Der Weltenwandler - Tanja Kummer - E-Book

Der Weltenwandler E-Book

Tanja Kummer

4,8

Beschreibung

Mehr als acht Jahre regiert Königin Grace nun alleine über Tybay. In all der Zeit gab es nie ein Lebenszeichen von ihrem Ehemann Shawn oder dem Dunklen Wesen, welches ihn entführt hatte. Dann taucht plötzlich ein tot geglaubter Verbündeter auf: Faija. Er hat den König und das Etwas auf einem anderen Planeten gefunden. Während Grace ihrem Schicksal folgt und sich der Dunklen Bedrohung erneut entgegen stellt, steht Tybay ein weiterer Krieg bevor. Die Velenzen, welche einst das ganze Volk der Uiani ausrotteten, drohen nun Tybay zu verschlingen. Prinz Necom, gerade mal sechzehn Jahre, sieht sich als Regent seiner größten Herausforderung gegenüber. Und dann ist da noch der letzte Uiani Anders, der blind vor Rache Tybay und die junge Prinzessin Anastasia in tödliche Gefahr bringt.

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Tanja Kummer

Der Weltenwandler

Roman

Leseratten Verlag

Tanja Kummer

Der Weltenbezwinger

ISBN 978-3-945230-01-5

1. Auflage, Backnang 2014

Copyright Leseratten Verlag, Marc Hamacher

71522 Backnang

© Alle Rechte vorbehalten

www.leserattenverlag.de

www.tanjakummer.de

Diesen Teil widme ich meinen Helfern, die mit mir daran gearbeitet haben. In Guten, wie an schlechten Tagen.

Danke!

Diesen Roman widme ich meinen Lesern, in der Hoffnung, dass sie ihn genau so gerne lesen werden, wie ich ihn geschrieben habe.

Danke!

Erinnerungen

Mehr als acht Jahre waren vergangen, seit das Etwas mit Shawn War entkommen war. Grace hatte nicht geglaubt, ohne ihren Mann weiterleben zu können. Zu Anfang waren die Nächte so einsam gewesen, dass sie keinen Schlaf fand. Weinend hatte sie endlos lange Stunden im Bett verbracht. Zusammen mit den Erinnerungen an seinen warmen Körper, seinen Berührungen, sein Wissen nach ihren Bedürfnissen und die Vertrautheit seiner Nähe. Doch die Jahre der Einsamkeit hatten einen dämpfenden Schleier gebracht. Jetzt weinte sie nur noch selten. Allerdings würde sie niemals die Kraft vergessen, mit der er sie geliebt hatte.

Die Tage verstrichen in dumpfen, trostlosen Stunden, die nur Arbeit beinhalteten. Und die vielen kleinen Dinge des Alltags waren es, welche ihr Stiche des Schmerzes versetzten. Seine Pantoffeln neben dem Bett. Der Siegelring im Arbeitszimmer, wenn sie die Briefe aufsetzte. Alles war noch genau so, wie er es verlassen hatte und wartete auf seine Rückkehr. Ihre Kinder erinnerten Grace besonders oft an Shawn. Sie liebte sie über alles, doch gleichzeitig wollte sie vor Verzweiflung schreien, wenn sie Necom, Anastasia und Jamie sah. Sie waren ihm so ähnlich. Ihre Körperhaltung, ihre Bewegungen oder einfach nur ihre Blicke.

Die fast neun Jahre, in denen der König vermisst wurde, hatten viele Veränderungen gebracht. Grace hatte nicht nur gelernt, Tybay als Königin zu regieren, sondern dieses auch endgültig mit dem ehemaligen Dunklen Reich vereint. So kam es, dass dieses neue, große Tybay nie blühender gewesen war. Das Volk im ganzen Land war glücklich und sorglos. Zufriedenheit und Wohlstand verbreiteten sich und Reichtum zeichnete Tybay aus. Das lockte Händler und Einwanderer an, doch leider auch immer mehr Wegelagerer und Gesindel.

Aber Grace war inzwischen nicht nur eine besorgte Mutter und Heldin des Landes, sondern auch eine Kriegerin. Und das hatte ihr etwas Neues gegeben: Erbarmungslosigkeit gegenüber den Feinden von Tybay. Ihre Recken verfolgten Diebe, Mörder und Betrüger, um sie ihrer gerechten, aber wenig milden Rechtsprechung zuzuführen.

Anfangs war es nicht einfach gewesen. Sie hatte sich um ihren neugeborenen Sohn kümmern müssen. Zudem verstand das Volk nicht, was mit dem König passiert war. Wenn er nicht für tot erklärt wurde, was Grace hartnäckig abwehrte, wo war er dann? Was könnte wichtiger sein, als sein Land zu regieren?

Trotz der Hilfe von Anders, Eweligo und Degger empfand es Grace auch nach zwei Jahren immer noch schwierig, das Land zu regieren. Das Volk blieb unentschlossen und Grace war zu diesem Zeitpunkt völlig überfordert, am Ende ihrer Kräfte. In einer traumähnlichen Vision sah sie Ian Port. Ein Händler und Schmuggler, der sich während des letzten Krieges mit dem ehemaligen Dunklen Reich im Heer verdient gemacht hatte. Sie schickte einen Boten und ein paar Wochen später kam er nach Lywell und unterstützte die Königin bei der Durchsicht der Verträge. Er verhandelte bessere Bedingungen oder half ihr, neue Handelsverträge zu schließen. Grace lernte von ihm.

Dann träumte Grace wieder. Diesmal von einem Mann, der ihr unbekannt war und dessen Fähigkeiten darin lagen, Soldaten auszubilden. Sie schickte nach ihm, und er folgte ihrem Ruf. In Lywell bildete er ihre Recken aus, verbesserte Kampf und taktisches Wissen und verpflichtete sie der Treue bis in den Tod. Nicht nur gegenüber ihrem Land, sondern auch für ihre Königin. Diese Streiter schickte Grace aus, um für Ordnung im Land zu sorgen.

So träumte Grace von Vielen, sich bewusst, dass die Göttin diese Visionen schickte. Zum Dank holte sie die Berufenen in den Rat, machte sie zu Lords und Ladys und übergab ihnen ein Stück Land, welches sie als Herrscher verwalteten. Letzten Endes hatte die Königin Tybay in dreißig Stücke zerteilt und diese unter Verwaltung einer von der Göttin ausgewählten Lordschaft und deren Familie gestellt. Dreimal im Jahr trafen sich die Ratsmitglieder, um mit der Königin über die Entwicklungen ihrer Verwaltungsgebiete zu sprechen. Vorhaben, wie die Bewässerung von ganzen Landstrichen, wurden beraten und beschlossen. Der Bau von Burgen beauftragt. Neue Gesetze diskutiert und erlassen, alte verbessert oder verworfen. Unter dieser gemeinsamen Führung gedieh Tybay.

Doch all diese Erfolge erfüllten die Königin nicht vollkommen mit Glück, denn die Seite neben ihr war leer. In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Anwärter gegeben, welche ihre Liebe gerne für sich gewonnen hätten. Keinem von ihnen hatte Grace je mehr als ein liebreizendes Lächeln und eine freundliche Ablehnung geschenkt. Das Volk mutmaßte, dass die nächste königliche Hochzeit erst mit der Vermählung des Thronerben anstand. Die Königin ließ es dabei bewenden, denn es war sehr wahrscheinlich, dass es so kommen würde.

In diesem Augenblick aber dachte die Königin weder über eine Heirat noch über andere Belange des Landes nach. Ihre gesamte Aufmerksamkeit gehörte dem Schwert vor ihr, das nach ihr stach. Geschickt wirbelte sie zur Seite und setzte ihrerseits einen Schlag an. Ihr Lehrmeister aber bewegte sich mit einer solchen Anmut und Schnelligkeit, die sie nie besitzen würde.

