Der Wolf im Hundepelz - Günther Bloch - E-Book

Der Wolf im Hundepelz E-Book

Günther Bloch

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  • Herausgeber: Kosmos
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Rangordnung, Alpha-Position, Dominanz – das sind die heiß diskutierten Themen in der Hundeszene. Günther Bloch beobachtet seit über 20 Jahren frei lebende Wölfe in Kanada und Haushundegruppen und hat ihre Sprache und Familienstruktur genau studiert. Daraus konnte er viele Erkenntnisse für die Hundehaltung ableiten, insbesondere wieKommunikation zwischen Mensch und Hund funktioniert. Seine Schlüssel zur Hundeerziehung sind Motivation, positive Verstärkung und die Formung von Verhalten. Aber er zeigt auch auf, dass klare Grenzen im Mensch-Hund-Rudel gesetzt werden müssen und es ohne eine stabile Hierarchie nicht geht. Der Kern des Buches stützt sich auf verhaltensbiologische und psychologische Erkenntnisse und behandelt ausführlich das Lernverhalten des Hundes.

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Seitenzahl: 307

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Zum Geleit

Zum Geleit

Eine Fundgrube für jeden Hundehalter

Der Weg vom Wolf zu den Hunden und Menschen wird hier auf das Allerfeinste und in vielerlei Hinsicht so gelungen gezeichnet, dass es begeistert. Die Tiefe der Inhalte hat mit der langjährigen Beobachtung von Wölfen zu tun, mit dem empirischen Wissen über Hunde und deren Probleme im Zusammenleben mit Menschen und vice versa, insbesondere aber damit, dass Günther Bloch sich in die Biologie von Wölfen und Hunden hineingearbeitet hat, kontrovers Meinungen zu diskutieren vermag und eigene Standpunkte entwickelt, revidiert, wenn er Neues erfährt – und voller Begeisterung und Neugier forscht.

Ich danke Günther für seine verhaltensbiologische Betrachtung des Hundes. Über die Biologie von Hunden wird heute ja kaum reflektiert, es geht überwiegend um lerntheoretische „Fingerübungen“, mehr oder weniger subjektiv variiert, um Hunde in ihrem Verhalten zu verändern. Verhaltenstherapeutisch (ein schwieriger Begriff, da er impliziert, was er nicht halten kann) interessiert hundliches Verhalten meist nur insofern, als Reize und Reaktionen in möglichst einfacher Beziehung zueinander beschrieben werden, um Konditionierungen zu veranschaulichen. Ihre Ursachengeflechte werden also kaum innerhalb des Tieres in seinen situativen Kontexten gesucht, sondern äußerlich sichtbares Verhalten und dessen Instrumentalisierung stehen im Zentrum des Mühens.

Die Biologie des Wolfes und des Hundes als Schlüssel zum Verständnis von Motivationen, Funktionen und Absichten des Verhaltens gerade der Haushunde stößt hingegen oft auf Missverständnis (der Wolf als „Idealhund“) bzw. der Biologie der Hunde wird kaum Beachtung geschenkt. Für mich ist dieser (biologische) Weg der „Königsweg“ – und dieses Buch beweist es. Hier wird keine Methode als Nonplusultra der Hundeerziehung angepriesen, nicht angelesenes Wissen zur Etablierung des Hundetherapeuten drapiert, sondern aus dem vollen Wissen geschöpft.

Gewiss, Günther Bloch ist eine Persönlichkeit, einer mit Ecken und Kanten, der polarisiert. Wie gut, dass es so einen in unserer auf „Gleichschaltung“ bedachten Welt ab und zu noch gibt ...

Günther beginnt mit Fug und Recht mit dem Verhalten von Wölfen. Ohne Kenntnisse zum Wolfsverhalten ist der Hund in seiner Verhaltensvielfalt einerseits und den grundsätzlichen Übereinstimmungen mit seiner Stammart andererseits wohl kaum einem Verständnis zuzuführen. Und nur so können tradierte Märchen „entzaubert“ werden – etwa die „Macht“ von Wolfseltern, die primär auf Erfahrung beruht (Zitat Günther Bloch). Wie sich die Ergebnisse doch gleichen: Die an unseren Gehegewölfen in langen Jahren und an verschiedenen Rudelkonstellationen gewonnenen Daten und Günthers Erkenntnisse ergänzen einander wunderbar. Die große Variabilität, fußend auf den jeweiligen Beziehungsgeflechten, kennen wir auch, versuchten ihnen gerecht zu werden.

Es gibt Jungwölfe, die enge Beziehungen zu den Elterntieren etablierten, und andere, die wir herausnehmen mussten, um ihnen einen eigenen Beginn zu ermöglichen. Es gibt ja auch nicht die Gehege-Untersuchungen. Unsere Daten fußen auf Lebensdaten, da ist viel aufeinander bezugnehmend zu analysieren. Und unsere Hypothesen sind nicht unter Freilandbedingungen geprüft worden, benötigen jedoch diese, um insgesamt ein dichtes Datennetz zu ergeben. Die Rolle der Wolfseltern, beleuchtet aus unterschiedlichen Blickwinkeln, erarbeitet an Wolfsgruppen in verschiedenen Lebenssituationen, sieht bei Günther wie nach unseren Analysen entsprechend variabel aus – und wird damit verständlicher. Eine Gleichverteilung bezüglich verschiedener Verhaltensweisen in den Wolfswelpen-Interaktionen fanden auch wir keineswegs. Vielmehr ausgeprägte Individualitäten. Was sie für das Tier in seiner Gruppenkonstellation jeweils bedeuten könnten, wird erarbeitet, ist sicher nicht schlicht mit „dies oder jenes“ zu beantworten. Man wird ja so vorsichtig im Laufe längerer Forschung – und genau das zeichnet Günther aus! Er hat keine Probleme mit gehabten Irrtümern. Das spricht für ihn, seine Neugier und sein ständiges Infragestellen von „Fakten“ oder „Tradiertem“ – oder „Anekdoten“?

Es gibt somit viele Übereinstimmungen, natürlich nicht 1:1 übertragbar. Das wäre unzulässig und recht unklug. Wölfe haben eine „Familienstruktur“. Sicher, es sind komplizierte soziale Gruppen.

Ich fand den „Alpha-Wolf“ auch nie so treffend, weil missverständlich und reichlich missverstanden (insbesondere bezüglich der Beziehung Mensch/Hund!). Verwenden wir ihn für die jeweilige soziale Gruppe in einem definierten, durch Daten belegten Zeitraum, macht er doch Sinn, übergeordnet wird er schlicht falsch.

Thesen und Überlegungen gibt es auch zum Themenkomplex Co-Evolution/Domestikation. Der Mensch als „soziales Tier“ findet Beachtung wie Vergleiche verschiedener Canidengesellschaften, vor der Konzentration auf den heutigen Hund.

