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Der prominente französische Historiker Emmanuel Todd sagte bereits 1976 das Ende der Sowjetunion voraus. In seinem neuen Buch wagt er wieder den Blick in die Zukunft: Er prognostiziert den endgültigen Niedergang der westlichen Welt. Im Kern verrottet, aber nach außen expandierend steht der Westen einem Russland gegenüber, das sich stabilisiert hat und nunmehr konservativ auf die Länder der restlichen Welt wirkt, die den USA und ihren Verbündeten nicht in ihre Kriege folgen wollen. Deren Niederlage in der Ukraine ist bereits nahezu Fakt, sagt Todd. Schlussendlich ist es deshalb unvermeidlich, dass es zu einem Einfrieren des Konfliktes zwischen der Europäischen Union und Russland kommt. Ein Europa befreit von US-amerikanischem Einfluss könnte das Ergebnis sein. Deutschland kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, und diese Rolle sollte es selbstbewusst einnehmen - das ist Todds Appell in diesem Buch. Exklusiv: Mit neuem Vor- und Nachwort des Autors speziell für die deutsche Ausgabe!
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Seitenzahl: 455
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ebook Edition
Emmanuel Todd
in Zusammenarbeit mit Baptiste Touverey
Der Westen im Niedergang
Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall
Aus dem Französischen von Tabea A. Rotter
Im Original erschienen unter dem Titel »La Défaite de l’Occident«, © Éditions Gallimard, Paris, 2024
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ISBN: 978-3-98791-069-2
2. Auflage 2024
© Westend Verlag GmbH, Waldstr. 12 a, 63263 Neu-Isenburg, 2024
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Übersetzung: Tabea A. Rotter, Übersetzung Geleit- und Nachwort für die deutsche Ausgabe: Westend Verlag
Karten: © EdiCarto
Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt
Für Georges
Da sie überzeugt sind, das Geheimnis des unvollendeten menschlichen Abenteuers im voraus zu kennen, betrachten sie die Verworrenheit der Ereignisse von gestern und heute mit dem Anspruch des Richters, der über den Gegensätzen steht und souverän Lob und Tadel verteilt. Die geschichtliche Existenz, so wie sie wirklich abläuft, stellt Einzelmenschen, Gruppen und Nationen gegeneinander, die unvereinbare Interessen oder Ideen verteidigen. Weder der Zeitgenosse noch der Historiker ist in der Lage, den einen oder den anderen vorbehaltlos recht oder unrecht zu geben. Das heißt nicht, daß wir nicht wüßten, was gut und böse ist. Aber wir kennen die Zukunft nicht, und jede geschichtliche Idee bringt Ungerechtigkeiten mit sich.
Raymond Aron, Opium für Intellektuelle, Kapitel V: »Der Sinn der Geschichte«
Hier stehe ich, ich kann nicht anders.
Martin Luther, auf dem Reichstag zu Worms, April 1521
Cover
Geleitwort zur deutschen Ausgabe
Die zehn Überraschungen des Krieges
1 Russische Stabilität
Gelungene Stabilisation: Beweis anhand der »moralischen Statistik«
Wirtschaftliche Wiederbelebung
Danke für die Sanktionen!
Putin ist nicht Stalin
Mehr russische als amerikanische Ingenieure
Mittelschichten und anthropologische Realitäten
Blindheit gegenüber der Vielfalt der Welt
Allgemeine Unterstützung des Regimes trotz Ungleichheiten
Die Strategie eines erstaunlichen Mannes
In fünf Jahren den Krieg gewinnen
2 Das ukrainische Rätsel
Die Ukraine ist nicht Russland
Ein altes Nationalgefühl
Vom Märtyrer zum Privilegierten
Eine Nation ohne Staat
Das wahre Geheimnis: Der Niedergang der russischsprachigen Ukraine
Das Jahr 2014, ein Ende der demokratischen Hoffnung
Auf dem Weg zu einem antirussischen Nihilismus
Ein nicht identifiziertes Politikobjekt
3 Postmoderne Russophobie im östlichen Europa
Serienmäßige Ratlosigkeit
Unsere erste Dritte Welt
Mittelschicht, Akt I: Von Schwäche zu Zerstörung
Mittelschicht, Akt II: Auferstehung unter sowjetischer Kontrolle
Osteuropäische Unauthentizität
Die ungarische Ausnahme
4 Was ist der Westen?
Zweifacher Westen
Eine Demokratie verteidigen, die es nicht mehr gibt
Liberale Oligarchen gegen die autoritäre russische Demokratie
Ein unumkehrbarer Prozess
Religion im Aktiv-, Zombie- und Nullzustand
Die nihilistische Flucht nach vorn
5 Der assistierte Suizid Europas
Deutschland, eine Maschinengesellschaft
Aktive Nation, träge Nation
Vom Unglück, Staatsoberhaupt in einer Stammfamilien-Kultur zu sein
Eine zerschlagene autonom-oligarchische Entwicklung
Die Probleme der Reichen verstehen
Unter dem Auge der NSA
Der Niedergang Amerikas und sein zunehmender Einfluss auf Europa
6 Großbritannien – auf dem Weg zur Nullnation (Fool, Britannia!)
Der Truss-Moment
Hommage an Ionesco: Bestandsaufnahme britischer Dysfunktionen
Der wirtschaftliche Zerfall
Hinter dem wirtschaftlichen Zerfall: der religiöse Zerfall
Was der Protestantismus war
Vom aktiven Protestantismus über den Zombieprotestantismus zum Nullprotestantismus
Sozialer und politischer Zerfall
Wenn der Hass auf den Proleten den Rassismus ersetzt
Nullprotestantismus, Nullnation
7 Skandinavien – vom Feminismus zur Kriegstreiberei
Etwas ist faul im Staate Dänemark (und Norwegen)
Sozialer Aufruhr in Schweden und Finnland
Ende des Protestantismus, Krise der Nation
8 Das wahre Wesen der USA – Oligarchie und Nihilismus
Der Nihilismus, ein notwendiges Konzept
Mehr ausgeben, um mehr zu sterben
Rückblende: Das gute Amerika
Die Machtelite um 1955
»Der Triumph der Ungerechtigkeit«: 1980 bis 2020
Auf dem Weg in den US-amerikanischen Nullprotestantismus
Der Nullprotestantismus und der Rückgang der Intelligenz
Nullprotestantismus und die Befreiung der Schwarzen
Falling from grace: Gefängnisse, Amokläufe und Fettleibigkeit
Das Ende der Meritokratie: Willkommen in der Oligarchie
9 Die Luft aus der amerikanischen Wirtschaft lassen
Die Verflüchtigung der amerikanischen Industrie
Das WIP der Vereinigten Staaten
Die Abhängigkeit von importierten Waren
Unproduktive, räuberische Meritokraten
Die Abhängigkeit von importierten Arbeitskräften
Die unheilbare Krankheit des Dollar
10 Die Washingtoner Clique
Das Ende der WASPs
Das Verschwinden jüdischer Intelligenz?
Ein Dorf namens Washington
Die Anthropologie des Blob
Rache für die Ukraine?
11 Warum der Rest-der-Welt sich für Russland entschieden hat
Wer will das große, böse Russland bestrafen?
Die wirtschaftliche Ausbeutung der Welt durch den Westen
Vom Wirtschaftskrieg zum Weltkrieg
Blindheit gegenüber der anthropologischen Diversität der Welt
Russlands neue Soft Power
Schlussfolgerung: Wie die Vereinigten Staaten der Ukraine in die Falle gingen (1990–2022)
Die großen Etappen
1990 bis 1999: Die friedliche Phase
1999 bis 2008: Die Hybris
2008 bis 2017: Der amerikanische Abschwung und die deutsche (besonders friedfertige) Hybris
2016 bis 2022: Die Falle des ukrainischen Nihilismus
Nachbemerkung: Der amerikanische Nihilismus: Gaza bringt den Beweis
Der (zum gegenwärtigen Zeitpunkt) schwierige Frieden – ein Nachwort zur deutschen Ausgabe
Der (zum gegenwärtigen Zeitpunkt) unmögliche Frieden
Spaltung und Umkippen Europas
Karten und Tabellen
Anmerkungen
Cover
Inhaltsverzeichnis
Diese deutsche Ausgabe von La Défaite de l’Occident ist für mich die wichtigste von allen. Denn Deutschland – in vielen internationalen Kommentaren als unschlüssig, schwach, kurzum als bloßer Nebenakteur im Ukrainekrieg präsentiert – steht in Wahrheit im Zentrum des Konflikts. Seit dem Irakkrieg und den gemeinsamen Pressekonferenzen von Wladimir Putin, Gerhard Schröder und Jacques Chirac leben die Vereinigten Staaten in Angst vor einer strukturellen Annäherung zwischen Deutschland und Russland, die das Ende des US-amerikanischen Einflusses auf Europa bedeuten würde. Von diesem Standpunkt aus betrachtet stellt es für die Vereinigten Staaten einen maßgeblichen Erfolg dar, dass sie die Europäische Union in einen Konflikt mit Russland verwickeln konnten, sogar auf die Gefahr hin, deren Wirtschaft mehr zu schaden als der Russlands. Die energiepolitische und industrielle Verbindung zwischen Deutschland und Russland ist zum aktuellen Zeitpunkt zusammengebrochen.
