Der Westen - Naoíse Mac Sweeney - E-Book

Der Westen E-Book

Naoíse Mac Sweeney

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Beschreibung

Eine radikal neue Darstellung, wie die Idee von der »westlichen Zivilisation« unsere Geschichte geformt hat Washington, Library of Congress. Mehr als ein Dutzend ehrwürdige Männer schauen von oben auf Naoíse Mac Sweeney herab – Moses, Homer und Herodot, Kolumbus, Michelangelo und Beethoven … Zusammen sechzehn Bronzebüsten, die die Entstehung der "westlichen Zivilisation«  repräsentieren sollen. Doch wo in dieser Erzählung, denkt sich die Historikerin und Archäologin, findet sie als Frau mit Einwanderungsgeschichte ihren Platz? Deshalb fasst Mac Sweeeney den Entschluss, eine andere Geschichte des Westens zu schreiben. Darin tritt Herodot nicht als berühmter »Vater der Geschichtsschreibung« auf, sondern als Migrant, der aus der türkischen Provinz vor seinen Häschern flüchtet. Sie erzählt von einer mächtigen römischen Matriarchin und einem islamischen Gelehrten, einem griechischen Kreuzfahrer und einem Sklavenmädchen im neuen Amerika. Ihre faszinierende Erzählung zeigt, dass das Konzept des »Westens« erfunden wurde zur Rechtfertigung von Ausgrenzung und Rassismus – und bis heute genau dazu dient.

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Der Westen

Naoíse Mac Sweeney wurde als Tochter chinesischer und irischer Eltern in London geboren und arbeitete als Model, bevor sie eine akademische Laufbahn einschlug. 2007 promovierte sie in Cambridge in Klassischer Philologie und lehrte danach zehn Jahre an der Universität Leicester. Derzeit ist sie Professorin für Klassische Archäologie an der Universität Wien und beschäftigt sich vor allem mit Themen wie Migration, Identität und kulturelle Interaktion. Ihr Buch über Troja wurde 2018 von Bloomsbury Academic veröffentlicht und stand auf der Shortlist für den PROSE Award. The West ist ihr erstes Buch für ein breites Publikum. 

WARUM DIE VORSTELLUNG VON DER »WESTLICHEN ZIVILISATION« EIN MYTHOS ISTWir neigen dazu, uns die Geschichte der »Westlichen Zivilisation« als eine Art roten Faden vorzustellen, der durch die Jahrhunderte von der klassischen Antike bis zu den Ländern des modernen Westens führt – eine kulturelle Genealogie, die von Platon bis zur NATO reicht. Was aber, wenn unsere Vorstellung falsch ist? In einem epischen Streifzug durch die Jahrhunderte zeichnet die preisgekrönte Archäologin und Historikerin Naoíse Mac Sweeney die Entstehung dieser Idee nach. Sie zeigt auf, wie die spezielle Version der westlichen Geschichte erfunden und benutzt wurde, um Imperialismus und Rassismus zu rechtfertigen – und warum sie ihre Wirksamkeit bis heute nicht verloren hat.»Ein kühner, weitreichender Blick aus der Vogelperspektive, der eine wahrhaft globale Sicht auf Tausende von Jahren eröffnet. Ein großartiges Buch!«Peter Frankopan

Naoíse Mac Sweeney

Der Westen

Die neue Geschichte einer alten Idee

Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Jens Hagestedt

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The West. A New History of an Old Idea bei WH Allen, ein Imprint von Ebury Publishing, London.

Propyläen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

www.propylaeen-verlag.de

© Naoíse Mac Sweeney 2023

© Copyright der deutschsprachigen Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: Grafik-Design Büro Morian & Bayer-Eynck, nach einer Vorlage von Jamie KeenanUmschlagabbildung: Shutterstock / cartariumAutorinnenfoto: © Penguin Random House UK, Desiree Adams

Alle Rechte vorbehalten

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ISBN 978-3-8437-3057-0

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Anmerkung der Autorin

EinleitungDie Bedeutung der Herkunft

Kapitel einsDie Absage an Reinheit

Vater der Geschichtsschreibung, Vater der Lügen

Das Erscheinungsbild der Welt

Die »Erkundungen«

Kapitel zweiDie asiatischen Europäer

Mischlingsnation

Das hässliche Kind

Die symbolische Mitte zwischen Troja und Rom

Kapitel dreiDie Erben der Antike im Rest der Welt

Die Erben der Antike

Das Haus der Weisheit

Aristoteles und Allah

Kapitel vierNoch mehr asiatische Europäer

Imperator Romanorum

Priester und Diplomat

Die Nachkommen des Priamos

Kapitel fünfDie Illusion des Christentums

Geteilte Christenheit

Briefe aus dem Exil

Das Erbe von Hellas

Kapitel sechsDie Neuinterpretation der Antike

Geburt oder Wiedergeburt?

»Eine kluge und reine Seele«

Spiel mit Platon und Argumente des Aristoteles

Kapitel siebenDer nicht gegangene Weg

Lieber türkisch als papistisch

Von der Haseki zur Valide

Der marsgleiche Herrscher

Kapitel achtDer Westen und das Wissen

Welterkundung und Aufklärung

Parlamentarier und Universalgelehrter

Wissen ist Macht

Kapitel neunDer Westen und das Imperium

Die Werkzeuge des Imperiums

Zum Herrschen geboren

Angola via Athen

Kapitel zehnDer Westen und die Politik

Imperium und Freiheit

Arzt und Revolutionär

Ein Modell für die Moderne

Kapitel elfDer Westen und »Rasse«

Hierarchie der »Rassen«

Eine Sklavin als Berühmtheit

Zügel aus Seide

Kapitel zwölfDer Westen und die Moderne

Der Westen beherrscht den Rest

Der William des Volkes

Ein Bollwerk gegen den Osten

Kapitel dreizehnDer Westen und seine Kritiker

Den Westen umdenken

Am falschen Ort

Ein Umdenken der Westlichen Zivilisation

Kapitel vierzehnDer Westen und seine Rivalen

Kriege zwischen Welten

Parallele Zivilisationen

Unglückliche 777

SchlussDie Form der Geschichte

Dank

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Anmerkung der Autorin

Widmung

Für Gianni und Valentino

Anmerkung der Autorin

Ich habe mich dafür entschieden, das Adjektiv bei »Westliche Zivilisation« in diesem Buch groß zu schreiben, um damit deutlich zu machen, dass es sich bei dem Begriff um ein abstraktes Konstrukt, nicht um eine neutrale Bezeichnung handelt. In diesem Sinne schreibe ich das Wort »Westlich« generell groß, wenn es sich auf abstrakte politisch-kulturelle Begriffe bezieht, die eher Konnotationen von Kultur und Zivilisation tragen, als rein geografischen Bezeichnungen zu dienen. Letztere schreibe ich klein.

Ein ähnliches Prinzip habe ich für die Schreibung der Adjektive befolgt, mit denen die Hautfarben der menschlichen »Rassen« bezeichnet werden. Ich habe also auch Adjektive wie »Schwarz« und »Gelb« groß geschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um abstrakte Konstrukte, nicht um neutrale Bezeichnungen handelt. Nur wenn adjektivische Farbbegriffe rein bezeichnend gemeint sind, habe ich sie klein geschrieben.

Dieses Buch befasst sich mit Themen aus verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte und aus vielen verschiedenen Kulturen und Gesellschaften. In mehreren Abschnitten stützt sich meine Darstellung daher in hohem Maße auf Sekundärliteratur. Wenn es um Bereiche ging, für die mein Fachwissen nicht genügte, habe ich mich nach Kräften von Fachleuten über die jeweiligen Themen, Regionen und Epochen informieren lassen. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass alle Abschnitte dieses Buches so genau, detailliert und differenziert geraten sind, als wären sie von Experten auf dem jeweiligen Gebiet verfasst worden, und ich rechne damit, dass mir im Hinblick auf Faktendarstellung und Interpretation einige Fehler unterlaufen sind. Ich glaube aber, dass ein Buch, das wie dieses einen breiten Überblick über ein Thema geben will, dennoch von Wert sein kann. Wenn man den Blick auf ein größeres Ganzes richtet, verliert man an manchen Stellen zwangsläufig Details aus dem Auge, aber es gibt Zeiten, in denen es wichtig ist, sich ein Bild vom größeren Ganzen zu machen.

EinleitungDie Bedeutung der Herkunft

Herkunft ist wichtig. Wenn wir fragen: »Woher kommst du?«, dann fragen wir in Wahrheit oft: »Wer bist du?« Das gilt für jeden einzelnen Menschen wie für Familien und ganze Länder. Es gilt auch für ein so großes und komplexes Gebilde wie den Westen.

In den Kulturkriegen, die den Westen derzeit erbeben lassen, geht es zentral um diese Überschneidung von Herkunft und Identität. Im letzten Jahrzehnt ist es zu einer toxischen Polarisierung des politischen Diskurses gekommen, die zum Sturz von Statuen und zur Delegitimierung von Wahlen durch amtierende Staatschefs geführt hat. Die Identitätskrise im Westen ist zum größten Teil Reaktion auf ein umfassenderes globales Geschehen. Die Welt verändert sich, und die Grundlagen der Westlichen Vorherrschaft werden erschüttert. Wir haben in diesem historischen Moment die Chance, den Westen radikal zu überdenken und ihn für eine bessere Zukunft zu erneuern. Dazu müssen wir aber bereit sein, uns mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nur wenn wir uns klarmachen, woher der Westen kommt, können wir die Frage beantworten, was der Westen sein könnte und sollte.

