Madame ermittelt - Ursula Neeb - E-Book

Madame ermittelt E-Book

Ursula Neeb

3,8

Beschreibung

Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Nichts anderes wünscht sich die Prostituierte Sussi Kesselheim, der die Dichterin Sidonie Weiß im Jahre 1838 hilft, eine neue Existenz aufzubauen. Doch ein skrupelloser Mörder behindert dieses Vorhaben. Erst stellt er die Frau öffentlich bloß, dann tötet er sie grausam. Sidonie ermittelt und gerät immer tiefer in den Sog des heimtückischen Täters.

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Seitenzahl: 343

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Ursula Neeb

Madame ermittelt

Historischer Roman

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von:

Franz Xaver Winterhalter »Portrait of Empress Maria Alexandrovna« 1857 (© http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Winterhalter_Francois_Xavier_-_Portrait_of_Empress_Maria_Alexandrovna.tif) und

http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Frankfurt_Am_Main-Zeil-Anton_Radl-Christian_Haldenwang-um_1818.jpg

ISBN 978-3-8392-4578-1

Widmung

Für Sonja Maria, meine unbekannte Schwester, die im fernen Amerika lebt und nichts von mir weiß.

Zitat

›Ach, es sind des Haifischs Flossen

Rot, wenn dieser Blut vergießt!

Mackie Messer trägt ’nen Handschuh

Drauf man keine Untat liest.‹

(Bertolt Brecht, ›Die Dreigroschenoper‹, Berlin 1928)

Prolog

Es hatte gerade zur zehnten Abendstunde geläutet, was für sie in den Sommermonaten das Signal war, die Fensterläden des Verkaufsschalters zu schließen. Ehe sie das tat, spähte sie noch auf die Taunusanlage hinaus, die seit dem Bau des Taunusbahnhofs mit seinem neu verlegten Schienennetz einer Dauerbaustelle glich. Schon im nächsten Jahr sollte die neue Bahnstrecke nach Wiesbaden eingeweiht werden und von dem Gebäude standen erst die Grundmauern. Vor den langgezogenen Holzbaracken der Bau- und Gleisarbeiter, die sich am Rande des Anlagegürtels befanden, sah sie eine Gruppe Arbeiter sitzen, die ihr Feierabendbier tranken und den Sommerabend genossen. Einige winkten ihr zu. Sie winkte zurück, bemüht darum, es nicht zu einladend aussehen zu lassen. Sie war froh, wenn ihr die Kerle vom Hals blieben. Angespannt schweiften ihre Blicke über die Anlage, ob er nicht wieder irgendwo stand, um sie abzupassen – und zu bedrängen. Sie hatte die Nase gestrichen voll von seinen ewigen Nachstellungen. Konnte er denn nicht akzeptieren, dass sie für keinen mehr die Beine breitmachte!

Ihr Leben hatte sich komplett verändert, seit Thekla ihr vor einem Jahr das Angebot gemacht hatte, für sie und das Fräulein als Trinkhallenwärterin zu arbeiten. Sie hatte dem Strich und den widerlichen Freiern den Rücken gekehrt – und mit dem Saufen hatte sie auch aufgehört. Was sie niemals für möglich gehalten hätte. Schon fast ein Jahr lang hatte sie keinen Schnaps mehr angerührt. Das reinste Wunder war das! Doch wie so oft, musste sie sich eingestehen, dass ihr das immer noch sehr schwerfiel. Die wohlige Wärme im Bauch und der Rausch des Branntweins fehlten ihr, zuweilen sogar ganz entsetzlich, und sie fühlte sich oft stumpf und leer. Dann erschien ihr alles so langweilig und freudlos und das Leben machte ihr keinen Spaß mehr. Nur mit Thekla sprach sie darüber, die das selber kannte und sie bei der Stange hielt. »Das wird irgendwann vorübergehen«, pflegte die junge Frau zu sagen. Hoffentlich!, dachte sie einmal mehr und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Sich nicht länger mehr feilbieten zu müssen, war dagegen eine große Erleichterung für sie. Doch er wollte das einfach nicht kapieren. In ihrer Verzweiflung hatte sie ihm gestern damit gedroht, ihn anzuschwärzen. Da hatte er sie mit einem Blick angesehen, der ihr förmlich das Blut in den Adern gefrieren ließ, und sie wusste genauso gut wie er, dass sie das niemals tun würde. Jedenfalls würde sie sich an ihr Versprechen halten, das hatte sie sich eisern vorgenommen – sie wusste nur noch nicht, wie sie ihm das beibringen sollte.

Obgleich die Sonne schon untergegangen war, war es immer noch schwül. Es waren die Hundstage, die heißeste Zeit des Hochsommers, und ihr rann der Schweiß in Strömen über Stirn und Schläfen. Jetzt, wo die Läden zu waren und kein Lufthauch mehr hereinkam, war es in der stickigen Verkaufsbude kaum noch auszuhalten. Ihre Handflächen waren so feucht, dass ihr der Schlüsselbund aus den Händen glitt und zu Boden fiel. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben, und merkte plötzlich, dass sie zitterte wie Espenlaub. Was, wenn er draußen vor der Tür stand und auf sie wartete? Die Vorstellung ging ihr durch Mark und Bein. Vom Verkaufsschalter aus hatte sie ja nur sehen können, was vor der Trinkhalle war – nicht aber, was sich dahinter verbarg.

Jetzt mach aber mal halblang, an so einem Sommerabend sind doch noch genug Leute unterwegs!, suchte sie sich zu beruhigen, packte den Schlüsselbund und schloss die Tür auf, die sie aus Vorsicht seit geraumer Zeit von innen absperrte. Und dann ging alles sehr schnell. So schnell, dass es ihr fast unwirklich vorkam. Er rannte ihr förmlich die Tür ein. Stopfte ihr einen zusammengeknüllten Lappen in den Mund, warf sie zu Boden und fesselte ihr die Handgelenke auf den Rücken. »Wenn du nur einen Muckser von dir gibst, stech ich dich ab!«, zischte er ihr zu, als er den Knebel herausnahm und sie umdrehte. Er richtete ihren Oberkörper auf und hielt ihr ein Messer an die Kehle. Sie spürte den kalten Stahl an ihrer Haut und wagte kaum noch zu atmen. »Bitte, bitte, tu mir nichts!«, flehte sie, außer sich vor Panik.

»Klappe halten!«, fauchte er sie an und sie fühlte einen brennenden Schmerz, als die Dolchspitze ihre Haut aufritzte. Sie war vor Angst wie gelähmt und gewahrte mit schreckgeweiteten Augen, dass er plötzlich eine Flasche aus der Tasche zog. Das quietschende Geräusch des herausspringenden Korkens kam ihr seltsam vertraut vor.

