. Ich beobachtete ihn und war fasziniert von seiner Schönheit. Dabei war ich im Hier und Jetzt, vollkommen fokussiert. Ich tauchte ein in die Geräusche des Nationalparks und begann meine innige Freundschaft mit diesem Regenbogentukan. Eine riesige Dankbarkeit für diesen Moment – für diese Begegnung – erfüllte mich. In diesem Augenblick war es mir noch nicht bewusst, doch dieses Tier hatte mich tief berührt, sodass es seitdem symbolisch für meinen Weg der Entfaltung steht. Der Regenbogentukan ist mein Symbol für den Ort, an dem ich das Gefühl hatte, nach Hause zu kommen. Neben all den wunderschönen, einzigartigen, zuvor nie gesehenen Tieren hat mich diese stille Begegnung mit dem Regenbogentukan am tiefsten in meinem Herzen berührt und bewegt.
Zu Hause in Deutschland begleitet er mich darum in Form von Souvenirartikeln in allen erdenklichen Formen, die ich seit unserer Begegnung auf der weiteren Reise in unterschiedlichen Geschäften entdeckt habe. Morgens sehe ich ihn auf meinem Kaffeebecher oder im Kalender an meiner Wand. Als Magnet, Fotografie oder Ohrring fliegt er mit mir durch meinen Alltag. Er lacht mich von vielen Wänden und Ecken in meiner Wohnung an. Sein Anblick verbindet mich wieder mit diesem tiefen Gefühl, das ich spürte, als ich aus dem Flughafengebäude trat: Hier gehöre ich hin.
In Costa Rica lernte ich Pura Vida. Pura Vida ist ein nur hier benutzter Ausdruck. Wörtlich übersetzt bedeutet er „wahres, pralles oder reines Leben“. Pura Vida ist eine Lebensphilosophie und ein Lebensstil. Die Essenz des Begriffs ist die tiefe Dankbarkeit, zu leben, das Leben zu genießen und den Fokus auf Negatives zu vermeiden. Pura Vida bedeutet, das Leben, die Erde – Mutter Erde, Pachamama – und ihre Geschöpfe zu schätzen. Die Einheimischen in Costa Rica nennen sich Ticas und Ticos und sie konzentrieren sich auf die positiven Dinge im Leben, darauf, glücklich zu sein. Sie nehmen die Dinge so an, wie sie kommen. In meinem Herzen fühle ich mich wie eine Tica.
Während dieser Reise bedauerte ich es nicht zum ersten Mal sehr, dass ich kein Spanisch konnte. 2017 hatte ich bereits in meinem Tagebuch festgehalten, dass ich Spanisch lernen wollte. 2019 in Barcelona vermisste ich es erneut, mich nicht mit den Einheimischen unterhalten zu können. Jetzt begann ich langsam, zu verstehen, warum ich mich schon immer zu dieser Sprache hingezogen fühlte. Meine Seele wusste schon Jahre vor mir, dass ich 2020 nach Hause kommen würde und dafür Spanisch sprechen und verstehen sollte. Meine Kommunikation erfolgte mit all diesen freundlichen, fröhlichen und herzlichen Menschen über Mimik, Gestik und durch Lachen. Neben wenigen spanischen Worten verwendete ich noch ein paar meiner mickrigen Englischkenntnisse und war ziemlich unzufrieden, dass ich nicht auf den ersten Impuls damals gehört und Spanischunterricht genommen hatte. Ich hätte mich sehr gerne mit ihnen allen unterhalten, deswegen begann ich nach meiner Rückkehr über eine App, mich langsam mit dieser Sprache, die für mich wie ein temperamentvoller Gesang klingt, vertrauter zu machen. Doch eines hatte ich bereits am zweiten Tag gelernt: Wenn du nichts verstehst, antworte mit einem langen rollenden rrr: „Purrra Vida!“Das ging immer und es machte einen Riesenspaß. Pura Vida floss ab sofort durch meine Adern.