Der Begriff »der Westen« kann sich auf eine geopolitische Formation oder eine kulturelle Gemeinschaft beziehen und bezeichnet in der Regel eine Reihe moderner Nationalstaaten, die sowohl kulturelle Merkmale als auch politische und wirtschaftliche Grundsätze gemeinsam haben. Dazu gehören die Ideale der repräsentativen Demokratie und des Marktkapitalismus, ein nominell säkularer Staat auf dem Fundament einer jüdisch-christlichen Moral und eine psychologische Tendenz zum Individualismus.1 Keines dieser Merkmale ist nur im Westen anzutreffen und keines von ihnen in allen Ländern des Westens, aber es charakterisiert den Westen, dass in der Regel alle oder die meisten dieser Attribute zusammen auftreten. Dasselbe gilt für viele klischeehafte Symbole von Verwestlichung, wie Champagner und Coca-Cola, Opernhäuser und Einkaufszentren. Ein besonders bezeichnendes Merkmal des Westens ist jedoch die Vorstellung von einem gemeinsamen Ursprung, der zu einer gemeinsamen Geschichte, einem gemeinsamen Erbe und einer gemeinsamen Identität geführt habe.

Der Ursprungsmythos des Westens stellt dessen Geschichte so dar, dass er die atlantische Moderne bruchlos über die europäische Aufklärung, den lichten Glanz der Renaissance und die Finsternis des Mittelalters auf ihren Ursprung in den klassischen Welten Roms und Griechenlands zurückführt. Dies ist zur ebenso kanonischen wie klischeehaften Standardversion der Geschichte des Westens geworden. Sie ist aber falsch. Diese Version der Geschichte des Westens – eine Große Erzählung über die griffig so genannte »Westliche Zivilisation«, die einen einzigen, ununterbrochenen Faden von Plato bis zur NATO spinnt2 – ist sachlich falsch, und sie verfälscht die Tatsachen aus ideologischen Gründen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies ist kein Buch über den Aufstieg des Westens als kulturelle oder politische Einheit. Zu diesem Thema gibt es bereits eine Vielzahl von Büchern, die ebenso viele Erklärungen liefern, wie der Westen seine globale Vorherrschaft erlangte.3 Mein Buch zeichnet stattdessen den Aufstieg einer bestimmten Version der Geschichte des Westens nach, einer Version, die heute so weit verbreitet und tief verwurzelt ist, dass sie oft gedankenlos akzeptiert wird, obwohl sie moralisch problematisch und sachlich falsch ist. Mein Buch entfaltet und entschlüsselt die Große Erzählung, die als »Westliche Zivilisation« bezeichnet wird.

Diese Version der Geschichte des Westens, die »Große Erzählung« von der »Westlichen Zivilisation«, umgibt uns überall. Ich erinnere mich an die Situation, in der mir erst so richtig bewusst wurde, wie tief dieser Mythos verwurzelt ist: Ich saß im Lesesaal der Library of Congress in Washington. Als ich zufällig zur Decke schaute, stellte ich mit Unbehagen fest, dass ich nicht nur von den stets wachsamen Bibliothekaren beobachtet wurde, sondern auch von sechzehn lebensgroßen Bronzestatuen, die auf der Galerie unter der vergoldeten Kuppel standen: Aus der Antike waren es Moses, Homer, Solon, Herodot, Platon und der heilige Paulus, aus der Alten Welt Europas Kolumbus, Michelangelo, Bacon, Shakespeare, Newton, Beethoven und der Historiker Edward Gibbon, aus der Neuen Welt Nordamerikas der Jurist James Kent, der Ingenieur Robert Fulton und der Physiker Joseph Henry. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass die gesamte Einrichtung des Raumes mit den Statuen, den Wandmalereien und sogar der Anordnung der Bücherregale eines betonen sollte: dass wir an den Arbeitstischen Teil einer intellektuellen und kulturellen Tradition waren, die Jahrtausende zurückreichte. Und die, die vor uns Teil dieser Tradition gewesen waren, wachten buchstäblich über unsere Arbeit – vielleicht ermunternd, vielleicht mit kritischem Blick.4

Mir kamen zwei beunruhigende Gedanken. Der erste, rein instinktive war, dass ich fehl am Platze sei. Ich hatte das Gefühl, jemand wie ich (weiblich, »Mischling«) gehöre nicht in eine Tradition, die man sich üblicherweise als von Weißen Elitemännern repräsentiert vorstellt. Ich tat diesen Gedanken rasch als lächerlich ab (schließlich saß ich in diesem Moment auf einem privilegierten Platz an einem Lesetisch), aber dann überkam mich als zweiter Gedanke eine viel gewichtigere Besorgnis: Repräsentierten diese sechzehn Figuren wirklich die Vergangenheit des Westens? War die Erzählung, die sie miteinander verknüpfte, ein akkurates Abbild seiner Geschichte?

Die Standarderzählung von der Westlichen Zivilisation ist so allgegenwärtig, dass die meisten von uns nur selten innehalten, um über sie nachzudenken, und noch seltener, um sie zu hinterfragen. Obwohl sie zunehmend (und zwar erfolgreich) infrage gestellt wird, ist diese Erzählung immer noch omnipräsent. Wir lesen von ihr in Schulbüchern und populärwissenschaftlichen Geschichtswerken, die die Geschichte des Westens in der Regel »mit den Griechen und Römern beginnen lassen, sie dann durch das europäische Mittelalter verfolgen, anschließend das Zeitalter der europäischen Entdeckungen und Eroberungen in den Blick nehmen und zu guter Letzt die moderne Welt genauer analysieren«.5 Die Sprache solcher Werke ist in der Regel mit genealogischen Metaphern gespickt, die die Westliche Zivilisation mit Begriffen wie »Erbe«, »Entwicklung« und »Abstammung« darstellen.6 Immer wieder lesen wir dergleichen wie: »Die westliche Zivilisation ist etwas, was wir von den alten Griechen, den Römern und der christlichen Kirche auf dem Weg über die Renaissance, die wissenschaftliche Revolution und die Aufklärung geerbt haben.«7 Diese Vorstellung von der Westlichen Zivilisation als einem linear weitergegebenen kulturellen Erbe wird uns von klein auf eingetrichtert. Im ersten Band einer einflussreichen Kinderbuchserie, bevor es losgeht mit den wundersamen Abenteuern, wird die Westliche Zivilisation als »lebendige Kraft« bezeichnet, als »Flamme«, die sich in Griechenland entzündete, von dort nach Rom weitergetragen wurde, später in Deutschland, Frankreich und Spanien brannte, bevor sie mehrere Jahrhunderte lang England erleuchtete und schließlich in die Vereinigten Staaten von Amerika kam.8 Herkunft ist wichtig, und mit unserer Antwort auf die Frage, woher der Westen kommt, sagen wir, was der Westen unserer Meinung nach fundamental ist.

Die imaginäre kulturelle Genealogie des Westens wird in den Reden populistischer Politiker, in den Artikeln von Journalisten und in den Analysen von Fachleuten ausdrücklich beschworen. Sie liegt Symbolen und Begriffen zugrunde, die auf dem gesamten politischen Spektrum verwendet werden. So wird in der zeitgenössischen politischen Rhetorik häufig von der griechisch-römischen Antike als der (angeblichen) Geburtsstätte des Westens Gebrauch gemacht. Als ein Mob am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington stürmte, angeblich um die Westlichen Werte zu verteidigen, trugen die Randalierer Fahnen mit altgriechischen Zitaten und Plakate, auf denen (Noch-)Präsident Donald Trump als Julius Caesar dargestellt war. Einige trugen Nachbildungen antiker griechischer Helme, andere waren sogar in voller römischer Uniform erschienen.9 Als die Europäische Union 2014 eine Initiative zur Bekämpfung der irregulären Einwanderung und der Flüchtlingsströme startete, wählte sie dafür den Namen »Operation Mos Maiorum« als Verweis auf die Traditionen des alten Roms.10 Und als Osama bin Laden 2004 einen heiligen Krieg gegen den Westen ausrief, forderte er die Muslime zum »Widerstand gegen das neue Rom« auf.11 Diese Erzählung von der Westlichen Zivilisation wird jedoch nicht nur in Werken der Geschichtswissenschaft und in politischen Zusammenhängen beschworen. Sie ist vielmehr ständig um uns und Teil unseres täglichen Lebens. Wir sehen sie, kodiert in den Entwürfen von Kostüm- und Szenenbildnern, in Filmen und im Fernsehen. Wir begegnen ihr, in Stein gebannt, nicht nur in der Library of Congress, sondern auf der ganzen Welt in der neoklassizistischen Architektur der einstigen Kolonialmächte.12 Sie ist so allgegenwärtig, dass die meisten von uns sie einfach als gegeben hinnehmen. Aber ist sie auch wahr?