»Sauf das aus, du Dreckshure!«, raunzte er mit gesenkter Stimme und rammte ihr grob den Flaschenhals in den Mund.

Der scharfe Geschmack von Branntwein betäubte ihre Zunge und rann ihr die Kehle herunter. Obgleich es sie noch vor Kurzem nach einem ordentlichen Schluck gelüstet hatte, sträubte sich alles in ihr gegen den Alkohol und sie hatte das panische Gefühl, der Schnaps verätze ihre Eingeweide. Ihr Magen fing an, wie wild zu rebellieren, und sie bekam keine Luft mehr. Sie konnte das krampfhafte Würgen nicht mehr länger unterdrücken und musste sich erbrechen. Er schlug ihr so heftig ins Gesicht, dass ihr Kopf gegen ihre Schulter schnellte. Bedrohlich richtete er sich vor ihr auf. In der einen Hand hielt er die halbleere Branntweinflasche, in der anderen das Messer.

»Du trinkst das jetzt aus!«, flüsterte er mit eisiger Ruhe, in seinen schmalen Augenschlitzen flackerte eine unbändige Wut. »Das Saufen hast du doch bestimmt noch nicht verlernt, du Schnapsdrossel«, murmelte er höhnisch und presste ihr die Flasche erneut an den Mund.

Sie nahm wahr, wie ihr der Alkohol die Sinne vernebelte, und leistete immer weniger Widerstand gegen die Schnapsströme, die ihr unaufhaltsam durch die Kehle rannen. Einem Ertrinkenden gleich, der keine Hoffnung mehr hat und sich den Wassermassen öffnet, ergab sie sich der brennenden Flüssigkeit und hörte auf zu schlucken.

Durch einen dichten Nebelschleier gewahrte sie, dass er eine zweite Flasche entkorkte. Als er sie ihr einflößte, hörte sie noch, wie er sagte: »So gefällt mir mein Mädchen! Kann den Hals gar nicht voll genug kriegen!« Dann verlor sie das Bewusstsein.

1. Kapitel

Montag, 22. Juli 1838

Thekla Müller mochte ihren Augen nicht trauen, als sie um sieben Uhr morgens in die Taunusanlage einbog, um wie jeden Morgen an der Trinkhalle nach dem Rechten zu sehen, und die wüsten Schmierereien an der Außenfassade gewahrte. In leuchtend roter Farbe prangten die ungelenken Schriftzüge ›Hurenapsteige‹ und ›Säuferklittsche‹ über dem Verkaufsschalter. Thekla geriet vor Zorn derart in Wallung, dass ihr der Schweiß unter dem frischgestärkten Kragen herunterlief. »Welche Drecksau hat denn das gemacht?«, fluchte sie erbost und ging energischen Schrittes auf die Tür an der Rückseite des Verkaufspavillons zu, an der sie die Trinkhallenwärterin Sussi Kesselheim bereits erwartete. Der in die Jahre gekommenen Frau rannen schwarze Tränen über die rotgeschminkten Wangen und hinterließen Schlieren auf der großporigen Haut. Obgleich die frühere Straßenprostituierte schon seit einiger Zeit nicht mehr im Geschäft war, hatte sie doch ihre alte Gewohnheit, sich aufwendig das Gesicht zu schminken, noch beibehalten. »So eine Sauerei!«, presste Sussi hervor. »Man schämt sich ja in Grund und Boden! Ich trau mich schon gar nicht mehr an den Schalter. Sind eh kaum Leute gekommen heute Morgen. Wenn die das sehen, machen ja alle einen großen Bogen um das Wasserhäuschen. Kann man ihnen auch nicht verdenken. Ich hab vorhin schon versucht, es wegzuwischen. Aber mit Wasser und Seife kommt man da nicht gegen an. Es ist wahrscheinlich Ölfarbe.«

Thekla schüttelte missmutig den Kopf. »Ich gehe gleich in die Drogerie und hole Terpentin. Damit wird man das schon wegkriegen.« Die dunkelhaarige junge Frau mit den herben Gesichtszügen warf der früheren Kollegin einen mitfühlenden Blick zu. »Tut mir leid, das mit der ›Hurenabsteige‹. Aber so sind die Leute halt, das hängt einem ewig nach, auch wenn man längst nicht mehr anschaffen geht. Das ist nun einmal so … Aber ich sage dir, wenn ich den erwische, der wo das geschrieben hat, dem hau ich die Fresse voll!« Theklas dunkle Augen funkelten zornig. »Hast du vielleicht eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«, fragte sie die blondhaarige Sussi.

Die Trinkhallenwärterin zuckte ratlos die Schultern. »Von meinen Stammkunden war das bestimmt keiner. Das sind alles anständige, hart arbeitende Leute. Von denen guckt mich keiner schief an, nur weil ich früher auf den Strich gegangen bin. Die sind ja selber nicht auf Rosen gebettet und wissen, dass einem im Leben nichts geschenkt wird. Nur die feinen Pinkel blicken auf einen herab. Der Herr Apotheker da vorne in seinem noblen Erfrischungspavillon grüßt mich noch nicht einmal, obwohl er … über längere Zeit ein Freier von mir war.« Sussi verzog angewidert die Mundwinkel. »Na ja, der hat es mir damals wohl ziemlich übel genommen, dass ich ihm eines Tages die kalte Schulter gezeigt habe, diesem Grobian. Aber der war mir einfach zu brutal mit seinen ausgefallenen Sonderwünschen. Bin auch so schon genug verdroschen worden, das muss ich mir nicht auch noch von Freiern gefallen lassen.«

»Da hast du wirklich recht gehabt!«, erwiderte Thekla prompt. »Diese Sorte kenne ich zur Genüge. Nach außen hin geben sie den Biedermann und bei uns lassen sie dann die Sau raus. Bin ich froh, dass ich mit denen nichts mehr zu schaffen habe!«

»Ich auch!«, seufzte Sussi gepresst und senkte betreten den Blick. Thekla musterte die frühere Kollegin nachdenklich. »Bist du denn eigentlich noch trocken?«, fragte sie und sah die Trinkhallenwärterin forschend an.

»Ich gebe mir alle Mühe«, gab die ehemalige Prostituierte zur Antwort und wich Theklas Blick aus.

»Ich meine, weil da draußen was von ›Säuferklitsche‹ steht …«, grummelte Thekla argwöhnisch.

