Der Wundermann - Ursula Neeb - E-Book

Der Wundermann E-Book

Ursula Neeb

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Beschreibung

Als der geheimnisvolle Martin in Frankfurt auftaucht, ist die ganze Stadt entzückt. Nach kurzer Zeit verkehrt er bereits in den besten Kreisen und bezaubert Damen und Herren gleichermaßen. Für die feine Gesellschaft rund um den Römer ist er der "Wundermann", doch sie kennen das Lebensmotto des Betrügers und Erzschelms nicht: "Die Welt will betrogen sein". Ursula Neeb ist ein bildmächtiger und einfühlsamer Roman über das spätmittelalterliche Frankfurt gelungen. Nach ihrem erfolgreichen Debüt "Die Siechenmagd" lockt sie nun den Leser in die faszinierende Welt des 16. Jahrhunderts, in dem Gaukler, Pfaffen und Goldmacher die Messestadt am Main unsicher machen. In ihrem Mittelpunkt steht Martin, der vom armen Waisenkind zum Liebling der Gesellschaft wird – und hart dafür bestraft wird.

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Ursula Neeb
Der Wundermann
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2008 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Satz: Nicole Proba, Societäts-Verlag
Zeichnung auf Seite 315: Christian Pfeiffer
Schutzumschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-132-8
Meiner Mutter Katharina Röseler in liebevoller Erinnerung gewidmet
»Mundus vult decipi – ergo decipiatur!«(»Die Welt will betrogen werden – also muss man sie betrügen!«)Sebastian Franck, Paradoxa 1533

Inhaltsverzeichnis

Prolog
I. Teil – »Wasche und kämme den Hund …«
1.  Jedermanns Fußhader
2.  Martinus
II. Teil – Lehr- und Wanderjahre
3.  Die kleine Welt des Betruges
4.  (Taschen-)Spielertricks
5.  Der Schwarzkünstler
III. Teil – Der Aufstieg
6.  Die Landgräfin
7.  Der Traum vom Gold
IV. Teil – Der Goldmacher
8.  Einzug in Frankfurt
9.  Fastnachtstreiben
10.  Das Experiment
11.  Goldrausch
12.  Am Narrenseil
13.  Der Famulus
V. Teil – Der Umschwung
14.  Das Ultimatum
15.  Nattern am Busen
VI. Teil – Der goldene Strick
16.  Das Geständnis
17.  Gertrud
18.  Die Todesfee
Epilog
Anhang

Prolog

In Frankfurt herrscht in diesen Tagen eine Aufregung, wie man sie selbst in der ohnehin recht betriebsamen, quirligen Messestadt nur selten erlebt. Wer lesen kann, liest das Bekenntnis des so schmählich gescheiterten Wundermannes. Die Leseunkundigen dagegen – und derer sind nicht wenige – lassen sich das Flugblatt von anderen vorlesen. An sämtlichen Ecken und Plätzen Frankfurts, bis hinein in die Schenken, Badestuben und Frauenhäuser, wimmelt es von professionellen Vorlesern, die dem sensationsgierigen Publikum gegen Gebühr den Inhalt der Flugblätter mit viel Pathos und Dramatik kund und zu wissen geben. Und alle, vom Bettler bis zum Schultheiß, von der Hübscherin bis zur Stiftsdame, haben ihre Meinung dazu, mit der sie nicht hinter dem Berg halten. Die meisten sind voller Häme gegen den schändlichen Betrüger und fordern hasserfüllt, dass er doch hoffentlich bald brennen möge. Andere dagegen fühlen Mitleid mit dem Sünder und sind in Anbetracht seiner Bußfertigkeit für eine eher milde Strafe.
Das führt dazu, dass sich die Leute allerorts die Köpfe heißreden, und nicht selten lautstark, handfest gar, aneinander geraten. Auch auf der Stube der Gesellen auf dem Alten Limpurg erhitzen sich die Gemüter. Für die hohen Herren stellt die gesamte Angelegenheit ohnehin das schlimmste Ärgernis dar. Müssen sie sich doch zu ihrer großen Schande eingestehen, dass ausgerechnet sie, die zu den vornehmsten Frankfurter Familien gehören, einem geschickten Betrüger und Erzschelm auf den Leim gegangen sind und sich dadurch der allgemeinen Lächerlichkeit preisgegeben haben. So gibt es nicht wenige unter den Patriziern, die aus verletztem Stolz für eine drastische Bestrafung des Goldschwindlers plädieren. Jedoch spalten sich auch hier die Lager in Befürworter des Feuertodes und jene, die besonnen darauf hinweisen, dass es in ihrer freigeistigen, weltoffenen Stadt bislang keine Scheiterhaufen gegeben habe, und das solle auch gefälligst so bleiben.
Am späten Abend kommt es zu einem tumultartigen Streit auf der Stube, bei dem sich einige Stubengesellen gar zu tätlichen Übergriffen verleiten lassen, bis sie von den überwiegend vernünftigen Stubenmeistern schließlich beschwichtigt und mit der Zahlung einer nicht unempfindlichen Geldstrafe belegt werden.
Am frühen Morgen des 3. August 1527 findet sich der Rat der Stadt Frankfurt am Main, dem alleine der Urteilsspruch in peinlichen Dingen obliegt, zu einem Strafgericht im großen Versammlungssaal des Rathauses auf dem Römerberg zusammen. Auch eine Abordnung des Klerus sowie der Fünfzehner-Rat der Stubengesellschaft auf dem Alten Limpurg sind erschienen, um endlich das noch ausstehende Urteil zu fällen.
Auf dem gesamten Römerberg drängen sich die Menschen, um einen Blick auf den auf einem Schinderkarren in Ketten gelegten Wundermann erhaschen zu können. Selbst im härenen Sackleinen wirkt der junge Mann auf dem Karren immer noch schön und unnahbar wie ein Erzengel, welcher, eingetaucht in güldenes Sonnenlicht, gerade erst vom Himmelszelt herabgestiegen, nicht von dieser Welt zu sein scheint. Überdies künden Blick und Haltung des Wundermannes von stiller Würde und Erhabenheit. Hier kommt kein gebrochener Delinquent, aus unzähligen Folterwunden blutend, wie die meisten Todeskandidaten, was einige aus dem Pöbel denn auch mächtig ärgert und dazu anstachelt, Martin mit Schmährufen und faulem Obst zu attackieren. Andere dagegen verhehlen nicht ihre Bewunderung für die offenkundige Fassung und Beherrschung des Gescheiterten, sprechen ihm Mut zu und empfehlen ihm Gottes Segen.
Zu dieser Gruppe gehört Martins Freund und Gönner Arthur Löwenstein, dem es gelingt, zu Martin vorzudringen, um ihm kurz ein paar aufrichtende Worte zuzurufen. Auch ein Mann im Priestergewand nähert sich dem Schinderkarren und spendet dem Gefangenen Trost. Erstaunt erkennt Martin in ihm seinen früheren Weggefährten Franz Misselwitz aus Wien und bedankt sich freundlich. Eine bäuerlich gekleidete, stattliche Frau aus der Menge schafft es sogar, eine Handvoll wohlriechender Wiesenkräuter auf den Wundermann zu streuen und ihm mit eindringlichem Blick alles Gute zu wünschen. Martin kommt die Frau seltsam bekannt vor, aber er weiß sie nicht genauer einzuordnen. Als der Karren mit dem Gefangenen endlich vor dem Rathaus angelangt ist, bilden die gut bewaffneten Stadtbüttel vor dem Rathausportal ein Spalier, und der in Ketten gelegte Angeklagte wird von zwei stämmigen Stangenknechten zum Gerichtssaal geführt. Das Portal wird daraufhin sorgfältig verschlossen und gegen die andrängende Meute zusätzlich von geharnischten Türstehern bewacht.
Ein Gerichtsdiener bedeutet den Schergen, mit dem Delinquenten auf der Holzbank vor dem Rathaussaal zu warten, bis ihnen Bescheid gegeben würde, den Angeklagten zur Urteilsverkündung vorzuführen.
Flankiert von seinen vierschrötigen Wachhunden nimmt Martin auf der Bank Platz, immerzu darauf bedacht, sich keinesfalls anmerken zu lassen, was für ein verzweifelter Kampf in seinem Innern tobt. Denn tatsächlich verbirgt sich hinter der Fassade, mit der er den Außenstehenden so überzeugend Fassung und Selbstzucht vorzuspiegeln versteht, ein zutiefst verzweifelter, verängstigter Mensch, der größte Mühe hat, seine schlotternden Knie im Zaum zu halten, erst recht aber, die von blanker Furcht gepeinigten Gedanken nicht gänzlich einer ausufernden Verzweiflung und wilden Panik anheim zu geben. Er weiß genau, in seiner jetzigen Situation hilft nur noch Hoffen und Beten, und so sendet er – wie einst als Knabe – immer wieder inbrünstige Stoßgebete an die heilige Jungfrau im Himmel, sie möge ihn doch wenigstens mit dem Leben davonkommen lassen.
