Der Wert der Arbeit - Thiago A. Simim - E-Book

Der Wert der Arbeit E-Book

Thiago A. Simim

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Beschreibung

Das Leistungsprinzip ist Dreh- und Angelpunkt zahlreicher sozialer Konflikte der modernen Welt. So verschieden die Strukturen von Arbeit im »Zentrum« und in der »Peripherie« des kapitalistischen Systems sind, so unterschiedlich wird auch Leistung verstanden und angewandt. Thiago A. Simim verdeutlicht dies durch einen Vergleich zwischen Deutschland und Brasilien, indem er die Unrechtsempfindungen von dort Arbeitenden im Kontext von Arbeitskämpfen aus der Perspektive einer kritischen Gesellschaftstheorie heraus beleuchtet. Der vergleichende Blick und die historische Rekonstruktion des Leistungsprinzips ermöglichen eine Entgegensetzung des industriegesellschaftlich geprägten Begriffs zu dessen peripherischer Ausprägung.

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Thiago Aguiar Simim

Der Wert der Arbeit

Das Leistungsprinzip in Arbeitskämpfen zwischen Zentrum und Peripherie

Campus Verlag Frankfurt/New York

Über das Buch

Das Leistungsprinzip ist Dreh- und Angelpunkt zahlreicher sozialer Konflikte der modernen Welt. So verschieden die Strukturen von Arbeit im »Zentrum« und in der »Peripherie« des kapitalistischen Systems sind, so unterschiedlich wird auch Leistung verstanden und angewandt. Thiago A. Simim verdeutlicht dies durch einen Vergleich zwischen Deutschland und Brasilien, indem er die Unrechtsempfindungen von dort Arbeitenden im Kontext von Arbeitskämpfen aus der Perspektive einer kritischen Gesellschaftstheorie heraus beleuchtet. Der vergleichende Blick und die historische Rekonstruktion des Leistungsprinzips ermöglichen eine Entgegensetzung des industriegesellschaftlich geprägten Begriffs zu dessen peripherischer Ausprägung.

Vita

Thiago A. Simim, Dr. phil., ist Dozent am Fachbereich Rechtswissenschaften der Bundesuniversität Lavras (UFLA), Brasilien.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort von Axel Honneth und Stephan Voswinkel

1.

Einleitung

2.

Konzeptionelle Grundlagen

2.1

Kritische Gesellschaftsforschung und Ansprüche in der Arbeitswelt

2.2

Leistungsideologie

2.3

Leistungsprinzip in Arbeitskämpfen: Konfliktdimensionen und Rahmenbedingungen

2.3.1

Unrechtsgefühl, Forderung und Rechtfertigung

2.3.2

Rahmenbedingungen von Arbeitskämpfen

2.4

Deutschland und Brasilien im Vergleich

2.4.1

Leistungsprinzip in der Moderne des Zentrums

2.4.2

Arbeitsarrangements und Leistung in zentralen Industriegesellschaften

2.4.3

Leistungsprinzip und Arbeitsstrukturierung im modernen Brasilien

2.5

Fragestellung

3.

Methode

3.1

Vorgehensweise

3.2

Sampling

3.3

Erhebung

3.4

Auswertungsverfahren und Darstellung

4.

Auswertung

4.1

Deutsche Fälle

4.1.1

Strategische und normative Aspekte deutscher Arbeitskämpfe

4.1.2

Rechtfertigungsebene

4.1.2.1

Gleichheit

4.1.2.2

Qualifikation und Abstufung

4.1.2.3

Verantwortung und Belastung

4.1.2.4

Unterbewertung durch ungerechte Verteilung

4.1.2.5

Gesellschaftliche Wertschätzung und betriebliche Anerkennung

4.1.3

Resümee

4.2

Brasilianische Fälle

4.2.1

Strategische und normative Aspekte brasilianischer Arbeitskämpfe

4.2.2

Rechtfertigungsebene

4.2.2.1

Gesellschaftliche Relevanz im Öffentlichen Dienst

4.2.2.2

Beschäftigte der Privatwirtschaft: Abgrenzung und Verhältnis

4.2.2.2a

Abgrenzung und Differenzierung von Leistung

4.2.2.2b

Leistung und Gegenleistung: Gleichheit und diachroner Vergleich

4.2.2.3

Ungerechte Verteilung

4.2.3

Resümee

4.3

Analyse exemplarischer Einzelfälle

4.3.1

Kita

4.3.2

Einzelhandel

4.3.3

Private Schulen

4.3.4

Garis

4.4

Zwischenfazit

5.

Leistung in Kategorien und im Vergleich

5.1

Kategorien des Leistungsprinzips: Leistung als direktes Verhältnis und als Gegensatzkritik

5.2

Leistungsprinzip als Verteilungskritik und kollektive Ergebnisdimension

5.3

Ungerechtigkeit und Leistung

5.4

Von Leistung zu Anerkennung

5.5

Vergleiche

5.5.1

Leistung und Qualifikationsniveaus

5.5.2

Kontexte im Vergleich

6.

Kritik (in) der Leistungsgerechtigkeit

6.1

Normative Leistungsverständnisse im Zentrum-Peripherie-Vergleich

6.2

Ideologiekritik und Arbeitskämpfe

6.3

Kritischer Gehalt des Leistungsprinzips in Arbeitskämpfen

6.3.1

(Re-)Politisierung des Leistungsprinzips

6.3.2

Welche Ausbeutungskritik?

6.3.3

Kritik an sexistischen und rassifizierten Arbeitsstrukturen

6.3.4

Resümee

7.

Schlussfolgerungen

Abkürzungen

Abbildungen

Tabellen

Datenquellen

Interviewmaterial

Dokumente

Literatur

Dank

Vorwort von Axel Honneth und Stephan Voswinkel

Das Thema der vorliegenden Studie von Thiago Aguiar Simim ist von großer gesellschaftstheoretischer und zeitdiagnostischer Relevanz, obgleich es im öffentlichen Bewusstsein gegenwärtig nicht viel Beachtung zu finden scheint: Das »Leistungsprinzip«, das in modernen Gesellschaften immer wieder als Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten, aber auch immer wieder als Maßstab für deren immanente Kritik fungiert. Es ist die »Leistung«, die vom Einzelnen oder von den verschiedenen Berufsgruppen für das gesellschaftliche Gesamtvermögen erbracht wird, die nach diesem normativen Verständnis die Verteilung von Einkommen und Status regeln soll. Dieses »Leistungsprinzip« wird zwar mitunter als selbsterklärend und selbstverständlich in verschiedenen Diskursen als Argument verwendet, es ist jedoch weder historisch universell noch steht es allein in der Bewertung von Verteilung und Ungleichheit. Andere Normen werden zur Begründung von Ansprüchen herangezogen: etwa das Bedarfsprinzip, das Gleichheitsprinzip oder auch die tautologische Selbstrechtfertigung von marktinduzierten Erträgen.

Schon diese kurzen Erinnerungen machen deutlich, wie unbestimmt und umstritten das Leistungsprinzip in seiner Bedeutung und Anwendung tatsächlich ist; unklar ist sowohl, was »Leistung« eigentlich beinhalten soll, als auch, an welcher Größe – Bruttosozialprodukt oder soziales Gemeinwohl - sich der Ertrag der Leistung bemessen soll und ob es nicht eher um den Aufwand oder das Engagement derjenigen geht, die »etwas leisten«.

Thiago Aguiar Simim untersucht nun in einer vergleichenden Studie zu Arbeitskämpfen in Deutschland und Brasilien, wie von den Beschäftigten in beiden Ländern dieses normative Prinzip zur Begründung der eigenen Forderungen verstanden und angewandt wird. Dies ist ein komplexes Vorhaben, da es gilt, sich zunächst einmal darüber Klarheit zu verschaffen, welche sehr verschiedenen Ausdeutungen dessen möglich sind, was unter »Leistung« verstanden werden kann. Thiago Simim gibt deshalb in seiner »Einleitung« zunächst einen kurzen, an Claus Offes einschlägige Untersuchung angelehnten Überblick über die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen des Leistungsprinzips. Sodann muss bedacht werden, dass verschiedene Beschäftigtengruppen unterschiedliche Dimensionen von »Leistung« in Anschlag bringen können, dass also das, was unter »Leistung« verstanden wird, im Zusammenhang verstanden werden muss mit der sozialen Position und den Erfahrungen in Arbeit und Gesellschaft, die die Beschäftigten jeweils machen. Der Autor stellt die Unterschiede verschiedener Grade und Arten von Qualifikation, die sie jeweils mitbringen, in den Mittelpunkt, weil er zu Recht vermutet, dass hiermit unterschiedliche Erfahrungen verbunden sind, worin der Wert der eigenen Arbeit für sich selbst und für die Gesellschaft besteht und wie dieser öffentlich reklamiert werden kann.

Aus dem Vorsatz, mit seiner Studie einen Beitrag zu einer kritischen Gesellschaftstheorie zu leisten, ergibt sich der argumentative Aufbau und die Gliederung des Buches von Thiago Simim: Im zweiten Kapitel wird im Anschluss an einschlägige Arbeiten der jüngeren Zeit, etwa von Boltanski, Dubet und Neckel, umrissen, welcher Stellenwert den sozialen Konflikten um das Leistungsprinzip überhaupt für die Absichten einer kritischen Gesellschaftstheorie der Gegenwart zukommt. Insofern nimmt die Studie ihren Ausgang von einer wenigstens rudimentären Klärung der Rolle dieses Prinzips in den kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart. Im dritten Kapitel wird das methodische Verfahren dargestellt und begründet, mit dessen Hilfe die vergleichende Untersuchung der Rolle des Leistungsprinzips in den Arbeitskämpfen Deutschlands und Brasilien durchgeführt werden soll. Im anschließenden, vierten Kapitel präsentiert Simim die Ergebnisse seiner Auswertung der empirischen Untersuchung, wobei er naturgemäß besonders auf die Unterschiede in den von den Akteur:innen herangezogenen Begründungsmustern für die jeweiligen Streikziele in den Arbeitskämpfen beider Länder abzielt. Auf der Grundlage dieser Befunde kehrt Simim im fünften Kapitel nun in gewisser Weise zu seinem Ausgangsthema zurück, indem er Betrachtungen darüber anstellt, welche praktisch-normative Rolle dem Leistungsprinzip in den Arbeitskämpfen der Gegenwart und den Rechtfertigungsmustern der Akteur:innen zukommt. Das letzte, sechste Kapitel schließt die Arbeit mit allgemeineren Überlegungen dazu ab, wie das Leistungsprinzip, das immer auch Rechtfertigungsnarrativ für bestehende Ungleichheiten ist, verstanden werden sollte, um es für die Absichten einer kritischen Gesellschaftstheorie wieder fruchtbar zu machen.