Das waren die Gedanken, die mir an jenem regnerischen Nachmittag in Washington durch den Kopf gingen. Ich hatte mich bis dahin zwei Jahrzehnte lang weitgehend damit befasst, ebendiesen imaginären Ursprüngen des Westens nachzugehen, die einen so großen Teil von dessen Identität ausmachen. Der Schwerpunkt meiner Forschungen hatte der Frage gegolten, wie die Menschen der griechischen Antike sich ihre Ursprünge zurechtgelegt hatten, und ich hatte diese Frage zu beantworten versucht, indem ich die mythischen Genealogien der alten Griechen, ihre Ahnenkulte und die Geschichten studierte, die sie sich über Wanderungen und Städtegründungen erzählt hatten. Obwohl ich mich damals wie heute privilegiert fühle, als Historikerin arbeiten zu dürfen, war mir in diesem Moment sehr unbehaglich zumute. Ich erkannte, dass ich mitschuldig war an der Fortschreibung der Großen Erzählung von der Westlichen Zivilisation, eines intellektuellen Konstrukts, das ideologisch und sachlich zweifelhaft war. Und ich begann, die Analysemethoden, die ich bei der Erforschung von Identitäten und Ursprüngen auf dem Gebiet der Antike angewandt hatte, auf die moderne Welt um mich herum anzuwenden. Dieses Buch ist das Ergebnis.

Ich vertrete darin zwei Thesen. Die erste lautet, dass die Große Erzählung von der Westlichen Zivilisation sachlich falsch ist. Der moderne Westen entsprang nicht einzig und allein in der klassischen Antike, und er entstand auch nicht auf dem Weg einer einzigen Abstammungslinie, die bruchlos von dort über das mittelalterliche Christentum, die Renaissance und die Aufklärung führt. Identität und Kultur des Westens wurden nicht wie ein »Goldklumpen« entlang dieser Linie weitergegeben, um den Philosophen Kwame Anthony Appiah zu zitieren.13 Probleme, die diese Große Erzählung aufwirft, wurden schon vor mehr als hundert Jahren erkannt, und inzwischen sind die Beweise für ihre Unhaltbarkeit überwältigend. Heute erkennen alle seriösen Historiker und Archäologen an, dass sich »Westliche« und »nicht-Westliche« Kulturen während der gesamten Menschheitsgeschichte wechselseitig befruchtet haben und dass der moderne Westen einen großen Teil seiner kulturellen DNA einer Vielzahl nichteuropäischer und nicht-Weißer Vorfahren verdankt.14 Doch müssen die Art und die Details dieser kulturellen Interaktionen noch vollständig geklärt werden, und eine neue Große Erzählung, die die von der Westlichen Zivilisation ersetzen soll, muss erst noch entstehen. Der Wunsch, dazu einen Beitrag zu leisten, war Teil meiner Motivation, dieses Buch zu schreiben. Ein anderer Teil ergab sich aus der beunruhigenden Tatsache, dass all die historischen Beweise für die Unhaltbarkeit der Großen Erzählung von der Westlichen Zivilisation und der wissenschaftliche Konsens in dieser Sache bisher relativ wenig Einfluss auf das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gehabt haben. Die Erzählung ist nach wie vor allgegenwärtig in der zeitgenössischen Westlichen Kultur. Warum halten wir (das heißt die Westlichen Gesellschaften, vereinfacht gesagt) immer noch so hartnäckig an einem Geschichtsbild fest, das so gründlich diskreditiert ist?

Die zweite These des Buches lautet, dass der ideologische Nutzen der Großen Erzählung von der Westlichen Zivilisation der gemeinsame Grund für deren Erfindung, Popularisierung und Langlebigkeit ist. Die Erzählung existiert auch heute noch – lange nachdem ihre sachliche Grundlage unrettbar erschüttert worden ist –, weil sie einem Zweck dient. Sie hat die Westliche Expansion und den Westlichen Imperialismus gerechtfertigt und rechtfertigt heute die fortbestehenden Systeme Weißer Dominanz. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Große Erzählung von der Westlichen Zivilisation die Kopfgeburt eines bösen Meisterdenkers wäre, der zynisch ein falsches Geschichtsbild ausgeheckt habe, um die Sache des Westens zu fördern. Ganz im Gegenteil. Diese Geschichte wurde Stück für Stück und ohne Plan gewoben und verdankt dem glücklichen Zufall genauso viel wie der Berechnung. Die Große Erzählung besteht aus vielen kleinen Erzählungen, die miteinander verwoben und ineinandergefügt sind und je für sich für das Erreichen bestimmter politischer Ziele eingesetzt wurden. Zu diesen kleinen Erzählungen gehören: die Vorstellung vom klassischen Athen als einem leuchtenden Beispiel für verwirklichte Demokratie, dem die moderne Westliche Demokratie nacheifere;15 die Vorstellung vom fundamental europäischen Charakter der alten Römer, die als Grundlage für das gemeinsame europäische Erbe beansprucht wird;16 und der Mythos von den Kreuzzügen als einem zwischen dem Christentum und dem Islam ausgetragenen bloßen Kampf der Kulturen, der auf der einen Seite den gegen den Westen gerichteten Dschihad und auf der anderen den »Krieg gegen den Terror« rechtfertigt.17 Dass diese und andere kleine Erzählungen ideologisch nützlich waren, ist gut dokumentiert; jede wurde erzählt, weil sie den Erwartungen und Idealen des jeweiligen Erzählers entsprach. Für sich genommen sind diese Geschichten auch facettenreich und faszinierend, und ich hoffe, dass die Leser Freude daran haben werden, in diesem Buch einiges von ihrer schillernden Vielfalt kennenzulernen. Zusammengenommen bilden sie jedoch die Große Erzählung von der Westlichen Zivilisation, die als Ursprungsmythos des Westens dient.18

Der Westen ist natürlich nicht das einzige soziopolitische Gebilde, das eine seinem Selbstbild und seinen Bedürfnissen in der Gegenwart entsprechende Erzählung seiner Vergangenheit konstruiert hat. Das politisch motivierte Neuinterpretieren von Geschichte ist vielmehr üblich, seit Geschichte geschrieben wird (und war es wahrscheinlich, in Form von mündlichen Überlieferungen und gemeinschaftlichem Geschichtenerzählen, schon lange davor). Im 6. Jahrhundert v. u. Z. sollen in Athen Verse in die homerische Ilias eingefügt worden sein, die besagen, dass Athen im Heroenzeitalter die Insel Ägina beherrscht habe. Wenn das stimmt, ist es nicht verwunderlich, dass diese Verse genau zu der Zeit eingefügt wurden, als Athen versuchte, Kontrolle über Ägina zu erlangen.19 In jüngerer Zeit wurde nach der Ausrufung des modernen türkischen Nationalstaates 1923 ein komplexes historisches und archäologisches Programm, die sogenannte »Türkische Geschichtsthese«, proklamiert, um die Identifikation der Türken mit der Landmasse Anatoliens zu fördern.20 In noch jüngerer Zeit wurde unter der Führung von Xi Jinping auf aggressive Weise, die man je nach Standpunkt als beunruhigend oder ermutigend empfinden kann, eine neue offizielle Darstellung der Rolle Chinas im Zweiten Weltkrieg propagiert.21 Und im Juli 2021, als sich die russische Armee im Vorfeld ihrer militärischen Invasion an der ukrainischen Grenze sammelte, veröffentlichte der russische Präsident Wladimir Putin eine Abhandlung, in der er die historische Einheit des russischen und des ukrainischen Volkes behauptete.

Man muss nicht unbedingt böswillig oder verlogen sein, um die Geschichte im Sinne der eigenen politischen Agenda umzuschreiben, und man muss sie auch nicht verfälschen, um dies zu tun. Das Umschreiben der Vergangenheit kann auch so geschehen, dass man Tatsachen berücksichtigt, die aus einer konventionellen Erzählung zuvor stets verbannt worden waren. Der britische National Trust for Places of Historic Interest or Natural Beauty – wie der Name verrät, eine Organisation, die sich der Denkmalpflege und dem Naturschutz verschrieben hat – veröffentlichte 2020 einen Bericht über die Verbindungen der historischen Gebäude, die sich in der Obhut des Trusts befinden, zum Kolonialismus und zur Sklaverei, was die Spannungen in der schon aufgeheizten nationalen Debatte über die imperiale Vergangenheit Großbritanniens weiter verschärfte.22 Die eine Seite in dieser Debatte fordert, dass die unbequeme Geschichte von Kolonialismus, Sklaverei und Ausbeutung in den Lehrplänen der Schulen und in den Informationen, die Museen und andere Kulturerbestätten zur Verfügung stellen, in Zukunft eine größere Rolle spielen solle. Diese Forderung basiert auf historischen Fakten, ist aber auch fundamental politisch: Sie wird von politischen Grundsätzen gestützt und von einer politischen Agenda getragen, die sich für mehr soziale Gerechtigkeit und die Anerkennung historischen Unrechts einsetzt. Die Forderung der Gegenseite – dass statt dieser unerfreulichen Dinge erfreulichere Themen im Vordergrund stehen sollten – wird ebenfalls von einer politischen Agenda getragen, allerdings einer, die für die Beibehaltung des Status quo plädiert.

Diese Debatte macht zweierlei deutlich. Erstens: Geschichtsschreibung ist immer politisch. Die Entscheidung, die offizielle Geschichte zu überdenken und umzuschreiben, ist ein politischer Akt. Aber die Entscheidung, dies nicht zu tun, ist ebenfalls ein politischer Akt. Zweitens: Die historischen Tatsachen selbst sind nicht immer umstritten. In einer Debatte kann es vielmehr darum gehen, welche Tatsachen wo und wann hervorgehoben werden sollten. Wenn wir über diese beiden Punkte nachdenken, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass es nicht per se falsch ist, Geschichte von einem politischen Standpunkt aus zu schreiben. Ja, Geschichte kann überhaupt nur so geschrieben werden! Aber wenn die geschriebene Geschichte den bekannten Tatsachen widerspricht, dann ergibt sich ein Problem.