Sollen sie mich meinethalben öffentlich auspeitschen oder auch im Halseisen an den Pranger stellen, Spießruten laufen lassen – wenn sie mich nur am Leben lassen!, denkt Martin voller Verzweiflung. Vielleicht werden sie mir ja auch die Augen ausstechen, mir die Ohren abschneiden oder mich rädern!, durchfährt es ihn, der sich doch so entsetzlich vor jeglicher Folter fürchtet, immer wieder siedendheiß, und er ist sich nicht sicher, ob er diesen Höllenqualen gegenüber dem Todesurteil wirklich den Vorzug geben würde.
Nach außen hin jedoch gelingt es ihm, eine Miene stoischer Gelassenheit aufzusetzen.
Durch die große Flügeltür aus massivem Eichenholz dringt kein Laut aus dem Verhandlungssaal zu den Wartenden. Auch die Wärter, denen die Zeit allmählich lange wird, wechseln kaum ein Wort.
Der Büttel an Martins linker Seite, möglicherweise einer von denen, die auf Martin uriniert hatten – er kann sie so schlecht auseinander halten, sie ähneln sich alle so sehr in ihrer einheitlichen Tracht und ihrer dumpfen Grobschlächtigkeit –, stiert Martin eine Weile an, kratzt sich den stoppeligen Schädel und blökt plötzlich in die allgemeine Stille hinein:
»Alle Achtung! Der Kerl ist ja kalt, wie ’ne Hundeschnauze! Hätte ich dem geschniegelten Äffchen gar nicht zugetraut, dass es so viel Schneid hat!«
»Wart erst mal ab, bis der Angstmann1 den am Wickel hat! Dann wird dem schon noch ordentlich der Stift gehe!«, entgegnet der andere roh und beginnt mit gehässigem Grinsen die Strophe eines alten Volksliedes vor sich hinzubrummeln:
»Oh Freimann, liebster Freimann mein, schenk mir noch ein kleines Weil!«
Wobei mit »Freimann« kein anderer als der Henker gemeint ist.
Martins Fingernägel graben sich bei dieser schauerlichen Weise tief in die schweißnassen Handflächen, ansonsten tut er so, als hätte er nichts gehört.
I. Teil»Wasche und kämme den Hund …«2

1.  Jedermanns Fußhader3

Der 2. August im Jahre 1515 ist einer jener lauschigen Sommerabende, an denen es die jungen Leute aus der Umgebung von Wöllstadt, in der Hauptsache Handwerksburschen und ihre Mädchen, hinaus auf die Felder und an die Nidda-Auen zieht, um sich dort ein paar Mußestunden zu gönnen, wo sie, umgeben vom Zirpen der Grillen, im hohen Gras liegen, das intensiv nach Wiesenkräutern duftet, Glühwürmchen beobachten oder sich einfach verliebter Tändelei hingeben. Langsam zieht die Abenddämmerung über die sanft geschwungenen Hügel der Wetterau, schon glitzern die ersten Sterne am wolkenlosen Himmel.
Die Bauern, die jetzt noch auf ihren Feldern sind, treten allmählich den Heimweg ins Dorf an. Mit hängenden Schultern sitzen sie auf ihren Ochsenkarren, zu erschöpft, den Sommerabend zu genießen, ersehnen sie einzig ihr karges Nachtlager.
Die Ortschaft Wöllstadt ist aufgeteilt in Nieder- und Ober-Wöllstadt und gehört zum Eigentum der Grafen von Eppstein. Somit sind die Wöllstädter Bauern, bis auf wenige Ausnahmen, sogenannte »Eigenleute«. Ihre Ländereien gehören dem Grundherrn Eberhard IV. von Eppstein, demgegenüber eine Abgabeverpflichtung in Form von Natural- und Geldleistungen besteht.
Der Wagen der Familie Möbs ist einer der letzten, der durch das Dorftor kommt, und im Schneckentempo, denn immerhin ist er beladen mit zwei Erwachsenen und acht Kindern, den vor Tierkot und Dreck starrenden Hauptweg entlang ruckelt. Vorbei an einfacheren und stattlichen Fachwerkhäusern, denn auch im Dorf gibt es, genauso wie in der Stadt, ärmere und reichere Leute, die einer entsprechenden Distanz zueinander bedürfen. Die behäbig anmutenden Höfe des »Dorfpatriziats« sind überwiegend um die Ortsmitte angesiedelt, wo unter dem dichten Blätterdach einer alten Linde der Anger mit dem Dorfbrunnen liegt. Noch ein ganzes Stück höher als die dichtbelaubten Wipfel des Lindenbaums erhebt sich die aus solidem Steinwerk gemauerte Dorfkirche, an die sich der Gottesacker schließt. Direkt an den Friedhof grenzend, fast schon am »Etter«, dem Dorfzaun, der das Entlaufen des Viehs verhindern und Eindringlinge abwehren soll, befindet sich der kleine Hof der Möbsens, einer der ärmlichsten im ganzen Ort.
Ohne viel Worte vollzieht sich gleich nach der Ankunft der Kleinhäusler4 das auf dem Hof allabendliche Ritual: Die drei kleinsten Kinder, die bereits schlafend auf dem Karren liegen, werden von einem älteren Geschwisterkind rasch zu Bett gebracht, während der Rest der Familie auch schon in die Stallungen eilt, um das Viehfutter zurechtzumachen und es anschließend an die Tiere zu verteilen. Nach der letzten Viehseuche im Frühjahr des vorigen Jahres befinden sich gerade noch drei Schweine, vier Kühe, zwei Ochsen und eine Ziege im Wirtschaftsgebäude sowie ein Dutzend Hühner und fünf Gänse draußen auf dem Hof. Nachdem das Federvieh und die Ziege versorgt sind, dürfen die Kinder ins Haus, während die Eltern die restlichen Arbeiten übernehmen.
Klara Möbs, die Bäuerin, kann kaum noch auf ihren Beinen stehen, trotzdem legt sie sich noch einmal richtig ins Zeug, um endlich mit der notwendigsten Stallarbeit fertig zu werden. Das Ausmisten wird sie morgen früh um halb fünf erledigen. Nachdem sie ihrem Mann eine knappe Erklärung dazu abgegeben hat, verlässt sie den Stall und betritt das Wohnhaus, das aus einem einzigen Raum besteht. Durch ein Loch in der Decke, welches als Rauchfang dient, dringt fahles Mondlicht. Lieber Gott, jetzt wird es auch schon dunkel!, stellt sie fest, während sie aus müden Augenschlitzen nach oben blinzelt. Dann muss sie sich eine Talgkerze anzünden, um noch nähen zu können, und der Mann wird wieder murren, wo doch die Kerzen, die sie immer von den Landgängern kauft, Geld kosten. Sei es drum, die Haube muss fertig werden!
Wie immer schmerzt der Bäuerin das Kreuz, und sie ist entsetzlich müde. Hoffentlich schläft sie nicht wieder beim Nähen ein, so wie gestern, aber sie muss ja bloß noch die Borte drannähen, und das wird sie schon hinkriegen. Ihr Jüngster hat übermorgen Geburtstag, und da will sie auf keinen Fall mit leeren Händen dastehen, wo man doch sonst nichts Gutes hat, was man dem Kind geben könnte. Sie lässt sich auf der harten Holzbank nieder und reckt die schmerzenden Glieder. Vom Fußboden her sind die regelmäßigen Atemgeräusche der Kinder zu hören, die alle, von der harten Feldarbeit erschöpft, auf ihren Strohsäcken längst in tiefen Schlaf gefallen sind. Unter der Bank, auf dem Lehmboden, steht der Nähkorb. Sie schiebt ihn mit dem Fuß nach vorne, beugt sich seufzend nieder und ergreift ihn. Nur nicht mehr bücken müssen heute! Das hat sie den ganzen Tag über schon gemacht, auf dem Feld draußen, beim Mähen und beim Garbenbinden, denn sie stecken ja mitten in der Ernte, und das bedeutet: jeden Tag durchschnittlich fünfzehn Stunden Feldarbeit, die ganzen Sommermonate hindurch. Zwischen halb sechs und halb sieben geht es morgens hinaus, zwischen acht und neun abends kehren sie zurück. Nicht gerechnet die Arbeiten im Haus und Stall, die vor und nach der Feldarbeit noch zu erledigen sind.
Klara Möbs, in jungen Jahren ein bildhübsches Mädchen mit pechschwarzen Locken, großen, dunklen Rehaugen und einem Teint wie Milch und Honig, ist bereits im Alter von 30 Jahren eine gebeugte, früh gealterte Bäuerin, wofür die harte körperliche Arbeit Rechnung trägt. Zu ihren Aufgaben gehören das Putzen, Kochen, Wasserschöpfen aus dem Dorfbrunnen, Schüren des Feuers, das Melken, die Käserei und Butterherstellung, die Viehversorgung, der Gemüsegarten und die Mithilfe beim Einbringen des Getreides. Selbst beim Schweineschlachten im Winter muss sie helfen. Von ihrer einstigen Attraktivität geblieben ist der Bäuerin ein Gesicht von herber Schönheit, welches, nur mit Wasser und Kernseife behandelt, niemals in Berührung mit Balsam oder Schminke gekommen ist.