»Hervorragend, Mylady«, lobte er sie. »Bald werdet ihr die Klinge so geschickt führen wie ich!«

»Vielleicht in hundert Jahren!«, lachte Grace. Sie wusste, wie sparsam ihr Heerführer Hawken mit Lob war. Die Königin sah aus den Augenwinkeln, wie ihr achtjähriger Sohn Jamie mit der ein Jahr jüngeren Rana plapperte. Deren Mutter Ember unterhielt sich angeregt mit der vierzehn Jahre alten Anastasia. An einem Tisch, fast außerhalb ihrer Sichtweite, saßen Embers Ehemann Degger, Anders und ihr ältester Sohn Necom. In einigen Wochen würde er sechzehn werden und Grace konnte kaum glauben, wie erwachsen er schon war.

Degger und seine Familie waren vor zwei Tagen hier angekommen. Shawns bester Freund und ehemaliger Regent des Neuen Landes lebte jetzt nahe von Lywell in dem ihm unterstellten Verwaltungsgebiet. Sie kamen oft zu Besuch und Grace war dankbar dafür.

Erneut attackierte Hawken Grace. Auch diesmal wich sie spielend aus, ehe sie selbst zum Angriff überging. Doch gerade, als sie das Schwert in die Höhe riss, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Hawken, der sein Schwert bereits zur Abwehr heran schnellen ließ, konnte seine Klinge nicht mehr stoppen und traf Grace am Arm. Das dünne Leder ihrer Kleidung gab augenblicklich nach und die Königin schrie vor Überraschung auf. Blut sickerte aus der Wunde, aber sie beachtete sie nicht.

Es war wirklich nicht der Rede wert, lediglich ein oberflächlicher Schnitt. Dennoch wich Hawken erschrocken zurück, während das Schwert seiner kraftlosen Hand entglitt.

»Mylady, verzeiht mir!«, rief Hawken entsetzt.

Am Tisch schrie Necom nun ebenfalls überrascht auf. Dann kippte Deggers Stuhl polternd zu Boden, als dieser aus Sorge überhastet aufsprang. Bevor Degger die Königin erreichen konnte, rannte diese bereits an ihm vorbei ins Schloss, dicht gefolgt von Necom.

»Was?«, stieß Degger Thul verwirrt hervor. Er blieb stehen, um das Schwert aufzuheben, das Grace achtlos fallen gelassen hatte. Dann sah er Hawken an, der ebenfalls ratlos mit den Schultern zuckte.

»Ehrlich, es ist nur ein Kratzer!«, beteuerte er.

»Ich … ich spüre Magie!«, erklärte Anna verwirrt.

Als sich die Männer umdrehten, sahen sie, dass ihre Gesichtsfarbe eine Spur zu blass war, um normal zu sein.

»Ja«, nickte Anders, der Letzte aus dem Volk der Uiani. »Jemand hat ein Weltentor geöffnet. Aber nicht irgendwo im Palast, sondern in den Katakomben. Rasch! Folgt mir!« Anders rannte los und es dauerte nur ein paar Augenblicke, bevor ihm Degger, Anna und Hawken folgten. Ember blieb bei den jüngeren Kindern zurück.

Grace war völlig außer Atem, als sie das Ende der Treppe erreichte und in die Katakomben trat. Das fahle Licht der kleinen Halle empfing sie. Erst als Necom mit einer Fackel folgte und Weitere entzündete, sah Grace mehr Einzelheiten und erkannte die Gestalt, die vor ihr stand. Sie erstarrte überrascht.

»Faija!«, stieß sie den Namen ungläubig hervor. Sie erinnerte sich an den Hauptmann aus dem Neuen Land, dem sie gemischte Gefühle entgegen brachte. Vor mehr als acht Jahren hatte sie ihn zunächst als Anführer einer kleinen Rebellion kennengelernt, die gegen Shawns Herrschaft kämpfte. Später war er der Königin ein vertrauenswürdiger Weggefährte im Kampf gegen das Etwas gewesen. Doch letzten Endes hatten sie gemeinsam versagt. Das Etwas konnte fliehen und nahm den von ihm kontrollierten König mit sich. Bei dem Versuch, Grace und sich selbst zu retten, wurde Faija in das Weltentor gerissen. Nur Grace gelangte in Sicherheit, während Faijas Schicksal ungeklärt blieb. Nach einem Jahr ohne ein Lebenszeichen von ihm hatte man ihn für tot erklärt. Doch jetzt und hier stand er vor der Königin. Lebendig und gesund.

Die Jahre waren an Faija nicht spurlos vorbei gegangen. Sein Haar war nun schneeweiß. Eine hässliche Narbe in seiner linken Gesichtshälfte hatte das vom Wetter gegerbte Gesicht vollkommen entstellt. Irgendwie sah er kleiner aus, aber vielleicht lag das nur an seiner gebeugten Haltung.

Grace konnte ihre Enttäuschung nicht verheimlichen. Sie schluchzte leise und Tränen rannen über ihre Wangen. Für einen verzweifelten Moment lang hatte sie gehofft, das intensive Gefühl von Magie könne nur Shawns Rückkehr bedeuten. Jetzt schalt sie sich in Gedanken eine Närrin. Aber sie konnte ihren bereits erwachten Empfindungen keinen Einhalt gebieten. Ihr Atem beschleunigte sich allein bei dem Gedanken an Shawn und ihr ganzer Leib zog sich vor Schmerz der Enttäuschung zusammen.

»Weint nicht, Mylady.« Faija lächelte ermutigend. »Viele Jahre meines Lebens habe ich auf der Suche nach dem Wesen verbracht, das meine Familie geschworen hat, eines Tages zu vernichten. Ich bereiste zahlreiche, fremdartige Welten, sah blühendes Leben und den Tod. Aber bis vor Kurzem, war es mir nicht vergönnt gewesen, den Feind zu finden. Jetzt lasst mich Euch die frohe Kunde bringen: Ich habe ihn gefunden!«

Schluchzend sank Grace auf die Knie. Die Gefühle in ihr brandeten zu einem mächtigen Sturm auf. Das herannahende Geräusch von Schritten auf der Treppe drang kaum in ihr Bewusstsein.

»Shawn? Er lebt?«, fragte sie. Sein Name summte und schwoll in ihrer Brust, bis sie fürchtete, ihr Herz würde zerspringen. Wie lange hatte sie sich danach gesehnt, endlich diese Botschaft zu erhalten?

Nachdem die Dunkle Feste zerstört und somit der böse Keim des Etwas verbannt war, hatte die Königin nicht die Möglichkeit gehabt, nach Shawn zu suchen. Zu dieser Zeit hatte sie weder einen Weltenring, noch das Sonnenamulett in ihrem Besitz, um ihm zu folgen. Zudem hatte sie nur Tage zuvor ihren zweiten Sohn Jamie Quinfee War entbunden. Das Baby brauchte seine Mutter. So, wie was Land einer Königin bedurfte.

Erst viel später erfuhr sie von Ember, dass Anders im Besitz eines Weltenringes gewesen war. Der Uiani hatte sogar die lange Reise zu Pferde zurück nach Lywell auf sich genommen, nur um dieses Geheimnis zu schützen. Grace akzeptierte, dass Anders Gründe dafür gehabt hatte, warum er damals nicht mit ihr darüber sprechen wollte. Zwar verstand sie diese nicht, doch Anders war ein Freund. Und wenn sie ihm nicht vertrauen konnte, wem dann?