Bei der Großen Erzählung von der Westlichen Zivilisation geschieht genau das, denn die sachliche Grundlage für sie ist längst zerbröckelt. Zwar können einzelne Elemente beibehalten werden, doch die Erzählung als Ganze wird den uns bekannten Tatsachen nicht mehr gerecht. Dennoch klammern sich viele im Westen immer noch an diese Große Erzählung, und sie tun dies wegen ihres ideologischen Wertes. Damit komme ich zu einem zweiten Problem, das die Große Erzählung von der Westlichen Zivilisation aufwirft: Die sie stützende Ideologie entspricht nicht mehr den Grundsätzen des modernen Westens. Die leitenden Ideologien der Westlichen Gesellschaften im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts unterscheiden sich von denen der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Große Erzählung den Höhepunkt ihrer Geltung erreichte, und von denen der Mitte des 18. Jahrhunderts, als die Erzählung entstand. Für viele Menschen im Westen sind die Vorstellungen von der »rassischen« Überlegenheit der Weißen und von der Legitimität des Imperialismus heute nicht mehr Teil ihrer Identität, sondern diese Vorstellungen sind durch eine Ideologie ersetzt worden, die für Liberalität, soziale Toleranz und Demokratie eintritt. (Es gibt im Westen allerdings auch eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die das anders sehen und nostalgisch auf die Westliche Identität des 19. Jahrhunderts zurückblicken; ich werde darauf in der Schlussbetrachtung näher eingehen.)

Wir müssen uns der Großen Erzählung von der Westlichen Zivilisation entledigen, müssen sie entschlossen beiseiteschieben als sachlich falsch und ideologisch überholt. Sie ist ein Ursprungsmythos, der nicht mehr zweckdienlich ist, da er weder eine akkurate Darstellung der Geschichte des Westens bietet noch eine ideologisch akzeptable Grundlage für die Identität der Menschen im Westen. Ich verfolge daher in diesem Buch das Ziel, die Große Erzählung von der Westlichen Zivilisation anzugreifen, indem ich zunächst die kleinen Erzählungen, aus denen sie sich zusammensetzt, und anschließend den ideologischen Ballast, der auf ihr ruht, demontiere.

Da die Westliche Zivilisation eine Abstraktion ist (wenn auch eine äußerst wirkmächtige), könnte ein Buch wie dieses leicht im Theoretischen stecken bleiben. Um das zu verhindern, habe ich meine Erzählung auf die Biografien von vierzehn realen historischen Persönlichkeiten gegründet. Einige Namen dürften bekannt sein, andere weniger. Aber die Lebensgeschichten all dieser Persönlichkeiten, von der versklavten Dichterin bis zum im Exil lebenden Kaiser, vom Mönch, der als Diplomat diente, bis hin zum geplagten Bürokraten, geben der Geschichte des Westens eine neue Gestalt. Ich erzähle in jedem Kapitel nicht nur die Geschichte eines bemerkenswerten Menschenlebens, sondern stelle auch die Epoche und die Region dar, in der die betreffende Person gelebt hat, und setze diese in Beziehung zu anderen wichtigen Figuren ihrer Zeit.

Die erste Hälfte des Buches befasst sich mit den historischen Ungenauigkeiten der Großen Erzählung von der Westlichen Zivilisation und entzaubert, indem sie deren angebliche Ursprünge unter die Lupe nimmt, die fantastische Vorstellung von der bruchlosen rein Westlichen kulturellen Genealogie. Die Kapitel 1 und 2 haben Persönlichkeiten der Antike zum Gegenstand, die als Geburtsstätte des Westens gilt, und zeigen, dass weder die alten Griechen noch die Römer eine ausschließlich Westliche oder europäische Identität zu haben glaubten. Die Kapitel 3, 4 und 5 gelten Persönlichkeiten, die im vermeintlich »finsteren« Mittelalter lebten, und veranschaulichen, wie das griechische und römische Erbe im islamischen, mitteleuropäischen und byzantinischen Kontext angenommen, abgelehnt beziehungsweise neu interpretiert wurde. Die Kapitel 6 und 7 befassen sich mit der Renaissance und der frühen Neuzeit, in der die Linien der kulturellen Genealogie auf widersprüchliche Weise gezogen wurden, und zwar so, dass sie den europäischen Kontinent und die größere Einheit der Christenheit auf eine Weise teilten, die die Vorstellung vom kohärenten Westen widerlegt.

Die zweite Hälfte des Buches widmet sich der Frage, wie die Vorstellung von der Westlichen Zivilisation als ideologisches Instrument funktioniert hat, und zeichnet deren Entstehung und Entwicklung zu der Großen, uns heute so vertrauten Erzählung nach. Kapitel 8, 9 und 10 untersuchen, wie der Wandel der Vorstellungen von Religion und Wissenschaft, die weltweite Expansion und der Imperialismus sowie der Gesellschaftsvertrag im 16. und 17. Jahrhundert zur allmählichen Entstehung der Vorstellung von der Westlichen Zivilisation beigetragen haben. Kapitel 11 und 12 zeigen, wie diese Vorstellung ihre ausgereifte Form erlangte und zum Anker für den Westlichen Imperialismus und die allgegenwärtigen Systeme »rassischer« Dominanz wurde. Kapitel 13 und 14 schließlich veranschaulichen die beiden größten Herausforderungen, vor denen der Westen und die Westliche Zivilisation derzeit stehen – gemeint sind die Kampfansagen interner Kritiker und externer Rivalen –, Herausforderungen, die von der Veränderung der Welt, in der wir leben, zeugen und die dringende Notwendigkeit deutlich machen, sowohl die Identität des Westens als auch den Ursprungsmythos von der Westlichen Zivilisation von Grund auf zu überdenken.

Die vierzehn Lebensbeschreibungen in diesen vierzehn Kapiteln sind meine Antwort auf die Bronzestatuen, die mir in der Library of Congress solches Unbehagen bereiteten. Im Unterschied zu der bedeutenden Washingtoner Bibliothek erhebe ich allerdings nicht den Anspruch, eine »Galerie von großen Persönlichkeiten« zu präsentieren. Ich habe die Personen, deren Leben ich in diesem Buch erzähle, nicht ausgewählt, weil sie die wichtigsten oder einflussreichsten ihrer Zeit gewesen wären. Vielmehr handelt es sich bei meinen vierzehn Protagonisten um Menschen, an deren Leben und Werk wir etwas vom Geist ihrer Zeit ablesen und an deren Erfahrungen, Denken und Tun wir erkennen können, wie sich die Vorstellungen vom kulturellen Erbe und von der kulturellen Genealogie verändert haben. Natürlich sind dies nicht die einzigen Biografien, die ich in diesem Buch hätte beschreiben können, und ich bin sicher, dass jeder von Ihnen andere Entscheidungen treffen würde, wenn Sie ein ähnliches Projekt in Angriff nähmen. Dennoch können meine Protagonisten meinen Standpunkt deutlich machen. Sie zeigen, dass die Große Erzählung von der Westlichen Zivilisation sowohl handgreiflich unwahr als auch ideologisch bankrott ist. Sie machen auf der Ebene von Einzelpersonen deutlich, warum wir diese Große Erzählung ein für alle Mal über Bord werfen müssen. Und sie plädieren für eine Mehrzahl von historischen Abstammungslinien, aus der wir uns als Ersatz für die alte Geschichte des Westens eine neue erarbeiten sollten.

Kapitel einsDie Absage an Reinheit

HERODOT

Marmorbüste von Herodot, 2. Jahrhundert u. Z.

Metropolitan Museum of Art 91.8

Offenbar war diese Europa [die aus Tyros stammte] ja aus Asien, und sie ist gar nicht in das Land gekommen, das von den Griechen jetzt Europa genannt wird.Herodot (spätes 5. Jahrhundert v. u. Z.)23

Ein Migrant steht am Strand. Er blickt aufs Meer hinaus, seine Heimat auf dem anderen Kontinent »mit der Seele suchend«. Seine ersten Schritte ins Exil hat er vor vielen Jahren getan, als er auf einem überfüllten Boot die raue Küste Kleinasiens verließ. Er floh vor der Verfolgung durch einen Tyrannen und vor der Wut eines fundamentalistischen Mobs, in der Hoffnung auf eine strahlende neue Zukunft in der pulsierendsten und kosmopolitischsten Stadt Europas. Doch nach seiner Ankunft in der großen Metropole wurden seine Träume rasch enttäuscht. Wo er auf Erfolg gehofft hatte, misstraute man ihm, wo er sich Chancen ausgerechnet hatte, stieß er auf Einschränkungen. Als die Regierung dann begann, für Migranten ein feindliches Umfeld zu schaffen, und drakonische neue Staatsbürgerschaftsgesetze einführte, verließ er die Stadt. Und so steht er jetzt an einem Strand in einer anderen Fremde, auf der Suche nach einem weiteren neuen Anfang. Vielleicht wird er diesmal finden, was er sucht.

Dies könnte Teil der Geschichte zahlloser Migranten im 21. Jahrhundert sein, ist aber dem ersten der in diesem Buch beschriebenen vierzehn Leben entnommen – dem des griechischen Geschichtsschreibers Herodot. Natürlich können wir nur spekulieren (wie ich es hier getan habe), wie Herodot sich fühlte, als er an den Gestaden Süditaliens ankam. Wir wissen wenig über das Leben des Mannes, der heute allgemein als »Vater der Geschichtsschreibung« gilt. Geboren im frühen 5. Jahrhundert v. u. Z. in Halikarnassos (dem heutigen Bodrum in der Türkei), wirkte er einige Jahre in Athen, verbrachte seinen Lebensabend jedoch in der Kleinstadt Thurioi am Golf von Tarent. Hier schrieb er, nachdem er zweimal vertrieben worden war und zweimal neu Fuß gefasst hatte, das Werk, das ihn berühmt gemacht hat: die Historiai.