Im Mittelpunkt seiner empirischen Erhebungen und Auswertungen stehen – neben der Auswertung von Streikdokumenten; Tarifvertragstexten und Presseberichten – qualitative Experteninterviews mit Akteur:innen, die vor allem auf der Seite der Streikenden engagiert waren: Vertreter:innen der Gewerkschaften in Deutschland und Brasilien bzw. von Streikkomitees »wilder« Streiks wie denen der Straßenkehrer:innen in Rio de Janeiro. Um der Vermutung nachgehen zu können, dass die Rechtfertigungsmuster der Streiks und der Verständnisse von »Leistung« sich nicht zuletzt zwischen verschiedenen Qualifikationsgraden der Beschäftigten unterscheiden, wurde das Sample vor allem nach Streiks von Beschäftigten unterschiedlicher Qualifikationsniveaus strukturiert.

Was diese Untersuchung besonders verdienstvoll macht, ist nicht zuletzt der internationale Vergleich. Es ist inzwischen fast ein Gemeinplatz, dass die sozialwissenschaftliche Forschung immer noch allzu sehr in »nationalen Containern« (Ulrich Beck) denkt. Da erstaunt es immer wieder, wie wenig zumindest die Methode des internationalen Vergleichs gewissenmaßen als theoretische Vorstufe genutzt wird, um dieses Defizit ein wenig zu beheben. Hier nun liegt ein solcher Versuch vor und es wird deutlich, welche Erkenntnisse sich auf diese Weise gewinnen lassen. Aber hier handelt es sich nicht einfach um einen internationalen Vergleich zwischen scheinbar »vergleichbaren« nordatlantischen Ländern, wie sie im Zusammenhang mit dem Paradigma der »Varieties of capitalism« immer mal wieder vorgenommen wurden. Diese Arbeit stellt sich vielmehr der Herausforderung eines Vergleichs von zwei Ländern, die dem »Zentrum« und der »Peripherie« des kapitalistischen Weltsystems zugerechnet werden müssen.

Das beinhaltet nicht zuletzt die Frage, wie denn diese Länder, die für unterschiedliche Modernisierungsprozesse des modernen Kapitalismus stehen, im Hinblick auf ein für die Moderne charakteristisches normatives Leitbild verglichen werden können. Man könnte zum Beispiel vermuten, dass in Brasilien vormoderne Prinzipien sozialer Statusverteilung eine größere Rolle als in Deutschland spielen. Man könnte auf die unterschiedlichen Gewichte von Wirtschaftsstrukturen verweisen, auf verschiedene Institutionen von Beruflichkeit und nicht zuletzt auf differierende Ausprägungen industrieller Beziehungen. Hinzu kommt, dass die Arbeitswelten in beiden Ländern strukturell heterogen sind, mit prekären, informellen Bereichen, die in Brasilien noch umfangreicher als in Deutschland sind, neben »modernen« Sektoren insbesondere transnationaler Unternehmen. Alles das einzufangen übersteigt natürlich die Möglichkeiten einer solchen Studie.

Nichtsdestotrotz präsentiert Thiago Simim bereits bemerkenswerte Befunde seiner empirischen Analyse: So spielt etwa in Brasilien bei der öffentlichen Legitimierung von Streiks und Arbeitskämpfen viel stärker als in Deutschland die Betonung des gesellschaftlichen Werts einer Tätigkeit eine tragende Rolle; insgesamt beruft man sich hier daher eher auf die Ertrags- oder Ergebnisseite der reklamierten Leistungen, um deren soziale Relevanz hervorheben zu können, während man in Deutschland tendenziell stärker die Aufwandsseite, also Faktoren wie Belastung, Arbeitszeit und Risiko, betont, um auf diese Weise Forderungen nach Gleichstellung mit besser gestellten Berufsgruppen rechtfertigen zu können. Darüber hinaus stellt er fest, dass es in Brasilien bei der Berufung auf die eigene Leistung eher eine Neigung gibt, sich »nach unten« von den »einfacheren«, weniger bis nicht-qualifizierten Berufsgruppen, häufig vor allem den körperlichen Arbeiten distinktiv abzugrenzen.

Diese auffälligen Differenzen lassen sich auf unterschiedliche Entwicklungswege und historische Pfadabhängigkeiten der beiden Länder zurückführen. Während in Deutschland eine relativ lange Geschichte der Industrialisierung mit ihren typischen Stationen der Taylorisierung und schließlich des wohlfahrtsstaatlich organisierten Kapitalismus dazu geführt hat, dass sich Gleichheitsansprüche kulturell breitenwirksam haben sedimentieren können, vollzog sich in Brasilien der Übergang vom Agrarland zur heutigen Dienstleistungsgesellschaft ziemlich abrupt und ohne »normative« Zwischenstufen, so dass hier im Leistungsverständnis körperlicher Aufwand und physische Belastung eine geringere Bedeutung besitzen. Dabei spielen auch (latent) rassistische Strukturen vor dem Hintergrund der langen Geschichte der Sklaverei in Brasilien eine Rolle. Der Bezug auf die Leistung für die Gesellschaft mag auch damit zu tun haben, dass aufgrund der politischen Situation und der anderen Struktur industrieller Beziehungen Streiks – zumal im öffentlichen Dienst – eine ungleich stärkere politische Dimension besitzen. Diese wenigen Überlegungen zeigen bereits, wie fruchtbar der internationale Vergleich sein kann, aber auch, wie komplex das Insgesamt der Dimensionen und Faktoren zu fassen wäre, die hierbei zu berücksichtigen sind.

In seiner im fünften Kapitel vorgenommenen generelleren Betrachtung zur Stellung des Leistungsprinzips im Gesamthaushalt der Gerechtigkeitsprinzipien und Legitimationsmuster von kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart betont der Autor, dass sich die seit Offe eingespielte Unterscheidung zwischen einem aufwands- und einem resultatsorientierten Leistungsverständnis zwar theoretisch als Orientierungsrahmen sehr empfiehlt, dass sie sich aber in der Anwendung auf konkrete Rechtfertigungspraktiken in Streiks und Arbeitskämpfen nur als bedingt tauglich erweist; denn hier, so macht Simim im Rückblick auf seine Befunde deutlich, vermischen sich beide Bedeutungshinsichten doch immer wieder, weil sie situativ mit Blick auf konkrete Herausforderungen angewandt werden und daher häufig, wie sich vielleicht sagen ließe, Mischformen eingehen. Von hier aus bahnt sich Simim den Weg zu einer Überprüfung der von ihm selbst in Anschlag gebrachten und als fundamental betrachteten Kategorie der »Unrechtsempfindung«, die den moralischen Ausgangspunkt eines jeden sozialen Kampfes und insbesondere jeden Arbeitskampfes bezeichnen soll. Angesichts der Ergebnisse seiner empirischen Erhebungen kommen ihm allerdings selbst Zweifel an dieser Kategorie, weil sie zu unterstellen scheint, es handele sich dabei um etwas gewissermaßen »Rohes«, noch nicht von den sich im Umlauf befindlichen Rechtfertigungsmustern und Sozialnormen Beeinflusstes; stärker als zu Beginn wird daher jetzt mit Recht hervorgehoben, dass solche moralischen Empfindungen häufig bereits vom normativen Vokabular ihrer Zeit und des jeweiligen kulturellen Raums durchdrungen sind und daher nur provisorisch als pure, noch nicht beeinflusste und informierte Gefühle beschrieben werden können. An dieser Stelle wird deutlich, wie komplex das Verhältnis von Unrechtsgefühlen und Kritikformen zu verstehen wäre, zumal es bei den Aussagen der Akteur:innen über die Arbeitskämpfe ja immer um öffentliche oder jedenfalls an andere Adressat:innen gerichtete Rechtfertigungsnarrative geht, die immer auch – neben dem Rekurs auf Motivationen und Empfindungen der eigenen Konfliktseite - um Anschlussfähigkeit bei den Adressat:innen im öffentlichen Diskurs bemüht sein müssen – ein Problem, dessen Bedeutung für die empirische Erhebung sich Thiago Simim sehr wohl bewusst ist.

Hier sind dann auch zweifellos weitere Fragen noch offen: Nach der Bedeutung von Rechtfertigungsformen, ihrem Verhältnis zu Unrechtsempfindungen und zu deren Vermittlung durch Akteur:innen der Interessenvertretung und öffentlich agierender Organisationen; nach der Bedeutung der jeweiligen Institutionen industrieller Beziehungen und politischer Konstellationen; und nach der Vermittlung mit anderen normativen Dimensionen sozialer Ungleichheit, wie sie etwa in der Intersektionalitätsforschung (insbesondere im Hinblick auf »Rasse« und Geschlecht) thematisiert werden. Hier gäbe es viele Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen in diesem lange unterschätzen Themengebiet. Hinzu kommt, dass Simim auf eine Kategorie aufmerksam macht, die sich nicht recht ins Aufwands- und Ergebnisschema des Leistungsbegriffs fügen mag: die »Verantwortung«, die mit der Tätigkeit verbunden ist. Sie wird in beiden Ländern von Hochqualifizierten zur Rechtfertigung ihrer Ansprüche ins Spiel gebracht. Dabei bleibt aber weitgehend unbestimmt, ob sie von den Beschäftigten mehr als Belastungsdimension oder mehr als Beitrag zum gemeinen Wohl verstanden wird und wie sie »gemessen« werden könnte. Der Bedeutung dieser Kategorie im Leistungsverständnis, mit der ja das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft in besonderer Weise angesprochen ist, wäre in der Debatte über das Leistungsprinzip weiter nachzugehen.