Es bleibt die Tatsache, dass Deutschland, im Gegensatz zum Vereinigten Königreich und Frankreich, die fortschrittlichsten Arten von militärischem Engagement abgelehnt hat. Und vor allem ist der Konflikt natürlich noch nicht vorbei. Die Vereinigten Staaten werden diesen Krieg verlieren, weil ihre industriellen und militärischen Mittel gegen ein wiedererstarktes Russland unzureichend sind. Die bevorstehende Niederlage der Ukraine sowie die Erniedrigung des Pentagons und der NATO werden die Frage nach den künftigen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland wieder aufkommen lassen. Dann wird Deutschland zwischen einem endlosen Konflikt und dem Frieden mit Russland wählen müssen. Für Deutschland ist dies ein sehr altes Thema.
Dieses Buch ist ein nüchternes, das Buch eines Historikers und Anthropologen, der danach strebt, die Geopolitik zu verstehen, ohne sich den Emotionen hinzugeben. Es geht um industrielle und bildungspolitische Machtverhältnisse, um traditionelle Familienstrukturen, deren Prägung fortbesteht, und um eine religiöse Prägung, die hingegen verschwindet. Max Weber weiterdenkend, führe ich den Zerfall des Westens auf den Zerfall der protestantischen Ethik zurück.
Auf die Gefahr hin mich zu täuschen, glaube ich, dass Deutschland kühle Rationalität im Moment um einiges mehr braucht als Emotionen.
Eine gängige Methode der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs zur Manipulation Deutschlands besteht darin, das historisch verankerte Schuldgefühl der Deutschen, hervorgegangen aus den katastrophalen Erfahrungen der NS-Zeit, zu benutzen, um Deutschlands Bedürfnis anzuregen, endlich wieder auf der »richtigen Seite der Geschichte« stehen zu wollen. Heute zum Beispiel, indem Deutschland die »liberale Demokratie« gegen ein »autokratisches« oder »neostalinistisches« Putin-Regime verteidigt. Doch unglücklicherweise ist der Westen, wie ich beweisen werde, nicht länger demokratisch und die Vereinigten Staaten werden inzwischen vom Nihilismus heimgesucht so wie Deutschland in den 1930er-Jahren. Der Kern des Buches, das zuerst die russische, die ukrainische und dann die zentraleuropäische sowie westliche Gesellschaft untersucht, ist schlussendlich dennoch die Analyse der regressiven Dynamik der US-amerikanischen Gesellschaft. Der Fall des Westens wird nicht durch einen russischen Sieg, sondern durch einen Zerfall der USA von innen heraus erfolgen. Einen Krieg des Westens im Tiefland der Ukraine, weniger als 1 000 Kilometer von Moskau entfernt, zu unterstützen, bedeutet für Deutschland also nicht, endlich auf der richtigen, sondern erneut – wie aus Versehen – auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen.
Selbstverständlich müssen wir alle die Vergangenheit berücksichtigen. Aber das Erste, das wir tun müssen, wenn wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen möchten, ist dennoch, die Gegenwart richtig zu analysieren. Es geht darum, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit dort zu sehen, wo sie sind, und zwar jetzt, ohne sich den Verstand von den Geistern der Vergangenheit vernebeln zu lassen, noch bevor man überhaupt angefangen hat zu beobachten, zu analysieren, zu reflektieren.
Paris, im Sommer 2024
Einleitung
Am 24. Februar 2022 erschien Wladimir Putin auf den Fernsehbildschirmen der ganzen Welt. Er kündigte den Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine an. Seine Rede drehte sich im Grunde weder um die Ukraine noch um das Recht auf Selbstbestimmung der Bevölkerung des Donbass. Sie war eine Herausforderung an die NATO. Putin erklärte, warum er nicht wollte, dass Russland wie 1941 überrascht wird, als es zu lange auf den unvermeidlichen Angriff gewartet hatte: »Ein weiteres Vordringen der Infrastruktur der Nordatlantik-Allianz, die bereits begonnene militärische Aneignung des ukrainischen Staatsgebiets: Das ist für uns inakzeptabel« Eine »rote Linie« sei überschritten worden; es komme nicht infrage, sich in der Ukraine ein »Anti-Russland« entwickeln zu lassen; es handele sich, wie er betonte, um einen Akt der Selbstverteidigung.
Indem diese Rede die historische und sozusagen juristische Gültigkeit seiner Entscheidung behauptete, ließ sie mit grausamem Realismus ein technisches Kräfteverhältnis durchblicken, das ihm günstig vorkam. Wenn für Russland der Moment zum Handeln gekommen war, dann deshalb, weil der Besitz von Hyperschallraketen ihm eine strategische Überlegenheit verlieh. Putins sehr konstruierte, sehr bedächtige Rede war, wenn sie auch eine gewisse Emotionalität verriet, absolut klar, und obwohl niemand gezwungen war, ihr beizupflichten, hätte sie es verdient gehabt, diskutiert zu werden. Stattdessen setzte sich augenblicklich die Vorstellung von einem unverständlichen Putin durch und von Russen, die entweder unverständlich, unterwürfig oder dumm seien. Das darauffolgende Ausbleiben einer Debatte – in zwei Ländern, Frankreich und Großbritannien, vollständig, in Deutschland und den Vereinigten Staaten relativ – entwürdigte die westliche Demokratie.
Wie die meisten Kriege, vor allem die Weltkriege, verlief auch dieser nicht wie vorhergesehen; er hat uns schon einige Überraschungen beschert. Zehn der wichtigsten habe ich aufgezählt.
Die erste war der Ausbruch eines Krieges gerade in Europa, ein echter Krieg zwischen zwei Staaten – für einen Kontinent, der glaubte, sich im beständigen Frieden eingerichtet zu haben, ein unerhörtes Ereignis.
Die zweite sind die beiden Gegner, die in diesem Krieg aufeinandertreffen: die Vereinigten Staaten und Russland. Seit über einem Jahrzehnt hatte Amerika China als seinen Hauptfeind bezeichnet. Die Feindseligkeit ihm gegenüber war in Washington parteiübergreifend und ohne Zweifel der einzige Punkt, bei dem es Republikaner und Demokraten in den letzten Jahren schafften, sich zu einigen. Nun aber ist es eine Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, an der wir teilnehmen, über die Ukrainer als Mittelsleute.
Dritte Überraschung: der militärische Widerstand der Ukraine. Die ganze Welt rechnete damit, dass sie rasch niedergeschlagen werden würde. Viele Menschen im Westen hatten sich das kindische und überzeichnete Bild eines dämonischen Putin geschmiedet und ignorierten den Umstand, dass Russland nur 100 000 bis 120 000 Menschen in die Ukraine geschickt hatte, einem Land von 603 700 km². Zum Vergleich: Beim Einmarsch in die Tschechoslowakei im Jahr 1968, einem Land von 127 900 km², entsandten die UdSSR und ihre Trabanten aus dem Warschauer Pakt 500 000 Soldaten.
Doch am meisten überrascht waren die Russen selbst. In ihren Augen wie in denen der meisten informierten Menschen im Westen, und um ehrlich zu sein, auch in der Realität, war die Ukraine das, was man technisch als failed state, als gescheiterten Staat, bezeichnet. Seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 hat sie vielleicht 11 Millionen Einwohner durch Auswanderung und gesunkene Geburtenrate verloren. Sie wurde von Oligarchen beherrscht; die Korruption erreichte absurde Ausmaße; das Land und seine Einwohner schienen bankrott zu sein. Am Vorabend des Krieges war die Ukraine zum gelobten Land für billige Leihmutterschaften geworden.
Zwar war die Ukraine von der NATO mit Javelin-Panzerabwehrraketen ausgestattet worden und sie verfügte seit Beginn des Krieges über amerikanische Beobachtungs- und Lenksysteme, aber der erbitterte Widerstand eines sich im Zerfall befindenden Landes ist historisch einmalig. Was niemand hätte vorhersagen können, war, dass es im Krieg einen Daseinsgrund fand, eine Rechtfertigung seiner eigenen Existenz.
Die vierte Überraschung war der wirtschaftliche Widerstand Russlands. Man hatte uns angekündigt, dass die Sanktionen, insbesondere der Ausschluss russischer Banken aus dem zwischenbanklichen Zahlungssystem Swift, das Land in die Knie zwingen würden. Aber wenn sich ein paar interessierte Köpfe unseres politischen und journalistischen Personals die Zeit genommen hätten, das Werk Russie. Le retour de la puissance1 (»Russland. Die Rückkehr der Macht«) von David Teurtrie zu lesen, das wenige Monate vor dem Krieg erschienen war, wäre uns dieser lächerliche Glaube an unsere finanzielle Allmacht erspart geblieben. Teurtrie zeigt, dass die Russen sich an die Sanktionen von 2014 angepasst und sich darauf vorbereitet haben, im IT- und Bankenbereich autonom zu sein. Man lernt in dem Buch ein modernes Russland kennen, das, weit entfernt von der starren neostalinistischen Autokratie, die die Presse uns Tag für Tag ausmalt, zu großer technischer, ökonomischer und sozialer Flexibilität fähig ist – kurz, einen ernstzunehmenden Gegner.