Auf der weiteren Reise verzauberte mich der Nebelwald in Monteverde. Hier erwachten meine Urinstinkte, als der Herzschlag des Waldes sich mit meinem Herzschlag verband. Wahre Verbundenheit. Die Baumstämme kleideten sich in herb duftende Moosmäntelchen. Dichte Nebelschwaden zogen durch die Baumkronen und berührten mein Gesicht. Meine Nase war kalt von dieser nassen Luft und meine Wangen waren rosig errötet, wie bei frisch Verliebten. Die Wolken hinterließen auch ihre Spuren in den Zweigen; in klaren Tropfen verweilten sie auf den zarten Blättern. In ihnen spiegelten sich die frischen Grüntöne. Die Wasserperlen begannen in den ersten Sonnenstrahlen zu glitzern, die dieser Wolke folgten und allen Lebewesen – und auch meiner Nase – die wohltuende Wärme schenkten. Lichtreflexe ließen die verwunschene Gegend, diesen Ort des Ursprungs in einem Anblick erscheinen, dass eine Welt mit Feen und anderen magischen Wesen einem nicht eigenartig erscheinen würde. Irgendwann waren die runden Wassertropfen verdunstet und in der Zauberwelt aufgegangen. Erwacht bin ich. Aufgewacht bin ich an diesem Ort in Costa Rica. Ich spürte das Leben in mir und in allem, was mich umgab. Sanft streichelte ich das weiche Moos. Meine Fingerspitzen berührten es, als ob es zerbrechlich wäre. Sind wir das letztendlich nicht alle? Starke und zugleich auch zerbrechliche, wundersame Wesen? Das Moos war wie eine grüne hoffnungsvolle kuschelige Wolldecke, die den Baum wärmend umschloss. Tief atmete ich den Geruch von Mutter Erde ein. Wie kraftvoll eine Umarmung der Natur doch ist. Welche Ruhe in einem bewussten tiefen Atemzug liegt.
Hoch über den Baumkronen stehend war die Sicht von den Hängebrücken, die es in diesem Wald gab, überwältigend. Mein Blick ruhte auf den Baumkronen und langsam sah ich den Tanz der Bäume. Die vielen verschiedenen Grüntöne begannen wie Farben auf einer Leinwand in dieser Bewegung der tanzenden Baumkronen und der Feuchtigkeit der Luft ineinander zu fließen. Es war, als ob alle einzelnen grünen Nuancen aus einem Farbkasten sich miteinander vereinten und der Pinselstrich eine neue Farbe erschuf. Der nächste Windstoß schien jeden einzelnen Baum wachzurütteln, indem er ihm zuraunte: Buenos días. ¿Qué tal? Die Baumkronen drehten sich um sich selbst und fanden ihren eigenen einzigartigen Rhythmus. Doch in der Gesamtbetrachtung aus der Vogelperspektive dieser Hängebrücke sah ich einen Tanz aller Beteiligten in einer vollkommenen Einheit und Harmonie, die mich mit einer überwältigenden Freude erfüllte. Dieses Einssein spiegelte sich in meinen lachenden blau-grünen Augen wider, als meine Tränen der Glückseligkeit im Sonnenlicht glänzten, wie die wasserverlaufenen Farben des Ozeans.
In meiner Fantasie drehten sich die Baumkronen der Waldköniginnen und -könige wie die Schallplatten, die ein DJ mit seinen Händen in eine kreisende Bewegung versetzte. Die fließende Energie wurde für mich sicht- und spürbar. Das Om-Mantra schwamm durch die Baumkronen und zog zarte, reinigende Fäden von einem Blatt zum nächsten Ast. Von dort zum Tier und fortgesetzt wurde dieses Bindeglied zum Menschen.
Jeder Baum entsteht aus einem kleinen Samen, den der Wind, ein Tier oder Mensch mit sich trägt und auf fruchtbaren Boden fallen lässt. Die ganze Entfaltungsmöglichkeit des Baums liegt schon in dem Samen. Mantra ist ein Wort aus dem Sanskrit, einer sehr alten indischen Sprache, und bedeutet Schutz des Geistes. Wenn der Verstand unruhig ist, befreien Mantras uns von den Gedanken, die uns ablenken oder uns mit der Außenwelt identifizieren lassen. Das Om-Mantra besteht aus den drei Tönen A, U, M und wird als der kraftvollste Klang des Universums bezeichnet. Dieses Mantra wird auch als „das kosmische Ja“ übersetzt. So wie der kleine Samen bereits das volle Potenzial des Baums in sich trägt, liegt in dem heiligen Klang des Om-Mantras, das auch als Samen-Mantra benannt wird, die ganze Wirkungsfähigkeit des Universums.