Thiago Aguiar Simim kommt das Verdienst zu, das Leistungsprinzip empirisch untersucht und zugleich in seiner Bedeutung für eine kritische Gesellschaftstheorie neu erschlossen zu haben. Am Gegenstand des Arbeitskampfes wird offenbar, dass dieses normative Konzept gerade in sozialen Konflikten als Kritik- und Legitimationsmuster zentral ist. Wie unterschiedlich seine Ausdeutung und Verwendung in gesellschaftlichen Diskursen ist, macht Simim nicht zuletzt im internationalen Vergleich auf beeindruckende Weise deutlich.

1.Einleitung

Wenngleich die Zeit der großen Industriestreiks vergangen zu sein scheint, sind Arbeitsniederlegungen aktuell nicht weniger relevant für das Verständnis gesellschaftlicher Praxis in der Arbeitswelt. 2015 war beispielsweise ein »außergewöhnliches Streikjahr« in Deutschland (WSI 2016: 1). Ebenso vermehrten sich Streikaktionen in Brasilien deutlich ab 2013 und sind seitdem immer noch sehr verbreitet (Dieese 2019: 43). Auffällig bei den beiden Ländern ist, dass die meisten Konflikte im Dienstleistungssektor stattfinden:1 Zu dieser Zeit streikten in Deutschland beispielsweise Erzieher:innen, Lokomotivführer:innen, Pilot:innen, Postangestellte und Einzelhandels-Beschäftigten; in Brasilien wiederum streikten unter anderem Straßenkehrer:innen, Bahnfahrer:innen, Busfahrer:innen, Schullehrer:innen, Professor:innen und Mitarbeiter:innen von Universitäten.

Anhand eines Streiks plädierten beispielsweise Straßenkehrer:innen in Rio de Janeiro/Brasilien im Jahr 2014 für eine Gehaltserhöhung – neben anderen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen – mit dem Argument, dass sie nicht gerecht für das belohnt werden, was ihre Arbeit zur gesellschaftlichen Reproduktion beiträgt. Mithilfe einer Arbeitsniederlegung gelang es ihnen ferner, den »Wert« ihres sozialen Beitrags deutlich zu machen, denn die Stadt »versank im Müll« bereits nach einem Wochenende (taz 2014). Gleichfalls versuchten Lehrerkräfte staatlicher Schulen mithilfe von Arbeitsniederlegungen jeweils in allen Bundesländern Brasiliens die Zahlung vom bereits gesetzlich festgelegten Mindestentgelt für ihre Berufsbranche geltend zu machen. Einer der Gründe für die Aufwertung des Berufes lautete, dass die Qualifikationsanforderungen für die Lehrtätigkeit sich nicht in der Honorierung ihrer Arbeit widerspiegeln. Zur gleichen Zeit befanden sich in Deutschland Erzieher:innen und Sozialarbeiter:innen von Kindertagesstätten (Kitas) ebenfalls in einem längeren Tarifkonflikt für die Verbesserung ihrer Löhne. Ein Ziel des Kita-Streiks 2015 war auch, den Wert »sozialer Dienstleistungsarbeit« in der Öffentlichkeit zu diskutieren (Schildmann/Voss 2018: 4). Sie betonen andererseits aber auch die zusätzlichen Qualifikationen, die sie abschließen mussten, um die heutigen Leistungsstandards erfüllen zu können.

Die kurz dargestellten Beispiele zeigen – wie auch in anderen Arbeitskämpfen in dieser Untersuchung betrachtet werden kann –, dass der Anspruch auf Aufwertung der Arbeit auf Basis der erbrachten Leistung unterschiedliche Aspekte zum Ausdruck bringt: Die Rechtfertigung nach gesellschaftlicher Relevanz nimmt beispielsweise die Perspektive des Arbeitsergebnisses ein, während die tätigkeitsbezogene Qualifikation eine Art Aufwandsanforderung repräsentiert. Voswinkel und Kocyba (2008) stellen diese Aspekte unter zwei Dimensionen des Leistungsbegriffs – Aufwand (Input) und Ertrag (Ergebnis oder Output) – schematisch vor:

»In der Aufwandsdimension bezieht sich Leistung erstens auf mit- oder eingebrachte Ressourcen wie Talente […] oder durch Ausbildung erworbene Qualifikationen. Zweitens wird Leistung definiert durch die Anstrengung, die Belastung in der Arbeit, den körperlichen und psychischen Einsatz. Hinsichtlich des Ergebnisses sind eine sachliche, eine soziale und eine ökonomische Dimension zu unterscheiden. Die sachliche Dimension umfasst Kategorien des Leistungsergebnisses wie die Menge und die Qualität des Erzeugnisses. In der sozialen Dimension geht es um die Problemlösung für Kunden oder das Verdienst, das sich Leistungsträger durch ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl erworben haben. In der ökonomischen Dimension schließlich geht es um wirtschaftliche Erfolgskategorien wie Umsatz, Ertrag und Gewinn, also um den Verdienst, der als Indikator von Leistung gilt« (ebd.: 23–24).

Zusammenfassend bieten Aufwand (Ressource oder Einsatz) und Ergebnis (sachliches, soziales oder ökonomisches) Bewertungskriterien für Leistung nach bestimmten Messverfahren. Der konkrete Aufwand für die Anfertigung einer Arbeit kann im Grunde nicht gemessen werden, sondern wird anhand bestimmter Maßstäbe festgelegt. Beispiele sind das »Qualifikationsniveau« (nach Abschluss) als Maßstab für Ressource und Arbeitszeit als Ausdruck von Einsatz. Dazu können weitere Kriterien hinzugefügt werden, wie Verantwortung oder besondere Belastungsformen (z. B. Schichtdienst). Die Messbarkeit des Outputs variiert naheliegend sehr stark zwischen sachlichen oder ökonomischen Erträgen und sozialen Ergebnissen. Während Erstere sich in Zahlen unmittelbar ausdrücken lassen, können Letztere kaum auf eine berechenbare Form reduziert werden. Jenseits dieser »Mehrdeutigkeit« (ebd.) des Leistungsbegriffs sind die Geltung, der Umfang, der Parameter und das Verhältnis zwischen diesen Bewertungsmaßstäben auch sehr umstritten. Auf ihre »Vergleichbarkeit« ist die »Bestimmung des differentiellen Arbeitswertes« angewiesen (Offe 1970: 122), das heißt die Möglichkeit der »gerechten« Festlegung dessen, welche Honorierung jeder Arbeit gebührt.

Claus Offe spricht weiterhin in seiner Studie (1970) von den problematischen Konsequenzen einer gespalteten Gestaltung des Leistungsbegriffs: »Je nachdem, ob eine objektivistisch verfahrende Methode der Ermittlung von Arbeitswerten auf die Aufwands- oder die Ertragsseite der Arbeitsfunktion das größere Gewicht legt, ergeben sich daher entgegengesetzte Resultate« (1970: 133). Für Offe verweist dies auf den »unausgetragenen Dualismus« (ebd.: 47) des Leistungsprinzips, denn dies setzt unausweichlich eben die Erfüllung dieser (gelegentlich) entgegengesetzten Kriterien voraus, die sich in beiden Dimensionen finden.2

Außer der internen Spaltung ergibt sich aus der Beziehung von Leistungsprinzip zu weiteren Gerechtigkeitsprinzipien in vielen Fällen auch ein Spannungsverhältnis, was beispielsweise François Dubet in seiner empirischen Studie über (Un-)Gerechtigkeit bei Beschäftigten zeigt:

»Die Arbeiter wollen nicht nur, dass ihre Gleichheit garantiert wird, sie wollen auch, dass ihre Leistung anerkannt und ihre Autonomie gewährleistet wird. Und weil sie ›alles wollen‹, unterliegt ihre soziale Erfahrung einer normativen Dynamik, denn wer auf diesem Gebiet alles auf einmal will, will eigentlich alles und gleichzeitig auch das Gegenteil« (Dubet 2008: 37).

Insofern sind nicht nur die internen Bestimmungen des Leistungsbegriffs, sondern auch dessen Abgrenzung zu weiteren Ansprüchen in der Arbeitswelt ein sehr umkämpftes Gebiet.

Stellen die unterschiedlichen Leistungsverständnisse also einen »Definitionskampf« dar (Neckel 2001: 249; auch bei Dörre 2019: 175), der vorrangig in der politischen Praxis stattfindet, so bieten Arbeitskämpfe einen privilegierten Ort für die Erforschung ihrer normativen Konturen aus einer immanenten Perspektive. Denn Arbeitskämpfe artikulieren moralische Ansprüche, die in der Arbeitswelt verankert sind, so lautet die Grundidee immanenter Kritik. Als ein umfassendes modernes Prinzip – das für die Bekämpfung von Privilegien in Anspruch genommen werden soll –, das aber in unterschiedliche Praktiken und Arbeitsorganisationen eingeschrieben ist, kann ein solches Prinzip ebenfalls zwischen unterschiedlichen Kontexten abweichen. Zwischen Zentrum und Peripherie der Modernität – die hier jeweils von Deutschland und Brasilien repräsentiert werden können – sind nicht nur verschiedenartige Modernisierungsprozesse, sondern auch historisch heterogene Arbeitsorganisationen und Ungleichheitsstrukturen zu finden, die auf die normativen Leistungsverständnisse einen erheblichen Einfluss nehmen durften.