Zu Hunden und Menschen und den Problemen beider miteinander, bietet Günthers Buch wiederum eine Fundgrube. Er listet Richtungen und Arbeitsweisen mit Hunden auf, gewichtet klug und diskutiert kontrovers, mit Abstand und Humor. Was er schreibt, liest sich leicht und gut – und man kommt immer wieder ins Grübeln, weil er zu gern in wahre „Wespennester der Widersprüchlichkeit“ sticht, nichts einfach übernimmt.

Viele Therapeuten gehen heute, wie ehemals extreme Behaviouristen, davon aus, dass jedes Verhalten durch eine erworbene Konditionierung geprägt ist, ihre Verhaltenstherapie ist dominiert von lerntheoretischen Prinzipien. Das jeweilige Symptom wird zu sehr oder ausschließlich in Abhängigkeit von Umweltbedingungen gesehen. So entfernen sich Hunde vom Hund ...

Schlecht angepasste Reaktionen sollen durch Lernen bzw. Wieder-Erlernen überwunden werden. Durch operantes oder klassisches Konditionieren, Modelllernen oder Gegenkonditionierung soll das „falsch gelernte“ Verhalten geändert werden. Was „falsch“ ist, bestimmt der Hundehalter oder sagt ihm der Therapeut.

Günther Bloch geht biologisch vor, natürlich erläutert er die lerntheoretischen Möglichkeiten von Hunden in aller Vielfalt. Und er holt etliche „geheimnisumwitterte Methoden“ auf den Boden zurück, indem er sie schlicht und einfach benennt und erklärt. Aber das ist nur ein Aspekt eines rundum gelungenen Buches über Wölfe und Hunde.

Ich habe es mit großer Freude gelesen und ich wünsche ihm den verdienten Erfolg!

Dr. Dorit Urd Feddersen-Petersen

Ethologin am Institut für Haustierkunde der Universität Kiel

© Günther Bloch

Ein Leben für die Wölfe

Das erste Mal traf ich Günther Bloch in den kanadischen Rocky Mountains, wo ich als Verhaltensökologe an frei lebenden Grauwölfen arbeitete. Hier lebte ich mit meinen beiden Hunden Jesse und Shiba. Es begann eine spontane und bis zum heutigen Tage andauernde Freundschaft, die durch ein gemeinsames Faible geprägt ist: Wolfs- und Hundeverhalten.

Für mich war Günther Bloch eine Bereicherung, eine wandelnde Enzyklopädie zu unseren Haushunden. Er forderte auch irgendwie die etablierten Prinzipien der Hunde-Ethologie heraus. Ich erinnere mich genau, wie ich damals dachte: Da ist jemand gekommen, der meine Sprache spricht, allerdings ist diese Sprache mit einem viel größeren Vokabular ausgestattet. Ich spreche in diesem Zusammenhang nicht über die deutsche Sprache oder meine Muttersprache Englisch.

Ich spreche vielmehr von jener multidimensionalen Sprache, die Hunde im Umgang mit uns Menschen „sprechen“. Dann dachte ich: Da kommt einer, der versteht nicht nur meine Passion für Caniden, sondern sogar mein akademisches Interesse. Letztendlich traf ich jemanden, von dem ich noch etwas lernen konnte.

Günther Bloch ist mit seinem Wissensstand niemals zufrieden. Er ist stets motiviert, Feinheiten, welche schließlich die Hundewelt charakterisieren, weiter analytisch zu erforschen. Sein nicht enden wollender Durst nach Wissen zeigt sich besonders in der disziplinierten Arbeit, während er frei lebende Wölfe in den Rocky Mountains beobachtet. Er verbringt Stunde um Stunde völlig allein, abgeschieden von jeglicher Zivilisation in der Wildnis, wo er Verhaltensweisen, besonders aber die Interaktionen zwischen erwachsenen Wölfen und ihren Welpen gewissenhaft und akribisch genau notiert. Die Einsichten, die er bei seinen Verhaltensbeobachtungen an Wölfen gewonnen hat, ermöglichen uns das einmalige Verstehen, ob und wie erwachsene Wölfe ihre Welpen „trainieren“ und wie sie in eine Wolfsgesellschaft hineinwachsen. Günther Bloch hat seine Erkenntnisse in einer sehr originellen und cleveren Weise in die von ihm propagierten Hundeerziehungsmethoden integriert. Dies erlaubt uns allen, von diesem Informationsreichtum zu profitieren.

Die Beziehung der Wolfseltern zu ihrem Nachwuchs

Ich glaube, dass die Entschlüsselung der Frage, wie sich Wölfe gegenüber ihren Welpen verhalten, der Schlüssel zur Hundeerziehung ist.

Artgerechte Trainingsmethoden für Hunde zu entwickeln erfordert nicht nur einen detaillierten Wissensstand, sondern auch Intuition und Respekt. Günther Blochs Fähigkeit, erfolgreich die Wissenschaft des Hundeverhaltens (die Mechanismen, die erklären, warum Hunde etwas tun) in die wesentlich abstraktere und auch wenig verstandene Symbiose Mensch/Hund zu integrieren, ist sehr beeindruckend.

Die Symbiose Mensch/Hund ist für mich äußerst schwer zu beschreiben, weil sich die traditionelle Wissenschaft nicht mit Emotionen beschäftigt. Wie auch immer, Emotionen sind essenzieller Teil einer lang andauernden Partnerschaft zwischen Mensch und Hund. Natürlich können wir Hunde leicht trainieren, sodass sie sich wie Roboter verhalten.

Die Freude aber, einen Haus- und Familienhund an der Seite zu haben, sollte eher einer Art Liebesbeziehung gleichen. Von einem Computer können wir gleich bleibende, zuverlässige und automatische Reaktionen auf zuvor vermittelte Signale erwarten. Ein Hund aber, der sogar eine gewisse Abhängigkeit vom Menschen will, würde sicherlich liebend gern nach Günther Blochs Richtlinien trainiert werden, um ein glücklicher Hund zu sein.

Dr. Paul Paquet,

Verhaltensökologe mit Gastprofessur des Departments für Biologie an der Universität Calgary in Alberta/Canada

© Günther Bloch

Für ein besseres Verständnis von Mensch und Hund

Hunde sind ein evolutionäres Phänomen. Sie sind sehr erfolgreiche Säugetiere mit einer geschätzten Verbreitung von 100 Millionen Exemplaren allein in den USA und Europa.