Fünfte Überraschung: das Einknicken jeglichen europäischen Willens. Europa, das war zunächst das deutsch-französische Paar, das allerdings seit der Krise von 2007/08 gewisse Züge einer patriarchalen Ehe annahm, mit Deutschland als der dominanten Hälfte, die ihrem Partner nicht mehr zuhört. Doch selbst unter der deutschen Hegemonie behielt Europa, so dachte man, eine gewisse Autonomie. Dann aber gab die Europäische Union trotz anfänglicher Zurückhaltung im Nachbarstaat, wie etwa das Zögern von Kanzler Scholz, jede Anwandlung, ihre eigenen Interessen verteidigen zu wollen, sehr schnell auf; sie schnitt sich von ihrem russischen Energie- und (ganz allgemeinen) Handelspartner ab und sanktionierte sich selbst immer härter. Deutschland nahm die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines hin, die einen Teil seiner Energieversorgung sicherstellten, ohne eine Miene zu verziehen – ein terroristischer Akt, der sich genauso gegen Deutschland wie gegen Russland richtete und durch seinen amerikanischen »Beschützer« verübt worden war, das sich für diesen Anlass mit Norwegen zusammenschloss, einem Land, das nicht zur EU gehört. Deutschland hat es sogar fertiggebracht, die ausgezeichnete Untersuchung von Seymour Hersh zu diesem unglaublichen Ereignis zu ignorieren, die den Staat infrage stellt, der sich als unersetzlicher Garant der internationalen Ordnung präsentiert. Wir haben aber auch gesehen, wie sich das Frankreich Emmanuel Macrons auf der internationalen Bühne in Luft auflöste, während Polen zu Washingtons wichtigstem Agent in der Europäischen Union wurde und in dieser Rolle dem Vereinigten Königreich folgte, das dank des Brexit außerhalb der EU steht. Alles in allem wurde auf dem Kontinent die Achse Paris–Berlin durch die Achse London–Warschau–Kiew ersetzt, die von Washington aus gesteuert wird. Wenn man bedenkt, dass vor kaum zwanzig Jahren im Irakkrieg die vereinte Opposition von Deutschland und Frankreich zu gemeinsamen Pressekonferenzen des Kanzlers Schröder mit Präsident Chirac und Präsident Putin geführt hat, lässt einen diese Verflüchtigung Europas als autonomem geopolitischen Akteur einigermaßen ratlos zurück.
Die sechste Überraschung des Krieges war das Auftauchen des Vereinigten Königreichs als antirussischer Kläffer und NATO-Wichtigtuer. Schnell trat sein Ministry of Defence (MoD) als einer der hitzigsten Kommentatoren des Konflikts auf, was von der westlichen Presse aufgegriffen wurde und die amerikanischen Neokonservativen wie lauwarme Militaristen aussehen ließ. Das Vereinigte Königreich wollte das erste Land sein, das der Ukraine Langstreckenraketen und schwere Panzer schickte.
Die Kriegstreiberei erfasste in ebenso bizarrer Weise Skandinavien, das für lange Zeit ein friedliebendes Temperament gezeigt und eher zur Neutralität als zum Konflikt geneigt hatte. In Nordeuropa treffen wir also eine siebte Überraschung an, ein – ebenfalls protestantisches – Anhängsel britischer Hektik. Norwegen und Dänemark sind besonders wichtige militärische Vermittler der Vereinigten Staaten, wohingegen Finnland und Schweden mit ihrem Beitritt zur NATO ein neues Interesse am Krieg erkennen lassen, das bereits vor der russischen Invasion in die Ukraine existierte.
Die achte Überraschung ist die … überraschendste. Sie kam aus den Vereinigten Staaten, der dominierenden Militärmacht. Die Besorgnis wurde, nachdem sie zunächst langsam angewachsen war, offiziell im Juni 2023 in zahlreichen Berichten und Artikeln geäußert, deren ursprüngliche Quelle das Pentagon war: Die amerikanische Militärindustrie ist defizitär; die globale Supermacht ist nicht in der Lage, seinem Schützling, der Ukraine, Granaten – oder irgendetwas anderes – zuzusichern. Dies ist ein wahrhaft außergewöhnliches Phänomen, wenn man bedenkt, dass kurz vor dem Krieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Russland und Belarus zusammengerechnet 3,3 Prozent des westlichen BIP (Vereinigte Staaten, Kanada, Europa, Japan und Korea) ausmachte. Diese 3,3 Prozent, die dazu im Stande waren, mehr Waffen zu produzieren als die westliche Welt, stellten ein doppeltes Problem dar: eines für die ukrainische Armee, die den Krieg aufgrund fehlender materieller Mittel verliert; und eines für die Königin der westlichen Wissenschaft, die politische Ökonomie, deren – wagen wir das Wort – Scheincharakter der Welt hierdurch offenbar wurde. Das Konzept des Bruttoinlandproduktes ist nicht mehr zeitgemäß und wir werden von nun an über das Verhältnis der neoliberalen politischen Wirtschaft zur Realität nachdenken müssen.
Neunte Überraschung: die ideologische Einsamkeit des Westens und die Unkenntnis ihrer eigenen Isolation. Die Menschen im Westen sind daran gewöhnt, Werte vorzugeben, denen die Welt zustimmen soll, und so erwarteten sie, ehrlich gesagt etwas blöde, dass der ganze Planet ihre Empörung gegenüber Russland teilen würde. Sie mussten ihre Illusionen aufgeben. Kaum war der erste Schock des Krieges vorüber, wurde allenthalben eine immer weniger diskrete Unterstützung für Russland sichtbar. Dass China, von den Amerikanern als der nächste Gegner auf ihrer Liste ausgewiesen, die NATO nicht unterstützen würde, war abzusehen. Trotzdem, so muss angemerkt werden, schafften es die von ihrem ideologischen Narzissmus geblendeten Kommentatoren auf beiden Seiten des Atlantiks, mehr als ein Jahr lang damit zu rechnen, dass China Russland nicht unterstützen würde. Noch enttäuschender war die Weigerung Indiens, sich einzubringen, wohl sicherlich deshalb, weil doch Indien die größte Demokratie der Welt ist, sodass dies im Lager der »liberalen Demokratien« für etwas Verwirrung sorgte. Man beruhigte sich mit dem Gedanken, dass dies geschah, weil die militärische Ausstattung Indiens weitgehend sowjetischen Ursprungs ist. Im Falle Irans, das schon bald Drohnen für Russland bereitstellte, waren sich die Nachrichtenkommentatoren nicht im Klaren darüber, was diese Annäherung bedeutete. Die Hobby-Geopolitiker inner- und außerhalb der Medien waren daran gewohnt, die beiden Länder in einen Topf zu werfen, nämlich in den der Mächte des Bösen, und hatten vergessen, wie wenig selbstverständlich diese Allianz war. Historisch gesehen hatte der Iran zwei Feinde: England, das nach dem Zerfall des Britischen Empire durch die Vereinigten Staaten ersetzt worden war, und … Russland. Dieses Umschwenken hätte vor dem Ausmaß der gegenwärtigen geopolitischen Umwälzungen warnen müssen. Die Türkei wiederum, ein NATO-Mitglied, scheint eine zunehmend enge Beziehung mit Putins Russland einzugehen, eine Beziehung, in der sich rund um das Schwarze Meer wahres Verständnis und Rivalität mischen. Aus Sicht des Westens war die einzige in Betracht kommende Interpretation, dass die Kollegen Diktatoren offensichtlich gemeinsame Sehnsüchte hegten. Doch seitdem Erdogan im Mai 2023 auf demokratischem Weg wiedergewählt worden ist, erscheint diese Sicht immer schwerer aufrechtzuerhalten. In Wahrheit scheint nach anderthalb Jahren Krieg die gesamte muslimische Welt Russland eher als Partner denn als Gegner zu betrachten. Es wird immer klarer, dass Saudi-Arabien und Russland sich gegenseitig bei der Verwaltung der Ölproduktion und -preise eigentlich als wirtschaftliche Verbündete statt als ideologische Gegner betrachten. Alles in allem hat die wirtschaftliche Dynamik des Krieges die Feindseligkeit gegen den Westen in den Entwicklungsländern zunehmen lassen, denn sie sind es, die unter den Sanktionen leiden.
Die zehnte und letzte Überraschung ist gerade dabei, Wirklichkeit zu werden. Es ist der Niedergang des Westens. Eine solche Behauptung wird sicher verwundern, wo ja der Krieg noch nicht vorbei ist. Doch dieser Niedergang ist eine Gewissheit, weil der Westen sich eher selbst zerstört, als dass er von Russland angegriffen würde.