»Da kann ich mir auch keinen Reim drauf machen«, erwiderte Sussi stirnrunzelnd. »Das hat bestimmt jemand aus reiner Böswilligkeit geschrieben.«

Thekla nickte, obgleich ihr gewisse Zweifel kamen und sie sich des Gefühls nicht ganz erwehren konnte, dass Sussi etwas vor ihr zurückhielt. »Wie auch immer, der Dreck kann da jedenfalls nicht stehen bleiben. Ich geh mal Terpentin holen und dann sage ich dem Fräulein Bescheid«, erklärte sie und eilte davon.

*

Wie jeden Morgen in der Früh, so begleitete Sidonie auch heute ihren Ehemann Max Wilde zur Tür. Ehe er sich auf den Weg zur Hauptwache machte, um seinen Dienst als Oberinspektor der Gendarmerie anzutreten, zog er Sidonie an sich und küsste sie innig. Es fiel ihnen schwer, die Lippen voneinander zu lösen, und Max warf Sidonie zum Abschied einen zärtlichen Blick zu. Die Dichterin stand an der Tür und blickte ihm nach, während der große, stattliche Mann die Schnurgasse entlanglief. Noch immer spürte sie seine leidenschaftlichen Küsse und sie war unsagbar glücklich. Im Mai waren sie genau ein Jahr verheiratet gewesen und Sidonie, die noch jungfräulich in die Ehe gegangen war, war immer wieder aufs Neue überwältigt davon, wie unglaublich schön die körperliche Liebe war. Weder in ihrer Dichtung noch in ihrer Fantasie hatte sie sich ausmalen können, welch intensives Glücksgefühl sie überkam, wenn Max sie in die Arme nahm – und er tat dies bei jeder Gelegenheit. Ein glückliches Lächeln breitete sich über ihr sommersprossiges Gesicht. Obwohl sie seit über einem Jahr verheiratet waren, waren sie immer noch die reinsten Turteltauben. Sidonie hatte jeden Abend Schmetterlinge im Bauch, wenn Max von der Arbeit nach Hause kam. Sie fühlte sich wundersam verjüngt und kam sich vor wie ein verliebter Backfisch. »Die Liebe hat euch jung gemacht – und schöner noch dazu!«, pflegte ihre Haushälterin Tante Tilla immer augenzwinkernd zu sagen. »Da sieht man mal wieder, wie gut es ist, sich nicht gleich dem Erstbesten an den Hals zu werfen, sondern sich aufzusparen, bis der Richtige kommt.« Tante Tilla, die selber immer unverheiratet geblieben war, neidete Sidonie ihr Glück in keinster Weise, sondern freute sich von Herzen mit ihr. Mit Max Wilde verstand sie sich von Anfang an prächtig und bemutterte den jungen Mann wie einen Sohn – und wehe dem, der es wagte, sich darüber zu mokieren, dass Sidonie 13 Jahre älter war als Max! Dem fuhr sie derart übers Maul, dass dem Lästerer Hören und Sehen verging. War es eine Frau, so warf sie ihr an den Kopf, dass sie doch bloß neidisch sei; dem männlichen Spötter hielt sie vor, dass es nicht nur das Vorrecht der Männer sei, sich etwas Junges ins Haus zu holen.

Sidonie indessen tangierte es schon lange nicht mehr, wenn die Leute über ihren Altersunterschied spöttelten. Für sie zählte nur, dass sie und Max zusammen waren, und sie genoss ihr Glück in vollen Zügen.

In jungen Jahren hatte sie sich hoffnungslos in den Dichter Hölderlin verliebt, der ihre Gefühle noch nicht einmal bemerkt hatte. Seitdem hatte sie sich ganz in sich selbst verkrochen und im Laufe der Jahre war aus ihr ein altes Mädchen geworden, das der Liebe nur in seiner Dichtung frönte. Wenn es auch den einen oder anderen gegeben hatte, der ihr den Hof machte, so war Sidonie doch nie darauf eingegangen. Ihr alter Jugendfreund Johann Konrad Friedrich hatte sogar um ihre Hand angehalten, doch sie hatte ihm, wie allen anderen auch, einen Korb gegeben. Erst als sie im Zuge ihrer Ermittlungen im Fall von Breuberg dem jungen Inspektor Wilde begegnet war, stand sie lichterloh in Flammen. Niemals hätte sie zu hoffen gewagt, dass der gutaussehende junge Polizist ihre Gefühle erwiderte. Als es sich jedoch erwies, dass Max Wilde von der zierlichen Frau mit dem leuchtend roten Haar und den mädchenhaften Gesichtszügen gleichermaßen fasziniert war, konnte es Sidonie kaum fassen, und es erschien ihr wie ein Wunder, dass ausgerechnet sie, die sich selbst immer für ein hässliches Entlein gehalten hatte, das Herz des Inspektors erobert hatte. Sie sprach mit ihm über ihre Scheu vor Männern und offenbarte ihm auch ihre Selbstzweifel, die Max mit der Bemerkung vom Tisch fegte, für ihn sei sie die schönste Frau der Welt. Zärtlich nannte er Sidonie ›mein Mädchen‹, und in der Öffentlichkeit legte er stolz den Arm um sie.

Sidonie seufzte. Nie zuvor war es ihr so gut gegangen und manchmal war ihr das fast schon ein wenig unheimlich. Ihr Kriminalroman ›Madame empfängt den Tod‹, den sie in Anlehnung an den Fall von Breuberg verfasst hatte, bescherte ihr einen gewissen Wohlstand und ein sorgenfreies Leben. Das Schreiben hatte Sidonie nicht aufgegeben, obgleich sie, seitdem sie mit Max zusammen war, keine Liebesgedichte mehr schrieb, sondern nur noch Kriminalromane und Schauergeschichten. Nun, da es ihr beschieden war, in Bezug auf die Liebe aus dem Vollen zu schöpfen, vermied sie es, darüber zu schreiben. Sie wollte nicht den Eindruck entstehen lassen, sie breite ihr privates Liebesglück vor der Öffentlichkeit aus. Außerdem war es all die Jahre auch ihre unerfüllte Sehnsucht gewesen, die sie angetrieben hatte, Liebesgedichte zu schreiben.

Mit ihrem Honorar unterstützte Sidonie die Errichtung von Sodawasserhäuschen in den Wohngegenden der arbeitenden Bevölkerung, die von Sidonies Freundin Thekla Müller mit regem Engagement betrieben wurden. Inzwischen besaßen Sidonie und Thekla fünf Mineralwasserbuden, die wegen ihrer günstigen Preise von den armen Leuten sehr geschätzt wurden.

Die ehemalige Prostituierte Thekla Müller, die früher selber alkoholabhängig war, bezweckte mit den Sodawasserhäuschen auch, die Menschen aus den Elendsvierteln vom Branntwein abzubringen, worin sie von Sidonie volle Unterstützung erfuhr.