Vergleicht man diese Anzahl mit einigen tausend im gleichen Verbreitungsgebiet lebenden Wölfen, die als Stammform gelten, macht sich Erstaunen breit. Sowohl in den USA als auch in Europa gilt der Wolf als bedrohte Tierart. In manchen Gebieten wird mittels eines Millionenbudgets versucht, den Wolf wieder anzusiedeln bzw. zu schützen. Die Amerikaner unterstützen viele Programme, um das Überleben von Grau- und Rotwölfen wenigstens in Nationalparks sichern zu können. Langzeitpläne bestehen auch für die Wiedereingliederung des mexikanischen Wolfs in Teilen seines ehemaligen Lebensraumes. Die Europäer haben begonnen, sich über so genannte „Wanderkorridore“ Gedanken zu machen, um auf Dauer keine isolierten und somit genetisch bedrohten Populationen entstehen zu lassen. Wiedereinbürgerungsversuche oder Schutzmaßnahmen kosten viel Geld, und die Spezies Wolf wird auch zukünftig unsere Aufmerksamkeit brauchen.

Hunde haben solche Probleme nicht. Sie leben in unseren Hausständen oder zumindest in der Nähe des Menschen. Sie leben auf allen Kontinenten, sieht man von der Antarktik einmal ab.

Der Versuch, sie in bestimmten Gebieten auszurotten, ist nie erfolgreich gewesen. So bedrohen sie z.B. auf den Galapagosinseln dort lebende Tierarten, die zu den seltensten unseres Planeten gezählt werden. Der Wolfsforscher Luigi Boitani nimmt an, dass halb verwilderte Hunde für den frei lebenden Wolf Italiens durchaus eine Gefahr darstellen können. Die ca. 800.000 streunenden bzw. halb verwilderten Hunde sind teilweise Nahrungskonkurrenten des Wolfes. Sie verpaaren sich mitunter und verändern sich dadurch auch genetisch.

Auch Hund und Mensch konkurrieren um Nahrungsressourcen. Gerade in unseren Industrieländern beinhaltet das kommerzielle Hundefutter u.a. auch Beiprodukte menschlicher Nahrungsgrundlagen. Eine Milliarden umsetzende Hundefutterindustrie wird selbstverständlich auch von Landwirten beliefert. Das bedeutet, dass ein Hund, Kilo für Kilo, in etwa doppelt so teuer ist wie ein Mensch. Die etwa 65 Millionen Hunde Nordamerikas verbrauchen die gleichen bzw. im Mittelwert sogar mehr Kalorien als alle menschlichen Einwohner der Megastädte New York und Chicago zusammen!

Unter Berücksichtigung ihrer Variabilität und ihrer weit verbreiteten Lebensweise als Begleiter oder Assistent des Menschen wissen wir nicht sehr viel über Hundeverhalten – besonders nicht, wenn wir das Verhalten ihres Stammvaters Wolf im Vergleich sehen. Genau das ist der Grund, warum Günther Blochs Buch so wichtig ist. Aufgrund ihrer engen Verwandtschaft sind Wolf und Hund in unseren Gedanken irgendwie miteinander in Verbindung zu bringen, denn wir erkennen den Wolf innerhalb des Hundeverhaltensrepertoires immer wieder.

So genannte Hundeexperten reden stets darüber, wie man einen Hund nach Wolfsmanier zu dominieren hat. Es fällt auf, dass diese „Experten“ in Wahrheit niemals Wölfe studiert haben. Auf der anderen Seite kennen die meisten Wolfsforscher wiederum Hunde nur in einer sehr unprofessionellen Weise. Viele Wolfsforscher, die ich kenne, besitzen noch nicht einmal einen eigenen Hund.

Hier liegt uns nun ein neues Buch vor, dessen Autor einerseits tausende von Hunden und deren Halter trainiert hat, andererseits aber auch seit vielen Jahren Tage, Wochen oder Monate in der Nähe der Höhlenkomplexe frei lebender Wölfe in Kanada verbringt. Er bringt deshalb einmalige Erfahrungen ein, um Hundeverhalten besser zu verstehen. Günther Blochs Buch ist für mich auch in einer interessanten Weise gegliedert. Das erste Kapitel beschäftigt sich zunächst mit den Freilandbeobachtungen, die der Autor an frei lebenden Wölfen gesammelt hat. Dies vermittelt dem Leser Hintergrundwissen, um die Basis von Verhaltensprinzipien eines Caniden zu verstehen, der ein unverfälschtes Leben führt, indem er seinen Nachwuchs aufzieht und beschützt.

Hier sehen wir Verhalten in Form einer adaptiven Strategie in Bezug auf Nahrungsbeschaffung, Reproduktion und Gefahrenvermeidung. Dies sind die notwendigen Prinzipien, die alle lebenden Kreaturen motiviert.

Nachdem der Hund eine symbiotische Beziehung mit dem Menschen eingegangen ist, haben sich die Regeln des Überlebenskampfes drastisch verändert. Der Mensch stellt Nahrung bereit, sodass die Strategien zur Nahrungsbeschaffung – wie Aufspüren, Hetzen und Töten von Beute – wegfallen.

Auch die Reproduktion ist für den modernen Haushund gesichert, sodass er auch hier nicht mehr mit Nebenbuhlern konkurrieren muss. Die Gefahren des Lebens sind nicht mehr länger gefährliche Braunbären oder etwa Steinadler, die mitunter Welpen erbeuten, sondern liegen in der Auseinandersetzung mit dem Menschen, wenn sich der Hund „verhaltensauffällig“ zeigt. Die Motivation frei lebender Wölfe zu verstehen ist meist einfacher als zu verstehen, warum Hunde tun, was sie gerade tun. Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich sehr detailliert mit dieser Fragestellung.

Später „bringt“ uns der Autor wieder zurück in die Wildnis und vergleicht nochmals die umweltbedingten Verhaltensanpassungen von Hund und frei lebenden Caniden. Wir erfahren etwas über die Arbeit des großen russischen Genetikers Dmitri Belyaev und die Domestikationserscheinungen seiner Füchse. Sind diese Erkenntnisse auf das übertragbar, was wir über Hunde wissen? Und was ist mit den Wölfen? Viele von ihnen schleichen um unsere Müllhalden herum, und einige ernähren sich natürlich auch von unseren Nutztieren. Sind diese Wölfe vielleicht schon Hunde im Wolfspelz?

Dieses außergewöhnliche Buch von Günther Bloch wird dem Leser helfen, unsere Hunde um einiges besser zu verstehen – und in einem gewissen Sinne Verständnis wecken für die Sichtweise des Hundes.

Ray Coppinger

Prof. der Biologie

Hampshire-College, Mass./USA

© Günther Bloch

Zu diesem Buch

Wir schreiben den 18. November 2003. Wie zu jedem Winteranfang in den letzten fünfzehn Jahren landen meine Frau Karin, unsere Hunde und ich auf dem Flughafen von Calgary in Kanada. Dackelhündin „Kashtin“, mittlerweile fast elf Jahre alt, hat den Flug im Passagierraum in ihrer Tragetasche problemlos überstanden. Über die Jahre hinweg hat sie sich zum Flugprofi entwickelt. „Jasper“, unser fast achtjähriger Laika-Rüde, verbrachte den Flug notgedrungen wieder im Laderaum des Flugzeugs. Aber auch er ist wie immer okay.