Haderte Klara noch am Anfang ihrer Ehe über die schwere Arbeit und beklagte sich mitunter bitter, nie auch nur einen einzigen Ruhetag zu haben, so hat sie sich inzwischen längst mit ihrem schweren Stand abgefunden und bescheidet sich damit, dass es ihr vom Herrn im Himmel nun einmal so bestimmt sei. Außerdem tröstet sie sich, einen guten Mann geheiratet zu haben, der sie nicht schlägt, und mit braven, fleißigen Kindern gesegnet worden zu sein. Am allermeisten aber liegt der Bäuerin ihr jüngster Sohn Martin am Herzen, auch wenn sie deswegen den anderen gegenüber manchmal ein schlechtes Gewissen hat. Der liebreizende Knabe, der ihr sehr ähnlich sieht, war von Anfang an ihr Augapfel, und sie überschüttet ihn geradezu mit Zärtlichkeiten, was immer wieder den Unmut ihres Mannes hervorruft und eigentlich auch ganz entgegen ihrer sonst so spröden Art ist.
Die in ledernen Angeln befestigte Brettertür öffnet sich knarrend, und der Bauer schlurft in die Stube. Er ist groß und äußerst hager, trägt wollene, kaum über die Knie reichende graue Beinlinge, einen kurzen Leinenkittel über einem aus grobem Zeug gefertigten Wams, dazu die sogenannten Bundschuhe, die durch Lederbänder zusammengehalten werden. Unter dem schmutzigen, grünen Filzhut ragen dünne, braune Haarsträhnen hervor, die, wie es die Rechtsordnung vorschreibt, über den Ohren abgeschnitten sind. Am Gürtel steckt ein kurzes Messer, welches er als der Familienvorstand zu tragen berechtigt ist. Das wettergegerbte, eingefallene Gesicht, die großen, dunklen, leicht fiebrig glänzenden Augen sprechen Bände: Der Bauer Konrad Möbs scheint, wie so oft, wieder einmal am Ende seiner Kräfte angelangt zu sein. Letzten Winter ist er krank geworden, hatte es so schlimm auf der Brust, dass er Blut gehustet hat, und ist, obgleich sich seine Beschwerden in der warmen Jahreszeit deutlich gebessert haben, trotzdem noch nicht wieder richtig genesen. Wie es so seine Art ist, versucht er, sich nichts anmerken zu lassen, und beklagt sich auch mit keinem Wort. Konrad setzt sich neben seine Frau auf die Bank, streicht ihr mit seinen schwieligen Händen kurz über die Wange, stützt darauf die Ellenbogen auf die Tischplatte und lässt ermattet den Kopf auf seine Hände sinken. Die Bäuerin mustert ihn besorgt: Zu Tode erschöpft sieht er aus. Der wird uns doch nicht noch wegsterben!, denkt sie bekümmert.
Tatsächlich ist die Sterblichkeitsrate unter der armen Landbevölkerung sehr hoch, die körperliche Belastung, der die Kleinhäusler ausgesetzt sind, ist extrem. In der ganzen Nachbarschaft werden die Leute meistens nicht älter als dreißig oder vierzig Jahre. Nicht jeder ist für die harte Landarbeit geschaffen. Konrad Möbs ist es aufgrund seiner wenig robusten Konstitution eher nicht. Doch danach fragt niemand, die Arbeit muss gemacht werden, will er nicht in Kauf nehmen, dass seine Leute sich noch mehr schinden müssen. Und das widerstrebt ihm ganz und gar, lieber übernimmt er sich selber, als dass er ihnen noch mehr aufbürdet, denn er hängt sehr an Frau und Kindern.
»Ei, Klärchen, warum musst du dann noch so spät nähen? Komm, lass uns schlafen. Die Nacht ist kurz, in ein paar Stunden müssen wir doch schon wieder raus«, wendet er sich gähnend seiner Frau zu.
»Vadder, schlaf du ruhig schon. Ich muss noch die Haube für den Bub fertig machen. Muss nur noch die Borte drannähen, dann hab ich’s«, erwidert die Bäuerin sanft, während sie emsig weiter näht.
»Ach Klara, das sind doch alles Possen! Was braucht dann ein Bauernbub eine Haube mit Spitzenborte? Das ist doch nur was für bessere Leut und nix für so arme Gautzer, wie mir. Unser alter Pfarrer hat immer gesagt: ›Schuster, bleib bei deinen Leisten‹. Und da ist auch was Wahres dran«, wendet der Bauer ein, während er sich zum Schlafen auf die Holzbank bettet.
Nachdem Klara Möbs mit der Haube fertig geworden ist und sie sorgsam in ihrem Nähkorb verwahrt hat, löscht sie die Talgkerze und tastet schlaftrunken nach ihrer Wolldecke, die unweit des schlafenden Ehemannes auf der Holzbank liegt. Kurz entschlossen richtet sie sich auf, nimmt die Decke an sich und schleicht auf Zehenspitzen zum Lager ihres Jüngsten. Im diffusen Licht des Mondes, das seitlich durch eine schmale Luke aus Weidengeflecht dringt, kann sie das schwarze Lockenhaar des Achtjährigen ausmachen. Zärtlich streicht sie über das anmutige Knabengesicht, breitet ihre Decke neben dem Strohsack des Kindes aus, um sich behutsam an den Schlafenden zu kuscheln.
Und ja ist er etwas Besseres! Sieht aus wie ein Fürstensöhnchen und nicht wie ein Bauernbub. Und er soll sich auch nicht so schinden müssen wie ein Bauer!, ist Klaras letzter Gedanke, bevor der Schlaf sie übermannt.
***
Am Samstagmorgen um neun hat sich die Familie am großen, grob gezimmerten Tisch versammelt, um die erste Tagesmahlzeit einzunehmen. Jener siebte Oktober, der Tag des heiligen Georg, ist regnerisch und trübe, kalte Windböen dringen durch die kleinen, mit Astgeflecht nur notdürftig verschlossenen Fensterluken. Der schmale, ebenerdige Wohnraum, in dem aufgrund der spärlichen Lichtquellen beständiges Halbdunkel herrscht, ist äußerst karg ausgestattet. Die Wände bestehen aus rohem Balkenwerk, deren Ritzen mit Moos verstopft sind, zum Kochen und zum Heizen dient ein offener Herd, der samt dem Tisch und den Bänken an den Wänden auch schon das ganze Mobiliar ausmacht.
Es ist ein Tag zum Heulen!, hat der Vater schon in der Früh festgestellt, als er die Rüben für das Vieh gehackt hat, und alles deutet darauf hin, dass er damit recht behalten soll. Mit bedrückten Gesichtern sitzen Konrad und Klara Möbs über ihren Holztellern. Auch die Mienen der Kinder sind ernst, einzig der achtjährige Martin scheint in seiner kindlichen Versonnenheit jenseits aller Sorgen beheimatet zu sein. Es gibt, wie so häufig, schwarzes, trockenes Brot mit wässriger Kohlsuppe. Obwohl alle hungrig sind, kriegt kaum einer mehr als ein paar Bissen runter, denn es steht ihnen heute noch unangenehmer Besuch ins Haus: Der Zinsbote des Grundherrn, der jedes Jahr im Herbst bei den Eigenleuten die Naturalabgaben einsammelt, ist für den Vormittag angekündigt, und das bedeutet für die Kleinhäusler, dass sie von dem Vieh, das ihnen nach der letzten Viehseuche verblieben ist, auch noch die kräftigsten Tiere abgeben müssen.
»Wenn der Polkert nachher eine von unseren Säuen rausdeutet, dann können wir im Winter wieder nicht schlachten, und dann gibt es in der kalten Jahreszeit anstelle von Gepökeltem nur getrocknete Linsen und Kohlsuppe ohne eine einzige Speckschwarte, genau wie im letzten Jahr auch«, presst der Bauer heiser hervor und wird in nächster Minute von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Sein Gesicht ist stark gerötet, und auf der hohen, von Falten zerfurchten Stirn glitzern trotz der feuchten Kälte, von der die niedrige Bauernkate durchdrungen ist, dicke Schweißperlen. Nach einer Weile gelangt er, keuchend und von rasselndem Pfeifen begleitet, wieder zu Atem.
Klara, die ihrem hustenden Mann fürsorglich mit der flachen Hand auf den Rücken geschlagen hat, betastet nun besorgt seine Wangen.
»Konrad, du glühst ja wieder vor Fieber. Komm, leg dich hin und deck dich gut zu«, schlägt die Bäuerin vor. »Ich mach dir einen Zwiebeltee, und mit dem Polkert werd ich nachher schon alleine fertig.«
»Ach was, Klara! Mit dir fährt der doch Schlitten wie es ihm gefällt, und nimmt außer unserer fettesten Sau auch noch die dickste Gans dazu. Ich steh das jetzt noch durch, und dann leg ich mich mal ein Stündchen aufs Ohr«, krächzt der Bauer, während er versucht, den aufkommenden Hustenschwall zu unterdrücken. »Na ja, vielleicht wird der ja ein bisschen zahmer, wenn er sieht, dass unsereiner aus dem letzten Loch pfeift«, fügt er mit heiserem Flüstern hinzu und verzieht sein hageres Gesicht zu einem breiten Grinsen.