Noch ganz in Gedanken bei Max, wollte Sidonie gerade die Tür schließen, um sich hoch in ihr Arbeitszimmer zu begeben, als sie die Stimme Theklas aufschrecken ließ, die von der Sandgasse her hektisch auf sie zu eilte.

Atemlos berichtete sie Sidonie von den hässlichen Schmierereien auf dem Sodawasserhäuschen in der Taunusanlage. Sidonie hörte ihr mit wachsender Bestürzung zu. »Komm erst mal rein und setz dich«, sagte sie mit Blick auf Theklas erhitztes, schweißüberströmtes Gesicht und führte die Freundin in die Küche, um ihr ein Glas Wasser einzuschenken.

Nachdem auch sie einen Becher heruntergestürzt hatte, weil ihr Mund vor Aufregung ganz trocken war, stieß sie vernehmlich die Luft aus. »Da steckt doch bestimmt dieser Pillendreher dahinter«, murmelte sie aufgebracht. »Dem passt es halt nicht, dass seine vornehme Erfrischungshalle nicht die einzige in der Taunusanlage ist und dass die einfachen Leute, die sich sein überteuertes Gesöff nicht leisten können, der Sussi förmlich die Bude einrennen. Ständig schreibt er Eingaben an den Magistrat, von wegen, unsere lärmende Kundschaft störe sein Geschäft und das ungepflegte Erscheinungsbild gewisser Subjekte, die sich an unserer Trinkhalle tummelten, halte ihm die Kunden fern. Wie auch immer, bisher ist er damit jedenfalls nicht durchgekommen und da versucht er es inzwischen vielleicht mit härteren Bandagen.« Sidonies grüne Augen funkelten wütend. »Ich werde gleich nachher auf die Polizeiwache gehen und Anzeige gegen Unbekannt erstatten. Zuerst will ich aber noch mit Sussi reden und mir das Geschmiere genauer anschauen.«

*

Als sich Sidonie und Thekla dem Wasserhäuschen näherten, sahen sie zu ihrem Erstaunen einen Mann in Polizeiuniform am Schalter stehen, der sich mit Sussi unterhielt und dabei erregt am Gestikulieren war. Die Trinkhallenwärterin war in Tränen aufgelöst.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Sidonie scharf und blickte den Polizisten fragend an.

Der Mann, der ihr den Rücken zugekehrt hatte, zuckte zusammen und drehte sich zu ihr um. Als er die Ehefrau seines Vorgesetzten gewahrte, bemühte er sich um ein verbindliches Lächeln, schlug die Hacken zusammen und stellte sich höflich vor: »Gestatten, meine Dame, Obergendarm Haider mein Name und ich bin aufgrund einer Anzeige hier vorstellig geworden!«

Sidonie zog irritiert die Brauen in die Höhe. »Was denn für eine Anzeige?«, fragte sie verwundert.

Obergendarm Haider zog mit seinen weiß behandschuhten Händen ein zusammengefaltetes Schriftstück aus seiner Uniformjacke, warf sich in die Brust und verlas in amtlichem Tonfall: »Herr Rudolf Schwab, Wirt des Gasthauses ›Zum Taunustor‹, Frau Adelheid Witte, Inhaberin des Lebensmittelladens am Taunustor und Herr Apotheker Willibald Künzel, Betreiber des Erfrischungspavillons an der Taunusanlage, möchten hiermit der Polizeibehörde zur Anzeige bringen, dass die Trinkhallenwärterin Susanne Kesselheim an der benachbarten Verkaufsbude unerlaubt Flaschenbier an die Arbeiter des Taunusbahnhofs verkauft. Desgleichen haben die oben genannten Herrschaften beobachtet, dass die Trinkhallenwärterin die Verkaufsbude in den Abendstunden regelmäßig zu Prostitutionszwecken nutzt.« Der Polizeibeamte mit den adretten kurzgeschnittenen Haaren und dem gepflegten Oberlippenbart fixierte Sussi mit stechendem Blick. »Trifft das zu?«, fragte er nachdrücklich. Die Trinkhallenwärterin geriet völlig außer sich. Sie zitterte am ganzen Körper. »Was für eine Gemeinheit!«, brach es aus ihr heraus und sie presste sich alarmiert die Hand an den Mund. »Ich mach das nicht mehr länger mit!«, wimmerte sie und sank Sidonie in die Arme. Sie war derart verzweifelt, dass sie sich wie eine Ertrinkende an ihr festklammerte. Sidonie hatte den Eindruck, dass sie in arger Bedrängnis war – und eine geradezu panische Angst vor dem Polizisten hatte. Wahrscheinlich hatte sie in ihrer Vergangenheit nicht gerade die besten Erfahrungen mit den Gesetzeshütern gemacht. »Muss das denn sein, dass Ihr das Verhör gleich an Ort und Stelle durchführt?«, fragte sie mit vorwurfsvollem Unterton und musterte den Obergendarmen unwillig. In seiner schmucken Uniform, den weißen Glacéhandschuhen und den auf Hochglanz polierten Stiefeln sah er wie aus dem Ei gepellt aus – fast schon ein bisschen zu geleckt, dachte Sidonie und musste sich eingestehen, dass ihr der aalglatte Polizeibeamte wenig sympathisch war. Zudem war es augenscheinlich, dass sich der bejahrte Mann das Kopfhaar und den Schnurrbart färbte. Das pechschwarze, pomadisierte Haar und das kurzgeschnittene Oberlippenbärtchen wiesen kein einziges graues Haar auf, was den geckenhaften Gesamteindruck des Mannes noch verstärkte.

Haider ließ sich von Sidonies gereiztem Tonfall jedoch nicht aus der Ruhe bringen. »Wo denkt Ihr hin, Gnädigste? Ich wollte mir lediglich einen ersten Eindruck verschaffen«, entgegnete er mit affektiertem Lächeln und entblößte dabei eine Reihe makelloser, strahlend weißer Zähne, ganz so, als würde er Werbung für ein Zahnputzpulver machen. »Die Dame erhält eine ordentliche Vorladung, wie es sich gehört«, erklärte er mit einer Spur von Häme und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Trinkhallenwärterin, die immer noch schluchzend in Sidonies Armen hing. Er zog erneut ein amtliches Schreiben aus seiner Uniformjacke und hielt es Sussi mit spitzen Fingern unter die Nase. »Am kommenden Montag, dem 29. Juli, hat Sie sich um acht Uhr morgens auf der Hauptwache einzufinden. Das Verhör leitet Herr Untersuchungsrichter Arnold.« Er schlug die Hacken zusammen und salutierte. »Ich darf den Damen einen guten Tag wünschen!«, verabschiedete sich der Obergendarm und wandte sich zum Gehen.