In Anbetracht dessen widmet sich die vorliegende Untersuchung der Problematik des Leistungsprinzips bei Arbeitskämpfen im binationalen Vergleich. Dafür werden im 2. Kapitel der theoretische Ausgangspunkt ausgeführt sowie konzeptionelle Punkte ausformuliert, die dieser Forschungsarbeit zugrunde liegen. Insbesondere die historische Rekonstruktion des Leistungsprinzips bei unterschiedlichen Arbeitsarrangements in beiden Kontexten soll die Grundlage für die Fragestellung bilden. Das 3. Kapitel stellt die angewandte Erhebungs- und Auswertungsmethode vor sowie die praktische Herausforderung dieser binationalen Forschung. Das 4. Kapitel präsentiert die Datenauswertung in drei Schritten: die Auswertung jeweils des deutschen und des brasilianischen Materials und die Analyse von vier exemplarischen Einzelfällen. Das 5. Kapitel stützt sich auf die Datenauswertung: Es operiert auf der Kategorienebene und verfolgt die Fragen der Bewertungskriterien des Leistungsprinzips und dessen praxisbezogenen Verständnisses in den untersuchten Arbeitskämpfen. Dabei werden ebenfalls einige Ergebnisse des binationalen Vergleiches vorgestellt, die der theoretischen Reflexion den Weg bereiten sollten. In Anschluss daran werden im 6. Kapitel einige Thesen aufgestellt, die sich aus der Zusammenführung der empirischen Befunde mit der theoretischen und historischen Rekonstruktion des Leistungsprinzips ergeben.

2.Konzeptionelle Grundlagen

Die Thematik der vorliegenden Arbeit erstreckt sich über unterschiedliche Forschungsfelder, deren Stand in beiden untersuchten Ländern ebenfalls unterschiedlich aussehen. Die Arbeitssoziologie Brasiliens setzte sich kaum mit der Normativität der Arbeit auseinander.3 Anschlussfähig an diese Thematik sind eher Studien, die sich der Untersuchung von modernen Arbeitsorganisationen in Brasiliens widmen, wie die von Antunes (1988, 2013; Antunes/Braga 2009), und Beiträge zu sozioökonomischen Strukturen der Arbeit während der Modernisierung Brasiliens, wie bei Oliveira (2003) und Souza (2006, 2008).

Aufschlussreiche Befunde für das Leistungsprinzip in der Arbeit bieten vor allem sozialwissenschaftliche Studien im deutschen Kontext. Das Buch von Claus Offe – Leistungsprinzip und industrielle Arbeit (1970) –, das die Obsoleszenz dieses Prinzips in den Industriegesellschaften feststellt, eröffnet paradigmatische Perspektiven für weitere arbeitssoziologische Untersuchungen zum Leistungsprinzip. Erwähnenswert sind hier Beiträge über Leistungsverständnisse in der aktuellen (posttayloristischen) Arbeitsorganisation, wie von Neckel (2001), Voswinkel/Kocyba (2008), Dröge/Marrs/Menz (2008), Menz (2009) und Kratzer u. a. (2019), die in diesem Kapitel noch ausgeführt werden.

Die breitere Einsicht in die neue posttayloristische Arbeitsorganisationen besitzt für diese Forschung ebenfalls eine erhebliche Relevanz. Nennenswert ist an dieser Stelle – was in Punkt 2.4.2 detaillierter behandelt wird – die These des »neuen Geistes des Kapitalismus« von Boltanski/Chiapello (2018), die die Umwandlung ideologischer Rechtfertigungsordnung des Kapitalismus und seiner Arbeitsarrangements darlegt, sowie das Konzept des Arbeitskraftunternehmers von Pongratz/Voß (2004), das bei diesen postfordistischen Arbeitsorganisationen den Fokus auf die Perspektive der Anforderungen, Bedingungen und Gestaltung einer neuartigen Arbeitskraft legt.4 Mit den neueren Arbeitsarrangements gehen auch weitere normativen Fragen einher, die für diese Forschung informativ sein können, wie die Subjektvierung der Arbeit (Kleemann/Matuschek/Voß 1999; Moldaschl/Voß 2003; Voswinkel 2012), die Idee sinnvoller Arbeit (Hardering 2015, 2020) und der soziale Nutzen von Arbeit (Nies 2015).

Einen besonderen Stellenwert für die vorliegende Forschung besitzen naheliegend empirische qualitative Studien über Arbeitnehmer:innen. Sowohl die Studie von Popitz u. a. [1957] (2018) zum Gesellschaftsbild von Arbeiter:innen in der Hüttenindustrie als auch neuere Beiträge, die normative Ansprüche von Beschäftigten empirisch erforschen, wie Dubet (2008) Dörre u. a. (2013), Hürtgen/Voswinkel (2014) und Kratzer u. a. (2019), stellen wichtige Befunde über die Normativität bei unterschiedlichen Arbeitsformen heraus. Hauptsächlich die Studie von Dubet (2008) zu Ungerechtigkeitsgefühlen von Beschäftigten kann nicht nur inhaltlich – denn das Leistungsprinzip wird dabei neben anderen Prinzipien, wie Gleichheit und Autonomie, eingehend behandelt –, sondern vor allem auch konzeptionell für diese Forschung exemplarisch sein. Dubet geht nämlich von der Untersuchung immanenter Unrechtsgefühle aus, die sich anschlussfähig an eine kritische Gesellschaftsforschung zeigt (Honneth 2000, 2011). Obwohl Dubets Analyse – sowie die weiteren bereits zitierten Studien – sich nicht mit normativen Ansprüchen im Rahmen von Arbeitskämpfen befasst, ist die Grundidee der Erforschung von Gerechtigkeit vom Standpunkt der artikulierten Unrechtsgefühle hier ebenfalls fruchtbar.

Zuletzt könnte zwar die soziologische Gerechtigkeitsforschung von Liebig (1995; Liebig/Wegener 1995; Liebig/Lengfeld/Mau 2004) angesichts ihrer Thematik ebenso eine Station dieser Arbeit sein. Seine Forschung zielt auf »eine Systematisierung von Gerechtigkeitsvorstellungen auf der Ebene von Gesellschaften« ab, die sich gegenüber normativen Theorien als eine soziologische Beschreibung versteht (Liebig 1995: 349). Wenngleich seine Arbeit interessante Angaben zum Thema Leistungsprinzip in internationalen Vergleichen vorstellt, kann sie hier allerdings nicht weiterhelfen, denn nicht nur ihre quantitativ und deduktiv geprägte Herangehensweise, sondern auch ihre wissenschaftlichen Grundannahmen sind mit der Aufgabe einer kritischen Theorie schwer vereinbar. Denn wie unten erörtert wird, versteht sich die kritische Gesellschaftsforschung nicht als eine reine Beschreibung der Realität, sondern ihre Aufgabe – und die der an sie angelehnten Soziologie – besteht darin, über ihren normativen Maßstab selbst zu reflektieren und die Praxis ebenfalls aus der Sicht deren emanzipatorischer Potenziale zu begreifen (Adorno 1993: 23 ff.).

Spezifische Literatur zum Leistungsprinzip im Rahmen von Arbeitskämpfen in Deutschland oder Brasilien wurde nicht ausfindig gemacht. Aber es werden noch in diesem Kapitel weitere wesentliche Forschungsansätze sowie theoretische und historische Annahmen herausgearbeitet, die geeignet sind, als Grundlage vorliegender Forschungsarbeit zu dienen.

2.1Kritische Gesellschaftsforschung und Ansprüche in der Arbeitswelt

Der theoretische Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist ein Modell kritischer Theorie im weitesten Sinne. Ausgehend von der Idee, dass Wahrheit einen geschichtlichen Gehalt besitzt, zielt die kritische Gesellschaftsforschung laut Horkheimer, in Opposition zu traditionellen Wissenschaftskonzepten, auf eine engere Verknüpfung von (zeitdiagnostischer) Gesellschaftsanalyse und emanzipatorischer Praxis ab (Horkheimer 1937). Dies deutet auf eine Wissenschaftspraxis hin, die »[…] sich sowohl ihren sozialen Entstehungskontext als auch ihren praktischen Verwendungszusammenhang ständig bewusst hält« (Honneth 1999: 30). Diese Praxis weicht wesentlich vom Paradigma traditioneller Theorien ab, das die Realität »objektiv« und »neutral« zu beschreiben anstrebt: Die Gesellschaftsanalyse soll vielmehr zeitdiagnostisch, selbstreflexiv und normativ angelegt sein, das heißt, von Widersprüchen und Potenzialen ausgehend, »die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuspüren« (Adorno 1993: 31).

Die Erforschung der normativen Dimension der menschlichen Arbeit im Anschluss an die Gesellschaftsforschung der Kritischen Theorie ist jedoch ein nicht unproblematisches Unternehmen, denn die Arbeitswelt wurde vom großen Teil dieser Tradition nahezu ausschließlich aus dem systemischen Gesichtspunkt des instrumentellen und strategischen Handelns konzeptualisiert.5 Die vorliegende Forschung charakterisiert sich wiederum als ein Versuch, sich zwar mit instrumentellen, aber auch mit moralischen Fragen in der Arbeit auseinanderzusetzen.

Aus diesem Ansatz ergibt sich, dass die Normativität der modernen Arbeitswelt grundsätzlich aus der Sicht ihrer ambivalenten Implikationen in Betracht gezogen werden soll. Diese Normativität lässt sich zum einen als ein Teil der Reproduktion des systemischen Gesetzes kapitalistischer Produktionsweise – denn deren Reproduktion und Legitimationsformen benötigen und bilden normative Grundlagen – und zum anderen auch als moralische Ansprüche erfassen. Deswegen ist diese Normativität auch ambivalent, denn sie könnte »sowohl – und oftmals zugleich – als Mobilisator von Kritik als auch als Legitimationsressource des Kapitalismus wirken« (Voswinkel 2011a: 93). Aus diesem Grund kann die soziale Praxis sowohl den Maßstab der Kritik gründen als auch zugleich von ihr kritisiert werden.