»Das glaubst du ja selber net«, entgegnet die Bäuerin im Brustton der Überzeugung. »Wo andere ein Herz haben, hat der doch nur einen Stein!«
»Mamme, und ich? Hab ich auch ein Herz? Komm, zeig mir wo’s ist«, ereifert sich daraufhin der kleine Martin und blickt seine Mutter mit großen, glänzenden Augen an, die schwarz wie Kohle sind.
»Aber freilich hast du ein Herzchen, mein Goldschatz, komm, wir hören mal, wie schön es schlägt«, entgegnet die Mutter, deren Züge sich sogleich aufhellen. Zärtlich legt sie ihr Ohr an die Brust des Jungen und kitzelt ihn unterm Kinn, bis er ausgelassen zu jauchzen anfängt.
»Klara, sei doch so gut und zieh dem Bub mal die Haube ab, sonst mokiert sich der Polkert nachher noch drüber und glaubt am Ende gar, wir wollten hoch hinaus, wo wir doch die ärmsten Schlucker im ganzen Kaff sind«, unterbricht der Bauer ungehalten das Gejohle der beiden. Sofort verfinstert sich Klaras Gesicht wieder.
»Jetzt hör aber auf! Schon wieder fängst du damit an. Die Haube hab ich extra für den Bub genäht, und die kann der auch aufbehalten. Da soll nur einer was dagegen sagen! Und wenn der Polkert deswegen auch nur einen Brumm tut, dann fahr ich ihm ordentlich übers Maul, das kannst du mir glauben!«, erwidert Klara und funkelt ihren Mann aufgebracht an.
»Der Babbe hat recht. Man schämt sich ja schon im Dorf, weil sich alle darüber lustig machen, dass ausgerechnet der Bub von den ärmsten Kleinhäuslern hier eine Haube mit Spitzenborte aufhat, so, als ob er der Sohn von einem Landjunker wär. Mudder, glaub mir doch, du tust dem Martinche damit auch nix Gutes, der wird nur hoffärtig und glaubt wirklich noch, dass er was Besseres ist als wir. Des Gescheiteste wär’s, der ging nachher mit uns in den Stall und tät mal beim Ausmisten helfen, damit ihm seine Flausen ein für allemal vergehen, denn dass der nie was schaffen muss, ist auch net richtig«, entrüstet sich die fünfzehnjährige Gertrud, unterstützt vom beifälligen Gemurmel ihrer Geschwister.
»Ach, Trudel, der ist doch noch viel zu klein zum Arbeiten«, entgegnet die Mutter kleinlaut.
»Ich musst mit acht schon längst aufs Feld gehen und auch im Stall helfen«, mischt sich nun auch der älteste Sohn Robert ein, »und unser Prinzchen sitzt dabei und spielt, wenn wir uns schinden. Macht sich Puppen aus Maiskolben und singt dazu schöne Liedcher. Das ist doch net richtig, Mamme! Und so ein Geschiss, wie mit dem, hast du dir mit einem von uns nie gemacht«, fügt er erbittert hinzu.
Während die solcherart Bezichtigte noch um Worte ringt, fängt draußen der Hofhund zu bellen an, und gleich darauf poltert es auch schon gegen die Tür. Alle, auch diejenigen, die gerade eben noch in Aufruhr geraten waren, erstarren mit einem Mal, wohl wissend, dass nun die Heimsuchung ihren Anfang nimmt.
»Herein!«, erwidert der Hausherr mit so leiser, belegter Stimme, dass es kaum zu vernehmen ist. Auch der Zinsbote draußen hat es nicht gehört, verschafft sich aber trotzdem auf derart rabiate Weise Zutritt, als wäre ihm unbedingt daran gelegen, mitsamt der dünnen Brettertür ins Haus zu fallen – ein Eindruck, der so falsch gar nicht ist, denn der Umstand, unwillkommen zu sein, bereitet Herrn Polkert nicht nur ein stilles, ingrimmiges Vergnügen, sondern stachelt ihn überdies noch dazu an, umso forscher aufzutreten.
»Grüß Gott, die Herrschaften«, tönt der Zinsbote, ein kleines, dürres Männlein mit schütterem, weizenblondem Haar und blassblauen, kalten Fischaugen hämisch. Der Winzling ist fein ausstaffiert und schreitet einher wie ein Pfau, denn Polkert ist ein wohlhabender Mann. Das große Hofgut im benachbarten Florstadt, das ebenfalls den Grafen von Eppstein gehört, betreibt er seit vielen Jahren als freier Pächter äußerst gewinnbringend. Unter der roten Schaube5 trägt der Gutsverwalter ein modisch eng geschnittenes blaues Wams mit weiten Prunkärmeln, sein breiter, protziger Gürtel ist mit Metallplättchen beschlagen und mit seidenen Täschchen für Geld und Gewürze versehen. Anstelle der Bundschuhe aus einfachem Rindsleder hat er an den Füßen feine Schnallenschuhe. Auf seinem Haupt sitzt kess ein hoher, taubenblauer Hut, der die kleine Gestalt seines Trägers ein wenig größer erscheinen lässt, und an den zierlichen Händen trägt der Zinsbote hellgelbe Lederhandschuhe aus Venedig.
»Nun denn, da sind wir mal wieder bei den Möbsens, um zu holen, was des Grafen ist. Und, soll ich raten, am besten wär’s doch, ich würde grad wieder kehrtmachen und unverrichteter Dinge nach Hause gehen, denn bei euch armen Nichtshäbigen gibt’s doch eigentlich gar nichts zu holen, stimmt’s? Die Ernte war schlecht, wie jedes Jahr, und, wie könnt’s auch anders sein: Ihr habt kaum noch Vieh im Stall. Ich weiß schon, die letzte Viehseuch war ja auch so arg! Ach Gott, ihr Kleinhäusler könnt einem wirklich leid tun!« Er unterlegt seine Worte mit kurzem, cholerischem Aufkichern, bevor sein höhnischer Gesichtsausdruck wieder umkippt und er mit einem Mal todernst wird.
»Schluss jetzt mit dem ewigen Gejauner! Das allein zeichnet den Bauernstand aus, dass weiß doch jeder. Auf jetzt, in den Stall, ich will mir endlich eure fetten Säue angucken!«, zischt der blonde Zwerg gehässig, den dünnlippigen Mund zu einem schadenfrohen Grinsen verzogen.
»Herr Verwalter, nichts für ungut, aber seit der Viehseuch im letzten Jahr ist uns wirklich nicht mehr viel Vieh übrig geblieben. Und dann habt Ihr ja zum letzten Martini noch drei Gäns geholt, wo Ihr ja zuvor schon drei Säu und zwei Küh mitgenommen habt. Zu allem Unglück kommt noch dazu, dass ich krank geworden bin, und ehrlich gesagt, ich weiß net, ob ich den Winter noch übersteh. Deswegen bitt ich Euch, Herr Polkert, schont uns doch wenigstens dieses eine Mal! Auch wegen meine Leut, die ja dann ganz allein dastehen. Seid doch diesmal ein bisschen gut mit uns«, krächzt der Bauer kurzatmig, während ihm vor Demütigung und Kummer Tränen aus den Augenwinkeln rinnen.
»Ach, der alte Möbs will den Löffel abgeben! Da könnt man ja gleich mitheulen! Aber das weiß man doch, dass gerade die, die am lautesten wegen ihren Krankheiten rumplärren, uns zu guter Letzt noch alle überleben. Also, jetzt mach mal halblang: Ihr Bauern seit doch von jeher ein zähes Völkchen. Die gute Landluft und eure fetten Schinken lassen euch schon net allzu früh ins Gras beißen. Aber wo du mich schon so schön bittest, Möbs, will ich auch gar nicht so sein und euch einen vernünftigen Vorschlag machen. Für arme Hungerleider wie euch ist es mir auf Anweisung des Herrn Grafen hin erlaubt, den ›Gutfall‹ anzuwenden. Das heißt: Ist keine Kuh da, so kann eine Ziege genommen werden, ist kein Schwein da, so genügt auch die beste Henne, denn unser werter Graf Eberhard ist stets voller Herzenswärme für seine Eigenleute, und sowieso sind der Herr Graf der gütigste Mensch, der mir jemals begegnet ist. Also, mein lieber Möbs, Kopf hoch, und lasst uns jetzt mal gemäß dem ›Gutfall‹ gucken, was wir so machen können«, entgegnet der Zinsbote salbungsvoll und klopft dem Bauern, der wieder von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wird, herablassend auf den Rücken.
Im Stall angekommen, den der Landvogt zunächst einmal genauestens inspiziert, überall mit der Mistgabel ins Heu sticht, in jeden Winkel stochert und selbst den Heuschober nicht auslässt, es wäre ja nicht das erste Mal, dass diese verducksten Bauernlümmel Viehzeug verstecken, um so dem Grundherrn vorzuenthalten, was des Grundherren ist, wählt er schließlich, mit der trockenen Bemerkung, es bliebe den Bauern ja noch genügend Vieh übrig, das sich durch Zucht vermehren ließe, zwei wohlgenährte Milchkühe und das dickste Mastschwein aus. Außerdem, bemerkt er ganz beiläufig, während er schon am Weggehen ist, stünden ja auch noch Zahlungen offen, für die er ihnen noch eine Frist bis Martini gewähre, dafür müsse er aber den »Rutscherzins«6 anwenden. Verabschiedet sich ganz leutselig, indem er der Bauernfamilie, welche, der Verzweiflung nahe, mit ansehen muss, wie ihr Vieh von den Zinsknechten weggetrieben wird, noch einen schönen Tag und Gottes Segen wünscht.