Einem weniger nervenstarken Hund hätten wir die Prozedur des Fliegens nicht zugemutet.

Seit der ersten Veröffentlichung dieses Buches (1997) habe ich während der letzten sieben Jahre unzählige Fortbildungsveranstaltungen im In- und Ausland besucht. Man lernt schließlich nie aus. Im gleichen Zeitraum habe ich selbst über hundert Seminare in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Polen, Spanien, den USA und Kanada abgehalten, mehrere große Fachsymposien organisiert, mit etlichen tausend Hundehaltern diskutiert und natürlich unzählige Vierbeiner kennen gelernt – alles in allem: Ich habe eine Fülle neuer Erfahrungen gesammelt, die selbstverständlich in dieser Neuauflage Beachtung finden.

So sitze ich nun an meinem Schreibtisch und überdenke noch einmal, wie der weitere Textverlauf zu gestalten ist. Einige Abschnitte des Originaltextes kann ich freilich übernehmen, weil sie nach wie vor Gültigkeit besitzen. Andere Textpassagen fallen gnadenlos dem Rotstift zum Opfer, weil sie entweder überholt sind oder, wie beispielsweise die Verhaltensbeobachtungen an Hundegruppen, separat publiziert werden. Ein paar Ansichten musste ich zudem revidieren, auch mich kann keiner daran hindern, mit der Zeit etwas klüger zu werden. Man mag argumentieren: „Siehe da, jetzt hat der Bloch seine Meinung hinsichtlich der Behandlung von Haushunden geändert. Wem kann man heute noch trauen?“ Nun, zu meiner Verteidigung sei angeführt, dass die beharrliche Beibehaltung der eingefahrenen Meinung in meinen Augen nichts anderes als geistigen Stillstand bedeuten würde und dass Verhaltensstudien an Wölfen und Hunden auch in Zukunft zu neuen Erkenntnissen führen werden. Im Übrigen gilt der Grundtenor meiner Aussage, dass nämlich Wolfs- und Hundeverhalten nicht zu verallgemeinern sind, auch wenn ich heute einige Nuancen anders bewerte. In der Konsequenz gestaltet sich dieses Buch dennoch erheblich umfangreicher und übersichtlicher.

© Günther Bloch

Karin Bloch mit Jasper, Kashtin und Taiga

Wie viel Wolf steckt im Hund?

Der Buchtitel wirft in erster Linie die Schwerpunktfrage auf, die derzeit in Deutschland und darüber hinaus heiß diskutiert wird: In welchem Verhältnis stehen Urahn Wolf und unsere heutigen Haushunde eigentlich noch zueinander?

Daran knüpft unmittelbar die Frage an, ob man Wolf und Hund – respektive deren arttypische Verhaltensweisen – überhaupt vergleichen kann und soll. Der Verhaltensvergleich zwischen Wolf und Hund darf nicht gleich bedeutend sein mit einer Gleichsetzung, die vielerorts Mode zu sein scheint. Da ist von Straßenhunden die Rede, welche kaum noch auf die Jagd gehen und sich stattdessen zu Nahrungsabstaubern entwickelt haben. Doch Straßenhunde verhalten sich ebenfalls nicht alle gleich und verfügen über ein Verhaltensrepertoire, das sich von dem bestimmter Haushundetypen extrem unterscheidet. Betrachtet man beispielsweise eine hochgezüchtete Rennmaschine wie den Greyhound, so sehen wir einen Hetzjäger, der sowohl geistig als auch körperlich alles andere als ein Nahrungsabstauber ist, sich vielmehr in vielerlei Hinsicht besonders wölfisch verhält. „Hat man einen Wolf gesehen, kennt man sie alle“, schreibt etwa der Biologe R. Coppinger (2003). Sofort stürzt sich die Hundeszene gierig auf dieses Argument, weil es gerade ins Modekonzept der aktuellen Hundeerziehung passt. „Der Wolf, das unbekannte Wesen“, kann ich hier nur sagen. Leider gehen viele Menschen von folgenden Klischees aus: Der „Alphawolf“ bestimmt das Tagesgeschehen, frisst immer zuerst und führt jederzeit das Rudel an. So weit die gängige Meinung. Woher stammen aber die Informationen über Wolfsverhalten? Primär von Forschern und Enthusiasten, die Verhaltensauflistungen an Gefangenschaftswölfen erstellt haben. Wir werden jedoch anhand konkreter Beispiele erfahren, dass sich die Sozialstruktur einer klassischen Wolfsfamilie in der Wildnis bei weitem nicht so extrem am ungeschriebenen Gesetz der Hackordnung orientiert, wie wir lange Zeit annahmen. Entschuldigung, liebe Anhänger des „Alphawolf-Konzepts“!

Eine Wolfsfamilie als demokratisches Gebilde anzusehen oder die enge Verwandtschaft zwischen Wolf und Hund grundsätzlich in Frage zu stellen, wäre allerdings ebenfalls grundfalsch. Entschuldigung, liebe „Softies“!

Was ich mit diesem Buch beabsichtige ist einerseits, auf die ohne Zweifel vorhandenen gemeinsamen Wurzeln der Biologie zwischen Wolf und Hund hinzuweisen, andererseits aber auch Verhaltensunterschiede aufzuzeigen. Alle mir bekannten Wissenschaftler stimmen in einem überein: Keine durch den Menschen domestizierte Tierart zeigt ein solch breites Spektrum an Größen, Farben, Fellstrukturen oder Ausdrucksformen. Selbst unter Wurfgeschwistern der gleichen Rasse gibt es die verschiedensten Temperamente und Charaktere zu beobachten. Die Gene des Hundes veränderten sich im Laufe der Haustierwerdung sehr ausgeprägt. Der Hund avancierte zu dem Sozialkumpan des Menschen, weil er eine unglaubliche Flexibilität und Anpassungsfähigkeit entwickelte.