Erweitern wir unsere Perspektive und entziehen uns einen Augenblick der Emotion, die die Kriegsgewalt legitimerweise hervorruft. Wir befinden uns im Zeitalter einer vollendeten Globalisierung, im zweifachen Sinn des Wortes: maximal und abgeschlossen. Versuchen wir uns in einer geopolitischen Vision: Russland ist in Wahrheit nicht das Hauptproblem. Es ist angesichts seiner schrumpfenden Bevölkerung zu weitläufig und wäre nicht in der Lage, die Kontrolle über den Planeten zu übernehmen, und wünscht dies auch gar nicht. Es ist eine normale Macht unter anderen, deren Entwicklung nichts Geheimnisvolles an sich hat. Keine russische Krise könnte das globale Gleichgewicht destabilisieren. Vielmehr ist es eine westliche Krise, genauer, eine amerikanische in der Endphase, die das Gleichgewicht des Planeten in Gefahr bringt. Ihre äußersten Wellen stoßen gegen einen Kai russischen Widerstands, auf einen klassischen, konservativen Nationalstaat.
*
Bereits am 3. März 2022, kaum eine Woche nach Kriegsbeginn, präsentierte John Mearsheimer, Professor für Geopolitik an der Universität Chicago, eine Analyse der Ereignisse in einem Video, das um die Welt ging. Dies wies die interessante Besonderheit auf, sich sehr mit der Sicht von Wladimir Putin zu decken und das Axiom eines intelligenten sowie verständlichen russischen Denkens zu akzeptieren. Mearsheimer ist das, was man in der Geopolitik einen »Realisten« nennt, Mitglied einer Denkschule, die die internationalen Beziehungen als Zusammenstellung egoistischer Machtverhältnisse zwischen Nationalstaaten begreift. Seine Analyse lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Russland wiederholte uns seit vielen Jahren, dass es einen Beitritt der Ukraine zur NATO nicht tolerieren werde. Nun war die Ukraine, deren Armee von militärischen Ratgebern der amerikanischen, britischen und polnischen Allianz übernommen worden war, im Begriff, de facto Mitglied zu werden. Also taten die Russen, was sie angekündigt hatten, und traten in den Krieg ein. Im Grunde ist es unsere Überraschung, die hier überraschend war.
Mearsheimer setzte hinzu, dass Russland den Krieg gewinnen würde, weil die Ukraine für das Land eine Existenzfrage darstelle, doch – implizit – nicht für die Vereinigten Staaten; Washington spiele bloß um Gewinne am 8 000 Kilometer entfernten Rand. Er folgerte daraus, dass wir uns besser nicht freuen sollten, wenn die Russen auf militärische Schwierigkeiten stoßen würden, da diese unvermeidlich dazu führen würden, dass es noch mehr in den Krieg investiere. Den Sieg, so existenziell er für die einen, jedoch nicht für die anderen ist, werde Russland davontragen.
Die intellektuelle und soziale Courage von Mearsheimer (der Amerikaner ist) kann man nur bewundern. Seine glasklare Interpretation, die einen Gedanken weiterentwickelt, den er in seinen Büchern oder anlässlich der Annexion der Krim 2014 geäußert hatte, weist dennoch einen erheblichen Mangel auf: Sie erlaubt einzig ein Verständnis des Verhaltens der Russen. So wie unsere Fernseh-Exegeten in der Haltung Putins nichts als mörderischen Wahnsinn sahen, so sieht Mearsheimer im Handeln der NATO – der Amerikaner, Briten und Ukrainer – nichts als Irrationalität und Unverantwortlichkeit. Ich stimme ihm zwar zu, doch er greift ein wenig zu kurz. Auch diese westliche Irrationalität will erklärt werden. Noch schlimmer ist, dass er nicht verstanden hat, dass die militärischen Leistungen der Ukraine die Vereinigten Staaten paradoxerweise in eine Falle getrieben haben. Denn nun haben auch sie ein Überlebensproblem, ein weit größeres als mögliche Gewinne am Rande – eine riskante Situation, die sie dazu veranlasst hat, weiter und weiter in den Krieg zu investieren. Mir kommt das Bild eines Pokerspielers in den Sinn, der durch einen Freund dazu verleitet wird, zu erhöhen, und der schließlich mit einem Paar Zweien All-in geht. Ihm steht ein perplexer Schachspieler gegenüber, der allerdings gewinnt.
In diesem Buch werde ich natürlich beschreiben und versuchen zu verstehen, was sich in der Ukraine abspielt, und Hypothesen dazu aufstellen, was nicht nur in Europa, sondern in der Welt zu geschehen droht. Außerdem ist es mein Ziel, das grundlegende Geheimnis des gegenseitigen Nichtverstehens der beiden Protagonisten zu lüften: auf der einen Seite ein westliches Lager, das Putin – und mit ihm ganz Russland – für verrückt hält, und auf der anderen ein Russland und ein Mearsheimer, die tief im Innern glauben, dass umgekehrt die Menschen im Westen verrückt sind.
Putin und Mearsheimer gehören nicht zum selben Lager und ohne Zweifel hätten sie Schwierigkeiten, sich auf gemeinsame Werte zu verständigen. Wenn ihre Anschauungen trotz allem kompatibel sind, dann deshalb, weil sie dieselbe elementare Vorstellung von einer aus Nationalstaaten konstituierten Welt teilen. Diese Nationalstaaten, die intern das Monopol der rechtmäßigen Gewalt besitzen, sichern im Innern den zivilen Frieden. So kann man von Weberschen Staaten sprechen. Nach außen jedoch verhalten sich diese Staaten wie Hobbes’sche Agenten, weil sie in einem Umfeld überleben, in dem es einzig auf das Kräfteverhältnis ankommt.2
Was das russische Konzept des Nationalstaats am besten definiert, ist der Begriff der Souveränität, »verstanden als die Fähigkeit des Staates, seine Innen- und Außenpolitik unabhängig zu gestalten, ohne Einmischung oder Einflussnahme von außen«, wie Tatiana Kasouéva-Jean erklärt.3 Dieser Begriff hat »während der aufeinanderfolgenden Präsidentschaften Wladimir Putins eine besondere Bedeutung erlangt«. Er wird »in zahlreichen offiziellen Dokumenten und Reden erwähnt als das wertvollste Gut, das ein Land besitzt, welche Regierung und politische Orientierung es auch haben mag«. Die Souveränität ist »ein seltenes Gut, über das nur wenige Staaten verfügen, allen voran die Vereinigten Staaten, China und Russland selbst. Im Gegenzug vermitteln viele offizielle Schriften und Reden das abfällige Bild eines ›Vasallentums‹ der Europäischen Union gegenüber Washington oder beschreiben die Ukraine als amerikanisches ›Protektorat‹.«
In The Great Delusion aus dem Jahr 2018 denkt auch Mearsheimer in den Begriffen von Nationalstaat und Souveränität. Für ihn ist der Nationalstaat nicht nur ein Staat oder eine abstrakt beschriebene Nation.4 Sicherlich handelt es sich um einen Staat und eine Nation, jedoch ist sie verankert in einer Kultur mit gemeinsamen Werten. Diese letztendlich ganz traditionelle Sicht, die dem anthropologisch-historischen Umfang der Welt Rechnung trägt, wird in diesem Buch – fast könnte man sagen: in aller Schärfe – präsentiert, und zwar auf axiomatische Weise.
Die besondere Eigenschaft eines Axioms oder Postulats ist, dass sich daraus Theoreme ableiten lassen, es selbst jedoch nicht zu beweisen ist. Allerdings weist es einen solchen Grad an Plausibilität auf, dass man es als gegeben betrachtet. Nehmen wir den fünften Satz von Euklid: Durch einen gegebenen Punkt kann nur eine einzige Parallele zu einer gegebenen Geraden gezogen werden. Er ist nicht beweisbar und die posteuklidische Mathematik mit Riemann und Lobatschewski ging von einem anderen Axiom aus. Aber trotzdem ist der fünfte Satz von Euklid sehr überzeugend für den gesunden Menschenverstand. Genauso ist die Aussage, dass es Nationalstaaten gibt, die in verschiedenen Kulturen verwurzelt sind, ein Axiom, das selbst dann, wenn es wie bei Mearsheimer auf etwas dogmatische Weise wiederholt wird, einen hohen Grad an Plausibilität aufweist. Denn schließlich hat sich die Welt, die aus den großen Entkolonialisierungswellen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist, in Staaten organisiert, die sich nichts anderes vorstellen konnten, als zu versuchen, Nationen zu werden. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, einen Blick auf die Zusammensetzung der Vereinten Nationen zu werfen.
Dieses Axiom stellt uns vor ein Problem: Es blendet Mearsheimer ganz genauso, wie es die Russen blendet; es versetzt sie gegenüber den westlichen Regierungen in eine Position des Nichtverstehens, in Symmetrie zu dem des Westens gegenüber Russland. In seiner Rede zur Kriegseinführung vom 24. Februar 2022 nannte Putin Amerika und seine Alliierten ein »Lügen-Imperium«, eine Bezeichnung, die zunächst sehr weit entfernt liegt von strategischem Realismus und die an einen verwirrten Gegner in unklarem psychischen Zustand denken lässt. Was Mearsheimer betrifft, erinnern wir uns daran, dass sein Buch den Titel The Great Delusion trägt. »Delusion« verweist eher noch als Illusion auf eine etwaige Psychose oder Neurose. Der Untertitel des Buchs lautet Liberal Dreams and International Realities. Das amerikanische Projekt einer »liberalen« Expansion wird wie ein Traum dargestellt und diesem Traum steht eine Realität gegenüber, deren Beauftragter Mearsheimer ist. Er behandelt die Neokonservativen, die inzwischen das geopolitische Establishment beherrschen, wie wir Putin behandeln: Er pathologisiert sie.