In Anbetracht der moralischen Dimension argumentiert Honneth – beim Versuch, die Problematik der Arbeit anerkennungstheoretisch zu umfassen – wie folgt: »Wir stoßen auf eine Reihe von moralischen Normen, die der modernen Arbeitswelt in derselben Weise zu Grunde liegen wie die Normen des verständigungsorientierten Handelns der sozialen Lebenswelt«; und diese Tatsache verweist auf »die Möglichkeit einer immanenten Kritik der existierenden Arbeitsverhältnisse« (Honneth 2008a: 333). In anderen Worten kann gemäß dem anerkennungstheoretischen Ansatz die arbeitskämpferische Praxis nicht auf deren strategische Dynamik reduziert werden: Sie stützt sich eigentlich auch auf moralische Ansprüche, die in der modernen Arbeitswelt normativ verankert sind.6 Die immanente Kritik postuliert eben, dass jene in Anspruch genommene Normativität sich nicht außerhalb der Arbeitssphäre befindet, sondern dass sie aus derer Praxis heraus aufgegriffen werden kann.

Für eine qualitative Forschung über Gerechtigkeitsvorstellungen bedeuten die oben ausgeführte Erörterung, dass die normativen Annahmen von Gerechtigkeit sich aus der Gesellschaftsanalyse immanent ergeben (Honneth 2011). Ein grundlegendes Verfahren hierfür ist es, gerade jene Normen der Kritik anhand der Sozialforschung immanent zu rekonstruieren. Dementsprechend soll das Erforschen von Gerechtigkeitsprinzipien auf der Grundlage der Anerkennungstheorie nicht wie beispielsweise im Prozeduralismus von rein formalen und abstrakten Annahmen ausgehen,7 vielmehr wird die Erkenntnis über normative Prinzipien vorrangig aus der Analyse konkreter Erfahrungen und Praxis gewonnen. Hierfür können die der Sozialpraxis entspringenden Gerechtigkeitsnormen anhand des artikulierten Unrechtsbewusstseins8 erforscht werden, das auch (aber nicht nur) in der Formulierung von Ansprüchen innerhalb von (Arbeits-)Kämpfen zum Ausdruck kommt. Honneth erläutert die Funktion des Begriffs des Unrechtsbewusstseins wie folgt: »Der Begriff des ›Unrechtsbewußtseins‹ soll hervorheben, daß die Sozialmoral von unterdrückten Gruppierungen […] ein hochempfindliches Sensorium für Verletzungen von als gerechtfertigt unterstellten Moralitätsansprüchen darstellt« (Honneth 2000: 115). Die Frage der erlebten Ungerechtigkeit zu stellen, zeigt sich sinnvoll auch in Hinblick auf die praktische Verwendung des Leistungsprinzips, das sich, so wie andere Gerechtigkeitsprinzipien, »weniger als positive Affirmation dar[stellt] denn als ein Ensemble von Kritiken an allem, was ihre Anerkennung behindert« (Dubet 2008: 96).

Eine vergleichbare Vorstellung von »Ungerechtigkeitsgefühlen« wird von Dubet (2008) im Rahmen seiner Untersuchung von Beschäftigtenansprüchen verwendet. In seiner Studie stellt er unter anderen Befunden fest, dass der Anspruch auf Anerkennung in der Arbeit auf eine Pluralität verschiedener Fragen verweisen kann, wie auf die »der Ehrbarkeit und Nützlichkeit der geleisteten Arbeit« oder »in Bezug auf die individuelle Besonderheit, […] dass ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse anerkannt werden und ihre Vorschläge Gehör finden« und »auf die Arbeit selbst, insbesondere auf das, was sie das Individuum gekostet hat: Mühe, Stress, Einsatz« (ebd.: 44–45). Diese diversen Varianten lassen sich theoretisch durch den Begriff »sozialer Wertschätzung« erfassen. Sollen »Distributionskämpfe«, wie die Forderung nach einem besseren Gehalt, auf einem Anerkennungsanspruch basieren (Honneth 2003: 174), plädieren sie dadurch nicht nur für eine materielle Verbesserung, sondern auch für die Veränderung des Stellenwerts bzw. die Umwertung entsprechender Arbeit in der Gesamtgesellschaft und damit für die Aufwertung der sozialen Wertschätzung bestimmter »Fähigkeiten und Leistungen« (Honneth 1994: 198).

Laut Honneth sind »die Verhältnisse der sozialen Wertschätzung […] mit dem Verteilungsmuster des Geldeinkommens auf indirekte Weise verkoppelt«. Aus diesem Grund »gehören auch die ökonomischen Auseinandersetzungen konstitutiv dieser Form eines Kampfes um Anerkennung an« (ebd.: 206). Es handelt sich bei diesen Ansprüchen eben darum, eine normative Neuinterpretation der gesellschaftlichen Bedeutung einer Leistung zu postulieren. Dies kann auch in konkreten Beispielen – wie in der Einleitung vorgestellt – betrachtet werden, in denen auch weiterreichende normative Forderungen zur angemessenen sozialen Wertschätzung der eigenen Arbeitsleistung in ökonomischer Form zum Ausdruck gebracht wird. Obwohl soziale Wertschätzung ebenso an symbolische Formen der Anerkennung, beispielsweise soziales Prestige,9 gebunden ist, liegt es auf der Hand, dass die herkömmliche »Anerkennungsform« innerhalb der kapitalistischen Arbeitsorganisation sich durch das Geld bzw. die Höhe des Lohnes ausdrückt.10 Aus dieser Sicht sind also materielle und moralische Dimensionen von Arbeitskämpfen miteinander verknüpft, weil einerseits hinter materiellen Ansprüchen in der Arbeitswelt (auch) das Postulat sozialer Wertschätzung steckt, die sich andererseits durch die materielle Aufwertung ausdrücken kann, weil Geld hier primär auch ein Zeichnen von sozialer Wertschätzung ist: Geld dient zwar konkret grundsätzlich zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, ist aber ebenfalls »das Symbol der Wahlfreiheit« (Voswinkel 2013: 125).11

In seiner Studie zu Ungerechtigkeitsgefühlen von Beschäftigten stellt Dubet außerdem fest, dass der Ausbeutungsbegriff »als radikale Negation der Leistung aufgefasst wird«, die durch die »fundamentale Diskrepanz zwischen der von den Individuen erbrachten Arbeit und ihrer Entlohnung« empfunden wird (Dubet 2008: 119). Auf diese Weise vertritt er die Position, dass das Leistungsprinzip einen »Bestandteil der (immer noch sehr aktuellen) Kritik der Ausbeutung« bildet (ebd.: 27). Es liegt auf der Hand, dass sein praxisbezogener Ausbeutungsbegriff nicht mit dem marxschen übereinstimmt – obwohl beide Konzepte über einen gemeinsamen Jargon verfügen. Die Ausbeutungskritik12 von Marx geht nämlich von der Analyse einer kapitalistischen lohnabhängigen Arbeitsform aus, die als Äquivalenztausch schlechthin auf Ausbeutungsverhältnisse zurückzuführen ist (Marx 1962: 49 ff.). Ihre vulgäre Version (wie die von Dubet) unterstellt aber die Verletzung des Äquivalenzprinzips selbst, was eine Ausbeutung zweiten Grades wäre. Insofern ist Ausbeutung in diesem Konzept, laut Dörre, »mit ›Überausbeutung‹ identisch« (2017: 187). Für Dubet jedoch, sofern das »Gefühl der Ausbeutung« – das heißt das Gefühl, dass ein Teil der Arbeit »gestohlen wird« (Dubet 2008: 97) – für die Gerechtigkeitsvorstellung von Arbeitnehmer:innen signifikant bleibt, macht jene Abweichung vom marxschen Ausbeutungsbegriff dessen praktische und theoretische Verwendung nicht weniger berechtigt.13 Ganz im Gegenteil wäre diese Ausbeutungskritik in der Lage, die Diskrepanzen auf dem Markt normativ zu erfassen und die damit verbundenen Empörungen in einen Begriff zu kanalisieren.

Diese revitalisierte Ausbeutungsidee zeigt sich in der Tat auch anschlussfähig an den anerkennungstheoretischen Ansatz, weil diese »Distributionskämpfe« in der Normativität der Arbeitswelt verankert sein können – wie Honneth eingehender in seinem Streit mit Fraser auslegt (Honneth 2003: 174 ff.). Bezüglich des Leistungsprinzips deutet diese Normativität auf die Kooperation der Arbeitsteilung: Die soziale Wertschätzung, als »soziale Wertordnung« (Honneth 1994: 207), kann in der Praxis kapitalistischer Produktionsweise – und teilweise auch in der Theorie – in die Frage der Leistungsgerechtigkeit übersetzt werden.14 Denn es handelt sich beim Wertschätzungsbegriff gerade um die Anerkennung erbrachter Leistungen, an denen »sich das soziale Ansehen der Subjekte« in westlichen modernen Gesellschaften15 bemessen lässt (ebd.).