»Moment mal!«, hielt ihn Sidonie zurück und wies auf die Fassadenschmierereien über dem Verkaufsschalter der Trinkhalle. »Das dürfte Euch doch hoffentlich nicht entgangen sein?«, erkundigte sie sich in schneidendem Tonfall.

»Selbstverständlich nicht – das ist ja kaum zu übersehen«, entgegnete Haider mit hochgezogenen Brauen. »Und das kommt ja auch nicht ganz von ungefähr, wenn man an die Bezichtigungen in der Anzeige denkt …«

»Ach – wollt Ihr mir damit etwa zu verstehen geben, dass die etwaigen Entgleisungen, derer man unsere Angestellte bezichtigt, die im Übrigen noch längst nicht erwiesen sind und durchaus nichts anderes als üble Nachrede sein könnten, zu derartigen Verwüstungen und Verunglimpfungen berechtigen?«

»Durchaus nicht – aber das steht ja doch auf einem ganz anderen Blatt, ich meine, das eine muss ja mit dem anderen nichts zu tun haben«, suchte er abzuwiegeln.

»Das sehe ich anders!«, erwiderte Sidonie eisig. »Und ich halte es keineswegs für abwegig, dass die gleichen aufrechten Geschäftsleute, die meine Mitarbeiterin bei der Polizeibehörde angezeigt haben, auch für diese Schmierereien verantwortlich sind!«

»Was indessen nicht bewiesen ist!«, konstatierte Haider, der Sidonie gleichfalls nicht besonders gewogen zu sein schien, schnippisch – ruderte aber sogleich zurück, als ihm die eigene Schnoddrigkeit bewusst wurde. »Ich kann Eure … Mutmaßungen jedoch gerne zu Protokoll nehmen, wenn Ihr das wünscht. Ihr braucht nur zur Hauptwache zu kommen, ich stehe der Dame jederzeit zur Verfügung«, knarzte er devot und deutete eine Verbeugung an.

»Darum möchte ich auch sehr bitten!«, erwiderte Sidonie nachdrücklich. »Ich werde Euch gleich, nachdem wir den Sachverhalt mit unserer Trinkhallenwärterin geklärt haben, auf der Wache aufsuchen!«

»Stets zu Diensten, die Dame!«, verkündete der Obergendarm schneidig und schlug den Weg über die Taunusanlage ein, wo er fast schon im Stechschritt entlangstolzierte. Die drei Frauen blickten spöttisch hinter ihm her. »Was für ein Geck!«, murmelte Sidonie und schlug vor, nach drinnen zu gehen, um in Ruhe über alles zu sprechen. Mit hängenden Schultern ging Sussi voran und bot dem Fräulein, wie Sidonie auch nach ihrer Heirat noch von den meisten genannt wurde, an, sich auf dem Hocker hinter dem Verkaufstresen niederzulassen. Doch Sidonie lehnte dankend ab und überließ den Platz der Trinkhallenwärterin, die immer noch vor Aufregung bebte. Thekla reichte Sussi ein Taschentuch und musterte die frühere Kollegin finster. Sussi schnäuzte sich vernehmlich die Nase und trocknete sich die Augen ab. Ihre Lider waren vom Weinen geschwollen und gerötet, die dunkle Schminke war verschmiert und in die Augenränder gelaufen. Sie wirkte mitgenommen und ungepflegt. »Wasch dir erst mal das Gesicht!«, sagte Thekla barsch. »Mit so einer verschmierten Visage kannst du doch keine Leute bedienen!«

»Mit was denn?«, fragte Sussi zerknirscht.

»Na, Wasser gibt’s hier doch genug!«, knurrte Thekla, eilte zu einem der hohen Eisenblechbehälter an der Wandseite, ergriff die Schöpfkelle, die obenauf lag, klappte den Deckel hoch und füllte die Kelle mit Mineralwasser. »Halt den Putzeimer drunter, dann gieß ich es dir in die Hände.«

Nachdem Sussi sich das Gesicht gewaschen und abgetrocknet hatte, ließ sie sich seufzend auf dem Hocker nieder und blickte Sidonie und Thekla, die angespannt vor ihr standen, bekümmert an.

Sidonie stieß vernehmlich die Luft aus. »Sussi«, sagte sie eindringlich, »du musst uns jetzt bitte die Wahrheit sagen. Stimmt das, was in der Anzeige steht?« Ihre Stimme zitterte und ihr schwante nichts Gutes. Trotz all ihrer Tränen und dem ganzen Aufruhr wirkte die Trinkhallenwärterin doch irgendwie auch schuldbewusst. Wären die Vorwürfe gegen sie tatsächlich völlig an den Haaren herbeigezogen, hätte sie empörter – und vor allem souveräner – darauf reagiert.

Sussi senkte beschämt den Blick. »Ja, es stimmt«, murmelte sie mit tonloser Stimme. »Ich weiß ja, dass es falsch war …, und es tut mir auch so leid!«, stieß sie hervor und barg ihr Gesicht in den Händen.

Obgleich Sidonie es geahnt hatte, war sie doch von Sussis Geständnis wie vor den Kopf gestoßen und ihr fehlten die Worte. Auch Thekla hatte es kurzzeitig die Sprache verschlagen. Sie schüttelte nur fassungslos den Kopf. Für geraume Zeit herrschte in dem kleinen Verkaufspavillon nur bleierne Stille, die durchsetzt war von Sussis verzweifeltem Schluchzen. Mit einem Mal aber packte Thekla die Schöpfkelle und schmetterte sie wütend auf den Boden. »Wie konntest du uns das nur antun!«, schrie sie außer sich vor Wut. Ihr Gesicht war ganz blass geworden und ihre Züge bebten. »Ich habe dich von der Gasse geholt und mich beim Fräulein für dich verwendet! Ist das der Dank dafür, du Miststück? Du hast unser Vertrauen mit Füßen getreten, verkaufst Bier unter der Hand und machst hier mit den Freiern rum, du Kanaille! Wegen dir können wir nun den Laden dichtmachen, wie stehen wir denn jetzt da?«

Sussi blickte aus tränenverschleierten Augen zu ihr auf und wimmerte: »Es tut mir doch so leid …«

»Das kannst du dir sonstwo hinstecken, du Verräterin«, keifte Thekla aufgebracht. »Da hat sie mir vorhin auch noch weismachen wollen, dass sie trocken ist, und dabei säuft sie abends mit den Kerlen und lässt sie auch noch drüberrutschen!«

Sidonie legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Ich verstehe ja, dass du wütend bist, und auch ich bin sehr enttäuscht. Aber das Geschrei bringt doch auch nichts.« Sie fixierte Sussi, die wie ein Häufchen Elend auf dem Hocker saß und haltlos weinte, ungnädig. »Hör gefälligst auf zu heulen und nimm dich zusammen!«, fuhr sie sie an. »Wie lange machst du das denn schon, das mit dem Bierverkaufen und Anschaffen?«, fragte sie scharf.