Ein paar Monate, nachdem das Etwas entkommen war, kam Dr. Kersh aus ihrer Heimatwelt nach Tybay, um Grace ihren gestohlenen Weltenring zurückzubringen. Aber es war zu spät. Grace wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Natürlich hätte sie versuchen können, dem Weltenring zu befehlen, ein Weltentor zu dem Ort zu öffnen, an dem sich Shawn befand. Wahrscheinlich hätte es funktioniert, so wie der Ring sie damals auch zum Sonnenamulett gebracht hatte. Aber sie hatte es nie versucht, weil sie weder ihre Kinder, noch das Königreich alleine lassen konnte. Es nagte an ihr, dass sie dem Verstand und nicht dem Herzen den Vorzug gegeben hatte.

Gemeinsam mit Virginia und Michael reiste Grace nach Romanic zurück. Virginia, die genau wie Grace von der Erde stammte, würde zusammen mit Michael, Jennifer und dem Arzt das Geheimnis des Weltentores hüten. Aus diesem Grund trennte sich Grace von Romanic und machte es dem Pärchen zum Geschenk. Grace fiel es unheimlich schwer, sich für immer von Jennifer verabschieden zu müssen. Zugleich war der Schmerz dieses Abschiedes dumpf und unwirklich, neben dem Verlust von Shawn.

Nach ihrer Rückkehr überreichte sie Eweligo den Weltenring. Sie beauftragte ihn, einen Monat später noch einmal nach Virginia und Michael zu sehen, wenn er Dr. Kersh zurückbrachte. Ab dann sollte sonst niemand mehr mit dem Ring reisen. Er hatte zu viel Unheil in diese Welt getragen.

Die Fülle an Erinnerungen von so vielen Jahren wirbelte durch ihren Kopf. Nur eine Erinnerung stach so klar und deutlich hervor, als wäre sie erst gestern entstanden: Shawns Berührungen und seine Gestalt. Ihre Liebe zu ihm war nicht weniger geworden, obwohl sie immer versucht hatte, sich genau das einzureden.

Die Stimme des Hauptmannes zerschnitt ihre Gedanken.

»Ja!« Faija nickte. »Ja, Shawn lebt noch!«

Grace blickte ihm aus tränenden Augen entgegen. Der Sturm der Gefühle in ihr erreichte seinen Höhepunkt und fegte logisches Denken aus Grace Verstand.

»Dann rasch, Hauptmann, bringt mich zu ihm, bevor sie hier sind und mich aufhalten.«

Faija nahm ihre Hand. Fast im selben Moment wurden sie von dem Weltentor verschlungen, das er geöffnet hatte. Necoms erschrockenen Aufschrei hörte Grace nicht mehr.

Khal-Thais

Es war lange her, dass Grace ein Weltentor benutzt hatte. Und das, was sich dann vor ihr öffnete, war anders als alle Tore, die Grace je zuvor erlebt hatte. Statt wie sonst mit einem Schritt von einer Welt in eine Andere zu treten, gelangten sie hier in das Dunkel eines schwerelosen Raumes. Die weit entfernten Lichter wurden zu den wichtigsten Punkten, während sie durch die Finsternis jagten.

»Faija, was ist geschehen? Sind wir verloren?«, fragte sie. Aber ihre rasche Reise zerrte ihr die Worte von den Lippen. Dennoch schien Faija ihre Angst und Unsicherheit zu spüren. Er blickte zu ihr und lächelte.

»Seid ohne Sorge, Mylady! Die Macht der Sonne wird uns beschützen!«, beruhigte er sie, indem er die Worte direkt in ihre Gedanken sendete. »Als ich nach Eurer Rettung in das Weltentor zurück gerissen wurde, geschah etwas Seltsames! Mein Durchgang war noch nicht geschlossen, als Shawn sein Weltentor zur Flucht öffnete. Die Magie beider Öffnungen stieß aufeinander und verursachte eine Explosion. Shawn und das fremde Wesen wurden durch ihr Tor geschleudert und ich stürzte in meines zurück. So geschah es, dass Shawn direkt in eine neue Welt gebracht wurde, ich aber einem anders verlaufenden Weg folgte. Seitdem funktioniert mein Weltenring nur noch auf diese Weise. Anfangs glaubte ich, tot zu sein. Dann begann ich, meine neue Welt zu erkunden, die nur aus Finsternis zu bestehen schien. Aber es war nicht das Reich der Göttin. Stattdessen fand ich heraus, dass ich von hier aus in die unterschiedlichsten Welten reisen kann. Dieser Weg ist gefährlich und umständlich. Doch ihm habe ich es zu verdanken, dass ich Shawn finden konnte, ohne von ihm entdeckt zu werden. Während ein normales Tor so funktioniert, dass es den Reisenden direkt an sein Ziel bringt, kann ich nach allem suchen, was ich begehre. Hier sieht und fühlt man die Magie. Auf diese Weise habe ich Shawn gefunden und zudem hatte ich noch den Vorteil, dass er mein Weltentor nicht spüren kann. Es gab etliche Planeten, auf denen er zuvor war, aber letztendlich habe ich ihn finden können.«

Grace begriff, dass dies vielleicht das größte aller Wunder war, dem sie je begegnen durfte. Dabei wusste sie nicht genau, was gerade geschah. Für sie gab es nur zwei Möglichkeiten. Die erste, beinahe vernünftige Erklärung war, dass sie hier durch eine Astralebene schwebten. Die andere und weniger wahrscheinliche Antwort bestand darin, dass sie sich im Weltraum befanden. Ihre Körper waren zu materielosen Gestalten geworden, während sie dahin rasten. Sie brach den Gedanken ab, bevor er ihren logischen Verstand zerbrechen konnte. Es war nicht wichtig zu wissen, wie es funktionierte, aber es war lebensnotwendig daran zu glauben, dass es das tat.

Grace wurde langsam ruhiger. Sie spürte die pochende Schnittwunde an ihrem Arm. Im nächsten Moment begannen sie vom Himmel zu fallen und Grace verlor das Bewusstsein.

Als sie erwachte, lag sie auf weichem Moos. Grace erkannte die vertrauten Gerüche von Nadelgehölz und feuchtem Gras. Über ihr sangen Vögel ihre Lieder, im Unterholz raschelt es beständig und sie hörte die Rufe von anderen Tieren in der Ferne. Eine Grille, direkt neben ihrem Ohr, zirpte eine schwere Melodie. Sie hörte und roch nichts Ungewöhnliches. Nichts, das ihr gesagt hätte, dass sie nicht mehr in Tybay waren. Sie öffnete die Augen und blickte sich um. Alles hier schien ihr vertraut, sodass sie zu glauben begann, Faija wäre nur ein Traum gewesen. Da waren Fichten und Eichen und Büsche mit saftigen Beeren. Dort, wo das Sonnenlicht bis zum Boden hinab schien, wuchsen blühende Grasinseln mit duftenden Blumen. In der Dunkelheit des Waldes ragten Farne, Pilze und Moose aus der Erde heraus. Aber dann sah sie auch Hecken mit türkisfarbenen, ovalen Blättern und länglichen, orangefarbenen Früchten, die sie nie zuvor gesehen hatte. Ebenso eine unbekannte Art von Blume, die sie ganz hübsch fand. Überhaupt, wenn Faija nur ein Traum gewesen war, wie kam sie dann hierher?

Schließlich wandte sie sich um und erblickte den ehemaligen Hauptmann. Er saß zwei Schritte von ihr entfernt und bot ihr seinen Rücken dar. Konzentriert starrte er durch eine Lücke im Gebüsch, das vor ihnen in die Höhe ragte. Seine Haltung war angespannt und mahnte Grace zur Vorsicht.