Die Historien gelten weithin als frühestes Werk der Geschichtsschreibung in der Westlichen Tradition. Im Herzstück des Buches erzählt Herodot, wie eine Koalition griechischer Stadtstaaten in den Jahren von 499 bis 479 v. u. Z. die eindringenden Armeen des achämenidischen Perserreichs zurückschlug. Die Perser waren zahlenmäßig und organisatorisch überlegen und beherrschten ein riesiges Reich, das sich von den heutigen Ländern Bulgarien bis Afghanistan und von Ägypten bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Ihre Gegner waren Hunderte winziger unabhängiger Kommunen, die sich (mehr oder weniger) als Griechen betrachteten, sich unablässig untereinander kabbelten und in ihren jeweiligen Gebieten ein kümmerliches Dasein fristeten. Doch wider Erwarten setzten sich die Griechen durch und wehrten die persischen Invasoren erfolgreich ab. Diese Geschichte hat über mehr als zweieinhalb Jahrtausende hinweg die Fantasie der Menschen beschäftigt und erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit.

Einer der Gründe für die anhaltende Popularität der Historien ist ihre Bedeutung für die Vorstellung von der Geschichte des Westens. Für viele ist das Werk eine Gründungsurkunde der Westlichen Zivilisation, gelesen als antiker Präzedenzfall für die moderne Vorstellung vom »Kampf der Kulturen«. Der Prolog scheint diese Deutung auch zu bestätigen: Herodot beginnt die Historien mit der ausdrücklichen Feststellung, dass es ihm darum gehe, die großartigen Taten sowohl der Griechen als auch der Barbaren (also der Nicht-Griechen) zu dokumentieren. Darin scheint bereits eine binäre Gegenüberstellung der beiden Seiten zu liegen – Griechen und Barbaren, Europa und Asien, der Westen und der Osten (oder genauer vielleicht: der Westen und der Rest der Welt). Herodot fährt dann fort, indem er eine Vorgeschichte erzählt: Alles habe damit begonnen, dass phönizische Kaufleute eine Königstochter aus der griechischen Stadt Argos entführten. Die Griechen hätten darauf mit der Entführung einer phönizischen Königstochter geantwortet und mit dieser Tat einen Teufelskreis von Fällen interkontinentalen Frauenraubs ausgelöst, der in der Entführung der Helena aus Sparta gegipfelt habe. Die Zerstörung Trojas im daraufhin von den Griechen angezettelten Trojanischen Krieg war laut Herodot eine unverhältnismäßige Eskalation, die die Asiaten erst richtig gegen die Griechen aufgebracht habe (Hdt 1:5).

Herodots Einleitung liest sich wie eine frühe Version der Erzählung von der Westlichen Zivilisation. Beide Schlüsselelemente derselben sind in ihr enthalten. Wir haben erstens zwei einander unversöhnlich gegenüberstehende Opponenten: Griechenland (lies: »der Westen«) und Asien (lies: »der Rest der Welt«). Wir haben zweitens eine Rückprojektion der historischen Gegenwart auf die Vergangenheit: Die Perser werden mit den mythischen Trojanern parallelisiert, die Griechen mit den Achäern, die Troja geplündert haben. Herodot scheint uns nicht nur einen Bericht über einen »Kampf der Kulturen« in der Antike zu liefern, sondern auch eine frühe Formulierung der kulturellen Genealogie des Westens. Doch der Schein trügt.

Viele Leser sind auf diese sich anbietende Deutungsmöglichkeit hereingefallen. Samuel Huntington etwa hat die wichtigsten Merkmale einer Zivilisation in seinem umstrittenen Bestseller The Clash of Civilizations and the Remaking of the World Order (dt. Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert) unter Bezugnahme auf Herodot definiert.24 Dem Politologen Anthony Pagden zufolge war Herodots Thema in den Historien »die immerwährende Feindschaft zwischen Europa und Asien«.25 Und Zack Snyders Film 300 löste 2007 eine Kontroverse aus, weil Snyder Herodots Spartaner als freiheitsliebende Weiße Europäer und die Perser als moralisch degenerierte und körperlich missgebildete Asiaten und Afrikaner dargestellt hatte.

Dass Herodot falsch interpretiert wurde, ist verständlich. Es gibt in der Tat viele Textstellen, die auf eine Erzählung vom Typus »Kampf der Kulturen« hindeuten. Aber es gibt auch viele Stellen, die dem widersprechen. Wenn wir Herodot genau lesen, erkennen wir, dass er die Vorstellung von einem Kampf der Kulturen nur eingeführt hat, um sie zu unterminieren. Wir entdecken, dass er die Welt nicht in den Westen und den Rest einteilte und dass er die Geschichte auch nicht als unendliche Wiederholung ein und desselben Konflikts verstand. Kurz gesagt, Herodot hat weder eine frühe Version der Erzählung von der Westlichen Zivilisation ersonnen, noch sah er sich und die Griechen als Teil eines geokulturellen Verbunds, der aus heutiger Sicht Parallelen zum modernen Westen aufweisen könnte. Sein Werk weist vielmehr in die entgegengesetzte Richtung. Dass er noch zweieinhalb Jahrtausende nach seinem Tod so oft benutzt worden ist, um ebenjene Ideologie des »Wir gegen sie« zu propagieren, die er zu diskreditieren versuchte, gehört zu den Ironien der Geschichte.

Vater der Geschichtsschreibung, Vater der Lügen

Obwohl wir ihn heute manchmal den »Vater der Geschichtsschreibung« nennen, war Herodot nicht der erste Historiker.26 Die Anfänge der mesopotamischen Geschichtsschreibung sind mehr als ein Jahrtausend älter, und die ersten Geschichtswerke in griechischer Sprache erschienen fast zweihundert Jahre vor seiner Geburt.27 Herodot hat die Geschichtsschreibung also nicht neu erfunden. Er hat aber gute Arbeit geleistet, um sie neu zu definieren, denn statt nur der Reihe nach von einzelnen Ereignissen zu erzählen, versuchte er die Muster historischer Kausalität herauszuarbeiten; er verlagerte den Schwerpunkt der Darstellung vom »Was« auf das »Warum«.28

Die Historien berichten natürlich auch, was in den griechisch-persischen Kriegen geschah; sie schildern die großen Ereignisse und kleinen Episoden des Konflikts. Dessen Verlauf sah in groben Zügen so aus: Die Kämpfe begannen im Jahr 499 v. u. Z. mit dem Ionischen Aufstand, einer Rebellion gegen das Perserreich, die von den griechischen Städten Kleinasiens angeführt und von Athen (sowie von anderen griechischen Stadtstaaten in der Ägäis) unterstützt wurde. Nach der Niederschlagung der Revolte fünf Jahre später begannen die Perser, sich nach Westen zu orientieren. Als der Perserkönig Dareios weitere vier Jahre später auf der griechischen Halbinsel einmarschierte, wurde er in der Schlacht bei Marathon 490 von einer durch Athener angeführten Streitmacht besiegt. Aufgrund von Aufständen in anderen Teilen des Reiches kam es erst zehn Jahre später, 480 v. u. Z. und diesmal unter Dareios’ Sohn Xerxes, zu einer zweiten persischen Invasion in Griechenland. Auf ihrem Durchmarsch durch die griechische Halbinsel wurde Xerxes’ Armee kurz bei den Thermopylen aufgehalten, wo dreihundert Spartaner Widerstand bis zum Tod leisteten. Aber schließlich erreichten die Perser Athen. Sie plünderten die Stadt, töteten viele ihrer Einwohner und erbeuteten ihre größten Schätze. Dann erlitten sie in einer überraschenden Wendung der Ereignisse eine katastrophale Doppelniederlage: zuerst zur See in der Schlacht von Salamis, danach zu Lande in der Schlacht von Plataiai. Da sich ihre Streitkräfte in Auflösung befanden und hinter ihnen die Ruinen von Athen schwelten, beschlossen die Perser, in die Heimat zurückzukehren.

Warum hatten sich die Dinge so entwickelt? Um dieser diffizilen Frage auf den Grund zu gehen, stellte Herodot die Ereignisse in immer größere Zusammenhänge. Warum die Perser Athen geplündert haben, kann man nicht wirklich verstehen, dachte er, wenn man nicht die Vorgeschichte der diplomatischen Beziehungen zwischen Persien und Athen kennt. Und die diplomatischen Beziehungen zwischen Persien und Athen kann man nicht wirklich verstehen, wenn man nichts über die politischen Strukturen beider Staaten weiß. Die politischen Strukturen eines Staates wiederum kann man nicht wirklich verstehen, wenn man nichts von der Entwicklung dieses Staates und letztlich seinen Anfängen weiß. Herodots Erklärung griff immer weiter aus.