Was Putin als Praktiker internationaler Beziehungen mit seinem Ausdruck »Lügen-Imperium« erahnt, jedoch nicht vollständig definieren kann und was Mearsheimer als Theoretiker internationaler Beziehungen schlichtweg zu sehen ablehnt, ist eine ganz simple Wahrheit: Der Nationalstaat existiert im Westen nicht mehr.
In diesem Buch werde ich eine gewissermaßen posteuklidische Interpretation der globalen Geopolitik vorschlagen. Sie wird nicht das Axiom einer Welt von Nationalstaaten als gegeben voraussetzen. Stattdessen verwendet sie die Hypothese von deren Verschwinden aus dem Westen und wird das Verhalten der Menschen im Westen auf diese Art verständlich machen.
*
Das Konzept des Nationalstaats setzt voraus, dass verschiedene Bevölkerungsschichten eines Gebiets zu einer gemeinsamen Kultur innerhalb eines politischen Systems gehören, das unterschiedslos demokratisch, oligarchisch, autoritär oder totalitär sein kann. Um anwendbar zu sein, ist es für das fragliche Territorium außerdem erforderlich, dass es über eine wenigstens minimale wirtschaftliche Autonomie verfügt; diese Autonomie schließt selbstverständlich keinen Handel aus, doch dieser sollte mittel- oder langfristig in etwa ausgewogen stattfinden. Ein systematisches Defizit macht das Konzept des Nationalstaats hinfällig, da die betreffende territoriale Einheit nur überlebt, wenn sie von außen Tribut oder Pfründe erhält, ohne dabei eine Gegenleistung zu erbringen. Schon allein dieses Kriterium erlaubt es uns, noch vor der tieferen Analyse der Kapitel IV bis X festzustellen, dass Frankreich, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten, deren Außenhandel nicht mehr ausgeglichen, sondern stets defizitär ist, keine eigentlichen Nationalstaaten mehr sind.
Ein Nationalstaat, der gut funktioniert, setzt unterdessen eine spezifische Klassenstruktur voraus, was als Gravitationszentrum eine Mittelschicht einschließt, also mehr als schlicht ein gutes Einvernehmen zwischen der herrschenden Elite und der Masse. Lassen Sie uns noch konkreter werden und die sozialen Gruppen in den geografischen Raum einfügen. In der Geschichte der menschlichen Gesellschaften bilden die Mittelschichten gemeinsam mit anderen Gruppen urbane Netze. Dank der konkreten städtischen und von einer gebildeten, differenzierten Mittelschicht bevölkerten Hierarchie kann der Staat in Erscheinung treten, sie ist das Nervensystem der Nation. Wir werden sehen, wie die verzögerte, holprige, tragische Entwicklung der urbanen Mittelschichten in Osteuropa zum zentralen Erklärungsfaktor seiner Geschichte bis hin zum Ukraine-Krieg wird. Ebenso werden wir sehen, wie die Zerstörung der Mittelschichten zum Zerfall der Vereinigten Staaten von Amerika geführt hat.
Die Idee eines Nationalstaats, der nur dank starker Mittelschichten funktionieren kann, die den Staat versorgen und unterhalten, erinnert sehr an den ausgewogenen Staat bei Aristoteles. Dieser spricht über die Mittelschicht in seiner Politik folgendermaßen:
Indes muss der Gesetzgeber zu seiner Verfassung immer den Mittelstand mit hinzunehmen; will er seine Gesetze oligarchisch machen, so muss er den Mittelstand mit berücksichtigen und will er sie demokratisch machen, so muss er den Mittelstand dafür zu gewinnen suchen. Wo der Mittelstand zahlreich ist und an Kraft die beiden anderen überwiegt, oder wenigstens einen von beiden, da kann die Verfassung dauerhaft sein. Man braucht dann nicht zu fürchten, dass einmal die Reichen mit den Armen sich gegen jene vereinigen könnten; denn von jenen beiden wird keiner der Knecht der anderen werden wollen und wenn sie nach einer Verfassung suchen, die noch mehr das Gemeinsame fördert, so werden sie keine andere, als diese finden; auch werden sie nicht wechselweise herrschen wollen, weil Jeder dem Anderen nicht traut. Überall genießt der Schiedsrichter das meiste Vertrauen und der Schiedsrichter ist hier der Mittelstand.5
Fahren wir, ohne irgendeinen Anspruch auf Originalität zu erheben, mit unserer Bestandsaufnahme der Konzepte fort, da schon ihre schiere Artikulation die Existenz eines Nationalstaats ermöglicht. Ohne nationales Bewusstsein gibt es per Definition keinen Nationalstaat, doch hier frönen wir der Tautologie.
Im Fall der Europäischen Union lässt sich leicht einsehen, dass das Konzept der Nation überschritten ist, da gerade dies der Kern des europäischen Projekts ist, selbst wenn die Form, die es angenommen hat, nicht der geplanten entspricht. Merkwürdigerweise behaupten die europäischen Eliten gleichermaßen den Zerfall der Nationen wie ihren Fortbestand. Im Fall der Vereinigten Staaten ist offiziell keine Überwindung der Nationen anvisiert. Und doch werden wir sehen, dass das amerikanische System, selbst wenn es ihm gelungen ist, Europa zu unterwerfen, an derselben akuten Krankheit leidet: dem Verschwinden einer nationalen Kultur, die von der Masse wie den führenden Schichten geteilt wird. Die etappenweise Implosion der WASP-Kultur – weiß, angelsächsisch und protestantisch – seit den 1960er Jahren hat ein Imperium ohne Zentrum und ohne Plan erschaffen, einen im Wesentlichen militärischen Organismus, der von einer Gruppe ohne Kultur (im anthropologischen Sinn) angeführt wird und der als fundamentale Werte nur Macht und Gewalt kennt. Diese Gruppe wird im Allgemeinen mit dem Ausdruck »Neocons« bezeichnet. Sie ist ziemlich klein, bewegt sich aber innerhalb einer fragmentierten, anomischen Oberschicht und verfügt über ein großes geopolitisches sowie historisches Schadenspotenzial.
Die soziale Entwicklung westlicher Länder hat ein schwieriges Verhältnis der Eliten zur Realität evoziert. Doch wir können uns nicht damit begnügen, »postnationales« Handeln als verrückt oder unverständlich abzutun; diese Phänomene weisen eine Logik auf. Es ist eine andere Welt, ein neuer mentaler Raum, den wir definieren, studieren und verstehen sollten.
Kommen wir zurück auf Mearsheimer und sein wichtigstes Video vom 3. März 2022. Darin sah er, wie schon gesagt, einen unvermeidlichen Sieg der Russen voraus, da die ukrainische Frage in ihren Augen existenziell sei, während dies für die Vereinigten Staaten nicht der Fall sei. Aber wenn man sich von der Vorstellung verabschiedet, dass die Vereinigten Staaten ein Nationalstaat sind, und wenn man akzeptiert, dass das amerikanische System etwas völlig anderes geworden ist; dass der Lebensstandard der Amerikaner von Importen abhängt, die der Export nicht mehr deckt; dass Amerika keine nationale Führungsschicht im klassischen Sinn mehr hat; dass es nicht einmal mehr über eine klar definierte Kernkultur verfügt, wogegen die riesige Staats- und Militärmaschinerie weiterbesteht, dann rücken andere Wege ins Blickfeld als der einfache Rückgang eines Nationalstaats, der nach seinen Rückzügen aus Vietnam, Irak und Afghanistan auch eine x-te Niederlage in der Ukraine und vermittels der Ukrainer noch hinnehmen würde.
Sollte man in den Vereinigten Staaten eher einen imperialen Staat anstelle eines Nationalstaates sehen? Viele haben das getan. Die Russen selbst schrecken nicht davor zurück. Was sie den »kollektiven Westen« nennen, innerhalb dessen die Europäer nur Vasallen sind, ist eine Art pluralistisches imperiales System. Doch der Gebrauch des Konzepts eines Imperiums erfordert die Einhaltung einiger Kriterien: ein herrschendes Zentrum und eine beherrschte Peripherie. Von diesem Zentrum wird erwartet, dass seine Eliten eine gemeinsame Kultur wie auch ein vernünftiges intellektuelles Leben besitzen. In den Vereinigten Staaten ist das, wie wir sehen werden, nicht mehr der Fall.