Leise kroch sie zu ihm. Obwohl die munteren Waldbewohner ihr kein Angstgefühl vermittelten, spähte sie wachsam durch das Buschwerk. Sie sah eine kleine Lichtung mit einer Quelle. Links davon erhob sich eine fast vier Meter hohe Felswand, in der ein Eingang zu einer Höhle klaffte. Rechts führte ein Pfad tiefer in den Wald. Aber für all das hatte Grace keinen Blick übrig. Wie gebannt hingen ihre Augen an der fremdartigen Gestalt, die fast unmittelbar vor dem Gebüsch stand.

Sie war über zwei Meter groß, hatte schlanke, spindeldürre Glieder, die nur ansatzweise wie die eines Menschen aussahen. Der Körper war von einem roten, ledernen Panzer bedeckt. Ihre Gliedmaßen hatten keine Hände und Füße. Die Arme endeten stattdessen als Zangenwerkzeuge, die Beine in Stümpfen. Der dreieckige Kopf verlief nach unten hin spitz und hatte kein Kinn. Grace entdeckte etwas, das ein Mund sein könnte. Und an der Stelle, an der Augen und Lippen bei einem Menschen liegen sollten, sah sie nur drei daumennagelgroße schwarze, halbrunde Kugeln. An der Oberseite des Kopfes ragten zwei Fühler hervor, die unstet wippten und zuckten. Dann sah Grace zwei weitere Kreaturen.

Mit Mühe unterdrückte sie ein ungläubiges Keuchen. Nie zuvor hatte sie solche Wesen gesehen. Faija neben ihr blickte sie warnend an. Seine Augen und Hände bedeuteten ihr, still zu sollte. Sie nickte abgehackt und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bild jenseits der Hecke zu.

Die Wesen schienen die Lichtung abzusuchen. Aber offensichtlich wurden sie aus dem, was sie sahen, nicht schlau. Die beiden Fremdlinge gingen auf die Gestalt vor der Hecke zu und begannen miteinander zu kommunizieren.

Jetzt konnte Grace sich nicht mehr zurückhalten. Die schrillen Pfeiflaute, sowie die schnalzenden und klickenden Geräusche der Wesen verursachten Grace' Gehör solch unerträgliche Schmerzen, dass sie unwillkürlich aufschrie. Zugleich riss sie die Hände hoch und hielt sich die Ohren zu.

Faija neben ihr reagierte blitzschnell. Er zog seine Waffe, während er Grace mit sich hochriss und in die entgegengesetzte Richtung hetzte. Keinen Moment zu früh, denn eines der fremden Wesen kam bereits durch die Hecke gestürmt. Rücksichtslos machte es von den messerscharfen Zangen Gebrauch und schnitt sich einen Weg frei. Grace' Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie die Kraft sah, die in den dünnen Ärmchen steckte.

Faija zog sie weiter. Ihr Blick hing immer noch an dem Geschehen in ihrem Rücken. Bis …

… ihr rechter Fuß an einer Wurzel hängen blieb. Gemeinsam fielen sie zu Boden. Grace fluchte lautstark und wenig damenhaft, während sie hastig auf die Beine zu kommen versuchte.

Beinahe sanft schlossen sich die Zangenhände des ersten Wesens um ihre Oberarme und zogen sie in die Höhe. Sie schrie mehr vor Schreck, als vor Schmerz.

Faija hackte mit seiner Waffe auf das Wesen ein, das Grace hielt. Erst jetzt bemerkte sie, dass es kein Schwert, sondern eher ein kurzer Stab war. An dessen Ende befand sich genau eine solche Zange, von der sie gerade gehalten wurde. Nur, dass diese Zange Faija als Schnittwaffe diente.

Allerdings nutzte Faija seine Waffe nicht wirklich etwas. Wächter und Gefangene standen so dicht beieinander, dass Faija fürchten musste, Grace zu verletzen. Zudem strampelte Grace heftig. Sie trat nach ihrem Feind, jedoch mit keinem sichtbaren Ergebnis.

Inzwischen waren auch die beiden anderen Kreaturen heran und stürzten sich auf Faija. Dieser wehrte sich verbissen. Grace hingegen gab ihre fruchtlose Gegenwehr auf. Zu ihrer eigenen Verblüffung ließ der Klammergriff fast augenblicklich nach. Zuerst war sie darüber viel zu überrascht, um zu reagieren, doch dann erkannte sie ihre Chance. Mit einer heftigen Bewegung riss sie sich los und rannte auf Faija zu.

Sie erreichte ihn nie.

Eines der Wesen neben Faija drehte sich zu ihr und schlug Grace gegen den Kopf. Es war ein halbherziger, fast verspielter Hieb, trotzdem reichte er aus, Grace augenblicklich das Bewusstsein zu rauben.

Das beständige Rütteln und der Wechsel von Hell und Dunkel weckten Grace. Ihr Rücken schmerzte durch die unbequeme Lage, in der sie sich auf den Armen des Wesens befand. Sie stöhnte und bewegte sich leicht. Ihr Wächter hielt an und setzte sie auf dem Boden ab.

Grace erkannte, dass sie in einem Tunnel unter der Erde waren. Es war kalt und die Luft roch abgestanden. Der ehemalige Hauptmann befand sich direkt neben ihr. Davor standen die beiden anderen Geschöpfe, welche die kleine Gruppe anführten. Sie hielten so etwas wie Leuchtstäbe in ihren Zangen, die Grace aber nicht richtig erkennen konnte. Doch das Licht genügte, um ihr unmittelbares Umfeld zu erhellen.

»Mylady!« Faija trat dicht an sie heran und ergriff sie an den Oberarmen. »Wie geht es Euch?«

»Danke der Nachfrage! Ich fühle mich, als wäre eine Herde wild gewordener Elefanten durch meinen Kopf galoppiert!«

»Elefanten?«

Grace lächelte schwach und winkte ab. »Wo sind … autsch! Ihr tut mir weh!« Eigentlich drückte Faija eher sanft zu, tat dies aber absichtlich direkt an der Schnittverletzung, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

»Stellt jetzt keine Fragen«, zischte Faija und ließ sie los. »Später!«

Ihr Wächter stieß Grace von hinten an und sie setzten ihren Weg fort.

Der Tunnel um sie bestand nicht aus Stein, sondern aus hartem Erdreich, das durch seltsame, hölzerne Konstruktionen gestützt wurde. Gelegentlich kamen sie an hohen, schmalen Durchgängen vorbei. Dahinter befanden sich taghell erleuchtete Räume, aus denen das Klappern von Werkzeugen klang. Grace fragte sich, was dort getan wurde, während sie durch die endlos langen Gänge wanderten.

Irgendwann verlor Grace die Geduld. »Wo bringen sie uns hin?«, fragte sie flüsternd.

»Zu ihrer Königin!«, antwortete Faija genau so leise. »Ich hatte gehofft, die Sache etwas diskreter anzugehen, aber so kommen wir auch ans Ziel!«

»Shawn ist hier?« Aufregung lag in ihrer Stimme und Faija warf Grace einen warnenden Blick zu.

»Natürlich!« Faija lachte bitter. »Jetzt still.«

Grace nickte und versuchte sich wieder in Geduld zu fassen. Aber es war unglaublich schwer. Ihr stockte der Atem bei dem Gedanken, Shawn bald gegenüberzustehen.

Ob er mich erkennt? Grace hatte sich damals in der Dunklen Feste von ihm getrennt, weil sie Angst um die Sicherheit ihrer Kinder gehabt hatte. Heute, wo sie ihre Kinder sicher und gut in Tybay versorgt wusste, fürchtete sie sich nicht mehr vor dem, was ihn beherrschte.