Auch wenn Wolf und Hund heute unterschiedliche Lebensräume besetzen, bleibt dennoch ein weiterer Fakt unbestritten: So mancher Hundebesitzer beklagt eher generell eine typische Unart seines Canis lupus familiaris „vagabundus“: Der verdammte Hund haut ab und jagt! Und schon bricht wieder das angeblich zu bezweifelnde Erbe des Wolfes durch: Eigennutz und momentane Unkontrollierbarkeit. Die frohe Botschaft: Vagabundus ist lernfähig. Die schlechte Botschaft: Eigenständig biologisches Wesen (Hund) hin oder her, sein Sozialpartner Mensch ist erzieherisch gefordert und damit mitunter völlig überfordert. Deshalb möchte ich unter anderem zu einer wichtigen Frage, die Hundebesitzern mehr denn je unter den Nägeln brennt, Stellung beziehen: Was mache ich bloß mit einem schlechtführigen Hund? Wie kann ich das Verhalten meines Hundes richtig deuten und ihn so halten, dass seine Bedürfnisse nicht zu kurz kommen?

© Günther Bloch

Ob Leittier-Qualitäten vom Erbgut oder letztlich doch nur von Umwelteinflüssen bestimmt sind, bleibt wissenschaftlich weiter umstritten. Eigene Forschungsergebnisse legen den Schluss nahe, dass gerade die ranghöchsten Jungtiere einer Wolfsfamilie ihre Eltern am frühesten verlassen, um schon im Alter von ca. 20 Monaten nach einem eigenen Lebenspartner Ausschau zu halten.

Hundeerziehung aus heutiger Sicht

Womit wir beim Kern endloser Debatten unter Hundebesitzern, Trainern, Tierärzten und Therapeuten angekommen wären: Schlagworte wie „Alphatier“, „Rudelführer“, oder „Dominanz“ machen die Runde. Jeder interpretiert diese Begriffe anders.

Manche Hundetrainer wollen sogar den ethologisch feststehenden Begriff der Bindung – beziehungsweise deren Existenz generell – in Frage stellen. Sie sprechen stattdessen von „Kontrolle“ oder im Umkehrschluss von „Kontrollverlust“. Jedes in Gruppen lebende Säugetier unterhält eine Fülle von Sozialbeziehungen, ohne die ein Zusammenleben in der Gruppe nicht möglich wäre. Diese Grundsatzregel gilt selbstverständlich auch für den Hund.

Was die praktische Umsetzung von Hundeerziehungsmethoden anbelangt, diskutiert man in letzter Zeit noch eine wahre Schwemme US-amerikanischer Weisheiten, die fast ausnahmslos auf rein psychologischen Regeln fußen. Kein zeitgemäßer Hundetrainer bestreitet die Richtigkeit psychologischer Lernregeln. Und kein Mensch bezweifelt ernsthaft, jeden Hund unabhängig von Rasse, Größe oder Geschlecht erziehen zu müssen. Bei der Erziehung eines Hundes gilt es jedoch auch die mindestens genauso wichtigen Regeln der Verhaltensbiologie zu beachten. Hunde haben nämlich biologische Grundbedürfnisse, denen der verantwortliche Hundehalter Rechnung zu tragen hat.

Ist die in den USA ziemlich einseitig propagierte „Hundeerziehung ohne Strafen“ nun das Ei des Kolumbus? Nein. Auch wenn dies des Öfteren behauptet wird, so handelt es sich nicht um die große Revolution. Bevor der deutsche Hundebesitzer nordamerikanische Philosophien kopieren möchte, sollte er wissen: Unsere Hunde nehmen täglich am öffentlichen Leben teil. Sie begleiten uns in Restaurants und Cafés, auf dem Weg zur Bank oder in die Post, sitzen neben uns im Bus oder der Bahn. Sie bewegen sich normalerweise frei innerhalb unseres Hausstandes.

In Nordamerika sind Hunde hingegen im öffentlichen Leben fast überall unerwünscht, zumindest in den riesigen Ballungsräumen. In Geschäfte oder Speiselokale dürfen Hunde nicht mitgebracht werden. Man hat „hygienische“ Bedenken. Mit einem Hund regelmäßig spazieren gehen? In Nordamerika fast schon utopisch. Wenn überhaupt, rennt man schnell um den Block oder überträgt eine solch lästige Aufgabe dem professionellen „Dog-Sitter“, der mit etlichen, permanent angeleinten, Hunden durch die Landschaft läuft. Signale aus der Umwelt, die zum Beispiel von einem Feldhasen oder von einem Reh im Wald ausgehen, spielen für den Hund in Amerika kaum eine Rolle. Ein Hotel zu finden, das auch Vierbeiner akzeptiert, bedeutet für den Hundebesitzer fast immer einen wahren Spießrutenlauf. Im Haus verbringt der überwiegende Teil der Vierbeiner sein Leben in so genannten „home-kennels“, also in kleinen Laufställen. Das macht weniger Arbeit. Eine Kastration steht für fast jeden Hund schon als Welpe an. Manche Veterinäre raten dazu, die Stimmbänder eines Hundes zu durchtrennen, wenn er zu viel bellt. Sollte ein Hund zur Geräuschempfindlichkeit neigen, so gibt es Ohrenschützer für ihn. Man verkauft Welpen ohne Bedenken in Hundesupermärkten – tagaus, tagein sitzen die Kleinen dort in winzigen Käfigen. Während der Hundeausstellung besprüht man das Fell von Königspudeln mit den Farben der amerikanischen Nationalflagge. Patriotismus hat in den USA einen extrem hohen Stellenwert. Und zu allem Überfluss kann man in manchen Großstädten unerwünschte und überflüssig gewordene Hunde in speziellen Containern auf öffentlichen Plätzen „entsorgen“. Wollen wir unseren Hunden in Deutschland ernsthaft „amerikanische“ Verhältnisse zumuten?

Auch wenn sich meine Ausführungen zugegebenermaßen teilweise ein wenig überspitzt darstellen, sollte man doch ins Grübeln kommen, oder?

Anstatt sich mit abstrusen Spekulationen auseinander setzen zu müssen, denen fast immer völlige Verallgemeinerungen zugrunde liegen, erfährt der interessierte Leser hier alles Wissenswerte über Wolf und Hund sozusagen aus erster Hand. Wir haben zwölf Jahre damit verbracht, kontinuierlich mehrere Wolfsfamilien in freier Wildbahn zu beobachten. Zum ersten Mal überhaupt ist es uns gelungen, frei lebende Wölfe an die Gegenwart und die Geräusche eines Autos zu gewöhnen, sodass wir mobil folgend ihr Familienleben im Sommer und im Winter über weite Strecken begleiten und beobachten konnten. Ein Novum in der Wolfsforschung! Wir waren überrascht, wie viele Klischees es zu berichtigen gilt. Genau das wollen wir mit diesem Buch tun und damit jedem Hundebesitzer die Fakten vermitteln, damit er – auch gegenüber vielen Hundetrainern – präzise argumentieren kann. Immer wieder wird behauptet, im Hund seien generell noch 70 bis 80% „wölfisches“ Repertoire vorhanden. Eine solch pauschale Betrachtungsweise wird jedoch der unglaublichen Vielfalt unserer Hunde nicht gerecht, keine Funktionskreiszuordnung wird hinterfragt und der Einfluss des Menschen wird nur in ungenügender Form reflektiert. Gleiches gilt für das andere Extrem, nämlich die engen Verflechtungen zwischen Wolf und Hund grundsätzlich zu leugnen. Auch zu diesem Thema nehme ich gern Stellung, denn ich führe nun einmal seit etlichen Jahren sowohl Wolfs- als auch Hundeverhaltensstudien durch.