Freilich bedeutet diese moralphilosophische Herangehensweise an das Leistungsprinzip – wie an weitere normative Prinzipien – keineswegs das Verschwinden von systemischen, strategischen oder instrumentellen Handlungen. Insbesondere innerhalb der Sphäre der Arbeit sind erstens Konflikte durchaus durch gruppenspezifische Interessen – jeweils unter anderem vonseiten der Beschäftigten, Arbeitgeber:innen, Gewerkschaften, Betroffenen, Öffentlichkeit, Regierung – und strategische Aktionen – wie die Arbeitsniederlegung und Demonstrationen selbst – gekennzeichnet. Es geht in dieser Untersuchung darum, diese unterschiedlichen Handlungsdimensionen bei der Analyse von Arbeitskämpfen mit zu berücksichtigen, anstatt sie – analytisch oder ontologisch – zu trennen. Denn Anerkennung und Interesse sind Voswinkel zufolge (2011b) »unterschiedliche Dimensionen jeden Handelns« (ebd.: 53), die sich komplementär zueinander verhalten, aber eben auch Differenzen zeigen können (ebd.: 56). Im Fall von Arbeitskämpfen scheint diese Mehrdimensionalität noch deutlicher: Anerkennungsansprüche ändern sich im Zuge eines Arbeitskampfes wegen interessenorientierter Problematiken, die hingegen auch auf jene moralischen Ansprüche Einfluss nehmen können. Spezifisch in Bezug auf das Forschungsinteresse können durch diesen Ansatz außerdem sowohl ein kritisches als auch ideologisches Verständnis bzw. Nutzen des Leistungsprinzips angemessener erfasst werden.

Zweitens ist die Untersuchung von Leistungsgerechtigkeit besonders heikel: Als ein bürgerlich kapitalistisches Verteilungsprinzip trägt sie einen »unzweideutig ideologischen Charakter« in Bezug darauf, »was in welchem Maße als ›Leistung‹, als Kooperationsbeitrag zählt« (Honneth 2003: 166).16 Auf der anderen Seite bilde sie eine »normative Ressource« (ebd.: 175), die ebenfalls für die »Umwertung der herrschenden Leistungsdefinitionen« in Anspruch genommen werden kann (ebd.: 177).17 Aus diesem Grund zeigt es sich als wesentlich für die Weiterführung dieser Forschungsarbeit, die Thematik der Leistungsideologie eingehender aufzugreifen.

2.2Leistungsideologie

Weil das Leistungsprinzip sowohl für die Kritik an und Bekämpfung von Privilegien als auch für die ideologische Legitimierung sozialer Ungleichheiten in Anspruch genommen werden kann (Voswinkel/Kocyba 2008; Menz 2009; Kratzer u. a. 2019; Verheyen 2018), stellt sich konsequenterweise die Frage nach der Grenze zwischen dem kritischen und ideologischen Sinn und Nutzen dieses Ansatzes. Hierfür kann Ideologie als ein normatives Rechtfertigungsmuster definiert werden, das die Funktion erfüllt, Herrschaft- und/oder Machtverhältnisse zu legitimieren und damit zu ihrer Aufrechterhaltung beizutragen – wie in den unten ausgeführten Konzeptionen verdeutlicht wird. Leistungsideologien könnten, je nach der Perspektive, mit unterschiedlichen Herangehensweisen kritisch diskutiert werden: der (1) faktischen Prüfung hinsichtlich der fehlenden Realisierung des Leistungsprinzips, (2) der grundlegenden Zurückweisung, aufgrund der nicht möglichen Vergleichbarkeit zwischen Arbeiten, und (3) einigen analytischen Betrachtungen, die in Hinblick auf bestimmte Bewertungskriterien und/oder deren interne Widersprüche den ideologischen Charakter des Leistungsprinzips theoretisch oder häufiger auch zeitdiagnostisch ausdeuten.

Erstens wären die weitreichende Einkommenskonzentration und die sozioökonomische Kluft zwischen Armen und Reichen ein Beweis dafür, dass Leistungsprinzip faktisch seinen Zweck nicht erfüllt und dass »Privilegien« nicht nur fortbestehen, sondern auch sich vertiefen, wie beispielsweise Hartmann (2002) und Piketty (2014) konstatieren. In diesem Sinne würde das Leistungsprinzip eine Art ideologische Gerechtigkeitsvorstellung unterstützen, die die »realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse« (Hartmann 2002: 150) oder realen Verteilungsmechanismen materieller und symbolischer Güter nicht angemessen beschreibt. Abgesehen von der Pertinenz dieser Analyse sagt die fehlende Faktizität des Leistungsprinzips wenig über eine Ideologiekritik, die auf den normativen Gehalt des Leistungsprinzips in den Gerechtigkeitsvorstellungen arbeitender Menschen verweist.

Zweitens könnte Leistungsprinzip grundsätzlich deswegen ideologisch sein, weil die qualitativ unterschiedlichen Arbeiten, insbesondere in einer hoch ausdifferenzierten Arbeitsteilung, ihrem Wesen nach nicht miteinander vergleichbar sind. Inspiriert von der marxschen Kapitalismuskritik könnte die Leistungsgerechtigkeit als ideologisch betrachtet werden, weil sie nur anhand der Warenform, die sich als eine durch den Tauschwert vermittelte Äquivalenz versteht, ermöglich wird.18 Aus dem kapitalistischen Warentauschparadigma, das an sich bereits eine Realabstraktion ist, kann kein gerechter Tausch entstehen.19 Folglich sollte die Kapitalismuskritik, soweit die lohnabhängige Arbeit, die »den Wert schöpft«, Ausbeutungsverhältnissen unterworfen ist, nicht auf moralphilosophischen Annahmen basieren – so der marxsche Ansatz. Dementsprechend wäre Leistungsgerechtigkeit im Kapitalismus aus dieser Sicht grundsätzlich unmöglich und hätte eine ideologische Funktion.

Eine weitere grundlegende Variante von Leistungsideologie wird von Offes These des Funktionswandels des Leistungsprinzips aufgestellt. Er vertritt die These, dass die Rekrutierung und die Statusverteilung in aufgaben-diskontinuierlichen Qualifikationsstrukturen der fortgeschrittenen Industrie nicht (mehr) auf der Basis von technischen und regulativen Normen erfolgen können, weil das hierarchische Kontinuum zwischen unterschiedlichen Tätigkeiten innerhalb einer Organisation mit der fortgeschrittenen Spezialisierung und Ausdifferenzierung verloren gegangen ist. Ohne dieses Kontinuum und mit einer zunehmenden Reduzierung der Arbeitsverrichtung auf naturfernen, präventiven Einfluss (Offe 1970: 150) werden, als Ersatz für die vorherige funktionelle Kontrolle, immer mehr normative »extrafunktionelle Orientierungen« in die Berufsrollen eingefügt (ebd.: 30). Vollzogen wird damit der Funktionswandel des Leistungsprinzips, das »aus einem Verfahren zur Allokation unterschiedlicher Arbeitskraft« zu einer Leistungsideologie geworden ist, einer »Disziplinierungstechnik, welche Loyalität mit herrschenden Interessen und Lebensformen prämiiert, kulturelle Spaltungen perpetuiert und den Schein einer objektiven oder ›technischen‹ Begründbarkeit organisatorischer Hierarchien hervorbringt und stabilisiert« (ebd.: 166). Eine leistungsgerechte Gesellschaftsordnung wäre in diesem Zusammenhang grundsätzlich nicht mehr möglich.

Drittens können gewisse Bewertungskriterien ebenso als ideologisch betrachtet werden wie die marktbestimmende erfolgsorientierte Belohnung (wie bei Neckel 2001, 2014) oder die Ankopplung von Honorierung und Status an Zertifizierung (wie bei Kreckel 2004 und ähnlich auch bei Bourdieu 1982, 1993), die ein meritokratisches Leistungskonzept formen. Hier wird insbesondere die Zentralität der »Bildungskategorie« – als prominenteste Form des Zugangs zu den Stellen, zum Aufstieg und zur Bewertung von Leistung – hinterfragt.20 Aus der bourdieuschen Perspektive des kulturellen Kapitals (Bourdieu 1982) spielt die formale Bildung eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Beibehaltung eines (primären) Klassenhabitus. In anderen Worten, sofern das Leistungsprinzip zur »symbolischen Ordnung«21 kapitalistischer Gesellschaft gehört, sanktioniert dieses Prinzip bestimmte Mechanismen von sozialer Schließung und Klassifikationen, welche die Funktion erfüllen, eben den Kapitalismus normativ zu legitimieren und somit dessen Reproduktion gewährleisten zu können.22 Daraus ergeben sich bestimmte Kämpfe um Klassifikation, die nach der »Logik des differentiellen Abstands« erfolgen (Sutterlüty/Neckel 2008: 15). Wichtig für Bourdieu an dieser Stelle ist, dass diese symbolische Macht eine auch auf formale »Bildung« basierte legitimierende Funktion sowohl für kapitalistische Produktionsweise als auch für »Klassenherrschaft« aufweist.