Dann also ein Imperium in der Spätphase? Die Parallele zwischen den Vereinigten Staaten und dem Rom der Antike hat etwas Verlockendes. Indem ich mich in Après l’empire daran versucht habe, bemerkte ich, dass auch Rom, als es das gesamte Mittelmeerbecken unter seine Kontrolle gebracht hatte und dort eine Art erste Globalisierung improvisierte, seine Mittelschicht liquidiert hatte.6 Die massive Zufuhr von Weizen, Fertigwaren und Sklaven nach Italien hatte dort den Bauernstand und das Handwerk auf eine Weise zerstört, bei der man nicht umhinkommt, daran denken zu müssen, wie die amerikanische Arbeiterklasse dem Zustrom chinesischer Produkte erlag. In beiden Fällen lässt sich zugespitzt formulieren, dass mit dem wirtschaftlich nutzlosen Plebs einerseits und der räuberischen Plutokratie andererseits eine polarisierte Gesellschaft entstand. Der Weg einer langwährenden Dekadenz war nun eingeschlagen und trotz einiger Ausrisse unausweichlich.
Das Prädikat einer imperialen »Spätphase« bleibt allerdings unbefriedigend angesichts der Neuartigkeit vieler aktueller Elemente: die Existenz des Internets, die (unvergleichliche) Geschwindigkeit der Entwicklungen und die Präsenz der Riesennationen Russland und China um die Vereinigten Staaten herum (das Römische Reich hatte keine vergleichbaren Nachbarn; abgesehen vom weit entfernten Persien war es sozusagen allein in seiner Welt). Und schließlich der fundamentale Unterschied: Im spätrömischen Reich etablierte sich das Christentum. Nun ist aber eines der wichtigsten Charakteristika unserer Epoche das vollständige Verschwinden der christlichen Grundlage – ein entscheidendes historisches Phänomen, das folgerichtig die Auflösung der amerikanischen Führungsschicht erklärt. Wir werden noch ausführlich darauf zurückkommen: Der Protestantismus, der zu einem guten Teil die wirtschaftliche Stärke des Westens ausmachte, ist tot. Ein ebenso massives wie unsichtbares Phänomen, wenn man ein wenig darüber nachdenkt, geradezu schwindelerregend, und wir werden sehen, dass es einer der Schlüssel, wenn nicht gar der entscheidende Schlüssel ist, der die aktuellen weltweiten Turbulenzen zu erklären vermag.
Um auf unseren Versuch einer Klassifizierung zurückzukommen, wäre ich versucht, die Vereinigten Staaten mit ihren Abhängigkeiten als postimperialen Staat zu bezeichnen: Zwar verfügt Amerika noch über die Militärmaschinerie eines Imperiums, doch in seinem Herzen hat es keine Trägerkultur mehr für seine Intelligenz, weshalb es sich in der Praxis unüberlegten, widersprüchlichen Handlungen hingibt, wie etwa einer verstärkten diplomatischen und militärischen Expansion in einer Phase des massiven Rückgangs seiner industriellen Grundlagen – in dem Wissen, dass »moderne Kriegsführung ohne Industrie« ein Oxymoron ist.
Ich beobachte seit 2002 (als Après l’empire erschien) die Entwicklung der Vereinigten Staaten. Damals hoffte ich, dass sie zur Form eines riesigen Nationalstaats zurückfinden würden, die sie in den Jahren 1945–1990 gegenüber der UdSSR in ihrer positiven imperialen Phase waren. Heute, nach dem Tod des Protestantismus, muss ich zugeben, dass eine solche Wiederbelebung unmöglich ist, was im Grunde nur ein recht allgemeines historisches Phänomen bestätigt: die Unumkehrbarkeit der meisten fundamentalen Prozesse. Dieses Prinzip gilt hier für mehrere essenzielle Bereiche: für die Abfolge »nationales Stadium, dann imperiales, dann postimperiales«, für das Aussterben des Religiösen, das letztendlich das Verschwinden der sozial-moralischen Gesinnung und des Gemeinschaftsgefühls herbeigeführt hat; für einen Prozess der zentrifugalen geografischen Expansion, verbunden mit der Auflösung des ursprünglichen Systemkerns. Der Anstieg der amerikanischen Sterblichkeitsrate, insbesondere in den republikanischen oder trumpistischen Bundesstaaten, genau in dem Moment, als Hundertmilliardene von Dollar Richtung Kiew flossen, ist charakteristisch für diesen Prozess.
In meinen Büchern La Chute finale (1976) und in Après l’empire (2002) – beides Werke, die über anstehende Systemzusammenbrüche spekulieren – verwendete ich »rationalisierte« Darstellungen der Menschheitsgeschichte und der Aktivitäten von Staaten.7 Beispielsweise interpretierte ich in Après l’empire das geschäftige diplomatische und militärische Treiben der Vereinigten Staaten als »theatralischen Mikromilitarismus«, eine Haltung, die darauf abzielte, zu vertretbaren Kosten den Eindruck zu vermitteln, dass Amerika für die Welt nach dem Fall der Sowjetunion unersetzlich bliebe. Im Grunde ging es darum, ihnen ein rationales Machtziel zu geben. Im vorliegenden Buch werde ich mich selbstverständlich an die klassischen geopolitischen Elemente halten: Lebensstandard, Stärke des US-Dollar, Ausbeutungsmechanismen, objektive militärische Machtverhältnisse, also eine Welt, die an der Oberfläche einigermaßen rational wirkt. Die Frage des amerikanischen Lebensstandards und die Gefahr, die sein systematischer Zusammenbruch für die USA bedeuten würde, werden sehr präsent sein. Aber die exklusive Hypothese einer vernünftigen Begründung werde ich aufgeben und stattdessen eine erweiterte Vision der Geopolitik und der Geschichte vorschlagen, die das absolut Irrationale im Menschen besser integriert, namentlich seine spirituellen Bedürfnisse.
Die folgenden Kapitel befassen sich also auch mit der religiösen Matrix von Gesellschaften, mit den Lösungen, die der Mensch für das Geheimnis seiner Situation und dessen schwierige Akzeptanz zu finden versucht; mit den Qualen, die eine endgültige Auflösung der christlich-religiösen und besonders der protestantischen Matrix im Westen verursachen würde. Nicht alle diese Auswirkungen werden negativ dargestellt und das vorliegende Buch ist nicht radikal pessimistisch. Jedoch wird ein »Nihilismus« aufscheinen, der uns sehr beschäftigen wird. Was ich einen »religiösen Nullzustand« nennen würde, wird in einigen, besonders schlimmen Fällen eine Vergötterung des Nichts hervorbringen.
Ich werde das Wort »Nihilismus« in einer Bedeutung verwenden, die nicht unbedingt die gebräuchlichste ist und die eher – und das ist kein Zufall – an den russischen Nihilismus des 19. Jahrhunderts erinnern wird. Denn Amerika und die Ukraine haben sich auf einer nihilistischen Grundlage zusammengeschlossen, selbst wenn ihr jeweiliger Nihilismus in der Praxis auf sehr unterschiedliche Dynamiken zurückzuführen ist. Nihilismus, wie ich ihn verstehe, beinhaltet zwei grundsätzliche Dimensionen. Die sichtbarste ist die physische Dimension: der Trieb, Dinge und Menschen zu zerstören; so erweist sich das Konzept als sehr nützlich, wenn man den Krieg studiert. Die zweite Dimension ist begrifflich, aber nicht minder wesentlich, vor allem, wenn man über das Schicksal von Gesellschaften nachdenkt und über die Umkehrbarkeit oder Unumkehrbarkeit ihres Niedergangs: Der Nihilismus tendiert dann unwiderstehlich dazu, den Begriff der Wahrheit selbst zu zerstören und jede vernünftige Beschreibung der Welt zu verbieten. Diese zweite Dimension stimmt auf gewisse Weise mit dem allgemeineren Verständnis des Worts überein, das es als einen Amoralismus definiert, der aus einer Abwesenheit von Werten resultiert. Als Wissenschaftler fällt es mir sehr schwer, die beiden Paare gut–böse und wahr–falsch zu unterscheiden; in meinen Augen gehen diese beiden konzeptuellen Paare ineinander über.
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Zwei Mentalitäten stehen sich hier nun gegenüber. Auf der einen Seite der strategische Realismus der Vereinigten Staaten und auf der anderen die postimperiale Mentalität, die aus einem in Auflösung begriffenen Imperium hervorgeht. Keine von beiden erfasst die ganze Realität, da die erste nicht verstanden hat, dass der Westen nicht mehr aus Nationalstaaten besteht, sondern dass er etwas anderes geworden ist, und da die zweite sich gegenüber der Idee einer nationalen Souveränität verschlossen hat. Doch der Zugriff der einen oder der anderen auf die Realität liegt nicht gleichauf, und diese Asymmetrie wirkt sich zugunsten Russlands aus.