© Uwe Brauns

© Uwe Brauns

Wölfe sind (wie Hunde) offensichtlich nicht nur in der Lage, Autos anhand von visuellen Erscheinungsbildern und unterschiedlichen Motorengeräuschen voneinander zu unterscheiden. Unter bestimmten Umständen legen sie ihre natürliche Scheu ab und bauen gegenüber individuellen Fahrzeugen Vertrauen auf. Uns kam die Präsenz der eigenen Hunde zugute, die uns stets im selben Auto begleitet haben und deren Geruch die Wölfe anscheinend unwiderstehlich fanden.

Der Untertitel dieses Buches heißt bewusst: Hundeerziehung aus unterschiedlichen Perspektiven. Das bedeutet vor allem eine sachliche Auseinandersetzung mit konträren Meinungen. Ich war zeitlebens bereit, meine Meinung aufgrund stichhaltiger Argumente zu ändern, und hoffe inständig, dass gerade „Glaubensfundamentalisten“ zumindest zum Nachdenken gebracht werden.

Das ist der rote Faden dieses Buches.

Günther Bloch

Canidenexperte

Canmore/Canada, November 2003

‣  Definition Rudel

Laut deutschem Wörterbuch wird der Begriff Rudel wie folgt definiert: „Gemeinsam lebende, streng hierarchisch organisierte Gruppe von Tieren.“

Wolf wie Hund sind aber familienorientierte Soziallebewesen, die nicht streng hierarchisch organisiert leben.

Der Wolf (Canis lupus)

Der Wolf (Canis lupus)

© Günther Bloch

Sozialrangordnung bei Wölfen

Wölfe sind große Landraubtiere, die in so genannten Rudeln leben, sich territorial verhalten und im koordinierten Verband große Huftiere erbeuten. So weit die stark vereinfachte Beschreibung des Wolfes, welche man in der Vergangenheit breiten Bevölkerungsschichten vermittelte – inklusive Hundetrainern und meiner Person. Weil der Mensch den verhassten Nahrungskonkurrenten Wolf über Jahrtausende hinweg verfolgte und in vielen Gebieten der nördlichen Hemisphäre sogar ausrottete, handelt es sich heute um ein scheues Tier, das man in freier Wildbahn selten zu Gesicht bekommt. Wenn überhaupt.

© Günther Bloch

Die Fellfärbung des nordamerikanischen Timberwolfes variiert, im Gegensatz zu der des typischen Grauwolfes europäischer Breitengrade, von schneeweiß bis pechschwarz.

© Günther Bloch

In den kanadischen Rocky Mountains haben wir mit einem Anteil von ca. 33% vergleichsweise den höchsten Bestand an schwarzen Wölfen weltweit.

Wölfe in Gefangenschaft

Die überwiegende Mehrheit aller Publikationen zur Verhaltenseinschätzung des Wolfes verbreitet meist nur Informationen, die man an in Gehegen vergesellschafteten Tieren sammelte. Nach Überprüfung von „Gefangenschaftsberichten“ wird deutlich, dass die Gruppenkonstellation eines Wolfsrudels im Gehege sehr oft aus einem Zusammenschluss von Alttieren vieler Generationen nebst Nachwuchs besteht. Zur Aufrechterhaltung der sozialen Gemeinschaft muss es anscheinend eine streng hierarchisch geordnete Hackordnung (Alpha bis Omega) geben. Sie macht Sinn, da der Lebensraum eines Geheges extrem überschaubar ist und kein Tier das Rudel verlassen kann. Auseinandersetzungen zwischen mehreren Alttieren, die alle versuchen ihren Sozialstatus zu verbessern, bleiben zwangsläufig nicht aus. Die Bezeichnung „Rudel“ steht also gedanklich in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff „Rangordnung“. Wie von den Ethologen R. Schenkel (1946), D. Feddersen-Petersen (1992) oder E. Klinghammer (2002) beschrieben, brechen außerdem Streitigkeiten um die Nutzung von Ressourcen (z.B. Futter, Schlafmulden oder erhöhte Liegepositionen) aus. So ist in der Forschungsstation Wolf Park/USA die Trennung eines Rudels leider fast schon an der Tagesordnung. Die Folge: immer mehr Einzelwölfe in Einzelzwingern.

Frei lebende Wölfe

Laut den Biologen D. Mech (1999), D. Smith (2002) und unseren eigenen Untersuchungsergebnissen (Bloch & Bloch, 2002) besteht hingegen in der Wildnis die Tendenz, dass die Sozialstruktur einer typischen Wolfsfamilie nur aus Elterntieren und deren Nachwuchs der letzten zwei bis drei Jahren besteht.

Auch wenn es im ersten Moment verblüffend klingen mag, wandert der mit Beendigung des zweiten Lebensjahres selbstständig und selbstsicher handelnde Nachwuchs im Normalfall ab und verlässt Vater und Mutter.

Natürlich handelt es sich bei Wolfsrudeln um komplexe Gebilde, die in Bezug auf Geschlechterverteilung, Altersstruktur und Anzahl der Nachkommen unterschiedlich strukturiert sind. Dennoch besteht bei zwei bis drei Jahre alten Wölfen im Allgemeinen die Tendenz, mit Beginn der Paarungszeit zum Zuge zu kommen. Der Versuch, diese Bestrebungen in der eigenen Familie umzusetzen, ist in der Regel zum Scheitern verurteilt. Ich spreche seit vielen Jahren bewusst von Familien, weil Wölfen fälschlicherweise unterstellt wird, sie seien im Gegensatz zu Haushunden „Rudeltiere“. Wölfe bilden unter Freilandbedingungen aber Familiengebilde, deren Sozialstruktur und Rangbeziehungsgeflecht denen von Mensch-Hund-Beziehungen stark ähneln. Menschen genießen wie Wolfseltern normalerweise bestimmte Vorrechte, weil sie alle wesentlichen Ressourcen kontrollieren. Selbst hoch motivierte Jungwölfe müssen erkennen, dass sie den hohen Sozialstatus der Eltern kaum infrage stellen können. Man stößt an seine Grenzen und wandert ab, weil gestandene Wolfseltern das „Zepter“ besonnen und souverän führen und halten und somit natürliche Autorität besitzen. Eine streng hierarchisch gegliederte Hackordnung nach altem Schema ist somit eher die Ausnahme.