»Erst seit ein paar Wochen«, presste Sussi hervor und wich schuldbewusst ihrem Blick aus. »Vorher war noch alles in Ordnung und ich wär nie auf die Idee gekommen, wieder rückfällig zu werden. Im Gegenteil, ich war … unheimlich froh darüber, nicht mehr anschaffen gehen zu müssen.«

»Und wieso hast du es dann trotzdem wieder getan?«, hakte die Dichterin nach und ließ Sussi nicht aus den Augen.

»Weil … weil ich Schulden habe und … ganz dringend Geld brauche!«, brach es aus der Trinkhallenwärterin heraus und sie schlug sich vor Verzweiflung die Hände an den Kopf.

Sidonie und Thekla wechselten betroffene Blicke. »Warum hast du denn nichts gesagt?«, fragte Sidonie und runzelte die Stirn. »Ich hätte dir doch geholfen, wenn ich das gewusst hätte …«

»Bei wem hast du denn Schulden?«, wollte Thekla wissen und fixierte Sussi argwöhnisch.

»Bei verschiedenen Leuten«, entgegnete diese ausweichend und wurde sichtlich nervöser.

»Kann es sein, dass da ein früherer Lude dahintersteckt, der bei dir die Hand aufhält?«, drang Thekla, der sämtliche Abgründe des horizontalen Gewerbes hinlänglich bekannt waren, weiter in sie.

»Wie kommst du denn da drauf?«, rief Sussi entrüstet. »Ich hatte doch schon seit Jahren keinen Loddel mehr, seit der Gustav tot ist …«

»Na, du musst es ja wissen«, erwiderte Thekla gereizt. »Und ich weiß, dass du uns betrogen und belogen hast, und das Schlimmste ist: Du bist auch jetzt nicht ehrlich!« Die dunkelhaarige Frau war den Tränen nahe. »Geh mir aus den Augen und lass dich hier bloß nicht mehr blicken, du Falschgeld!«, schrie sie außer sich, sprang zur Tür und riss sie auf. »Raus mit dir, ich will dich hier nicht mehr sehen, und wenn du mir mal irgendwo über den Weg läufst, wechsle ich die Straßenseite!«

Sussi erhob sich und schlurfte mit hängenden Schultern zur Tür. »Bitte verzeiht mir!«, flüsterte sie beschämt und wankte hinaus. Sidonie, die die ganze Zeit geschwiegen hatte, hätte sie am liebsten zurückgehalten. Denn trotz ihrer Verfehlungen tat ihr die in die Jahre gekommene ehemalige Prostituierte leid. Doch sie konnte auch Theklas Erbitterung verstehen und mochte ihr nicht in den Rücken fallen. »Was nun?«, fragte sie bedrückt. »Ich meine, jetzt haben wir für die Trinkhalle keine Wärterin mehr.«

»Dann müssen wir halt solange schließen, bis wir eine andere gefunden haben«, gab Thekla zur Antwort. »So eine Kanaille wie die können wir jedenfalls nicht gebrauchen!«

Sidonie seufzte. »Das ist wohl wahr. – Jetzt entfernen wir erst mal die Schmähungen auf der Fassade und dann sehen wir weiter.« Sie legte aufmunternd den Arm um Thekla, die immer noch völlig verstört war. »Kopf hoch, Mädchen, das kann immer mal vorkommen, dass man von Menschen enttäuscht wird. Du hast dir jedenfalls nichts vorzuwerfen, du hast es doch nur gut gemeint mit der Sussi.«

»Und das hab ich jetzt davon!«, murmelte Thekla bitter. »Ich habe ihr vertraut, aber sie mir nicht. Sonst hätte sie mir doch gesagt, dass sie so in der Bredouille ist, und dann hätte es gar nicht soweit kommen brauchen.«

»Sie hat sich wahrscheinlich geschämt«, erwiderte Sidonie nachdenklich und starrte grübelnd vor sich hin, »oder sie hatte … Angst. Sie hat vorhin auf mich einen überaus verängstigten Eindruck gemacht, was sonst eigentlich gar nicht ihre Art ist. Die Frage ist nur, wovor hat sie Angst – oder vor wem?«

»Wenn sie mit uns nicht offen darüber spricht, ist sie selber schuld«, seufzte Thekla resigniert und wandte sich zur Tür. »Ich gehe mal Terpentin holen.«

Nachdem sie gegangen war, ließ sich Sidonie auf den Hocker sinken und hing ihren Gedanken nach. Als sie an die selbstgerechten Ladeninhaber dachte, die Sussi angezeigt hatten, schwoll ihr regelrecht der Kamm. Für Sidonie stand es außer Zweifel, dass die feinen Herrschaften auch für die Fassadenschmierereien verantwortlich waren, und sie hätte sich die drei am liebsten einmal vorgeknöpft. Doch Sussis Bekenntnis machte das zunichte. Jetzt, wo es sich erwiesen hatte, dass die Bezichtigungen zutrafen, konnte sie ihnen ja schwerlich die Hölle heißmachen. Sie hatten eindeutig Oberwasser – momentan zumindest. Klein beigeben mochte sie deswegen aber auch nicht, in jedem Fall würde sie nachher Anzeige gegen Unbekannt erstatten – und bei dieser Gelegenheit ihrem Max einen Besuch abstatten, um mit ihm über alles zu reden.

»Können wir eine Limo haben?«, erklang mit einem Mal eine Kinderstimme durch den Verkaufsschalter zu ihr herein und riss Sidonie aus ihren Gedanken. Sie musste sich weit über den Tresen beugen, um die drei Gassenkinder ausmachen zu können, die aus großen, glänzenden Kinderaugen erwartungsvoll zu ihr aufschauten.

»Du bist ja gar nicht die Sussi! Wer bist du denn?«, fragte ein kleines, etwa vierjähriges Mädchen in einem abgetragenen, fadenscheinigen Sommerkleidchen und musterte Sidonie erstaunt.

»Ich bin die Sidonie«, erklärte die Dichterin lächelnd und fragte die Kinder nach ihrem Begehr.

»Eine Limo mit Waldmeistergeschmack«, sagte ein etwas größerer Junge mit Blick auf die Kupfermünzen, die er in seiner Handfläche hielt, und leckte sich über die Lippen.