Inspiriert durch Bourdieus Werk entwirft Reinhard Kreckel in seiner Politischen Soziologie der sozialen Ungleichheit (2004) ein Konzept von Leistungsideologie, das allerdings zugleich auch von der marxschen Kategorie der »Realabstraktion« ausgeht (ebd.: 95). Er stellte die These auf, dass ein historischer Prozess von Standardisierung und Institutionalisierung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen in Gang gesetzt sind. Er exemplifizierte diese Entwicklung mit Vorgängen in der Arbeitswelt – wie das Normalarbeitsverhältnis und die Tarifierung – und im Bildungswesen – durch die formale Zertifizierung. Zwecks der Ausführung des Phänomens der Leistungsideologie interessierten ihn insbesondere »drei abstrakte Bewertungsmaßstäbe: Bildungsabschluß, beruflicher Rang und Geldeinkommen«, die in der Gegenwart bereits »weit fortgeschritten« sei (ebd.: 97). Daraus stammen die Realabstraktionen der sogenannten »meritokratischen Triade von Bildung, Beruf und Einkommen« (ebd.: 97, 106).23 Ihm zufolge vermittelte dieser Prozess die Herausbildung einer übergreifenden Hierarchisierung, die zur Legitimation vertikalen Ungleichheit maßgebend beiträgt.24

In ähnlicher Weise verfährt die Widerspruchskritik des Leistungsprinzips: Es handelt sich dabei nicht um die Kritik an einem bestimmten Bewertungskriterium, sondern um interne Widersprüchlichkeiten und/oder um eine Konfrontation zwischen verschiedenen Maßstäben. Eine derartige Kritikform wird ebenfalls von Offe ausformuliert. Laut ihm verfügt das Leistungsprinzip über vier normative und rationalisierende Funktionen oder Prinzipen: erstens eine Entschädigungsfunktion (als Kompensation für »objektive Kosten« der Arbeit: Arbeitsmühen, Belastung, Erwerb eines Könnens bzw. Wissens), zweitens das Äquivalenzprinzip (oder den Grundsatz »gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, der sich gegen die sogenannte »askriptive Vergütung« wehrt), drittens das Produktivitätsprinzip (das dafür sorgt, dass die »Früchte der Arbeit in gerechter Weise« nach der Beteiligung an der Produktion verteilt werden) und viertens die Allokationsfunktion (im »individuellen Anreiz« für die »Zuordnung und Verteilung« der Arbeit) (Offe 1970: 45–47). Das Kernproblem entsteht durch den Widerspruch zwischen den zwei ersten Funktionen, die auf den individuellen Aufwand abgestellt sind, und den zwei letzten, die mehr oder weniger auf wirtschaftliche Erträge angewiesen sind. Dieser »unausgetragene Dualismus« (ebd.: 47) dient in der Darstellung Offes als Ausgangspunkt für den grundlegenden Verdacht, dass das Leistungsprinzip nicht in der Lage ist, »den Charakter eines legitimen Ordnungsprinzips« zu verwirklichen (ebd.: 45). Anhand dieser Auseinandersetzung mit den analytischen Elementen des Leistungsprinzips antizipiert Offe, dass zwei notwendige Bedingungen des Leistungsprinzips in den Industriegesellschaften ausweglos unerfüllbar sind: die Objektivierbarkeit des Messens »aller Positionen des organisatorischen Status-Systems« und die Existenz kompetenter Beurteilungsinstanzen der Statusverteilung (ebd.: 47), die über die »differenziellen Arbeitswerte« entscheiden.

All die oben ausgeführten Einwände gegen das Leistungsprinzip sowie die Darstellungen von dessen ideologischem Charakter liefern mehr oder weniger tragfähige Elemente für die Infragestellung dieses Gerechtigkeitsimperatives. Die ersten zwei Varianten von Ideologiekritik – die faktische und die grundlegende – können als kategorische Negation der Existenz des Leistungsprinzips begriffen werden. Insofern bieten sie kaum weitere Kriterien für die Untersuchung von Arbeitskämpfen, die sich normativ auf das Leistungsprinzip stützen. Die analytische Variante nimmt kaum die praktische Perspektive ein, bietet aber vor allem Elemente für die Hinterfragung von standardisierten Kriterien, insbesondere der Bildung bzw. Zertifizierung, die eine zentrale ideologische Funktion erfüllt (Kreckel 2004; Bourdieu 1982; Offe 1970). Im Grunde behaupten diese letzten drei Autoren jeweils, dass das Leistungsprinzip ideologisch fungiert, weil es (1) mit standardisierten bzw. legitimierten Kriterien den Status quo affirmiert (Kreckel 2004); weil es (2) nach Abgrenzungs- bzw. Unterscheidungsmechanismen erfolgt (Bourdieu 1982); und weil es (3) die faktische Wertzuschreibung verschleiert bzw. anhand scheinobjektiven Standards mystifiziert (Offe 1970).

Obwohl jene Ausführungen auf unterschiedlicher Ebene mit zeitdiagnostischen Analysen verwoben sind, benötigt die vorliegende Arbeit eine andere Sichtweise, die sich zwar aus jenen inzwischen klassischen Betrachtungsweisen nähren kann,25 aber auch stärker von der Praxis bzw. aus der Perspektive der Akteure und deren Kritik im Rahmen gegenwärtiger Arbeitskämpfe ausgehen soll. Für dieses Unternehmen soll die Ideologiekritik nicht nur auf den Sinn und die Elemente des Leistungsbegriffs eingehen, sondern primär auch dessen praktische Verwendung im Kampf aufgreifen. Nur daraus kann die Erkenntnis darüber gewonnen werden, welche kritischen und ideologischen Gehalte in der normativen Vorstellung von arbeitenden Menschen vorhanden sind.

2.3Leistungsprinzip in Arbeitskämpfen: Konfliktdimensionen und Rahmenbedingungen

Das empirische Erforschen des Leistungsprinzips vom Standpunkt von Arbeitskämpfen aus bietet sich aus einigen Gründen an. Erstens repräsentieren Streiks einen Weg, die Gerechtigkeit aus der Sicht von Ungerechtigkeitserfahrungen – wie bereits in Punkt 2.1 ausgeführt – zu rekonstruieren, die in der Arbeitssphäre naheliegend mit Verteilungsfragen, wie denen des Leistungsprinzips, verkoppelt sind. Zweitens sind Arbeitskämpfe, wie andere zugespitzte soziale Konflikte, ein besonderer Zustand, in dem bestimmte wesentliche Unrechtserfahrungen auftauchen können. Anders als sonstige alltägliche Situationen und Gerechtigkeitsvorstellungen – die selbstverständlich auch soziologisch relevant sind – müssen diese Unrechtsempfindungen kollektiv artikuliert werden und dermaßen bedeutend sein, dass sie in der Lage sind, in einen Konflikt zu kulminieren. Drittens geht mit dem Arbeitskampf ein »Zwang« zur kommunikativen Rechtfertigung einher, der ebenso die Reflexion und Argumentation von Arbeitnehmer:innen über deren Ansprüche bedingt und erfordert. Dabei sollen konsequenterweise kollektive Unrechtsgefühle kommunikativ zum Ausdruck gebracht werden, sodass strikt individuelle Interessen erst nach dem Vermittlungsprozess mit gemeinsamen Zielen an eine Forderung gelangen sollen. Und sobald eine Forderung gestellt wird, steht deren öffentliche Rechtfertigung eben wieder zur Diskussion.

2.3.1Unrechtsgefühl, Forderung und Rechtfertigung

Dieser Vermittlungsprozess von partikularen, gruppenspezifischen und allgemeinen Interessen kennzeichnet allerdings nicht nur eine normative, sondern auch eine wesentlich strategische Rationalisierung von Unrechtsgefühlen. Insbesondere bei Arbeitskämpfen besteht, wie vielleicht in keiner anderen Konfliktart, ein hoher Grad an strategischen Bestimmungen, die Streiks von Anfang an mit bedingen. Denn zuerst müssen unterschiedliche versprachlichte Motivationen bzw. Unrechtsgefühle intern (unter den Streikenden) organisiert werden, sodass überzeugende bzw. erfolgversprechende Forderungen »nach außen« gestellt werden. Aus normativen und strategischen Gründen verändert sich die öffentliche Rechtfertigung ebenso im Zuge des Kampfes – bei der Artikulation, bei der Erwiderung auf Einwände von anderen Parteien (Arbeitgeberseite), Betroffenen oder Öffentlichkeit sowie bei der Verhandlung, der Schlichtung und den Beschlüssen.

Aus diesem Grund können hier – mehr als in alltäglichen Situationen – Unrechtsempfinden und öffentliche Rechtfertigung erheblich auseinanderfallen, was für diese Forschung zwar eine Herausforderung darstellt, aber immerhin für das Verständnis der Leistungsfrage sehr fruchtbar sein kann: Wie wird das praxisbezogene Leistungsprinzip aufgebaut und herausgearbeitet? Arbeitskämpfe bieten zweifellos einen privilegierten Zugang zu dieser grundlegenden Frage. Dafür müssen zumindest drei Elemente in einem Kampfprozess in Anschlag gebracht werden: (1) die normative Motivation bzw. das Unrechtsgefühl; (2) die (Haupt-)Forderung und (3) die öffentliche Rechtfertigung.

Die (1) normative Motivation eines Arbeitskampfes – oder Unrechtsgefühls – drückt sich durch Unzufriedenheiten, Empörungen oder Unbehagen von Beschäftigten aus. Es handelt sich hier selbstverständlich nicht um die Untersuchung (sozial-)psychologischer Motivationen, sondern um bereits versprachlichte Manifestationen auf der praxisbezogenen Diskursebene, die sich anhand soziologischer qualitativer Herangehensweise erkunden lassen. Unrechtsgefühle werden somit aus der Perspektive mehr oder weniger artikulierter normativer Ursachen für die Mobilisation um den Kampf herum gesehen. Die (2) zentralen Forderungen eines Streikes werden als Lösung oder Verringerung von Ungerechtigkeiten vorgestellt. In vielen Fällen lassen sie sich unmittelbar und konsequenterweise aus den Unrechtserfahrungen ableiten, sind aber mit ihnen im Grunde nicht identisch. Vielmehr zeichnen sie sich durch positive Formulierungen von Gerechtigkeit aus, die eine grundlegend andere Perspektive als die der Ungerechtigkeitskritik einnehmen müssen. In Streiks werden sie naheliegend zum Großteil in Entgeltform (Tarif, Lohn, Zuschuss) zum Ausdruck gebracht – die zwar an die Frage der Leistungsgerechtigkeit besonders anschlussfähig ist –, was in einigen Fällen einer bestimmten »Übersetzung« vielfältiger Problemsorten in materiell bestimmbare Forderungen bedarf. (3) Öffentliche Rechtfertigungen sollen in der Lage sein, nicht nur die aufgezeigte »Lösung« zu begründen, sondern ebenso die Frage zu beantworten, weshalb die Unzufriedenheit oder Empörung überhaupt als berechtigt gesehen werden kann und erst recht warum die Forderung eine gerechte und angemessene Lösung darstellt. Hiermit expliziert eine öffentliche Rechtfertigung die normativen Gründe für den Kampf in einem breiteren Rahmen und muss dementsprechend auf allgemeingültige Normen und Prinzipien rekurrieren. Damit begründet sie nicht nur die Angemessenheit des Kampfes, sondern wirft ebenso Licht auf den Sinn des erlebten Unrechtsgefühls. Insbesondere dieser Weg zwischen Unrechtsgefühlen und öffentlichen Rechtfertigungen kann aufschlussreiche normative Nuancen zeigen.