Wie der schottische Aufklärer Adam Ferguson in seinem Essay on the History of Civil Society (1767) dargelegt hat, existieren Menschengruppen nicht aus sich selbst heraus, sondern immer in Bezug auf andere, gleichwertige Menschengruppen. Selbst noch auf der winzigsten, weitentferntesten Insel, erklärt er, so dünn sie auch besiedelt sein mag, werde man immer zwei Menschengruppen finden, die sich gegenüberstehen. Die Pluralität sozialer Systeme sei konstituierend für die Menschheit und diese Systeme richten sich aneinander aus. »Die Titel des Mitbürgers und Landmanns, würden ohne Gegensatz des Namens eines Fremdlings und Auswärtigen, auf welchen sie sich beziehen, einen falschen Verstand bekommen, und ihre Bedeutung verliehren. Wir lieben einzelne Personen, wegen ihrer persönlichen Eigenschaften: aber wir lieben unser Vaterland, da es ein Stück in den Abtheilungen der Menschen ist […].«8
Die Entstehung Frankreichs und Englands bietet dafür ein prächtiges Beispiel. Im Verlauf des Mittelalters positionierten sich diese beiden Staatsgebilde im Seine-Tal gegeneinander. Später war für uns Franzosen der Erzfeind Deutschland, das übrigens auch Englands Hauptrivale am Vorabend des Krieges von 1914 war, was man leicht vergisst.
Eine der Schlüsselthesen Fergusons ist, dass die innere Moralität einer Gesellschaft mit ihrer äußerlichen Amoralität einhergeht. Es ist die Feindseligkeit gegenüber einer anderen Gruppe, die bewirkt, dass man sich mit den Seinen solidarisiert. »Ohne die Eifersucht der Nationen und die Führung des Kriegs«, schreibt er, »würde selbst die bürgerliche Gesellschaft kaum ein Objekt, oder eine Form gefunden haben.«9 Um dann zu präzisieren: »[…] vergebens schmeicheln wir uns, der ganzen Menge eines Volks die Gesinnung der Eintracht unter ihnen selbst beyzubringen, ohne daß sie mit Feindseligkeiten gegen diejenigen verfahren sollten, die sich ihnen widersetzen. Könnten wir, in dem Fall, bey irgendeiner Nation, auf einmal den Racheifer auslöschen, der von auswärtiger Seite erreget wird, so würden wir wahrscheinlicher Weise die Bande der Gesellschaft zu Hause zerreißen, und die geschäfftigsten Scenen der Nationalgeschäffte und Tugenden verschließen.«10
Das heutige westliche System strebt danach, die Gesamtheit der Welt zu repräsentieren, und erkennt die Existenz eines Anderen nicht mehr an. Doch mit Ferguson lernen wir, dass wir aufhören, wir selbst zu sein, wenn wir die legitime Existenz eines anderen nicht mehr anerkennen. Demgegenüber liegt die Stärke Russlands darin, in Begriffen der Souveränität und der Gleichwertigkeit von Nationen zu denken: Indem es die Existenz feindlich gesinnter Kräfte berücksichtigt, kann es seinen sozialen Zusammenhalt sichern.
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Das Paradoxe am vorliegenden Buch ist, dass es uns, ausgehend von einer militärischen Aktion Russlands, zur Krise des Westens führen wird. Eine Analyse der sozialen Dynamiken Russlands in den Jahren 1990–2022, mit der ich beginne, wird sich als leicht erweisen. Der Kurs der Ukraine und der ehemaligen Volksdemokratien, obgleich auf seine Art selbst paradox, wirkt auch nicht zu komplex. Die Untersuchung Europas, des Vereinigten Königreichs und mehr noch der Vereinigten Staaten wird eine anspruchsvollere intellektuelle Übung werden. Wir werden uns mit Illusionen, Spiegelungen und Trugbildern auseinandersetzen müssen, bevor wir in die Realität vordringen, die mehr und mehr wie ein schwarzes Loch aussieht: Abgesehen von der Abwärtsspirale in Europa werden wir im Vereinigten Königreich und in den USA interne Ungleichgewichte in einem Ausmaß vorfinden, dass sie zur Bedrohung für die Stabilität der Welt werden.
Das letzte Paradox: Wir müssen zugestehen, dass der Krieg, diese gewalt- und leidvolle Erfahrung, dieses Reich der Dummheit und des Irrtums, zugleich auch ein Realitätstest ist. Der Krieg lässt hinter die andere Seite des Spiegels blicken, in eine Welt, wo Ideologie, statistische Täuschungen, das Versagen der Medien und die Staatslügen – nicht zu vergessen der Verschwörungswahn – allmählich ihre Macht verlieren. Eine schlichte Wahrheit wird zutage treten: Die Krise des Westens ist die treibende Kraft der Geschichte, die wir erleben. Einige wussten das. Nach dem Ende des Krieges wird es niemand mehr leugnen können.
Kapitel I
Die Unerschütterlichkeit Russlands ist eine der großen Überraschungen des Krieges gewesen. Das hätte keine sein müssen; es war leicht vorherzusehen und wird leicht zu erklären sein. Die eigentliche Frage lautet: Warum haben die Menschen im Westen ihren Gegner so sehr unterschätzt, obwohl dessen Vorteile kein Geheimnis und Daten darüber zugänglich waren? Wie konnten sie mit ihrer 100 Millionen Personen starken intelligence community glauben, dass die Abschaltung von Swift und die Sanktionen dieses Land von 17 Millionen km² bis auf die Knochen abmagern lassen würden, ein Land, das über alle denkbaren natürlichen Quellen verfügt und sich seit 2014 offen auf solche Sanktionen vorbereitet hat?
Um das enorme Ausmaß des Wahrnehmungsfehlers zu zeigen, der sich über sämtliche Jahre von Putins Präsidentschaft erstreckte, starten wir mit der Überschrift einer Kolumne in Le Monde von Sylvie Kauffmann, Leitartiklerin der Ausgabe, die am 2. März 2022 erschien: »Putins Bilanz an der Spitze Russlands ist ein langer Abstieg in die Hölle eines Landes, aus dem er einen Aggressor gemacht hat.« So beschrieb die wichtigste französische Zeitung eine Periode, die nach dem Zusammenbruch der Neunzigerjahre im Gegenteil der Weg aus der Hölle gewesen war.
Es geht hier nicht darum, anzuprangern, sich zu empören oder bösen Willen zu unterstellen – denn die Menschen, die so denken, meinen es ernst1 –, aber es geht darum, zu verstehen, wie solche Absurditäten geschrieben werden konnten, wo es so einfach war zu erkennen, dass es Russland viel besser ging.
Zwischen 2000 und 2017, der zentralen Phase Putin’scher Stabilisierung, fiel die Rate alkoholbedingter Todesfälle von 25,6 pro 100 000 Einwohner auf 8,4, die Selbstmordrate von 39,1 auf 13,8, die Tötungsrate von 28,2 auf 6,2. Das bedeutet in absoluten Zahlen, dass die alkoholbedingten Todesfälle von 37 214 pro Jahr auf 12 276 zurückgingen, die Selbstmorde von 56 934 auf 20 278 und die Tötungen von 41 090 auf 9 048. Und ein Land, das eine solche Entwicklung durchgemacht hat, soll sich auf einem »langen Abstieg in die Hölle« befinden?
Im Jahr 2020 sank die Tötungsrate sogar noch weiter: auf 4,7 pro 100 000, und lag damit sechsmal niedriger als bei Putins Amtsantritt. Und die Selbstmordrate lag 2021 bei 10,7, also 3,6-mal geringer. Was die jährliche Kindersterblichkeitsrate betrifft, so fiel sie von 19 pro 1 000 »Lebendgeborene« im Jahr 2000 auf 4,4 im Jahr 2020 und lag damit unter der amerikanischen Rate von 5,4 (UNICEF). Da dieser letzte Indikator die schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft betrifft, ist er besonders aussagekräftig zur Beurteilung des allgemeinen Zustands.
Doch solche demografischen Indikatoren, die die Soziologen des 19. Jahrhunderts »Moralstatistik« nannten, verweisen auf eine greifbarere und tiefgründigere Realität als sonstige. Wenn man die Wirtschaftsdaten Russlands verfolgt, lässt sich zwischen 2000 und 2010 ein Aufholprozess, ein Anstieg neuen Lebens beobachten, gefolgt zwischen 2010 und 2020 von einer Verlangsamung, die aus den Schwierigkeiten resultierte, welche vor allem durch die Sanktionen nach der Annexion der Krim hervorgerufen wurden. Aber die Tendenz, die die Moralstatistik verdeutlicht, ist regelmäßiger und tiefgreifender und bildet einen Zustand sozialen Friedens ab, in dem die Russen nach dem Albtraum der Neunzigerjahre wiederentdeckten, dass eine stabile Existenz möglich ist.
Diese Stabilität, die sich in den objektivsten Fakten, den demografischen Daten, widerspiegelt, ist für das Land von grundlegender Bedeutung und eines der festen Themen in Putins Reden. Solche objektiven Elemente haben diverse NGOs, meistens indirekte Agenturen der US-Regierung, die man PNGOs nennen könnte, Pseudo-Nichtregierungsorganisationen, nicht davon abgehalten, Russland in ihren Erhebungen ohne Unterlass abzuwerten, bis ins Absurde. Als Transparency International, das die Länder der Erde nach ihrer Korruptionsrate einstuft, im Jahr 2021 die Vereinigten Staaten auf den 27. Rang setzte und Russland auf den 136., sah man sich mit einer Unmöglichkeit konfrontiert. Ein Land, das von einer niedrigeren Kindersterblichkeitsrate profitiert als die der USA, kann nicht korrupter sein. Denn da die Kindersterblichkeit den grundlegenden Zustand einer Gesellschaft widerspiegelt, ist sie zweifelsohne ein besserer Indikator der tatsächlichen Korruption als diese nach irgendwelchen Kriterien fabrizierten Indikatoren. Außerdem sind die beiden Länder mit der niedrigsten Kindersterblichkeit auch diejenigen, die nachweislich am wenigsten korrumpiert sind: die skandinavischen Länder und Japan. Wir stellen also fest, dass die Indikatoren der Kindersterblichkeit und der Korruption an der Spitze der Rangliste korrelieren.