Für Grace schien es Stunden zu dauern, ehe sie vom Hauptgang in einen der Durchgänge abbogen. Sie durchquerten die im Halbdunkel liegende Halle und erreichten eine weitere. Grace blinzelte, als sie eintrat, weil das gleißende Licht ihre Augen blendete. Als sie endlich etwas sehen konnte, keuchte sie überrascht auf.

»Aber … das sind ja Menschen!«

»Nein, das ist das Untervolk der Herrscherrasse. Die Khal-Thais.«

»Namen sind ohne Belang!«, zischte sie. »Sie sehen aus wie wir, also sind es Menschen. Was sollten sie sonst sein?«

»Es sind Sklaven! In dieser Welt hat sich vieles anders entwickelt, als in Tybay. Hier sind sie die Stärkeren.« Faija machte eine Kopfbewegung in Richtung ihrer Bewacher.

»Ihr meint diese vierbeinigen Ameisen?«

»Nur weil sie unsere Sprache nicht aussprechen können, heißt das nicht, dass sie uns nicht verstehen«, warnte Faija.

Ihr Weg führte sie mitten durch die Arbeitenden hindurch. Grace sah, dass die Menschen Brocken von steinhartem Erdreich aus dem Boden oder den Wänden herausschlugen. Es waren ausschließlich drahtige, aber kräftige Männer mit Lumpen als Bekleidung, die vor Staub und Schmutz starrten.

Die Halle, an der sie arbeiteten, war gigantisch und hätte einem königlichen Ballsaal zu Ehren gereicht. Doch offenbar sollte der Raum noch weiter vergrößert werden. Die Höhle wurde von unzähligen, am Boden aufgestellten Stäben erhellt, die zwei Meter hoch und sehr dünnen waren. Diese gaben ein phosphoreszierendes gelbes Licht ab. Sieben oder acht der insektenähnlichen Kreaturen bewachten die dreifache Anzahl von Gefangenen. Die geringe Menge der Wachen überraschte Grace. Erst als sie genauer hinsah, konnte sie sehen, dass die Männer Fußketten trugen. Außerdem hielt jeder der Wächter einen hölzernen Stab in der rechten Klaue.

Sie hatten die Hälfte des Raumes durchquert, als aus dem gegenüberliegenden Durchgang eine Gruppe Khal-Thais gestürmt kam. Im nächsten Augenblick erschütterte das Gebrüll aus dreißig menschlichen Kehlen die Halle. Der aufbrandende Kampflärm vermischte sich mit den schrillen Pfiffen der sterbenden Wächter und Jubelschreien, als die Ketten der Gefangenen durchtrennt wurden. Grace schrie ebenfalls vor Schreck und der Vielfalt schmerzender Töne auf. Sie stand wie angewurzelt mitten im Getümmel, während sie sich die Ohren zuhielt.

Wenige Augenblicke später war die Mehrzahl der insektenartigen Wächter tot und der Rest von ihnen würde rasch folgen.

Jemand brüllte scharfe Befehle, die Grace nicht richtig verstand und sie nahm die Hände herunter. Menschen hetzten in scheinbarem Durcheinander hin und her. Irgendwo unter ihnen war Faija.

Plötzlich wurde Grace unsanft gepackt und davon gezerrt. Was nicht bedeutete, dass sich dadurch ihre Situation verbesserte. Ganz im Gegenteil, denn sie vermutete, dass man sie von Shawn wegbrachte. Sie schrie und stemmte sich gegen den Griff des fremden Mannes. Suchend blickte sie sich nach Faija um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Dafür hörte sie, dass man immer wieder seinen Namen rief. Offensichtlich war der ehemalige Hauptmann ein Freund dieser Menschen.

»Nein, lass mich los!« Grace schlug wütend auf den Mann ein, der sie hielt. Schließlich blieb dieser stehen und gab sie frei.

»Was soll das, Frau? Bist du irre?«

»Verdammt, ich war ihm so nah! Warum hast du das getan?«, schrie sie.

Der Mann vor ihr blickte sie verständnislos an.

»Nah? Dem Tod vielleicht, wenn wir noch länger herumtrödeln! Du warst ihre Gefangene. Sei froh um die Freiheit, die wir dir schenken! Jetzt komm endlich!«, brüllte er und rannte weiter. »Oder willst du warten, bis sie kommen und dich töten?«

Grace hätte am liebsten gelacht und ihm eine trotzige Antwort gegeben. Immerhin hatte sie nichts mit ihnen zu schaffen und konnte sich einfach ergeben. Allerdings bezweifelte sie, dass ihre Verfolger sie zuerst danach fragen würden, ob sie dazugehörte oder nicht. Sie war offensichtlich eine Khal-Thai. Das würde für sie genügen.

Ergeben seufzend rannte sie hinter dem Mann her und holte ihn kurz darauf ein. Er lächelte wohlwollend und nickte ihr zu.

»Bist du ein Khal-Thai-Nurek?«, fragte er. Sie blickte ihn verwirrt an, denn sie hatte keine Ahnung, was er von ihr wollte. Doch eines konnte sie mit Sicherheit sagen, sie war keine Khal-Thai.

»Nein«, sagte sie knapp.

»Deine Haut ist so hell, dass du ein unter Tage geborenes Weibchen sein könntest!«

»Weibchen? Ihr habt wirklich eine freundliche Art, von euren Frauen zu sprechen!«, sagte Grace entrüstet.

»Hier ist vieles anders!«, mischte sich eine wohlbekannte Stimme in das Gespräch ein.

»Ha! Sie einer an, wen die Erde da wieder ausgespuckt hat!«, spottete Grace.

»Ich werde Euch später alles erklären. Aber jetzt rennt um Euer Leben!«

Sie bogen in einen weiteren Gang ein. Dieser war nicht erleuchtet, sodass es fast augenblicklich dunkel wurde. Nun erkannte sie, dass jene Männer, welche die Gefangenen befreit hatten, ebenfalls Leuchtstangen in der Hand hielten. Der Mann, mit dem sie bereits gesprochen hatte, trug auch einen solchen Stab. Er machte irgendetwas damit, dann erstrahlte das Licht.

»Was sind das für Dinger?«, fragte sie keuchend.

»Chesuls. Und jetzt spar dir den Atem!«, tadelte er sie. Auch er atmete heftig. Schweiß rann trotz der Kälte über seinen Körper.

Sie trabten weiter. Die Gänge wurden zu einem regelrechten Labyrinth. Immer wieder wechselten sie die Richtung und bald darauf war Grace ganz verwirrt. Sie war zudem so erschöpft, dass es ihr schwindelig wurde.

Endlich, nach einer endlos lang erscheinenden Zeit, erreichten sie wieder eine Halle.

»Ethan, wir brauchen eine Rast!«, keuchte einer der Lumpengestalten, die zu dem Mann neben Grace taumelte.

»In Ordnung, aber bleibt stehen. Wenn ihr euch hinsetzt, werdet ihr nachher nicht mehr hochkommen!«

Die meisten befolgten seine Anweisung. Ein paar wenige waren zu kraftlos und fielen wie gefällte Bäume um.

Grace, die mittlerweile ebenfalls in Schweiß gebadet war, begann zu zittern, als die Anstrengung nachließ und die Kälte unter ihre Kleider drang. Unruhig lief sie umher, um sich zu wärmen. Ethan sah ihr eine Weile zu und schüttelte den Kopf.

»Wo hast du die denn her?«, wollte Ethan von Faija wissen. Grace schnaubte undamenhaft, entrüstet darüber, dass er sie nicht selbst fragte. Faija grinste.