Infolgedessen hat Herodot in den Historien nicht nur einen Bericht über die griechisch-persischen Kriege gegeben, sondern auch seine Vorstellungen von der Geschichte Persiens seit der Gründung des Reiches und vom Aufbau seiner Verwaltung mitgeteilt (wobei einige dieser Vorstellungen offensichtlich ebenso sehr auf Vermutungen wie auf solidem Wissen beruhten). Damit nicht genug, erweitert sich die Erzählung zu anschaulichen ethnografischen Beschreibungen der persischen Kultur und Gesellschaft sowie zu Biografien von Schlüsselfiguren der persischen Geschichte nebst Charakterstudien über diese Figuren. Und Herodot bietet diese Detailfülle nicht nur für die Perser, sondern auch für jedes der vielen Völker, die innerhalb des Persischen Reiches lebten, von den Ägyptern im Süden bis zu den Skythen im Norden und von den Indern im Osten bis zu den Griechen im Westen. Natürlich behandelt er die Griechen anders als andere Völker. Da er auf Griechisch für ein hauptsächlich griechisches Publikum schrieb, brauchte er diesem die Grundlagen seiner Kultur und seines Brauchtums nicht zu erläutern. Aber er erzählte die Geschichte mehrerer griechischer Staaten, stellte deren je individuelle Entwicklung dar und hob hervor, was sie von anderen unterschied.

Diese Fokussierung auf das »Warum« führte dazu, dass die Historien ihr Thema ebenso umfassend darstellen (sie behandeln ein Geschehen, das sich in einem Zeitraum von mehreren Hundert Jahren und auf einem Gebiet mit einer Größe von vielen Tausend Quadratkilometern zutrug) wie reich an Details (mit Anekdoten, die vom Sexualleben von Königen ebenso handeln wie von den maritimen Missgeschicken von Fischern). Während Herodot also vordergründig die Geschichte der griechisch-persischen Kriege erzählt, verwöhnt er uns nebenbei mit einer bunten Mischung historiografischer Leckerbissen. Hinzu kommen ethnografische Informationen (wussten Sie, dass die Skythen ihre toten Könige in Wachstücher einwickelten, bevor sie sie bestatteten?29), philosophische Darlegungen (die Perser hatten sich interessanterweise per Abstimmung für die Monarchie als beste Regierungsform entschieden30), geografische Theorien (Herodot mischt sich sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinne in die Debatte über die Quelle des Nils ein31) und investigativer Journalismus (wir erfahren von geheimen Botschaften, die laut einer anonymen Quelle durch unter der Kleidung verborgene Tätowierungen übermittelt wurden32).

Der Reichtum und die Vielfalt der Historien haben Herodot – vielleicht unvermeidlich – seinen zweiten Beinamen beschert. Hatte Cicero Herodot etwa vier Jahrhunderte nach dessen Tod als »Vater der Geschichtsschreibung« bezeichnet, so nannten einige ihn weitere zwei Jahrhunderte später den »Vater der Lügen«.33 Plutarch etwa fand, dass Herodots Geschichten zu fantastisch, skurril und schamlos unterhaltsam waren, um wahr zu sein. Und in diesem Punkt hatte er teilweise recht. Einige Geschichten Herodots sind sicher weit hergeholt – etwa die Mär von den Gold fördernden Ameisen34 in Indien oder das Gerücht, es gebe menschliche Bewohner der Sahara, die Hundsköpfe hätten.35 Andere befremdlich klingende Geschichten könnten aus kulturellen Missverständnissen erwachsen sein. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte, dass die Skythen ihre Stuten melken, indem sie ihnen mit Knochenflöten Luft in die Vagina blasen, ein anderes die Legende, dass alle babylonischen Frauen mindestens einmal in ihrem Leben als Tempelprostituierte gedient haben.36 Doch Herodot wusste selbst, dass nicht all seine Erzählungen den Tatsachen entsprachen: Deshalb stellte er den fantastischeren oft ein ausführliches Dementi voran und präsentierte sie als Bericht aus zweiter Hand, statt mit eigener Stimme zu sprechen. Solche Passagen sind gespickt mit Formulierungen wie »einige Leute sagen« oder »die Einheimischen behaupten«. Herodot hat nicht alles geglaubt, was er gehört hat, und er hat auch nicht erwartet, dass sein Publikum das tue.

Doch genaueres Lesen hätte Plutarchs Zorn kaum besänftigt. Sein Misstrauen gegenüber Herodot hatte einen tieferen Grund: Er fand die Historien einfach viel zu unparteiisch, was ihre Einstellung zu den Persern betraf, und viel zu positiv in der Darstellung der Nicht-Griechen. Plutarch zufolge war Herodot ganz offenkundig ein philobarbaros, ein Barbarenfreund, und daher war nichts von dem, was er geschrieben hatte, vertrauenswürdig. Genauso problematisch fand Plutarch die Bereitschaft Herodots, die Griechen zu tadeln. Hatte Herodot den blutrünstigen Wahnsinn des Persers Kambyses und die hybride Grausamkeit des Xerxes37 etwa schärfer kritisiert als den selbstsüchtigen Ehrgeiz des milesischen Tyrannen Aristagoras und die Habgier des athenischen Feldherrn Themistokles?38 Für den Patrioten Plutarch, der in einem Griechenland lebte, das zu einer Provinz des Römischen Reiches degradiert worden war, war Herodots Mangel an Parteilichkeit ein Affront gegen sein nostalgisches Ideal des Griechentums.

Wer also war Herodot wirklich – der Vater der Geschichtsschreibung oder der Vater der Lügen? War er ein Fantast, ein Apologet der Barbaren und ein ausgefuchster Fabrikant von Märchen? Oder war er ein wissenschaftlicher Erneuerer, der die Grenzen des menschlichen Wissens hinausschob, indem er das Verhältnis des Menschen zur Vergangenheit neu dachte? Hat er, was für das Thema dieses Buches vielleicht am wichtigsten ist, eine Vision vom Urwesten formuliert, die die Grundlage für unsere heutige, moderne Vorstellung vom Westen bildet? Hat Herodot uns die Blaupause für die Große Erzählung von der Westlichen Zivilisation geliefert? Die Antworten auf diese Fragen liegen irgendwo zwischen der Lebensgeschichte von Herodot, dem Menschen, und den Texten des Geschichtsschreibers Herodot. Aber so detailreich die Biografien anderer Persönlichkeiten in den Historien sind, so frustrierend wenig wissen wir vom Leben des Autors selbst.

Herodot wurde, wie bereits erwähnt, Anfang des 5. Jahrhunderts v. u. Z. in Halikarnassos an der Ägäisküste der heutigen Türkei geboren. Halikarnassos verstand sich zwar als Polis, als griechischer Stadtstaat, hatte aber eine gemischte Bevölkerung und hielt auch ein einheimisches anatolisches Erbe in Ehren.39 Herodots Familie veranschaulicht den kulturellen Mix der Stadt. Herodots eigener Name ist griechisch, ebenso wie der seiner Mutter Dryo. Mehrere andere Mitglieder der Familie trugen aber karische Namen – Karisch war eine anatolische Sprache –, so Herodots Vater Lyxes und sein Cousin, der Ependichter Panyassis.40

Als junger Mann war Herodot vielleicht mehr an Politik als an Geschichte interessiert. Er opponierte gegen Lygdamis, den Erbherrscher der Stadt,41 und musste deshalb auf die nahe gelegene Insel Samos fliehen. Irgendwann kehrte er zurück, beteiligte sich an einem Putsch, der Lygdamis stürzte, und unterstützte die Einsetzung einer neuen Regierung. Doch schon bald wurde er wieder vertrieben – diesmal vom Zorn eines Mobs von Lygdamis-Anhängern. In den folgenden Jahren scheint Herodot das Beste aus seinem Exil gemacht zu haben, indem er die antike Welt bereiste.42 Überall in den Historien stoßen wir auf persönliche Anekdoten und eigene Augenzeugenberichte. Herodot erzählt uns, dass er die Sehenswürdigkeiten Ägyptens besucht hat und den Nil bis nach Elephantine hinaufgesegelt ist; dass er die belebten Häfen und kosmopolitischen Märkte des phönizischen Tyrus bewundert und mit eigenen Augen die märchenhaften Dekors der Tempel von Babylon gesehen hat. Darf man seinem Werk Glauben schenken, so wäre Herodot ein anstrengender Reisender gewesen: Er hätte Reiseführer gelöchert, mit Straßenhändlern gefeilscht und jeden, von lokalen Würdenträgern bis hin zu einfachen Wasserverkäufern, nach seiner Geschichte gefragt. Wenig überraschend lässt er in den Historien intime Vertrautheit mit Anatolien erkennen – nicht nur mit den Küsten der Ägäis, sondern auch mit den Regionen am Schwarzen Meer und der Gegend am Hellespont. Auf dem griechischen Festland scheint er neben Athen unter anderem Sparta, Delphi und die Landschaft Böotien aus erster Hand gekannt zu haben.

So politisch zersplittert die griechische Welt Mitte des 5. Jahrhunderts auch war, kulturell hatte sie eine unbestrittene Hauptstadt: Athen.43 Es war die Zeit des Staatsmanns Perikles und des Philosophen Sokrates, des Bildhauers Pheidias und des Dramatikers Euripides. Die Stadt war das Zuhause kosmopolitischer Intellektueller und politischer Radikaler, prominenter Kurtisanen und millionenschwerer Playboys. Auf den Märkten wimmelte es von Händlern aus drei Kontinenten, in den Tempeln drängten sich Pilger, und Handwerker waren von weit her gekommen, um an den prächtigen Neubauten auf der Akropolis mitzuarbeiten. Wie das Wien des Fin de Siècle, das New York der Roaring Twenties und das London der Swinging Sixties zog das Athen des 5. Jahrhunderts v. u. Z. die Kreativen und die Ehrgeizigen an. Für Herodot muss die Stadt unwiderstehlich gewesen sein.