Man kann es der Zeitung Le Monde und der CIA nicht verübeln, dass sie die Kindersterblichkeit nicht als Trendindikator herangezogen haben. Die wirtschaftlichen Daten allerdings waren bekannt. Während des ganzen Zeitraums waren neben einem Wiederanstieg des Lebensstandards eine sehr niedrige Arbeitslosenquote zu beobachten und die Rückkehr Russlands in die strategischen Wirtschaftsbereiche.
Das Spektakulärste betrifft die Landwirtschaft. Wie David Teurtrie in seinem Werk von 2021 zeigt, ist es Russland innerhalb weniger Jahre gelungen, nicht nur die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen, sondern zu einem der wichtigsten Agrarexporteure der Welt zu werden: »Im Jahr 2020 erreichten die russischen Agrarexporte den Rekordwert von 30 Milliarden US-Dollar und übertrafen damit die Einnahmen aus dem Erdgasexport im selben Jahr (26 Milliarden US-Dollar). Diese Dynamik, die ursprünglich von Getreide und Ölsaaten getragen wurde, stützt sich nun auch auf Fleischexporte. […] Die Leistungen des Agrarsektors haben es Russland erlaubt, 2020 erstmals in seiner jüngeren Geschichte zum Nettoexporteur für Agrarprodukte zu werden: Zwischen 2013 und 2020 haben sich die russischen Agrar- und Lebensmittelexporte verdreifacht, während die Importe halbiert wurden.«2 Russland dreht der Sowjetzeit, die ja bekanntlich vom Scheitern der Landwirtschaft geprägt war, regelrecht eine lange Nase.
Dass Russland weiterhin der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt ist, ist weniger überraschend. Sein ganz neuer Status als größter Exporteur von Nuklearanlagen, worin es Frankreich weit hinter sich lässt, ist dahingegen nach Tschernobyl eine weitere Überraschung. Rosatom, das staatliche Unternehmen, das für den Sektor zuständig ist, hatte im Jahr 2021 fünfunddreißig Reaktoren im Ausland im Bau (vor allem in China, Indien, der Türkei und in Ungarn).3
Eine andere Domäne, in der die Russen ihre Flexibilität und Dynamik unter Beweis stellen konnten, ist das Internet. Weil es sich dabei für uns um den Inbegriff von Modernität handelt, hätte man erwarten können, dass die zuständigen Stellen über den russischen Fortschritt unterrichtet gewesen wären. Dies war ganz und gar nicht der Fall.
Sehr gut erklärt Teurtrie, wie die Russen auf diesem Gebiet eine zugleich staatlich gesinnte, liberale, nationale und anpassungsfähige Haltung eingenommen haben: entschlossen, innerhalb einer kompetitiven Welt weiterzubestehen, und zugleich darauf bedacht, ihre Autonomie zu wahren. »In Wirklichkeit«, stellt er fest, »bewegt sich die russische Art der Regulierung des Internets in vielen anderen Bereichen irgendwo zwischen den Verfügungen in Europa und China. Mit Europa teilt Russland die Präsenz amerikanischer Internetriesen, die im Runet von einem großen Publikum profitieren (besonders im Fall von YouTube). […] Aber anders als Europa, das in dieser Domäne weitgehend machtlos ist, kann sich Russland, um autonom zu bleiben und den russischen Internetnutzern alternative Lösungen anzubieten, auf nationale Vorkämpfer stützen, die in allen Segmenten des Internets präsent sind.«4 Obwohl es weitgehend »offen für westliche Lösungen« bleibt, stellt es »ohne Zweifel die einzige Macht dar, bei der sich eine ernstzunehmende Konkurrenz zwischen Big Tech und seinen lokalen Äquivalenten bildet«.5
Nach Angela Merkel hat auch François Hollande vorgegeben, das Minsker Abkommen von 2014 deshalb unterzeichnet zu haben, um den Ukrainern Zeit zu geben, sich zu bewaffnen. Dies war sicherlich auch die Absicht der Ukrainer. Doch im Fall der vernebelten Köpfe von Angela Merkel und François Hollande – wer weiß? Was man aber kaum erkennen konnte, was Teurtrie jedoch in seinem Buch vorschlägt, ist, dass diese Vereinbarungen ein Mittel waren, um Zeit zu gewinnen, auch für die Russen.6 Einer der Gründe, warum die Russen 2014 nicht über die Einnahme der Krim hinausgingen und einen Waffenstillstand akzeptierten, war, dass sie noch nicht bereit waren, von Swift abgeschnitten zu werden, was dementsprechend tatsächlich katastrophal gewesen wäre. Das Minsker Abkommen wurde unterzeichnet, weil alle Beteiligten Zeit gewinnen wollten. Die Ukrainer, um sich auf einen Krieg auf ihrem Territorium vorzubereiten; die Russen, um auf maximale Sanktionsregelungen vorbereitet zu sein. Wie Teurtrie berichtet, richtete die Zentralbank von Russland bereits 2014 das russische Transaktionssystem für Banken SPFS ein. Im April 2015 wurde das nationale Zahlungssystem (NSPK) eingeführt, das »die Funktionstüchtigkeit der von russischen Banken ausgegebenen Karten im Inland auch im Fall westlicher Sanktionen garantierte. Gleichzeitig richtete die Zentralbank von Russland das Kartenzahlungssystem Mir ein.«7
Wenn man die Entwicklung Russlands seit dem Zusammenbruch des Kommunismus beobachtet, kann man über diesen extremen Verlauf nur staunen: ein sehr harter Sturz und dann ein rasanter Wiederaufstieg. Noch unerklärlicher ist jedoch die Anpassungsfähigkeit, die das Land seit den Sanktionen, die auf den Krimkrieg 2014 folgten, unter Beweis gestellt hat. Jede Sanktionsregelung scheint Russland dazu angeregt zu haben, eine Reihe von ökonomischen Umstrukturierungen vorzunehmen und allmählich seine Autonomie gegenüber dem westlichen Markt wiederherzustellen.
Das Beispiel der Weizenproduktion ist vielleicht das spektakulärste. Im Jahr 2012 produzierte Russland 37 Millionen Tonnen Weizen und zehn Jahre später mehr als das Doppelte, nämlich 80 Millionen im Jahr 2022. Diese Flexibilität ergibt Sinn, sobald man sie mit der negativen Flexibilität des neoliberalen Amerika vergleicht. Im Jahr 1980, als Reagan an die Macht kam, stieg die amerikanische Weizenproduktion auf 65 Millionen Tonnen. 2022 waren es nur noch 47 Millionen. Betrachten wir diesen Rückgang als einen ersten Einblick in die Realität der amerikanischen Wirtschaft, über die wir im neunten Kapitel sprechen werden.
Unter Putin erlebten die Russen niemals einen reinen Protektionismus und haben daher immer akzeptiert, dass eine gewisse Zahl an Unternehmungen Schaden nehmen würde. Ihre zivile Luftfahrtindustrie wurde geopfert, als sie Airbus-Flugzeuge kauften. Auch ihre Automobilindustrie hat gelitten. Aber wenn es dem Land gelungen ist, einen verhältnismäßig hohen Anteil seiner erwerbstätigen Bevölkerung in der Industrie zu halten, nicht vollständig in der globalisierten Wirtschaft aufzugehen und seine Arbeitskraft nicht in den Dienst des Westens zu stellen, wie es die ehemaligen Volksdemokratien gemacht haben, dann deshalb, weil es von einem partiellen Protektionismus und von den Umständen profitiert hat.
Jacques Sapir hat mich in diesem Punkt aufgeklärt: »Die wichtigste Maßnahme zum Schutz der Industrie und der Landwirtschaft war die sehr starke Abwertung des Rubels zwischen 1998 und 1999. Als realer Wechselkurs ausgedrückt (der die Inflationsraten und die jeweiligen Produktivitätssteigerungen vergleicht), musste die Abwertung Ende 1999 mindestens 35 Prozent betragen. In der Folge fiel der nominale Wechselkurs weniger deutlich, als das Inflationsgefälle wuchs, doch der hohe Produktionszuwachs von 2000 bis 2007 hat eine reale Wechselkursabwertung von etwa 25 Prozent aufrechterhalten. Zwischen 2008 und 2014 erodierte diese Abwertung. Dann, mit dem Strategiewechsel der Zentralbank Russlands (Übergang zur Inflationssteuerung), wertete der Rubel von 2014 bis 2020 real wieder ab.«8