»Sie kommt von jenseits der Berge«, antwortete er. Dies schien Ethans Neugierde zu wecken.

»Ihr seid mir ein paar Erklärungen schuldig!«, rügte Grace Faija.

»Euch alles zu erklären, würde mehr Zeit benötigen, als uns zur Verfügung steht!«, sagte er, ohne Grace anzusehen und wich diesem Thema erneut aus. »Sie ist eine freie Frau!«, erklärte er Ethan.

»Das sehe ich!« Ethan lachte. Er warf einen abschätzenden Blick auf Grace' Gestalt und ihre Kleidung. »Von sehr weit jenseits der Berge. Und offenbar sehr frei!«

»Du ahnst gar nicht, wie weit und wie frei«, zischte sie wütend. »Was ist das hier?«

»Der Königsbau!«, antwortete Ethan auskunftsbereit. »Es gibt mehrere Bauanlagen im Thug-Fay. Aber nur eine ist von der Königin bewohnt. Die anderen sind nur Brutstätten.«

»Bauanlagen? Brutstätten?« Grace wurde immer verwirrter. »Wovon sprichst du?«

»Das!« Ethan packte sie am Arm und zog sie hinter sich her. Nach ein paar Schritten erreichten sie eine der Wände und Ethan hielt seine Chesul dagegen. Grace schrie erschrocken auf und wich zurück. Die Wand vor ihr bestand nicht aus Fels oder Erde.

»Das ist … widerwärtig!«, keuchte sie. Ihr Magen verkrampfte sich. Vor ihr erhob sich ein Netz voller Waben, vier Meter hoch und zwanzig Meter breit. Hinter dieser Wabenwand sah Grace eine weitere und dahinter, und dahinter …

Es war schwer zu schätzen, wie tief die Halle war, denn um alles zu erhellen, reichte die Chesul nicht aus.

Die einzelnen Kammern waren annähernd zwei Meter hoch. In jeder von ihnen lag die verkrümmte Gestalt eines Menschen und in jedem Schoß lag ein Ei. Ein gelbes Etwas, das nicht richtig eiförmig, weder oval noch rund war. Die Schale war uneben und rissig und es hatte die Größe eines Menschenkopfes. Beide Körper lagen in einer gelartigen Flüssigkeit, wie Grace erkannte, als Ethan mit seiner Chesul gegen die anscheinend massive Wand schlug. Ein Riss entstand und eine glibberige Masse quoll stinkend hervor.

Unsanft zerrte Ethan sie zurück und das keinen Moment zu früh. Die Wabenhaut gab mir einem peitschenden Knall nach und ergoss den Inhalt vor Grace Füße. Ethan beugte sich hinab und beleuchtete mit seiner Chesul die Szene. Grace sah in das Gesicht eines Mannes, das noch immer von Schmerzen und Panik erfüllt war. Offenbar hatte man ihm die Gnade eines raschen Todes vorenthalten und ihn lebendig in den Wabensarg gesteckt. Dann war dieser mit der Flüssigkeit befüllt worden. Der Mann war qualvoll ertrunken.

Ethan bückte sich nach dem Ei und hob es auf. Mit einem Schlag auf sein angewinkeltes Knie zerbrach er die Schale und zusammen mit einer rötlichen Flüssigkeit kam die Brut quietschend zutage. Es war schwarz, hatte lange und dürre Gliedmaßen und sah abscheulich aus. Es pfiff und strampelte ununterbrochen.

»Die Brut der Herrenrasse!«, zischte Ethan. Dann zerschlug er den Schädel des Geschöpfs, wie zuvor die Schale, an seinem Knie.

Grace schaffte es gerade noch sich abzuwenden, bevor sie würgend erbrach, was sie im Magen hatte. Viel war es nicht, was auch der Grund war, warum ihre Kehle danach brannte, als wäre es reine Säure gewesen. Sie wischte sich den Mund an ihrer Bluse ab und drehte sich zu Ethan. Blankes Entsetzen stand in ihrem Gesicht.

»Die brauchen euch, um ihre Jungen zu ernähren?« Grace schauderte. »Das ist entsetzlich!«

»Du musst wirklich von sehr weit herkommen, wenn du das nicht weißt! Doch als Faija damals zu uns kam, ging es ihm wie dir. Es überrascht mich, dass er dich mitgebracht, dir aber nichts erzählt hat«, sagte Ethan nachdenklich. »Die Eier werden von der Königin gelegt. Die Arbeiterinnen schaffen diese in die Höhlen und bauen dort die Waben. Darin hinein legen sie immer ein Ei und einen ausgewählten Khal-Thai. Danach wird die Kammer mit einer körpereigenen Flüssigkeit gefüllt. Wenn die Monde zwölf Mal voll waren, schlüpfen die Jungen, die sich augenblicklich über ihr Futter hermachen. Während der nächsten vierundzwanzig Monde wächst der Peel heran. Wenn er ausgewachsen ist, verlässt er die Wabe. Danach braucht er kein Futter mehr, ehe er ein paar Jahre später stirbt.« Ethan lachte bitter. »So ist das. Zuerst lassen sie uns die für ihre Brut benötigten Höhlen graben und danach verfüttern sie uns an sie.«

»Ich …« Grace war zu geschockt, um etwas zu sagen. So etwas hatte sie noch nie gehört oder gesehen. Und es als Realität anzuerkennen, sprengte fast ihren Verstand. »Warum bekämpft ihr sie nicht?«, fragte sie. Es war der erste Gedanke, der sich ihr klar formulierte.

Doch es war nicht Ethan, der antwortete, sondern Faija.

»Einst lebten die Peel und die Khal-Thais in Frieden miteinander und sie nutzten jeweils die Fähigkeiten der anderen Rasse. Zumindest überliefert man sich das. Doch dann wurden aus irgendeinem Grund die Nahrungsquellen knapp. Die Peel fanden heraus, dass sie die Khal-Thais auch als Futter nutzen konnten. Es gab einen Krieg, an den sich niemand mehr so richtig erinnern kann. Viele der Peel wurden getötet, insbesondere die Königinnen. Aber man versäumte es, die Brutanlagen ebenfalls zu zerstören. Und als der Krieg zu Ende war, schlüpften wieder neue Peel. Darunter auch eine neue Königin. Die Peel trieben die verbliebenen Khal-Thais zusammen und versklavten sie, wenn sie ihrer habhaft wurden. Danach blieben die Peel zahlreicher, klüger, stärker und tückischer als die Menschen. Vielleicht ist es Bestimmung, dass in dieser Welt die Peel herrschen.« Faija zuckte mit den Schultern. »Heute hält die Herrenrasse die Khal-Thais in unterirdischen Wohnstätten gefangen. Die Frauen bleiben im Lager zurück, um Kinder zu gebären, während die Männer zur Arbeit in die Stollen müssen. Des Nachts schicken die Peel die Männer in die Umarmung der Frauen, um das Überleben der Spezies zu sichern, welche sie ernährt. In die Waben«, Faija machte eine Geste zur Wand, »kommen die Alten, die Kranken und unfruchtbaren Weibchen. Sie werden als Erstes verfüttert!«

»Wie Mastvieh!«, krächzte Grace und sie bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper.

»Doch wir haben in letzter Zeit wieder beachtliche Siege gegen die Herrenrasse errungen, alter Mann«, erinnerte Ethan stolz. »Und jeder Gefangene, den wir der Sklaverei entreißen konnten, ist ein Sieg für uns. Heute waren wir wieder erfolgreich.« Ethan grinste und er machte eine Geste in die Runde. »Letzten Mond ist es uns sogar gelungen, einen Bau mit Wasser zu fluten und zu zerstören. Mehr als vierhundert tote Peel!«

Grace schüttelte es vor Entsetzen. »Aber das sind auch vierhundert tote Menschen!«, beendete sie die Gleichung.