»Herr Polkert, so habt doch bitte etwas Nachsicht mit uns! Wir wissen beim besten Willen nicht, wie wir das restliche Geld auftreiben sollen«, eilt ihm die Bäuerin keuchend hinterher. Der Zinsbote streift sie mit einem so eiskalten Blick, dass Klara Möbs tatsächlich am ganzen Körper eine Gänsehaut überkommt und sie zu schlottern anfängt.
»Dann soll sie doch gefälligst das machen, was alle Eigenleute das ganze Jahr über machen: ihre Wurst, ihren Käse, ihre Wolle, ihre Butter auf den Märkten im Umland feilbieten. Oder ist sie sich dafür etwa zu fein?«, erwidert der Zinsbote gereizt, ungehalten darüber, dass man ihn nach getaner Arbeit noch belästigt.
»Herr, das machen wir ja auch und fahren sogar bis runter nach Frankfurt und regelmäßig zu den Wochenmärkten nach Friedberg und Vilbel. Doch das Geschäft läuft immer schlechter. In letzter Zeit ist das, was wir Bauern anzubieten haben, kaum noch einen Kreuzer wert. Deswegen sind wir ja auch dieses Jahr säumig geworden«, entgegnet die Bäuerin in einer Mischung aus Mut der Verzweiflung und Angst vor der eigenen Courage. Polkert mustert sie mit einem sonderbar eindringlichen Blick, der auf ihren Brustwarzen hängen bleibt, die sich durch das Frieren zusammengezogen haben und sich unter dem fadenscheinigen, verwaschenen Leinenkittel deutlich abzeichnen.
»Wenn sie will, geh ich mit ihr noch einmal in den Stall. Da können wir ja noch einmal über den ›Rutscherzins‹ reden«, äußert der kleine Mann und kichert anzüglich. »Vielleicht kann ich ihn ja auch für dieses Mal aussetzen«, fügt er hinzu und leckt sich lasziv über die Lippen.
Mit einem Mal herrscht beklommenes Schweigen, die Stimmung auf dem Hof könnte kaum noch angespannter sein. Konrad Möbs trifft das unzüchtige Ansinnen des verhassten Mannes, welches dieser an seine geliebte Frau herangetragen hat, wie ein Schlag in die Magengrube. Am liebsten würde er sich auf den vermaledeiten Giftzwerg stürzen und ihn für diese Frechheit grün und blau schlagen. Stark genug fühlt er sich dafür, denn die wilde Wut obsiegt sogar über sein schlimmes Fieber. Dennoch bezwingt er sich in letzter Minute, wohl wissend, dass dem renitenten Bauern, der es wagt, die Hand gegenüber dem Zinsboten zu erheben, der Galgen blüht. Um ihn selber wäre es ja auch nicht schad, er spürt schon seit einiger Zeit, dass es mit ihm den Bach runtergeht, aber seine Frau und die Kinder täten ihm leid, die dann den Hof verlassen müssten und gezwungen wären, als Vogelfreie über die Lande zu ziehen. So bändigt er fürs erste seinen Prass und hofft darauf, dass sein Weib, das mitunter sehr resolut sein kann, den zudringlichen Drecksack in seine Grenzen weisen wird. Doch erstaunlicherweise schweigt sie und scheint konzentriert nachzudenken. Nach einer Weile wendet sie sich sodann dem Zinsboten zu und sagt knapp: »Gehn wir«, mit eindeutigem Blick zum Stall weisend. Schon in nächster Minute verschwinden die beiden hinter der Stalltür.
Der Bauer kann gar nicht richtig fassen, was da geschieht. Wie von einem Keulenschlag getroffen, steht er auf dem Hof, umgeben von der Schar seiner Kinder, die betreten zu Boden blicken.
»Klara, meine Klara, das kannst du doch net machen!«, schreit er immer und immer wieder in tiefster Seelenpein, dass es weit über den kleinen Hof hinausschallt. Dann sinkt er wimmernd zu Boden. Als ihn kurz darauf ein paar Nachbarn, die auf die Rufe hin zusammengelaufen sind, gemeinsam mit den größeren Kindern in die Kate tragen, um ihn zu versorgen, ist er bereits an einem schweren Blutsturz gestorben.
Klara Möbs bekommt im Stall, auf dem schmutzigen Stroh kniend und von Polkert auf brutalste Weise penetriert, von den tragischen Ereignissen draußen auf dem Hof kaum etwas mit. Als sie zehn Minuten später mit wundgescheuertem Unterleib und besudeltem Kittel aus den Stallungen wankt und die große Blutlache auf dem Boden entdeckt, stürzt sie vor Schreck kreidebleich in den Wohnraum. Beim Anblick ihres toten Mannes, den die Helfer auf die Bank gebettet haben, wirft sie sich voller Verzweiflung über den Leichnam und bittet den Toten laut schluchzend um Verzeihung. Schier wahnsinnig vor Schmerz, beteuert sie immer wieder, sie habe es doch nur für ihn und die Kinder getan.
***
Martini fällt dieses Jahr auf den 11. November. Genau sechs Wochen liegt der Bauer nun schon unter der Erde. An Allerseelen wäre er 32 Jahre alt geworden. Auf eine stille, verhaltene Art trauern seine Frau und die Kinder zwar zuweilen noch um ihn, doch der Alltag, mit der schweren Arbeit, den vielen Sorgen und Entbehrungen, hält alle schon wieder ganz gefangen. Was soll jetzt nur aus ihnen werden? Denn aufgrund von Misswachs und Wassernot, bedingt durch den langen, sehr trockenen und heißen Sommer, ist der Hof in erhebliche Zahlungsschwierigkeiten geraten. Klara Möbs hat in ihrer Not fast das gesamte restliche Vieh verkauft, ihre prächtigen Gänse und Hühner auf den Märkten für einen Apfel und ein Ei verhökert und wie eine Hausiererin bei den besser gestellten Bauern im Ort angeklopft, um ihnen die letzten Leinentücher ihrer ehemals recht ansehnlichen Aussteuer anzubieten. Trotzdem reicht das Geld hinten und vorne nicht, um die noch offenen Abgaben zu begleichen. Klara Möbs macht sich schon lange nichts mehr vor: Der Hof steht vor dem Ruin! Noch mal um Aufschub zu bitten, bringt auch nichts, denn wie soll sie denn das viele Geld in so kurzer Zeit auftreiben? Seit dem Tod ihres Mannes ist sie eine sehr abgeklärte Frau geworden, und ihr ist sehr wohl bewusst, dass der Zinsbote, wenn er nachher kommt, um die fällige Abgabe einzukassieren, keine Gnade kennen wird, zumal er ihnen das letzte Mal schon den berüchtigten »Rutscherzins« erlassen hat. Auch wenn sie wieder mit ihm in den Stall geht, wird er ihnen alles wegpfänden, was irgendwie noch von Wert ist. Sie alle werden ihr Dach über dem Kopf verlieren, müssen bei den großen Gutshöfen in der Umgebung vorstellig werden und um Arbeit und Brot betteln. Sie nimmt die gekochten Erbsen vom Herd und schneidet den letzten Kanten Brot auf. Für neun hungrige Mäuler eine geradezu lächerliche Ration, wie sie sich selber eingestehen muss. Schnell gießt sie noch einen Schoppen Wasser auf die Erbsen, um dadurch die Portion zu strecken, und ruft die Kinder zum Essen. Sie selber wird verzichten, damit ihnen etwas mehr bleibt. Hungrig machen sich die acht über die karge Mahlzeit her und haben in kürzester Zeit alles verdrückt, ohne von den kleinen Bissen satt geworden zu sein. Aber niemand beklagt sich, denn allen ist hinlänglich bekannt, dass sie ihren knurrenden Magen ertragen müssen, wollen sie nicht Gefahr laufen, später, in der kalten Winterzeit, vor einer gänzlich leeren Speisekammer zu stehen. Nur Martin, der Jüngste, scheint sich nicht mit seinem leeren Holznapf abfinden zu können:
»Ich hab Hunger, Mamme. Bitte, geb mir doch noch ein Krüstchen«, greint er.
»Komm mal her, mein Schatz, und lass dich drücken«, erwidert Klara Möbs und umfängt den Jungen mit offenen Armen. »Ich hab kein Krüstchen mehr für dich, mein Liebling, aber wir gucken mal, ob wir noch ein Löffelchen Rübensirup für dich zusammenkratzen können, das schmeckt schön süß, und dann ist das Bäuchlein ganz zufrieden und knurrt auch nicht mehr, wirst sehen«, schlägt die Mutter vor und massiert in kreisenden Bewegungen den eingesunkenen Kinderbauch ihres Nesthäkchens. Mit der freien Hand ergreift sie einen Holzlöffel, mit dem sie einen auf dem Tisch befindlichen Steinguttopf ausschabt, um anschließend den Jungen den Rübenhonig ablecken zu lassen.
»Ich will auch noch Rübenhoink«, quengelt der zwölfjährige Karl. »Der Martin kriegt sowieso immer mehr als wir«, fügt er ärgerlich hinzu und blickt die Mutter vorwurfsvoll an.