»Ihr habt doch bestimmt großen Durst, es ist ja auch schon wieder ganz schön heiß«, erwiderte Sidonie und beäugte die Kinder, die allesamt barfuß waren, verschmitzt. Armeleutekinder trugen im Sommer keine Schuhe, um das einzige Paar, das sie hatten, für die kalte Jahreszeit zu schonen, wusste sie nur zu gut und fragte die beiden anderen Kinder, was sie trinken wollten.

Das kleine Mädchen strahlte. »Ich hätt gern eine Himbeerbrause«, sagte es verschämt.

»Ich auch!«, rief der kleinere Junge an ihrer Seite. »Ich hab nämlich ganz großen Durst gekriegt vom vielen Kehren …«

»Nix da – das Geld reicht nur für eine!«, unterbrach ihn der Ältere streng, »den Rest müssen wir der Mama geben, damit sie Brot kaufen kann.«

»Habt ihr euch das verdient?«, erkundigte sich Sidonie bei den Kindern.

»Ja, wir haben in der Schlesingergasse bei Leuten die Höfe gekehrt, weil das da immer so staubig ist von den Bauarbeiten hier«, erklärte der größere Junge stolz, »und dafür haben wir fünf Kreuzer gekriegt.«

»Wer so schwer arbeitet, hat sich eine Erfrischung verdient!« Sidonie kehrte den Kindern den Rücken zu, nahm drei Gläser aus dem Wandregal, ergriff die beiden Flaschen mit dem Himbeer- und dem Waldmeistersirup und gab einen ordentlichen Schuss von dem dickflüssigen, leuchtend grünen und tiefroten Inhalt in die Trinkgläser, ehe sie diese mit Mineralwasser auffüllte und den Kindern über den Tresen reichte. Als der größere Knabe daraufhin protestieren wollte, ließ sie ihn wissen, dass sie eingeladen seien. Die Kinder bedankten sich überglücklich und tranken ihre Gläser in wenigen Zügen leer.

»Wo ist denn die Sussi?«, wollte das kleine Mädchen wissen und blickte Sidonie fragend an.

»Die hat heute frei«, erklärte die Dichterin lächelnd.

»Und kommt sie morgen wieder?«, fragte die Kleine mit großen Augen, »sie schenkt uns nämlich manchmal ein Gutzien«, fügte sie treuherzig hinzu.

Sidonie war ganz verzaubert von ihrem Liebreiz. »Ich denke schon«, antwortete sie prompt und war selbst etwas überrascht von der eigenen Antwort. Ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, kam auch schon die nächste Frage. »Was sind denn das für Buchstaben?«, erkundigte sich der kleine Junge und deutete auf die roten Schriftzüge über dem Verkaufsschalter. »Was heißt ’n das?«

Sidonie sog tief die Luft ein und kreuzte unterm Tresen Mittel- und Zeigefinger, als sie frohgemut entgegnete: »Das heißt ›Herzlich willkommen‹!«

*

Nachdem Obergendarm Haider Sidonies Anzeige aufgenommen hatte, verlas er sie noch einmal und legte sie ihr zur Unterschrift vor. Während die Dichterin ihren Namen daruntersetzte, räusperte er sich und fragte höflich, ob er ihr einen Rat geben dürfe. Sidonie blickte den Beamten hinter seinem Schreibtisch, der in seiner Ordnung ähnlich akkurat anmutete wie Haiders Erscheinungsbild, verwundert an und nickte verhalten.

»Wenn Ihr Eure Lizenz für die Erfrischungshalle behalten wollt, solltet Ihr Euch aber unbedingt von Eurer Trinkhallenwärterin trennen«, warnte er eindringlich. »Lasst den Pavillon neu streichen und nehmt Euch eine adrette junge Verkäuferin, die unbescholten ist und einen anständigen Lebenswandel führt. Das wird Eurem Leumund und dem Gesamteindruck der Erfrischungshalle wesentlich zuträglicher sein als eine ehemalige Hure hinterm Verkaufsschalter, der man ihr lasterhaftes Gewerbe immer noch allzu deutlich ansieht.«

Sidonie sog vernehmlich die Luft ein und spürte einen Anflug von Verärgerung in sich aufsteigen. »Vielen Dank für Euren wohlgemeinten Rat – ich werde darüber nachdenken«, beschied sie den Beamten kühl, erhob sich von ihrem Stuhl und verabschiedete sich förmlich. Sie konnte die selbstverliebte Miene dieses aalglatten Biedermanns nicht mehr länger ertragen. Aus Rücksicht auf Max mochte sie es jedoch nicht zu einer Konfrontation kommen lassen und zog es daher vor zu gehen.

Als sie wenig später an die Tür von Max Wildes Amtsstube klopfte, nahm sie wahr, dass ihre Hand immer noch vor innerer Erregung zitterte.

Der Oberinspektor war bereits über die unerfreulichen Neuigkeiten im Bilde und hatte schon mit Sidonies Besuch gerechnet. Er eilte ihr mit offenen Armen entgegen. »Es tut mir leid, mein Mädchen, dass du heute Morgen schon so einen Verdruss hattest!«, sagte er zerknirscht und gab seiner Frau einen herzhaften Kuss.

Sidonie drückte ihn zärtlich an sich. »Mir auch, mein Liebster«, seufzte sie und ließ sich erschöpft auf den angebotenen Stuhl sinken. »Über eine Stunde haben Thekla und ich gebraucht, um das Geschmiere an der Außenfassade wegzukriegen – und trotzdem sieht es noch aus wie Sau. Wir werden die Seite neu streichen müssen. Und dann noch diese verdammte Anzeige – ich bin bedient für heute!«

»Was sagt denn die Trinkhallenwärterin dazu?«, fragte Max mit ernster Miene.

Sidonie stöhnte auf. »Sie hat es zugegeben!«

Der Oberinspektor schlug sich alarmiert die Hand an die Stirn. »Das gibt’s doch nicht!«, rief er empört. »Du hast dieses Weibsbild doch hoffentlich umgehend vor die Tür gesetzt?«

Sidonie nickte resigniert. »Ja, das habe ich«, murmelte sie unbehaglich. »Aber trotzdem habe ich eben bei Obergendarm Haider wegen der Fassadenschmierereien Anzeige gegen Unbekannt erstattet.«

»Das ist ja auch dein gutes Recht«, bekräftigte Wilde nachdenklich und hielt kurz inne, »obgleich es sich nicht einfach gestalten wird, den Schuldigen zu finden«, fügte er vorsichtig hinzu.

Sidonie schnaubte entrüstet. »Es liegt doch auf der Hand, wer das war!«

»Solange du das nicht beweisen kannst, ist es nicht mehr als ein Verdacht. Das ist leider so, meine Liebe.« Max zuckte bedauernd die Achseln und streichelte Sidonies Hand. »Lass den Kopf nicht hängen, mein Herz. Wenn die Fassade neu gestrichen ist und du eine neue, verlässlichere Trinkhallenwärterin eingestellt hast, wird schon wieder Gras über die Sache wachsen, glaube mir«, sagte er mit aufmunterndem Lächeln.