»Sie waren bereits tot. Oder glaubst du, das hier überlebt jemand?« Ethan gestikulierte erregt in Richtung der Wabensärge.

»Sie zerstören einander seit Jahrzehnten. Doch weder der einen noch der anderen Seite ist der vernichtende Schlag gelungen!«, fügte Faija hinzu.

»Wie auch? Wenn ihr nur die Brutanlagen zerstört, könnt ihr nicht gewinnen.« Grace schüttelte den Kopf. »Nur der Tod der Peelkönigin kann den Konflikt beenden. Warum habt ihr nie versucht, die letzte Königin zu töten?«

»Haben wir, aber es ist fast unmöglich. Sie lebt tief im Innern des Baus und der Weg dorthin wird von unzähligen Kriegern bewacht. Wir haben nicht die richtigen Waffen, um gegen sie zu kämpfen!«

Plötzlich begriff Grace. Die beiden Rassen bekämpften einander erbittert, weil die Khal-Thais nicht unterdrückt sein wollten. Die Peel versuchten ihrerseits dies zu verhindern, da sie entdeckt hatten, wie bequem ihr Leben geworden war. Sie benutzten die Khal-Thais, um die schwere Arbeit zu verrichten und konnten sie dann als Nahrung nutzen. Dies war der ideale Keimboden für das Etwas. Und offenbar war diese Welt arm an Magie, ganz anders als Tybay. Dort hatte die Magie gegen das Etwas gearbeitet und es ihm somit schwer gemacht, die Welt zu erobern. Es ging nicht nur um die Ausbeute bei der Zerstörung eines bewohnten Planeten, sondern auch um das Spiel. Und Grace konnte sich vorstellen, dass diese Welt mit seinem Krieg das Etwas gereizt hatte.

Grace war nie religiös gewesen und verspürte jetzt Dankbarkeit dafür, dass ihre Eltern ihr da ihren Freiraum gelassen hatten. An einer Diskussion, ob die Menschheit von Gott erschaffen worden war, oder ob es eine wissenschaftliche Erklärung gab, würde sie sich nicht beteiligen wollen. Früher hätte sie ihre naturwissenschaftliche Ansicht aktiv verteidigt. Heute, als Königin und Dienerin einer magischen Gottheit, war sie sich nicht mehr sicher. Insbesondere wenn man bedachte, was sie alles erlebt hatte. Die wundersame Zeugung ihres ersten Kindes. Seelen, die an ihre toten Körper gebunden waren. Heilung einer tödlichen Wunde. Menschen, die ihr Aussehen zu dem von anderen Personen wandeln konnten. Außerirdische Wesen, die sich Wirtskörpern bemächtigen, um sich zu schützen, während sie Blut benötigten, diesen Körper am Leben zu erhalten. Ganz zu schweigen von der Magie, die sie befähigte, mit Toten zu sprechen, oder von einer Welt zur nächsten zu reisen. Doch gleich was hinter ihr lag, eines konnte sie mit Gewissheit sagen: Es war unwahrscheinlich, dass Gott oder eine andere, übernatürliche Kraft gewollt hätte, dass zwei intelligente Spezies einen Planeten bevölkerten, nur um darum zu kämpfen. Das war absolute Verschwendung.

Aber was konnte sie tun? Ethan und seine Freiheitskämpfer würde sie kaum davon überzeugen können, dass es ihr vorherbestimmtes Schicksal war, für die Peel zu arbeiten und zu sterben. Sie wollten in Freiheit leben und Grace verstand das. Immerhin lag es in der Natur des Menschen, zu kämpfen. Um den Krieg zu beenden, mussten die Peel vernichtet werden. Alle. Und zu allererst die Königin. Bloß war sie kaum die richtige Person, die Ausrottung eines Volkes anzuleiten. Was hatte sich Faija nur dabei gedacht, sie hierher zu holen? Und welche Rolle spielte Shawn? Noch wusste sie viel zu wenig.

Sie hörten die Peel nicht kommen. Grace, Ethan und Faija waren zu sehr in die Enthüllungen vertieft und die Anderen zu erschöpft. Plötzlich standen zwei Dutzend bewaffnete Peel in der Halle. Die Stäbe in ihren Klauen erwachten zum Leben und versprühten kleine schwarze Kügelchen, die beim Aufprall detonierten. Grace schrie erschrocken auf. Sie beobachtet, wie zwei der Gefangenen getroffen wurden. Die Explosionen schlugen faustgroße Löcher in die Körper oder rissen Gliedmaßen ab. Der bittere Geruch von Tod und Blut lag augenblicklich in der Halle. Genau wie Panik.

»Weg hier!«, schrie Ethan. Er packte ihre Hand und zerrte sie davon. Um den einzigen Ausgang entstand ein dichtes Gedränge. Die Flüchtenden behinderten sich gegenseitig so sehr, dass die Peel sie fast erreicht hatten, ehe Ethan und Grace den Durchgang passierten. Sie schossen jetzt nicht mehr und Grace konnte sich denken, warum dass so war. Lebend waren die Khal-Thais mehr wert als tot. Dennoch hatten die Peel demonstrieren wollen, dass es ihnen ernst war. Tot oder lebendig spielte keine Rolle. Sie würden nicht zulassen, dass sie entkamen.

Jetzt, wo ihre Verfolger so dicht heran waren, interessierte niemanden mehr der Mann neben ihm. Hier zählte nur das nackte Überleben. Abgesehen von Ethan, der Grace immer noch unnachgiebig mit sich zog.

Ethan legte ein Tempo vor, das Grace auf Dauer nicht mithalten konnte. Zum ersten Mal in ihrem Leben bedauerte sie es, nicht zwanzig Zentimeter größer zu sein, denn so hätten ihre Beine eine längere Reichweite gehabt. Zudem musste sie einsehen, dass sie lange nicht so gut in Form war, wie sie gedacht hatte. Ein Schwertkampf und ein Lauf um ihr Leben waren aber auch zwei unterschiedliche Dinge.

Grace war noch von ihrer ersten Flucht erschöpft und wurde rasch langsamer. Zudem begann sie im Halbdunkel immer öfter zu stolpern, weil ihre Füße so schwer waren. Ethan schrie ihr irgendetwas zu, aber sie konnte ihn nicht mehr verstehen. In ihrem Kopf rauschte das Blut und ihr Herzschlag war so laut, dass die Welt außerhalb darin versank.

Ein Ruck an ihrem Arm brachte sie zum Halt. Grace hatte nicht einmal bemerkt, dass Ethan gestoppt hatte. Jetzt stand er hinter ihr, ragte fast einen Kopf über sie hinweg und blickte sie an. Sein Gesicht war fahl in dem trüben Schein des Lichtes. Trotzdem glitzerten seine Augen belustigt, als er sie anblickte. Augen mit der seltenen Farbe von Bernstein. Grace hatte noch nie solche Augen gesehen und etwas daran faszinierte sie.

»Nein!«, widersprach sie schwach und atemlos, als sie begriff, was er vorhatte. Aber sie war zu erschöpft, um sich gegen ihn zu wehren, als er sie wie einen Sack über die Schultern legte.

»Lass mich runter!«, protestierte sie nur einmal nuschelnd. Dann ließ sie sich widerspruchslos von ihm durch die Gänge tragen. Es war unangenehm angenehm, mit so viel Fürsorge behandelt zu werden. Bald darauf schmiegte sie sich an seinen Körper, um die Bewegungen seiner Muskeln zu spüren. Voller Sehnsucht dachte sie an Shawn.