»Karlchen, geb Ruh, und lass dem Kleinen doch das bisschen, der Topf ist doch sowieso schon leer. Aber Kinder, hört mir mal alle zu, ich muss gleich was mit euch bereden«, entgegnet Klara mit belegter Stimme und ernster Miene. Die meisten ihrer Kinder, vor allem die größeren, ahnen schon, dass nun nichts Erfreuliches kommen wird, und schauen die Mutter betreten an.
»Nachher kommt der Polkert, um den säumigen Pachtzins einzutreiben, das wisst ihr ja«, fährt sie stockend fort. »Ich habe aber nicht genug zusammengekriegt, um unsere Schuld bezahlen zu können, und deswegen müssen wir uns alle auf das Schlimmste gefasst machen. Stellt euch darauf ein, dass er uns den Hof wegpfänden wird.«
Eine Weile lang herrscht bedrücktes Schweigen, bis die sechzehnjährige Franziska sich aufrichtet, angriffslustig die Arme in die Hüften stemmt und der Mutter mit vor Zorn geröteten Wangen entgegen schreit:
»Dann gehst du halt wieder mit ihm in den Stall, wie beim letzten Mal, wo den Vadder vor lauter Schande der Schlag getroffen hat!«
Aus Klaras ohnehin bleichem Antlitz ist jegliche Farbe gewichen. Wie im Reflex springt sie auf und schlägt ihrer Ältesten mit voller Wucht ins Gesicht.
»Du kannst mich grün und blau dreschen, du Hur, und trotzdem sag ich’s dir ins Gesicht, dass du allein unsern Babbe ins Grab gebracht hast, mit deiner verdammten Affenliebe zu dem Bub, was den Vadder immer gegrämt hat, weil das uns anderen gegenüber nicht recht war und wir ihm leid getan haben. Der hatte halt Anstand, anders als du, und dann lässt du dich auch noch ausgerechnet mit dem Polkert ein! Wo der uns immer so zusetzt. Hast du denn überhaupt keine Ehr im Leib!«, kreischt Franziska hasserfüllt mit tränenüberströmtem Gesicht.
Klara Möbs hat sich auf den Schemel sinken lassen und ist ganz in sich zusammengefallen.
»Ich hab das doch nur für uns getan, für euch, für den Vadder, für unsern Hof. Damit er uns schont. Und das hat er ja auch, sonst hätt der uns noch den »Rutscherzins« draufgeschlagen«, rechtfertigt sich die Bäuerin mit tonloser Stimme.
»Ich weiß, du hast es ja nur gut gemeint, Mudder. Aber trotzdem, des war eine Schand. Für uns alle«, stammelt, den Tränen nahe, nun auch Gertrud, die zweitälteste Tochter.
Klara Möbs sitzt zusammengesunken auf dem Schemel und stiert mit leerem Blick schweigend auf den Boden, während sie am ganzen Körper zittert. Martin hat sich währenddessen auf den Lehmboden gekauert und fängt mit einem Mal zu schluchzen an.
»Niemand darf bös zur Mamme sein!«, schreit er kehlig, während er zu seiner Mutter kriecht und ihre Beine umklammert. Klara Möbs streichelt dem Knaben über den Kopf und lässt die Finger beruhigend durch sein schwarzes Lockenhaar gleiten. Schweigend sitzt sie noch eine ganze Weile so da, den Jungen sanft liebkosend, während sie mit offenen Augen vor sich hinzuträumen scheint. Franziska, Hildegard und Gertrud, die drei Ältesten, verlassen bald die Stube, um mit ihren Burschen zum Martinsfeuer zu gehen, welches auf dem Dorfanger entzündet wird, und keines von den anderen Kinder wagt es jetzt noch, die Mutter aus diesem Dämmerzustand herauszureißen, so stark ist die Einheit, die Mutter und Sohn in diesem Augenblick verkörpern – stärker, als all ihr dumpfer Neid auf den von der Mutter so bevorzugten kleineren Bruder.
Als der Zinsbote kurze Zeit später kommt, beginnt es bereits zu dämmern. Nach einem knappen Gespräch zwischen Polkert und der Bäuerin, in welchem Klara Möbs bekennt, dass sie ihre Schulden nicht begleichen kann, schreitet der Klostervogt sogleich zur Pfändung des ärmlichen Hausrats, der Gerätschaften und des Pfluges sowie des verbliebenen Viehbestandes. Nachdem seine Schergen alles verladen haben, bedeutet ihnen der Zinsbote, doch schon ohne ihn loszufahren, er habe noch etwas zu erledigen, was die Männer mit obszönen Gesten quittieren.
Nachdem Polkert seinen Trieb gestillt hat und sich den Hosenlatz wieder zuknöpft, murmelt er beifällig, dass es ihm gefallen habe – und im Übrigen, scheine es Klara ja ebenfalls Spaß zu bereiten, wie ihm scheine, setzt er noch mit anzüglichem Grinsen hinzu. Das solle aber nicht ihr Schaden sein, denn er habe ihr einen Vorschlag zu machen.
***
»Also, überlegt’s euch noch mal, ob ihr nicht doch aufs Hofgut mitkommen wollt«, richtet Klara Möbs nun schon zum zweiten Mal das Wort an ihre älteren Kinder und blickt leicht ungehalten in die Runde.
»An Feiertagen gibt es dort immer Selchfleisch mit Kraut, auch für das Gesinde, hat der Polkert gesagt. Und am Markustag, dem 25. April, werden immer die ›Markus-Brötche‹ gebacken. Ihr wisst doch, das sind die kleinen, süßen Brötchen, die es bei uns in der Kirch am Tag des heiligen Markus immer gegeben hat, zur Erinnerung an die große Hungersnot vor hundert Jahren. Im Sommer isst man auf dem Hofgut Mehlbrei mit Obst oder Grießklöße mit Kompott. Ach, und im Dezember ist großes Schlachtfest, aber anders als bei uns, wo grad mal eine Sau geschlachtet wird. Dort schlachten sie Stücker zehn und noch ein paar Ochsen dazu, und es wird tagelang gefeiert und geschmaust. Den ganzen Winter über gibt es auf dem Gutshof zum Frühstück schon Wurstsupp mit angestochenen Blutwürsten drin und Griebenschmalz aufs Brot, damit die Hofleut Kraft zum Schaffen haben. Des hat mir die Walters-Anni gesagt, der ihr Bruder ist schon ein paar Jahr in Florstadt, und dem scheint’s gut zu gefallen. Hart hinlangen muss man schon, man kriegt ja schließlich nix geschenkt, aber des sind wir ja auch net anders gewöhnt. Jedenfalls haben wir da satt zu essen und wieder ein Dach über dem Kopf. Also, der Polkert würd uns sogar alle aufnehmen. Obwohl jetzt bald Winter ist und es da gar nicht so viel zu tun gibt. Die Buben könnten erst mal beim Holzmachen helfen, hat er gemeint. Und dann gibt’s ja im Stall auch Arbeit, so viel Vieh, wie der hat. Und wir Weibsleut sollen beim Melken helfen, die Wäsch machen und Haus und Hof in Ordnung halten. Abends, wenn wir Zeit haben, sollen wir dann spinnen, weben und Flickarbeiten übernehmen. Und des ist ja auch net zuviel verlangt, oder? Unsern Lohn kriegen wir erst kommenden Herbst, wenn die Ernte eingebracht ist. War die Ernte gut, gibt’s mehr, war sie schlecht, gibt’s halt ein bisschen weniger. Also, ich find, des hört sich doch eigentlich alles gar net so schlecht an, und es ist auch wirklich anständig vom Polkert, dass er uns das angeboten hat, denn sonst würden wir ja bald alle auf der Gass stehen, und des noch so kurz vorm Winter. Bis morgen müssen wir uns entschieden haben, dann will er Bescheid wissen. – Und, was ist jetzt? Ja, oder nein? Ich für mein Teil denk ja, wir sollten am besten zusammenbleiben, wo wir doch halt eine Familie sind«, schließt Klara Möbs mit Rührung in der Stimme und blickt begütigend vom einen zum anderen. Unter ihren Kindern herrscht zunächst wieder verstocktes Schweigen, wie bereits am gestrigen Abend, als die Mutter das Thema schon einmal zur Sprache gebracht hat. Nach einer Weile räuspert sich Franziska, die älteste Tochter, und erklärt kühl, dass sie und Hildegard nicht mitkommen würden, weil sie sich mit ihren Burschen, einem Schmied- und einem Bäckergesellen, demnächst vermählen wollten. Klara hört schweigend und gefasst zu und äußert keinen Einwand.
»Und die anderen kommen also mit nach Florstadt?«, fragt die Mutter. Anstelle einer Zustimmung teilen ihr daraufhin auch die Söhne Karl und Robert etwas kleinlaut mit, dass sie beschlossen hätten, eigene Wege zu gehen. Sie hätten vorgestern beim Martinsfeuer eine Gruppe Landfahrer kennengelernt, Possenreißer und Bärenführer aus Böhmen, mit denen sie schon morgen in Richtung Budweis aufbrechen wollten.
Klara Möbs ist nach dieser zweiten Abfuhr gekränkt.