Nach seiner Ankunft in der großen Metropole scheint er recht schnell Anschluss an die literarische Szene gefunden zu haben; besonders eng freundete er sich mit dem Tragödiendichter Sophokles an.44 Wir wissen, dass Herodot mehrmals öffentlich aus seinem Werk gelesen und mit einer besonders erfolgreichen Lesung nicht weniger als sage und schreibe zehn Talente verdient hat (ein Talent entsprach damals dem Monatslohn der gesamten Besatzung – circa 200 Mann – einer Triere der athenischen Seestreitkräfte).45 Doch ungeachtet all seiner Erfolge verließ er Athen schon nach wenigen Jahren, gab seine neuen Freunde und seine aussichtsreiche Karriere auf. Er zog weiter nach Westen, nach Thurioi am Golf von Tarent in Süditalien, dorthin, wo wir ihm am Beginn des Kapitels erstmals begegnet sind und wo er sich für den Rest seines Lebens niederließ.

Was trieb Herodot dazu, Athen zu verlassen und seine Träume von Ruhm und Reichtum in der großen Stadt zu begraben? Warum gab er in dem Augenblick, in dem er, wie man sagen könnte, »alles hatte«, plötzlich alles auf und wanderte noch einmal aus? Natürlich können persönliche Gründe seine Entscheidung beeinflusst haben. Aber wahrscheinlich spielte auch Athens Politik eine Rolle – eine radikal neue Politik, basierend auf Imperialismus, Fremdenfeindlichkeit und einer Erzählung, die aus heutiger Sicht ein wenig der von der Westlichen Zivilisation glich.

Das Erscheinungsbild der Welt

Der moderne Nationalstaat Griechenland ist inzwischen mehr als zweihundert Jahre alt und kann auf eine ereignisreiche, schillernde Geschichte zurückblicken.46 Das moderne Griechenland ist aber nicht dasselbe wie das antike Griechenland.47 Im 5. Jahrhundert v. u. Z., zu der Zeit, als Herodot lebte und schrieb, waren die Griechen keine in einem Staat lebende geeinte Nation. Die griechische Welt bestand vielmehr aus Tausenden von Poleis (Stadtstaaten) und Mikroterritorien mit je eigener, unabhängiger Regierung.48

Diese Staaten waren in der Regel leidenschaftlich auf ihre Unabhängigkeit bedacht und hatten eine starke individuelle Identität, sodass sich viele Griechen in erster Linie als Athener, Korinther, Spartaner und so weiter verstanden. Manchmal schlossen sich einige griechische Staaten zu regionalen Bündnissen oder föderalen Gemeinschaften zusammen, aber auch darin hielten sie normalerweise an ihren individuellen Identitäten fest.49 Erst durch die Eroberungen Alexanders von Makedonien, etwa hundert Jahre nach Herodot, wurde eine große Zahl von Griechen in weiten Teilen des Landes unter eine einzige griechische Regierung gezwungen (wobei damals viele fragten, wie »griechisch« ihre makedonischen Herrscher denn seien).50 Aber selbst dieser griechische Megastaat umfasste weder die Griechen am Schwarzen Meer noch die an den Küsten des zentralen und westlichen Mittelmeers.

Zu Herodots Zeit waren die Griechen nicht nur politisch zersplittert, sondern auch geografisch weit verstreut. Im späten fünften Jahrhundert gab es griechische Poleis rund um das Mittelmeer und das Schwarze Meer, von Spanien bis Zypern und von Libyen bis zur Krim. Überreste ihrer Gemeinden finden sich heute in Marseille und im westlichen Nildelta (Ruinen von Naukratis), entlang der türkischen Mittelmeerküste von Adana bis Istanbul und entlang des Schwarzen Meeres von Poti in Georgien bis Sosopol in Bulgarien.51

Man kann sich durchaus fragen, was all diese Gemeinden verband, da sie sowohl politisch unabhängig als auch geografisch verstreut waren. Schon in der Antike waren sich die Kommentatoren uneins in der Frage, wer und was griechisch war. Demosthenes zufolge waren die Makedonier keine echten Griechen. Aber dann waren es, so Herodot, auch die Athener nicht, da sie von nicht-griechischen »Barbaren« abstammten.52 Was die Sache weiter verkompliziert, ist der Umstand, dass die alten Griechen sich selbst nie als »Griechen« bezeichnet haben. Der Begriff wurde vielmehr von den Römern geprägt, die die Polisbewohner mit dem lateinischen Wort Graeci als Kollektiv bezeichneten. Die Griechen selbst bezeichneten sich als Hellenes, als Nachkommen der mythischen Figur Hellen. (Bitte nicht mit Helena verwechseln; Hellen war der legendäre Urvater der alten Griechen, Helena die Frau, um die sich der Trojanische Krieg drehte.) Die Selbstdefinition der Hellenen ist also genealogisch – verbunden mit der Vorstellung von einer gemeinsamen Geschichte und einem gemeinsamen Vorfahren. Wir müssen uns jedoch hüten, Griechentum als eine Form von ethnischer Zugehörigkeit in unserem modernen Sinne zu verstehen. Die Hellenen der Antike waren keine kohärente ethnische Gruppe, die von anderen ethnischen Gruppen klar unterschieden war. Für die alten Griechen waren Genealogien ein Mittel, um Menschen miteinander zu verbinden, wobei plurale Herkünfte zur Grundstruktur gehörten.53 Mythische Erzählungen von einer gemeinsamen hellenischen Blutlinie wurden daher mit Behauptungen alternativer, nicht-hellenischer Genealogien kombiniert. Die Thebaner etwa beanspruchten den phönizischen Heros Kadmos als den Gründer ihrer Stadt. Die Argiver glaubten, von den Töchtern des ägyptischen Königs Danaos abzustammen. Sowohl die Arkadier als auch die Athener behaupteten, ein wenig seltsam, autochthon zu sein – von dem Land geboren, das sie bewohnten. Einige Griechen wollten gemeinsame Vorfahren mit den Persern, den Juden und den Römern haben. Wir sollten diese Genealogien nicht für bare Münze nehmen (und auch nicht glauben, dass die alten Griechen dies taten). Wie alle Gründungsmythen waren auch sie wohlüberlegte Aussagen über Identität und Zugehörigkeit, die einem Zweck dienten und von einem Ideal dessen, was die Menschen sein wollten, ebenso bestimmt waren wie von dem, was sie tatsächlich waren. Dennoch verraten uns diese Genealogien etwas über die Denkweise der alten Griechen. So wichtig die Vorstellung, eine gemeinsame hellenische Blutlinie zu haben, sicherlich war – nur wenige Griechen hielten diese Blutlinie für rein.54

Etwas anderes, was die griechischen Poleis miteinander verband – vielleicht noch mehr als die imaginäre hellenische Blutlinie –, war das Bewusstsein, eine gemeinsame Kultur zu haben. Es gab die griechische Sprache und die griechische Schrift, gemeinsame literarische Traditionen und einen reichen Bestand an gemeinsamen Mythen und Erzählungen. Es gab den Polytheismus des Olymps, der überall ähnliche Formen religiöser Rituale und Kultpraktiken beinhaltete, ganz zu schweigen von den ähnlichen Vorstellungen darüber, was einen anständigen Tempel ausmache. Und es gab Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Sitten und das tägliche Leben, mit bemerkenswert ähnlichen Vorstellungen von so verschiedenen Dingen wie der Zusammensetzung der Kernfamilie, sozialen Regeln, Bildungsnormen, architektonischen Traditionen und handwerklichen Techniken. Griechentum bestand zu einem großen Teil darin, griechische Dinge auf griechische Art und Weise zu tun. Wie der Redner Isokrates im 4. Jahrhundert v. u. Z. feststellte, »werden als Hellenen eher diejenigen bezeichnet, die dieselbe Kultur haben wie wir, als diejenigen, die dasselbe Blut haben« (Panegyrikos 4:50). Für Herodot machte die Identität der Griechen aus: zum Teil die Gleichheit des Blutes, zu einem ebenso großen Teil aber auch die Gleichheit der Sprache, der Tempel und Götterbilder sowie der Sitten (8144).55

Natürlich gab es innerhalb dieser umfassenderen griechischen Kultur auch lokale Traditionen.56 Wie hätte es in der geografisch so zerrissenen griechischen Welt auch anders sein sollen? Während die ideale Athenerin die Ruhe liebte und sich meist im Haus betätigte, sollte ihr Pendant in Sparta sportlich sein und gern an der frischen Luft. Während die Menschen in Klazomenai ihre Toten individuell in wunderschön bemalten Terrakotta-Sarkophagen bestatteten, wurden die Toten in Korinth in kollektiven, in den Fels gehauenen Kammergräbern beigesetzt.57 Und während die Göttin Artemis auf Sizilien als junge, heiratsfähige Frau verehrt wurde, wurde sie in Ephesos als Herrin der Tiere mit abgetrennten Stierhoden um den Hals dargestellt.58 Viele dieser lokalen Varianten sind auf die Begegnung mit nicht-griechischen Kulturen zurückzuführen. Wir haben schon gesehen, dass die einheimischen Anatolier integraler Bestandteil der griechischen Polis von Halikarnassos waren, aber ähnliche Formen von Interkulturalität fanden sich in der gesamten griechischen Welt. In Pithekoussai auf Ischia ist man auf griechische Kulturmerkmale neben phönizischen sowie etruskischen und anderen italischen Elementen gestoßen.59 Und in Naukratis trafen Griechen aus einer Vielzahl von Städten auf Ägypter, Libyer und Araber.60 Hybride Stile, Praktiken und Identitäten entstanden und wurden mit umfasst vom Bewusstsein kultureller Gemeinsamkeiten, das den Kern des Griechentums bildete.