Grace wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er sie endlich absetzte. Er war erschöpft und sein Atem ging heftig und stockend. Beruhigend legte sie ihre Hand als Dank auf seinen Unterarm und schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. Er lächelte zurück.

Verräter

»Hier entlang!«, sagte Ethan.

Sie betraten eine Halle. Grace blickte sich um und sah dunkles Erdreich, welches den steinernen Wänden gewichen war. Feuchte, noch kühlere Luft schlug ihnen entgegen. Aus der Tiefe der Halle hörte sie das Rauschen eines Flusses.

Das Vorankommen wurde schwieriger. Steinbrocken, Felsvorsprünge, loses Geröll und andere Hindernisse ließen ihre Füße stolpern. So mancher der hingefallenen Männer blieb reglos liegen. Niemand kümmerte sich um sie. Ihr Flehen verklang ungehört, weil sie sich auf der Flucht Schwache nicht leisten konnten, die sie tragen oder stützen mussten. Bereits so war ihr Entkommen noch ungewiss.

Nach wenigen Minuten kam der Fluss in Sichtweite. Es war ein reißender, weiß gekrönter Strom tobenden Wassers, das durch sein Flussbett donnerte. Gischt spritzte und Grace erschauerte unter der Kälte des Wassers.

»Das ist der Eisfluss! Er mündet in den Feuerfluss und gemeinsam fließen sie durch das Land, um es zu nähren!«, sagte Ethan.

»Ein Feuerfluss?« Grace wurde blass. Allein der Name erschreckte sie zutiefst. Doch Ethan lachte und winkte ab.

»Solange du nicht darin baden willst, ist er völlig ungefährlich!«

»Ha, ha, sehr witzig«, sagte sie humorlos.

Zu Grace' Entsetzen mussten sie den Fluss, auf dem tatsächlich Eisbrocken schwammen, überqueren. Ethan hielt zielstrebig auf einen steinernen Bogen zu, der das Wasser überspannte. Als sie näherkamen, bewahrheiteten sich ihre Befürchtungen. Es war keine Treppe in den Fels geschlagen worden, ebenso wenig wie es ein Geländer oder einen anderen Halt gab. Es war lediglich ein unebener, nasser und glitschiger Steg, der gute zwei Fuß breit war.

»Oh mein Gott! Das ist wohl nicht dein Ernst?« Noch ehe Grace die Worte ausgesprochen hatte, erklommen bereits die ersten Männer die natürliche Brücke. Mit traumwandlerischer Sicherheit überquerten sie die knapp hundert Meter.

»Der Steg ist breit genug, es ist ganz leicht!«, sprach er ihr Mut zu.

»Vielleicht für jemanden, der das ständig macht!« Dabei wusste sie nicht, was genau sie erschreckte. Sie hatte nie Angst vor großen Höhen gehabt, und drei Meter über dem Wasserspiegel konnte man auch kaum als hoch bezeichnen. Dennoch erstarrte sie bei dem Gedanken an die Überquerung. Sie zitterte so stark, dass sie fürchtete, durch ihre Ungelenkigkeit herunterzufallen. Als Kind war sie über umgefallene Baumstämme getobt, die nicht halb so breit gewesen waren. Aber dieser Steg, jetzt und hier, jagte ihr einfach Angst ein. Regungslos beobachtete sie, wie ein Mann nach dem Anderen die Brücke überquerte.

Bevor Grace zu erneutem Protest anheben konnte, packte Ethan sie und zerrte sie hinter sich her. Seine Schritte waren fest und zügig und Grace hatte gar keine andere Möglichkeit, als ihm zu folgen.

Sie hatten die Hälfte der Brücke geschafft, als verängstigte Schreie der Zurückgebliebenen Ethan erschreckt innehalten ließen. Bislang waren ihre Verfolger von der Dunkelheit der Halle und dem Lärm des Flusses verborgen gewesen. Jetzt hatten die Peel ihre Chesuls entzündet und ihre Waffen erhoben. Grace hörte Ethan neben sich überrascht aufschreien. Dann sah auch sie die Gestalt. Es war ein Mensch, ein Mann. Klein im Gegensatz zu den Peel, die ihn umringten, doch groß für einen Menschen. Im schwachen Licht sah Grace feine, schwarze Stoffe mit eingewebten Goldfäden schimmern. Die Gestalt war tadellos gepflegt und hergerichtet, wie für ein Fest. Das Haar an den Schläfen war von silbernen Strähnen durchzogen. Doch sein Gesicht hatte sich kaum verändert. Er trug nach wie vor einen Vollbart, den er sorgfältig ausrasiert hatte.

Shawn.

Grace Herz machte einen freudigen Hüpfer und ihr Körper kribbelte erwartungsvoll. Sie wollte nach ihm rufen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt und sie wisperte seinen Namen. Es war unmöglich, dass er sie gehört hatte. Dennoch hob er den Kopf und ihre Blicke trafen sich.

»Shawn!«, schrie sie aus voller Lunge. Grace riss sich vom überraschten Ethan los und rannte über den Steg.

Auf eine Geste von Shawn hin eröffneten die Peel das Feuer. Grace prallte entsetzt zurück, als auch an ihr eines der unscheinbaren Kügelchen vorbei zischte. Völlig verwirrt blieb sie stehen.

»Mylady!«, rief Faija, der am Anfang der Brücke gewartet hatte. Er hetzte auf den Steg, drehte sie unsanft um und gab ihr einen Schubs. »Rennt, Mylady!«

Aber sie konnte es nicht. Da war wieder jene sinnlose und unerklärliche Furcht. Behutsam setzte sie einen Fuß vor den Anderen. Hinter ihnen entstand dichtes Gedränge und Faija wurde gegen Grace gestoßen. Sie verlor die Balance und stürzte auf den Steg, glitt ab und rutschte über den Rand.

Voller Panik schrie Grace auf. Den sicheren Tod vor Augen, suchten ihre Finger verzweifelt nach Halt im Gestein. Endlose Augenblicke vergingen, ehe sie sich an einer Spalte festkrallen konnte.

Über ihr wurde Faija unerbittlich weiter getrieben und konnte ihr nicht helfen. Grace Kraft reichte nicht aus, um sich selbst hinaufzuziehen, geschweige denn, sich noch lange zu halten. Ihre Arme und Schultern schmerzten und ihre Finger begannen zu zittern.

»Hilfe!«, flehte sie. Doch der Steg über ihr war leer. »Bitte!«

Die eiskalte Gischt des Flusses raubte ihr das Gefühl in den Beinen. Die Kälte fraß sich ihren Körper hinauf. Grace spürte, wie ihre Hände abzurutschen begannen und sie schloss resignierend die Augen.

Im nächsten Moment fühlte sie sich schmerzhaft am Handgelenk gepackt und nach oben gezogen. Ethans bernsteinfarbene Pupillen leuchteten ihr entgegen, als sie die Augen öffnete.

»Danke!«, flüsterte sie zitternd.

Der Beschuss durch die Peel hatte aufgehört. Offenbar wollte sie vermeiden, dass die Brücke beschädigt wurde. Stattdessen konnte sie bereits die ersten dürren Gestalten auf dem Steg erkennen. Mit Genugtuung sah Grace, dass die Peel noch größere Schwierigkeiten hatten, als sie selbst, den Steg zu überqueren. Ihre dünnen Stelzenfüße fanden kaum Halt, und als der Erste von ihnen stolperte, riss er einen Weiteren mit sich in die Tiefe.