Ein wichtiger Faktor hier, der nicht außer Acht gelassen werden soll, ist die Tatsache, dass Arbeitskampfprozesse (in beiden Ländern) von Gewerkschaften angeführt werden. Ein Teil ihrer institutionellen Aufgaben als kollektive Interessenvertretung von Arbeitnehmer:innen besteht eben in der Zusammenfügung möglicherweise unterschiedlicher Unrechtsgefühle sowie in der Bereitstellung von Rechtfertigungs- und Erklärungsmustern, die sie intern – an Mitglieder – oder extern vermittelt werden. Gewerkschaften müssen dementsprechend primär in der Lage sein, die Artikulationsarbeit eines Streiks intern zu organisieren sowie auch an Arbeitgeber:innen, Betroffene oder die Öffentlichkeit mit Rechtfertigungen zu adressieren. Diese Funktion charakterisiert die Gewerkschaften als Akteure, die den Arbeitskampf vornehmlich in Hinblick auf die Rechtfertigung darstellen, beeinflussen und ausführen. Aus diesem Grund impliziert die Untersuchung normativer Dimensionen von Arbeitskämpfen – wie von Motivation oder Unrechtsgefühlen – in großem Maße diese Vermittlung durch die Rechtfertigungsordnung.

Es liegt auf der Hand, dass die Grenzen zwischen diesen drei normativen Momenten des Konfliktes in der Tat nicht derart deutlich sind, wie die schematische Ausführung oben dargestellt hat. Ebenfalls bestehen beträchtliche methodische Herausforderungen, diese Dimensionen aus der Sicht des Arbeitskampfes zu untersuchen – wie in Punkt 3.4 konkreter in Bezug auf die vorliegende Forschung ausgeführt wird. Dennoch ist der Versuch, sie in der analytischen Sicht auf die Normativität von Arbeitskämpfen zu berücksichtigen, mehr als sinnvoll, denn dadurch kann nicht nur der Kampfprozess, sondern können vor allem die praktischen Bedingungen der Artikulation von Gerechtigkeitsvorstellungen eingesehen werden.

Zuletzt kann auch vorausgesetzt werden, dass das Streikziel dieses Verhältnis zwischen Unrechtsgefühlen, Forderungen und Rechtfertigungen mitbedingt. Dies zeigt sich vor allem anhand der Differenz zwischen offensiven und defensiven Streiks. Erstere zeichnen sich durch die »Erreichung selbstgewählter Ziele« aus, Letztere durch die »Abwehr ökonomischer oder politischer Angriffe« (Gallas/Nowak 2012: 26). Dadurch dass offensive Kämpfe auf Verbesserungen zielen, sollen Motivation und öffentliche Rechtfertigung primär mit den Gerechtigkeitsansprüchen der Beschäftigten zusammenhängen. Andererseits verstehen sich defensive Streiks als eine unmittelbare Reaktion auf beabsichtigte Verschlechterungen. In diesem Zusammenhang können das Unrechtgefühl und die öffentliche Rechtfertigung sich auf die (als legitim gesehene) Abwehr beschränken und sind mithin wesentlich weniger begründungsbedürftig als offensive Forderungen. Außerdem wird die Thematik von defensiven Streiks überwiegend »von außen« determiniert, während Motive von offensiven Kämpfen grundsätzlich den Beschäftigtenansprüchen entspringen sollen, was diese letzte Streikvariante zu einem privilegierten Ort für die Erforschung des Leistungsprinzips macht. Defensive Streiks andererseits sind eher weniger ideal für das Verständnis von Gerechtigkeitsvorstellungen, können jedoch signifikante Aspekte über die Rolle der Interessendynamiken im Rahmen von Arbeitskämpfen zeigen.

2.3.2Rahmenbedingungen von Arbeitskämpfen

Nicht irrelevant für die Analyse von Arbeitskämpfen sind die institutionellen Bedingungen ihrer Entstehung und ihr Handlungsspielraum, die sich in den beiden Ländern mehr oder weniger unterscheiden. Aus diesem Grund scheint es hier sinnvoll, einige Eckpunkte über die Arbeitsbeziehungen in beiden Ländern zu präsentieren.

Die Gewerkschaftsstrukturen sind im Allgemeinen sehr ähnlich. Wie in Deutschland konkurrieren in der Regel unterschiedliche Gewerkschaften nicht für dieselbe Klientel.26 In einer Region oder einem Betrieb gibt es jeweils nur eine legitime Zuständigkeit einer Gewerkschaft. Einzelne Gewerkschaften können sich in beiden Fällen in übergreifenden Bünden und Dachorganisationen – wie dem DGB (Deutsche Gewerkschaftsbund) und in Brasilien dem CUT (Central Única dos Trabalhadores) – vereinen. Ein erwähnenswerter Unterschied liegt in der relativen Anzahl von Gewerkschaften: Es gibt in Brasilien mehrere regionale Berufs- oder Branchengewerkschaften, die sich auf Stadt- oder Landesebene aufteilen können und dezentraler als in Deutschland sind. Die meisten davon sind für ein ganzes Bundesland oder bestimmtes Gebiet, Metropolregion oder Großstadt zuständig und können in wenigen Fällen auch sehr übergreifend (bundesweit) oder sehr lokal (Städte oder bestimmte Großbetriebe) sein. Abgesehen von dieser Vielfältigkeit darf für ein bestimmtes Territorium (mindestens auf städtischer Ebene) und Branche oder Beruf nur eine Gewerkschaft tätig sein, sodass sie abgesehen von einigen Grauzonen nicht miteinander konkurrieren, sondern in unterschiedlichen Bünden zusammenkommen.

Einige Aufgaben eines Betriebsrats in Deutschland werden in Brasilien von den Gewerkschaften übernommen, insbesondere die Funktion der Interessenvertretung: formale innerbetriebliche Vertretung und die Vermittlung von Belangen und Bedürfnissen der Arbeiterschaft mit den Arbeitgeber:innen. In der Privatwirtschaft Brasiliens gibt es – außer in Großorganisationen, in denen die Gewerkschaften dann aktiver sind – weder ein vergleichbares Beschäftigtengremium wie der deutsche Betriebsrat noch Mitbestimmungsrecht. Im Öffentlichen Dienst andererseits sind Teilhabe- und Mitbestimmungsformen von Beamt:innen vor Ort in unterschiedlichem Maße vorgesehen.

In beiden Ländern dürfen ebenso lediglich Gewerkschaften Arbeitnehmer:innen kollektiv vertreten, folglich dürfen auch nur sie Streiks – nach einer Urabstimmung27 – ausrufen. Warn- und Erzwingungsstreiks in Deutschland können in ähnlicher Art und Weise wie jeweils Paralisação und Greve in Brasilien durchgeführt werden. Auch dort treten als Tarifpartei am anderen Ende Arbeitgeberverbände oder einzelne Arbeitgeber:innen auf.

Arbeitskämpfe verlaufen hier und dort in vergleichbarer Form. Jenseits der Abwehr von Verschlechterung und punktuellen Verbesserungen können die Forderungen in Form von Betriebsvereinbarungen, Tarifverträgen – beide unter Acordos Coletivos in Brasilien – oder allgemeinverbindlichen Tarifverträgen – Convenções Coletivas de Trabalho – reglementiert werden. Die Ansprüche werden zuerst im Rahmen von Verhandlungsversuchen vonseiten der Gewerkschaften gestellt. Dabei können Warnstreiks und eventuell nach einem Verhandlungsscheitern auch Erzwingungsstreiks erklärt werden. Beendet wird ein Streik ebenso nur mit einer Urabstimmung. An dieser Stelle erscheint eine Differenz zwischen den beiden Kontexten: Sind die weiteren Verhandlungsrunden innerhalb eines Streiks gescheitert, können die Tarifparteien in Deutschland den Konflikt schlichten lassen, während in Brasilien – obwohl dort eine Schlichtung in der Theorie auch möglich wäre – in der Regel diese Uneinigkeit vom Arbeitsgericht entschieden wird. Dieser Dissídio Coletivo verläuft nicht wie herkömmliche Gerichtsverfahren, sondern besitzt das Format einer Schlichtung. Anders als bei normalen Schlichtungen (wie in den deutschen Fällen) muss über den Beschluss bei dieser »gerichtlichen Schlichtung« weder von den Tarifparteien noch später von den Gewerkschaftsmitgliedern abgestimmt werden, sondern er ist verbindlich. Im Normalfall28 müssen beide Tarifparteien nur akzeptieren, in eine gerichtliche Schlichtung zu gehen. Ist sie einmal angenommen worden, kommt damit auch der Streik zum Abschluss, da die Schlichtungsentscheidung nicht abgelehnt werden darf. Praktisch bedeutet es, dass brasilianische Streiks vergleichsweise kürzer dauern, nicht zuletzt weil die Gewerkschaften und Streikenden selbst die gerichtliche Schlichtung als eine gute Lösung betrachten, wenn die Arbeitgeberseite sich kategorisch weigert, zu verhandeln – was häufig geschieht.

Die deutlichste Abweichung zwischen beiden Ländern liegt in der Verschiedenheit zwischen den unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen. Im Öffentlichen Dienst Deutschlands sind sowohl Beamt:innen als auch (mehrheitlich) unbefristete Tarifbeschäftigten tätig.29