Wir dürfen jedoch nicht in die Falle tappen, in der griechischen Welt der Antike sei eine Utopie kulturellen und ethnischen Pluralismus verwirklicht gewesen, in der unter dem großen Zeltdach des Hellenismus Platz für alle war. Vielmehr waren Rassismus und Fremdenfeindlichkeit weit verbreitet, und so bedeutende Denker wie Aristoteles vertraten die Ansicht, dass es für die Griechen aufgrund ihrer angeborenen Überlegenheit natürlich sei, Nicht-Griechen zu versklaven. Doch interessanterweise ging dieser Höherwertigkeitskomplex nicht von der Existenz eines West-Ost-Gefälles aus. Aristoteles glaubte vielmehr, dass sich die griechische Welt sowohl vom Westen als auch vom Osten unterscheide und sowohl Europa als auch Asien überlegen sei. Er hat behauptet: »Die Völker in den kalten Regionen und in Europa sind zwar voller Mut, es fehlt ihnen aber an geistiger Fähigkeit und Fachkenntnissen; daher behaupten sie auch eher ihre Freiheit auf Dauer, ohne aber eine politische Ordnung zu besitzen und über ihre Nachbarn herrschen zu können. Die Völkerschaften Asiens besitzen die Fähigkeit zu geistiger Leistung und Fachkenntnissen, ihnen fehlt aber Mut, deswegen sind sie fortwährend beherrscht und versklavt. Wie das Volk der Hellenen in den Regionen (die es bewohnt) in der Mitte liegt, so hat es auch an beiden (Anlagen) teil: es besitzt Mut und ist zu geistiger Leistung fähig.«61

Von den Kontinenten hatten die alten Griechen natürlich andere Vorstellungen, als wir sie haben. Aber auch ihre Vorstellungen unterschieden sich voneinander. Nicht alle Zeitgenossen stimmten mit Aristoteles darin überein, dass die von Griechen bewohnten, ans Mittelmeer und ans Schwarze Meer grenzenden Landschaften in der Mitte zwischen Europa und Asien lägen. Herodot hielt die Unterteilung in Kontinente übrigens für lächerlich, wie wir später sehen werden.

Gravierender als die Unterschiede zwischen Griechen und Nicht-Griechen waren jedoch über lange Zeiträume der antiken griechischen Geschichte diejenigen zwischen den verschiedenen griechischen Gruppen. Ich vermute, dass einer dieser Unterschiede für Herodots Leben von großer Bedeutung war, indem er ihn zwang, Athen zu verlassen und die Lebendigkeit der großen Stadt in den Frieden und die Ruhe von Thurioi einzutauschen. Dank jener Version der Geschichte, die die Große Erzählung von der Westlichen Zivilisation ausmacht, neigen wir dazu, uns Athen als Geburtsstätte der Demokratie vorzustellen, als die Stadt, in der die Herrschaft des Volkes (demokratia) und die Gleichheit vor dem Gesetz (isonomia) ihren Anfang nahmen. Diese Vorstellung ist zwar zum Teil richtig, doch entsprach die Wirklichkeit der athenischen Demokratie bei Weitem nicht den modernen Grundsätzen der liberalen Demokratie, die wir heute mit dem Westen verbinden. So waren Frauen von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen, ebenso Tausende von versklavten Menschen, auf deren Arbeit die athenische Wirtschaft angewiesen war.62 Darüber hinaus bekannte sich Athen nur zur Gleichheit seiner eigenen männlichen Bürger; alle anderen Männer waren in sie nicht einbezogen. Unabhängig davon, ob es sich um Griechen aus anderen Städten oder um Nicht-Griechen handelte, wurden alle Nicht-Athener als Fremde ausgegrenzt. Die klassische athenische Demokratie war nicht die inklusive, egalitäre Regierungsform, für die sie manchmal gehalten wird. Sie war vielmehr ein exklusiver Männerverein, der nur denjenigen offenstand, die in die »richtigen« Familien hineingeboren waren.

Die kulturelle Dynamik Athens im 5. Jahrhundert v. u. Z. basierte nicht auf aufgeklärter politischer Gleichheit, sondern auf Imperialismus.63 Das athenische Imperium ging aus dem Bündnis der griechischen Staaten hervor, die gegen die Perser gekämpft hatten. Die Athener beanspruchten bald die alleinige Führung dieses Bündnisses und machten sich dafür sowohl die Sympathie zunutze, die die anderen Griechen nach der Plünderung Athens durch die Perser für sie empfanden, als auch die Dankbarkeit, die sie sich durch ihre Tapferkeit in den Schlachten von Marathon und Salamis verdient hatten. Doch aus der Führung des Bündnisses wurde schnell Herrschaft. Athen forderte jährliche Zahlungen und behandelte abtrünnige »Verbündete« rücksichtslos. Denjenigen, die noch Glück hatten, wurden ihre Poleis geplündert, ihre Stadtmauern niedergerissen, ihre Politiker ins Exil geschickt oder hingerichtet, sie mussten die Stationierung athenischer Garnisonen hinnehmen und die Einsetzung pro-athenischer Marionettenregierungen. Diejenigen, die Pech hatten, wie der Inselstaat Melos, erlitten die Höchststrafe – alle erwachsenen Männer wurden getötet und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft.64

Die Athener kosteten ihre Vormachtstellung aus. Perikles ließ 453 auf der Akropolis zwei fast vier Meter hohe Steintafeln aufrichten, in die die von den einzelnen Städten an Athen gezahlten Tribute eingemeißelt waren. Das war athenische Vorherrschaft, annonciert auf einer Plakatwand. Zwei Jahre später verschärfte Perikles das athenische Bürgerschaftsrecht, indem er es nur denjenigen gewährte, die nachweisen konnten, dass beide Elternteile (und nicht nur einer, wie bisher) athenische Bürger waren. Viele Menschen, die ihr ganzes Leben lang athenische Bürger gewesen waren, wurden dadurch auf einen Schlag entrechtet.65

Im weiteren Verlauf des 5. Jahrhunderts vergrößerte sich die Kluft zwischen den Athenern und den anderen Griechen. Die Athener begannen, sich als anders, als etwas Besonderes und Besseres zu betrachten. Wir können dies an der Umgestaltung des wichtigsten religiösen Festes der Stadt, der Panathenaia, ablesen. Während die Athener Bürger das Fest genießen durften, mussten die ansässigen Nicht-Bürger in untergeordneten Funktionen im Dienste der Athener an ihm teilnehmen – als Tablett- und Wasserträger, Sonnenschirm- und Schemelhalter.66 Gegen Ende des Jahrhunderts brachte der Dramatiker Euripides ein Stück auf die Bühne, das die Herkunft der Athener neu darstellte: Während die Athener der traditionellen Mythologie zufolge einerseits von den Autochthonen, andererseits von dem Heros Hellen abstammten und somit Teil der größeren hellenischen Familie waren, revidierte Euripides die mythische Genealogie, indem er im Drama Ion Hellen durch den Gott Apollo ersetzte und damit die hellenische Abstammung der Athener durch eine göttliche ersetzte. Bei Euripides besagte der athenische Exzeptionalismus nicht nur, dass die Athener besser seien als andere Griechen, sondern dass sie überhaupt keine Griechen seien.

Wie kam Athen damit durch? Abgesehen davon, dass es ein Beinahe-Monopol auf Seestreitkräfte hatte, startete Athen eine aggressive Propagandakampagne, um die anderen Griechen davon zu überzeugen, dass ihr »Bündnis« mit Athen unverzichtbar sei. Keine griechische Gemeinde könne es sich leisten, nicht mehr gerüstet zu sein, behaupteten die Athener; sonst kehrten die heimtückischen Perser zurück. Die athenische Seeherrschaft sei notwendig, um den Griechen Schutz vor der allgegenwärtigen persischen Bedrohung zu bieten. Athens Propagandisten schürten Hass auf die Perser und verbreiteten das Stereotyp vom orientalischen Barbaren, der verweichlicht, in den Luxus verliebt und feige, aber auch verräterisch, hinterlistig und gerissen sei.67 Die Griechen dagegen seien männlich, zäh und mutig, ehrenhaft im Umgang mit anderen und geradlinig in ihrem Streben nach persönlicher Freiheit. Man begegnet diesen Stereotypen, wenn man ein Exemplar der Gerichtsreden des Isokrates zur Hand nimmt, sich eine Aufführung von Aischylos’ rührseliger Tragödie Die Perser ansieht oder einige der mehreren Hundert athenischen Gefäße betrachtet, auf denen griechische Krieger ihre schwachen persischen Gegner besiegen. Diesem Stereotyp zufolge waren die Perser seit jeher Feinde der Griechen. Sie wurden durchwegs in einem Atemzug mit den Trojanern genannt oder sogar als Trojaner dargestellt, wodurch die legendäre Vergangenheit und die Gegenwart Asiens miteinander verschmolzen.68 Es war das Athen des 5. Jahrhunderts v. u. Z., das mit der Rhetorik des »Kampfes der Kulturen« Pionierarbeit leistete, und es tat dies im Dienste seines gegen andere Griechen gerichteten Imperialismus.