‣  Kurzinfo

Taktische Winkelzüge, inklusive vieler Streitigkeiten, die sich aus einem Zusammenleben etlicher Generationen zwangsläufig ergeben, sehen wir in der Wildnis sehr selten. In Wirklichkeit müssen wir Wolfseltern oft als einzige Langzeitmitglieder eines Rudels ansehen. Sie sind die eigentlichen „Alphatiere“.

Das etwas traurig anmutende Schicksal des frustrierten „Jungspunds“ hat aus rein genetischer Sicht einen riesigen Vorteil: Inzucht ist in freier Wildbahn fast unbekannt, was auch die Untersuchungsergebnisse des Verhaltensökologen Paul Paquet (1993) belegen!

Statt sich mit der Mutter zu verpaaren oder vom Vater gedeckt zu werden, sucht sich der geschlechtsreife Jungwolf lieber einen eigenen Fortpflanzungspartner und ein eigenes Territorium. Mit etwas Glück wird er fündig. Womöglich ist der neue Lebensraum sogar ganz in der Nähe der alten Heimat gelegen. Dann kann er sich „qualmende Socken“ ersparen. Hat er Pech, muss er laufen, laufen, laufen. Manche Individuen sind zwecks Familienneugründung sowohl mehrere Monate als auch hunderte Kilometer unterwegs. Statistiken des Feldforschers D. Mech (2001) belegen, dass ca. 20% des gesamten Wolfsbestandes Einzeltiere sind. Kein Wunder bei so viel „liebestollen“ Exemplaren.

© Günther Bloch

Während der Paarungszeit kommt es zwischen Wolfseltern und einzelnen Tieren des geschlechtsreifen Nachwuchses mitunter zu massiven Konkurrenzsituationen. Auch Jungwölfin „Hope“ stritt sich mit ihrer Mutter um das Recht auf Paarung, unterlag aber deren Durchsetzungsvermögen und musste den Familienverband im Alter von 20 Monaten endgültig verlassen.

Ausnahmen bestätigen die Regel

Wolfseltern zahlenmäßig großer Würfe wenden zum Erhalt ihrer sozialen Kompetenz freilich mehr Zeit und Mühe auf als Eltern überschaubarerer Familiengebilde. Zudem kommt es immer wieder vor, dass einige (erwachsene) Jungwölfe enge Bindungen zu ihren Eltern aufbauen. Tolerante und charakterlich gefestigte, ausgeglichene Jungwölfe, die wenig Interesse an aggressiven Auseinandersetzungen zeigen, bleiben eher Bestandteil eines Familienverbandes, weil die sprichwörtliche „Chemie“ zwischen ihnen und den Eltern stimmt. Für den statusbezogenen Nachwuchs, besonders für „Kleinalphas“, wie der Zoologe E. Zimen (1986) die ranghöchsten Zweijährigen gern nannte, bleibt es hingegen eher ein Wunschtraum, sich innerhalb des Rangordnungsgefüges spektakulär nach oben „kämpfen“ zu können. Für einen Jungwolf macht das Leben in der Gruppe nur dann Sinn, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen. Ist das nicht mehr der Fall, so sagt er schnell „Servus“ und besetzt nebst neuem Fortpflanzungspartner einen freien Lebensraum. Hat eine neue Generation „frisch vermählter“ Wölfe eigenen Nachwuchs hervorgebracht, befindet sich diese gegenüber den Heranwachsenden automatisch wieder im so genannten „Alpha-Status“.

Die Macht der Erfahrung

Wolfseltern kann man während der Aufzuchtphase ihrer Kinder in erster Linie als „Problembewältiger“ ansehen. Sie leben vor, was wann zu tun und zu unterlassen ist. Dabei ist es das Privileg der Eltern, Entscheidungen zu treffen und umzusetzen – nicht mit Muskelkraft, sondern mit „Köpfchen“. Die „Macht“ von Wolfseltern beruht primär auf Erfahrung. Ihr Wissensvorsprung gegenüber den „Schnöseln“, wie wir Jungwölfe gern zu bezeichnen pflegen, ist aufgrund ihrer reichen Lebenserfahrung naturgemäß enorm. Der oft etwas konfus anmutende Nachwuchs setzt gezieltes Beobachtungslernen um, kommt zu konkreten Schlussfolgerungen und kopiert die Verhaltensweisen der Eltern – mal schneller, mal langsamer. Bei der Umsetzung von Lernerfahrungen scheint es geschlechtsspezifische Entwicklungsunterschiede zu geben. Bei Rüden handelt es sich tendenziell um Spätentwickler. Bei Wolfsweibchen ist der Prozess des Lernens über Lernerfahrungen früher abgeschlossen. Die Leserinnen dieses Buches freuen sich bestimmt über meine Erkenntnis.

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Junge Wölfinnen scheinen sich tendenziell erheblich schneller zu biologisch ausgereiften und somit erfolgreichen Jägern zu entwickeln als Jungrüden. Sie sind meist schlanker, wendiger und schneller und verfügen erheblich früher über jene mentale Stärke, die für eine zielgerichtete Jagd notwendig ist.

Dass der Wolf sich als hoch komplexes Soziallebewesen so „menschenähnlich“ verhält, braucht uns eigentlich gar nicht zu wundern, oder? Man argumentiert heute sehr vorschnell, Vergleiche zwischen Wolf und Hund seien aus dem Grund abzulehnen, weil man ja auch nicht Menschen mit Primaten vergleichen würde. Ich halte das deswegen für unsinnig, weil Naturvölker, die heute noch Kannibalismus betreiben, deutliche Parallelen zum Primatenverhalten zeigen und dennoch zur Spezies Mensch zählen. Außerdem zeigt uns die Primatenforschung – wie die moderne Wolfsforschung ebenso –, dass sich weder Menschenaffen noch Menschen, Wölfe oder Hunde gleich verhalten, sondern die Anpassung an einen bestimmten Lebensraum und individuelle Persönlichkeitsentwicklungen zu berücksichtigen sind, will man ernsthaft Verhalten beschreiben.

‣  Das bedeutet

‣Der in der Ethologie allgemein verwandte Terminus „Alphawolf“ ist nicht besonders aussagekräftig, was auch von dem Wolfsforscher D. Mech (1999) bestätigt wird. Er bedarf dringend einer neuen Definition. Nach Abwanderung und Familienneugründung erreichen auch ehemals rangniedrige Wölfe gegenüber dem eigenen Nachwuchs quasi automatisch den so genannten „Alpha-Status“!