»Gut, das müsst ihr selber wissen. Ihr seid ja alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen!«, erwidert sie gepresst. Die drei Kleinen, der Martin, die Maria und die Else, sind es noch nicht und kommen deswegen mit nach Florstadt. »Und was ist mit dir, Gertrud?«, wendet sie sich an die Fünfzehnjährige, die genau wie ihre beiden Schwestern Hildegard und Franziska, bereits im heiratsfähigen Alter ist.
»Ich komm mit dir mit, Mamme. Einen Bräutigam hab ich noch net, und ansonsten denk ich mir auch, da ist man doch erst mal gut unter«, entgegnet die Zweitälteste mit fester Stimme.
»Recht haste, mein Mädchen! Und du wirst sehen, wir fünf halten zusammen und lassen uns net unterkriegen, und die anderen treulosen Gesellen sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst«, erwidert Klara. Offensichtlich erleichtert über Gertruds Entscheidung, kann sie es sich doch nicht ganz verkneifen, ihre Enttäuschung gegenüber den vier »Abtrünnigen« kundzutun.
»Hauptsach, du hast dei Martinche dabei. Aus uns machst du dir doch sowieso nix. Und dann hast du ja auch noch deinen neuen Galan, den feinen Herrn Polkert. Mensch, man schämt sich ja vor den Leuten. Wenn das unser Vadder wüsst, der tät sich im Grab rumdrehen!«, kontert Franziska erbost.
»Sei bloß net so frech, sonst gibt’s ein paar auf die Gosch!«, blafft ihre Mutter zurück, erhebt sich verärgert von der Sitzbank und legt noch ein paar Holzscheite ins Feuer.
Am nächsten Morgen in der Früh erscheint der Gutsverwalter und holt die Bäuerin, Gertrud, Maria, Else und Martin mit einem Pferdegespann ab. Die Geschwister verabschieden sich von denjenigen, die nicht auf das Hofgut mitkommen, und es fließen ein paar stille Tränen. Der Mutter aber entbieten die Zurückbleibenden nur einen kühlen Gruß. Als sie mit dem Wagen von dannen ziehen, spürt Klara Möbs einen schmerzhaften Stich in der Brust und muss schwer gegen eine sie überkommende Wehmut ankämpfen. Fest drückt sie Martin an sich und schluckt ihre Traurigkeit herunter.
»Du sollst es immer gut haben, mein Bub!«, flüstert sie ihm beschwörend ins Ohr, während der Wagen, vorbei an einer Vielzahl neugieriger Bauern, die sie feindselig anstarren, über die Dorfstraße holpert.
***
Martin staunt wie immer, als er an jenem Fastnachtsmorgen, am Schürzenzipfel seiner Mutter klebend, das imposante Wohngebäude des Gutsverwalters betritt. Im ganzen Haus riecht es nach frischgebackenen Kreppeln, und ihm läuft das Wasser im Munde zusammen. Ob es hinten in der Gesindeküche auch welche gibt? Während sich seine Mutter auf dem Boden niederlässt, um die fein gemaserten Holzdielen zu schrubben, eilt Martin mit einem Lappen zum Wandregal und poliert die ringsum verteilten Zinnteller und -krüge auf Hochglanz, wobei er sich ausgiebig Zeit lässt, die kunstvoll eingravierten Jagdszenen darauf zu betrachten. Danach bearbeitet er sorgfältig die große, runde Platte des gediegenen Esstischs und nimmt sich sodann die acht fein gezimmerten Stühle vor, die zusätzlich mit bunten Kissen bedeckt sind. Zwischendurch lässt er sich auf einem der Stühle nieder und träumt versonnen vor sich hin. Stellt sich, wie immer, wenn er in dem behaglichen Wohnraum ist, vor, er würde hier leben, Tag für Tag an dieser glänzenden Tafel sitzen, in weiche Kissen gebettet, feines Wildbret verspeisen oder gebratenen Kapaun7 und dazu warmen Honigwein aus dem Zinnbecher genießen. Und nach der Mahlzeit würde er sich auf der gepolsterten Bank des großen Kachelofens ausstrecken und ein Nickerchen halten, wie es die reichen Leute so zu tun pflegen. Während sich Martin noch solcherart seinen Tagträumereien ergibt, wird abrupt die Stubentür aufgerissen, und die Gutsherrin, Frau Irmingard Polkert, stürzt herein. In ihrer Hast, unbeabsichtigt oder beabsichtigt, sei dahingestellt, tritt sie den Putzeimer um, so dass sich die schmutzige Seifenlauge über den ganzen Fußboden ergießt und ihr überdies noch den Saum ihres lichtblauen Gewandes aus feinem englischem Tuch besudelt. Wütend herrscht sie Klara Möbs an, die in der Zimmerecke emsig am Putzen ist, doch den blöden Eimer nicht immer mitten in die Stube zu stellen. Klara, selber ungehalten darüber, die ganze Wasserlache wieder aufputzen zu dürfen, murmelt hastig eine Entschuldigung und erhebt sich, um die Pfütze mit dem Putzlappen trockenzulegen.
»Und das geht auch nicht, dass dieser kleine Rotzlöffel hier immer nur faul rumsitzt und uns die Haare vom Kopf frisst, ohne was dafür zu schaffen! Schnabuliert rum und lässt sich’s gut gehen, als wäre er zu Besuch hier. Da muss ich doch mal ein ernstes Wörtchen mit meinem Mann reden, dass der mal endlich andere Saiten aufzieht. Entweder dein Bauernbankert schafft für sein Brot, wie alle anderen auch, oder er muss fort«, keift die dürre, blonde Hausherrin. Die runden, gelblichen Augen mit dem stechenden Blick und die breiten Wangenknochen mit der kleinen, nach unten gebogenen Nase verleihen ihren Zügen etwas Raubvogelhaftes. Von der ersten Minute an, als sie vor nunmehr drei Monaten ihre Bekanntschaft gemacht hatte, wusste Klara Möbs, dass sie von diesem Geierweib nichts Gutes zu erwarten haben würde. Jeder auf dem Hof weiß, dass Frau Irmingard herrisch bis ins Mark ist und alles in ihrem Dunstkreis, auch ihr Mann, stets nach ihrer Pfeife zu tanzen hat. Als Tochter eines Großbauern aus dem hessischen Dortelweil galt das knochige, wenig ansehnliche Mädchen – zumindest in den Kreisen des gehobenen Dorfpatriziats der Umgebung – als beste Partie. Allein schon ihre fette Mitgift eröffnete einem jeden Landjunker ein sorgenfreies Leben – nur musste er die verwöhnte, nörglerische Jungfer halt dazunehmen, was nicht wenige abschreckte. Der junge Matthias Polkert, Sohn eines Gutsverwalters aus der benachbarten Ortschaft Karben, der in eher bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen war, nahm sich schließlich ein Herz und hielt, verlockt durch das üppige Brautgeld, tatsächlich um die Hand der Xanthippe an, die er auch schon einige Monate später zum Traualtar führen konnte. Die junge, schwierige Irmingard, gerade auch so zänkisch, weil kaum jemand sie je leiden mochte, verfügte indes, wenn auch über kein einnehmendes Wesen, so doch über einen hellen Verstand und durchschaute sehr schnell, dass Matthias sie nur wegen ihres Geldes geheiratet hatte, was sie mehr und mehr dazu anspornte, ihn fortan dafür zu demütigen und zu bestrafen. Der derart getriezte Ehemann rächte sich auf seine Weise, indem er jedem Weiberrock hinterherrannte und bereits eine Vielzahl unehelicher Kinder in die Welt gesetzt hatte, ohne aber seine eigene Frau jemals zu schwängern. Und das nimmt ihm Irmingard, die inzwischen auf die Dreißig zugeht, nach wie vor sehr übel.
Das Gerücht, dass es sich bei der nicht mehr ganz so jungen Gesindemagd mit dem aparten Gesicht um eine neue Buhlerin ihres Mannes handelt, ist der Hausherrin längst zugetragen worden, und sie hat auch deswegen ein scharfes Auge auf Klara Möbs. Außerdem neidet sie ihr den süßen, schwarzhaarigen Bengel, an dem seine Mutter abgöttisch zu hängen scheint.
»Mit Verlaub, Herrin, aber mein Martin ist kein ›Bankert‹! Er ist ein eheliches Kind und in unserer Wöllstädter Pfarrkirche wie jeder anständige Christenmensch ordentlich getauft worden. Mein Mann, Gott hab ihn selig, ist erst letzten Oktober gestorben«, erläutert Klara mit aufgebrachter Stimme, jedoch offensichtlich bemüht, ihre Empörung zu zügeln.
»Ach was! Und dann hurt Sie jetzt schon in der Gegend rum, die arme, kleine Witib! Auch noch mit einem verheirateten Mann, die gottverdammte Ehebrecherin. Sie unterstehe sich noch einmal, mir Widerwort zu geben, dann fliegt Sie mitsamt ihrem Balg vom Hof und darf den Dreck von der Gass fressen«, kreischt die Hausherrin in schrillem Falsett, tritt wieder, nun aber voller Mutwillen, gegen den Putzeimer, dessen trüber Inhalt sich in vollem Schwall über Klara ergießt, und eilt hektisch auf den Hof hinaus, wo sie lauthals nach ihrem Mann ruft.