Sidonie lachte trocken auf. »Den gleichen Rat hat mir eben dieser Vorzeigepolizist Haider auch gegeben!«, erwiderte sie und rollte mit den Augen.

»Womit er ja nicht ganz falsch liegt, wie du zugeben musst, auch wenn dir das bestimmt nicht leichtfällt!«, erklärte er mit wohlwollendem Spott und zwinkerte Sidonie zu. »Ich kenne doch mein eigensinniges Mädchen!«

»Dann solltest du auch wissen, dass ich auf den Rat eines solchen Opportunisten gut verzichten kann!«, erklärte die Dichterin verächtlich.

Max Wilde runzelte irritiert die Stirn. »Obergendarm Haider mag vielleicht ein wenig manieriert wirken, aber er ist ein tadelloser Polizeibeamter, der seiner Arbeit gewissenhaft nachgeht. Er ist einer meiner besten Leute und ich kann nichts Nachteiliges über ihn sagen.«

Sidonie musste unwillkürlich grinsen. In Bezug auf den Eigensinn stand ihr Max in nichts nach. Das wusste sie nur zu gut – und ein ewiger Ja-Sager hätte ihr überdies auch gar nicht behagt. »Es ist ja schon fast rührend, wie schützend du dich vor deine Leute stellst, aber ich kann diesen Kerl nicht ausstehen!«, mokierte sich Sidonie. »Und ich muss meinerseits auch unsere Trinkhallenwärterin in Schutz nehmen. Sussi war bei unserer Kundschaft sehr beliebt, und der Umsatz, den wir im vergangenen Jahr machten, hätte kaum besser sein können – wenn man von ihren jüngsten Entgleisungen einmal absieht. Und ja, ich habe Sussi vor die Tür gesetzt, aber es ist mir weiß Gott nicht leicht gefallen, denn im Grunde genommen ist sie eine treue Seele und ich hatte sie ins Herz geschlossen.« Sidonie warf Max einen trotzigen Blick zu und ihre grünen Augen funkelten angriffslustig. Auch wenn sie sich schon manches Mal wegen Kleinigkeiten gekabbelt hatten, so liebte doch Max diesen streitbaren Blick seiner Frau über alles – nicht zuletzt wegen ihrer unerschütterlichen Eigenwilligkeit hatte er sich seinerzeit in die zierliche Frau mit den leuchtend roten Haaren verliebt. Ein braves Frauchen, das immer klein beigab, hätte ihn nur allzu rasch gelangweilt. Außerdem beeindruckte es ihn immer wieder, dass Sidonie bei allem, was sie tat, mit ganzem Herzen bei der Sache war. Egal, ob es das Schreiben anbetraf, ihr Engagement in Bezug auf die Mineralwasserbuden oder ihre sonstigen Aktivitäten, Sidonie gab immer ihr Bestes – und ihm, das machte ihn zum glücklichsten Mann auf der Welt, gab sie alles. Noch nie war Max Wilde einer leidenschaftlicheren Frau begegnet und er fragte sich bisweilen, wie er es all die Jahre ohne ihre herzerwärmende Liebe überhaupt ausgehalten hatte.

Sidonie hatte ihm einmal anvertraut, dass ihr der Leitspruch des großen Dichters Hölderlin, der Sidonies Jugendliebe war, bereits in jungen Jahren zum Lebensmotto geworden war, und dieser Maxime war Sidonie ein Leben lang treu geblieben. ›Wer nur mit ganzer Seele wirkt, irrt nie!‹ Dennoch hatte er, der als Polizeiinspektor sehr wohl wusste, wie viel Böses es auf der Welt gab, immer Angst, dass Sidonie mit ihrer Offenheit und Großherzigkeit ins offene Messer laufen könnte. Er konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, dass die Gutmütigkeit dieser wunderbaren Frau ausgenutzt wurde. Nichts anderes hatte diese von Sidonie so hochgelobte Sussi doch getan – und das machte ihn ganz schön wütend. »Eine treue Seele – dass ich nicht lache!«, brach es höhnisch aus ihm heraus. »Das Weibsstück hat doch dein Vertrauen mit Füßen getreten, indem sie unter der Hand Bier verkauft hat, um sich ein Zubrot zu verdienen, und damit nicht genug, hat sie die Erfrischungshalle auch noch als Absteige benutzt und dort Freier abgefertigt. So etwas Niederträchtiges wie die würde ich mit dem Arsch nicht mehr angucken!«, ereiferte sich der Oberinspektor zornig. Als er jedoch gewahrte, wie sehr seine Worte Sidonie zusetzten, erhob er sich hinter seinem Schreibtisch, eilte zu ihr hin und legte liebevoll seinen Arm um sie. »Es ehrt dich ja, meine Liebe, dass du in deinen Verkaufspavillons ehemalige Prostituierte beschäftigst und ihnen dadurch die Chance gibst, ein anständiges Leben zu führen und ihren Körper nicht mehr länger feilbieten zu müssen. Aber bei manchen dieser Frauen ist das vergebliche Liebesmüh. Sie haben eine solche Chance weder verdient noch wissen sie sie zu schätzen, wie das bedauerlicherweise bei Sussi Kesselheim der Fall ist. Diese Art Frauen ist ein Leben lang umgeben von Brutalität und Niedertracht – und manchmal färbt so was halt ab. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche, ich habe von Berufs wegen schon genug mit diesen Bordsteinschwalben zu tun gehabt. Die lügen, stehlen und betrügen, was das Zeug hält. Das sind die reinsten Hyänen, und wenn’s um Männer oder Geld geht, stechen die sich gegenseitig die Augen aus. Für so ein durchtriebenes Luder wie die Kesselheim ist doch ein so gutherziger Mensch wie du ein willkommenes Opfer …!«

»Von einem Polizeioberinspektor Wilde kann man auch keine andere Auffassung erwarten«, unterbrach Sidonie seinen Redeschwall. »Aber von dem Mann, den ich geheiratet habe, hätte ich mir schon gewünscht, dass er nicht in so vorgefertigten Bahnen denkt.« Sidonie schüttelte verstimmt seinen Arm ab und verabschiedete sich von Max mit einem kühlen Kuss.

»Bist du jetzt beleidigt?«, fragte der Oberinspektor mit belegter Stimme.

Sidonie, die bereits an der Tür war, wandte sich zu ihm um. Ein mildes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Schon«, gab sie zu, »aber ich liebe dich trotzdem!«

*