‣ Das Familienkonzept des Wolfes gleicht dem des Menschen ungemein. Auch wir leiten unsere Kinder zur Selbstständigkeit an und kontrollieren bis zu einem gewissen Punkt ihre Lebensführung. Auch Menschenkinder folgen anfangs der ausgeprägten Motivation eines Beobachtungslernens. Danach wird es problematischer. Auch die Einflussnahme von Menscheneltern im Umgang mit Kleinkindern basiert auf einem Wissensvorsprung, der langsam, aber sicher dahinschmilzt. Der erste „Machtverlust“ droht, wenn der pubertäre Nachwuchs damit beginnt, die Lebensweise seiner Eltern infrage zu stellen. „Teenie“ muckt auf und protestiert gegen Anordnungen „von oben“. Biologisch gesehen kommen auch Menschenkinder ins geschlechtsreife Alter und die „Abwanderung“ bahnt sich langsam an.

Ausnahmen bestätigen erneut die Regel: Das „Muttersöhnchen“ lässt grüßen und „Hotel Mama“ erfreut sich großer Beliebtheit.

Welpen und ihre Interaktionen

Arten des Spielverhaltens

Anhänger der Vereinfachungstheorie postulieren gern, dass sich alle Welpen in etwa gleich verhalten. Diese Annahme ist allein deshalb unsinnig, weil sich die charakterlichen Grundzüge der Winzlinge extrem unterscheiden: Da beobachtet man den etwas Schüchternen, den Draufgänger, den Träumer oder den extrem Verspielten. Auch das Temperament von Welpen variiert enorm: Da gibt es den ruhigen, abwartenden Typus oder den ständig allgemeine Hektik verbreitenden Irrwisch.

Auch mag sich der Hundefreund fragen, warum man dem Spielverhalten von Welpen große Beachtung schenken soll. Wo sie doch ohnehin alle nur ein wenig „rumtoben“. Das kennt man doch. Ich habe den Eindruck, manche Menschen machen es sich zu einfach.

Keine andere Verhaltenskategorie ist allgemein schwieriger definierbar als Spielverhalten. Wenn Welpen interagieren, sollte der Sozialpartner Mensch in der Lage sein, den unterschiedlichen Ablauf von Sozialspielen, Kampfspielen, Kontakt-, Bewegungs- und Rennspielen erkennen zu können. Er sollte wissen, dass mit dem Spiel Verhaltensmerkmale und körpersprachliche Signale verbunden sind: etwa das Niederbeugen des Vorderkörpers (Vorderkörpertiefstellung), Bewegungs- und Mimikübertreibungen (Spielgesicht), Wiederholungen einzelner Bewegungsabläufe (z.B. Kreislaufen) oder das Spielbeißen. Letzteres ist unter Welpen besonders beliebt. Da eine genaue Auslegung des Begriffs „Spiel“ breiten Raum für kontroverse Ansichten bietet, definiere ich ihn noch genauer. Unsere Forschungsergebnisse bestätigten, dass Wolfswelpen in ganz bestimmte Körperstellen wesentlich öfter „beißen“ als in andere. Na und? Wie auch immer, damals maß ich dieser Erkenntnis auch keine Bedeutung bei. Der Griff in Hals und Nacken inklusive Schüttelbewegungen kommt im Welpenspiel ebenfalls häufig vor. Auch das kennt jeder, der schon einmal ein Hundekind aufgezogen hat.

Deshalb versteht der Welpe ja quasi instinktiv, wenn der Mensch nach Wolfsmanier die ganze „Schüttelaktion“ kopiert. Auch das habe ich jahrelang geglaubt und Hundewelpen im Nacken geschüttelt, was das Zeug hielt. Dabei schauten mich die verängstigten Kleinen mit weit aufgerissenen Augen an.

Bei der Beobachtung des „Hinterlauf-Beißens“ und dem „Herunterreißen“ eines Spielpartners bei Rennspielen kamen mir erste Zweifel.

‣Dient Spiel etwa doch nicht nur angeborenen Verhaltensmustern zum Testen der sozialen Rangordnung?

‣Sind das alles nur Bewegungsintentionen zur Klärung des eigenen Sozialstatus?

© Karin Bloch

Alle Wolfswelpen erblicken das Licht der Welt mit blauen Augen, deren Färbung sich erst ab etwa der siebten Lebenswoche langsam verändert.

Wolfskinder verbringen sehr viel Zeit mit Kampf- und Sozialspielen. In Abwesenheit der erwachsenen Tiere zeigen sie keine genetisch fixierte Angst vor Menschen, sondern sind eher neugierig, unbedarft und höchst erkundungsfreudig.

Verhaltensentwicklung von Wolfswelpen

In einer Schutz bietenden Höhle geboren, öffnen Wolfskinder ihre Augen zwischen dem neunten und 13. Tag, schlafen in engem Kontakt und stillen ihr starkes Saugbedürfnis an den Zitzen ihrer fast immer anwesenden Mutter. In der dritten Lebenswoche entwickeln sich ihre Sinne recht schnell und sie krabbeln in der Höhle umher. Mit etwa drei Wochen werden nach erstem zaghaftem Verlassen der Höhle Schreckreaktionen und Fluchtverhalten deutlich. Die Wolfsmutter säugt die Kleinen auch weiterhin. Zur gleichen Zeit lernt der komplette Nachwuchs nun schrittweise von der Jagd heimkehrende erwachsene Familienmitglieder kennen. Die Prägung auf die eigene Art beginnt.

Wolfskinder praktizieren nach kurzer Orientierungsphase Geschicklichkeitsübungen, die der Kräftigung der Muskulatur, dem schnellen Ablauf motorischer Fähigkeiten und einer erfolgreichen Anpassung sich langsam bildender Sozialbeziehungen dienen. Mit Beginn der festen Nahrungsaufnahme ab etwa der sechsten Lebenswoche untersuchen und entdecken Wolfskinder ihre neue Umwelt etwas genauer. Noch hält man sich in unmittelbarer Nähe zur Höhle auf. Ist Gefahr im Verzug, verschwindet der ganze Pulk sofort in der Höhle. Getobt wird aber weiter vermehrt draußen, geschlafen in engem Körperkontakt.

Die zuvor recht unkoordiniert wirkenden Bewegungsabläufe werden verfeinert; man schleicht sich an Geschwister heran und die Rollen von Jäger und Gejagtem wechseln ständig. Noch etabliert sich keine feste Rangordnung! Vielmehr erscheinen viele Bewegungsabläufe eher tollpatschig und biologisch gesehen völlig überflüssig.

© Karin Bloch

Auch wenn sich das Persönlichkeitsbild von kleinen Wolfswelpen krass unterscheidet, kann man im frühen Entwicklungsstadium keine Aussage treffen, ob sich der „Draufgänger“ später zum ranghohen Tier entwickelt oder der sanfte Typus mit Vollendung seines ersten Lebensjahres automatisch zum „Prügelknaben“ avanciert.

Hemmung von Aggressionen