Nach einer Weile kehrt sie mit Polkert im Schlepptau wieder zurück, der sich unter der gestrengen Kuratel seiner Frau dazu herablassen muss, Klara eine ausführliche Strafpredigt zu halten, die darin mündet, dass der kleine Martin auf der Stelle dazu abkommandiert wird, täglich beim Stallausmisten zu helfen.
Schon nach ein paar Tagen aber zeigt sich deutlich, dass der Achtjährige, anders als seine Geschwister, die harte Arbeit gewöhnt sind und bei der täglichen Hofarbeit tüchtig zupacken, für die anstrengende Plackerei einfach nicht geschaffen ist – wofür nicht zuletzt auch die Verzärtelung der Mutter verantwortlich ist. Als Martin beim Kalben einer Kuh helfen soll und beim Anblick des vielen Blutes gar in Ohnmacht fällt, kommt es schließlich zum Eklat. Polkert, angestachelt von seiner Frau, zeigt wenig Verständnis dafür, dass Martin, traumatisiert vom Blutsturz seines Vaters, kein Blut mehr sehen kann. Außerdem beklagen sich die anderen Knechte, die ganze Arbeit bliebe an ihnen hängen, weil der Junge einfach keine Lust habe, sich die Hände dreckig zu machen. So bleibt dem Gutsverwalter nichts anderes, als Klara Möbs zu verkünden, dass es auf dem Hof keine Verwendung mehr für Martin gebe und er gehen müsse.
Klara ist darüber vollkommen außer sich und versucht vergebens, Polkert umzustimmen.
»Wenn der Bub von hier weg muss, dann bleib ich auch net! Dann müssen wir halt gucken, ob wir woanders unterkommen«, erwidert sie schließlich aufgebracht.
Klaras Eröffnung, gemeinsam mit ihrem Jungen weggehen zu wollen, scheint Polkert indessen wenig zu behagen, und er blickt nun seinerseits einigermaßen betreten. Die Möbsin und ihre drei anderen Kinder sind tüchtige Hofleute, die sich für keine Arbeit zu schade sind. Außerdem ist es ihm zur lieben Gewohnheit geworden, Klara in der Gesindekammer aufzusuchen, wann immer ihm der Sinn danach steht. Was für ein Aufstand, nur wegen dieses verzogenen, kleinen Mistkerls, auf den sich nun auch noch zu allem Übel sein Ehegespons eingeschossen hat, und aufgrund der glänzenden Beziehungen seines Schwiegervaters zu Graf Eberhard von Eppstein, denen er überdies auch die Pachtrechte für das Hofgut verdankt, ist nun einmal sie es, die auf dem Hof das letzte Wort hat.
Aber ihm kommt da eine Idee, die vielleicht gar nicht so schlecht ist.
»Bring den Bengel doch zu den Prämonstratensern. Im Todesfall der Eltern sind die Brüder nämlich dazu verpflichtet, Waisenkinder aufzunehmen und großzuziehen. Du lebst zwar noch, kannst aber aufgrund deiner Notlage gerade Mal für dich selber sorgen, und dein Alter hat ja auch wirklich den Löffel abgegeben. Also, ich würd das an deiner Stelle mal versuchen. Im Kloster wäre dein Goldjunge auch bestens versorgt. Und wenn der Kleine schlau genug ist, bringen ihm die Mönche sogar noch das Lesen und das Schreiben bei, und er kriegt die Weihen und wird Mönch«, schlägt Polkert der weinenden Klara vor und tätschelt ihr dabei beruhigend den Rücken.
»Ach, ich möchte aber net, dass der Bub weggeht! Das Martinchen ist doch mein Ein und Alles!«, stammelt Klara unter Tränen.
»Des glaub ich dir schon, aber was sein muss, muss sein. Und sei doch mal ganz ehrlich, Klara: Für die Landwirtschaft taugt der Bub doch wirklich nix! Aber vielleicht kann ja im Kloster mal ein gelehrter Mönch aus ihm werden. Und schön singen kann er auch, wie ich gehört hab. Ei, des tät doch alles passen!«, versucht Polkert ihr die Sache schmackhaft zu machen. »Außerdem, des Kloster ist doch grad mal ein Steinwurf von hier entfernt, und du könntest den Kleinen doch auch ab und zu besuchen. Verwandtenbesuche sind den Klosterzöglingen nämlich erlaubt, das weiß ich«, fügt er hinzu.
Allmählich gelangen Klaras Tränen zum Versiegen, sie denkt eine Weile nach und stellt dem Gutsverwalter verschiedene Fragen. Als sie schließlich gar in Erfahrung bringen kann, wie gut für das leibliche Wohl der Klosterinsassen gesorgt wird, freundet sie sich mehr und mehr mit dem Gedanken an, Martin vielleicht tatsächlich ins Kloster zu geben.
Die darauffolgende Nacht über liegt sie, den Knaben fest an sich gepresst, wach und grübelt über alles nach. Freilich, ihren Augapfel weggeben zu müssen, tut ihr in der Seele weh, aber ihn gut versorgt in ihrer Nähe zu wissen und vor allem, mit der Hoffnung versehen, dass aus dem Buben tatsächlich noch ein Gelehrter werden könnte, der hinter einem feinen Schreibpult steht, anstatt sich auf dem Feld abrackern zu müssen und jedermanns Fußhader zu sein, überzeugt die liebende Mutter immerhin soweit, dass sie sich vornimmt, mit Martin am nächsten Tag darüber zu reden.
Dieser fängt auf der Stelle wild zu schreien und zu weinen an, als Klara ihm zaghaft eröffnet, dass sie in Erwägung gezogen habe, ihn möglicherweise ins Kloster zu bringen. Er wolle aber doch bei ihr bleiben, schluchzt er ein ums andere Mal, bis Klara Möbs alle Worte versagen und sie den Sohn nur noch weinend in die Arme schließen kann. Nach tagelangem Ringen und unter Einbeziehung sämtlicher Möglichkeiten (Polkert hat ihnen freundlicherweise eine kleine Frist eingeräumt), einigen sich Mutter und Sohn schließlich darauf, dass Martin es mit dem Klosterleben einmal versuchen wird. Seine Mutter wird ihn so oft besuchen kommen, wie es möglich ist, und wenn ihm sein Aufenthalt nicht behagt, wird sie ihn wieder zu sich holen und mit ihm weggehen.
Als sie, versehen mit einem Empfehlungsschreiben des Gutsverwalters, am frühen Morgen des 16. März im Jahre des Herrn 1515 über die Felder zum Prämonstratenserkloster eilen, riecht es allenthalben nach Frühling. Es verspricht, ein schöner Tag zu werden. Klara Möbs und ihrem Sohn Martin indes ist es reichlich beklommen zumute. Stumm halten sie einander an den nicht allein von der Morgenkühle kalten und klammen Händen und tauschen von Zeit zu Zeit Blicke miteinander, die grundtraurig, aber zugleich auch voller Wärme darum bemüht sind, das Herz des anderen angesichts des bevorstehenden Abschieds aufzumuntern.
Keinem der beiden vermag es indessen so recht gelingen.

2.  Martinus

Als sie vor der Klosterpforte angelangt sind, welche, eingebettet in eine hohe Mauer aus wuchtigen Natursteinen, eher schlicht und bescheiden anmutet, zückt Klara Möbs ein kleines weißes Sacktuch, benetzt es kurz mit ihrem Speichel und fährt Martin rasch damit noch einmal übers Gesicht. Dann rückt sie ihm die frisch gestärkte Haube zurecht und läutet schließlich mit tiefem Seufzen die Schelle. Kurz darauf hört man auch schon energische Schritte, und im Portal wird eine kleine Luke geöffnet. Ein junger Mönch blinzelt ihnen entgegen, um ihnen sogleich mit gesenktem Blick sein »Gelobt sei Jesus Christus« zu entbieten und sie nach ihrem Begehr zu fragen. Klara überreicht dem Pförtner das Schreiben Polkerts und bittet darum, den Prior sprechen zu dürfen.
»Seine Eminenz der Herr Prior befinden sich momentan bei einer Beratung im Kapitelsaal und sind auch für einige Zeit nicht abkömmlich. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr im Kreuzgang auf ihn warten, ansonsten rate ich Euch an, besser ein anderes Mal wiederzukommen«, erwidert der Mönch abweisend, wobei er geflissentlich über Klara Möbs hinwegschaut.
»Wir warten solange«, entscheidet Klara nach kurzem Zögern.
Der Bruder öffnet ihnen die Pforte und lässt sie eintreten. Er ist ausgesprochen hager und trägt über einer wollenen Tunika das weiße, aus ungebleichter Schafswolle gefertigte Ordensgewand der Norbertiner, unter dem klobige Holzpantinen hervorlugen. Schweigend geht er vor ihnen her und geleitet sie an dem mächtigen, steinernen Gebäudekomplex des Klosters vorbei, dessen Mittelpunkt eine doppeltürmige Basilika von strenger Schlichtheit bildet. Bald sind sie am Kreuzgang angelangt und werden von ihrem Begleiter beschieden, hier zu warten, bis man ihnen Bescheid gebe.