Elvis und die Tote im Amischlitten - Ursula Neeb - E-Book
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Elvis und die Tote im Amischlitten E-Book

Ursula Neeb

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Bad Nauheim 1958: Die beschauliche Kurstadt ist völlig aus dem Häuschen, als Elvis Presley in der Villa Grunewald Einzug hält. Nur Elfriede Kunz, die Wirtin der Gaststätte „Rheingold“ bleibt auf dem Teppich. Sie hat in ihrem bewegten Leben schon viele berühmte Persönlichkeiten in ihrer Heimatstadt kommen und gehen sehen. Als jedoch unmittelbar vor ihrer Kneipe eine tote Frau in einem Cadillac gefunden wird, beginnt Elfi, sehr zum Unmut von Kriminalkommissar Freddy Graf, auf eigene Faust zu ermitteln.

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Seitenzahl: 386

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Ursula Neeb

Elvis und die Tote im Amischlitten

Kriminalroman

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Martin Debus / stock.adobe.com; Innenklappen: Fotograf: Horst Schüßler, Originalfotos Beatrix van Ooyen/Initiative Elvis in Bad Nauheim

ISBN 978-3-8392-7882-6

Widmung

Meinen Großeltern Karl und Gertrud Neeb in Liebe gewidmet. Gleichermaßen meinem Freund Gerold Hens, der mir geholfen hat, die Elvis-Idee auszuspinnen, und meiner geliebten Twiggy, die am 13. Januar 2023 in den Hundehimmel gegangen ist.

Zitat

»Take my hand

Take my whole life, too

For I can’t help falling in love with you

For I can’t help falling in love with you.«

(Strophe aus dem Lied »Can’t Help Falling in Love«, der letzte Song, den Elvis Presley am 26.06.1977 in seinem letzten Konzert in der Market Square Arena in Indianapolis gesungen hat.)

Prolog

»I Put a Spell on You«

(Screamin’ Jay Hawkins, 1956)

Für ihn war sie die schönste Frau, die ihm jemals begegnet war – meineRosenkönigin, wie er sie insgeheim zu nennen pflegte. Ihr Anblick, damals, auf dem Steinfurther Rosenfest, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, auf ihrem über und über mit Duftrosen geschmückten Festwagen, die Rosenkrone auf dem hochgesteckten rotgoldenen Haar, hatte ihn so überwältigt, dass ihm buchstäblich die Luft weggeblieben war. Seitdem liebte und vergötterte er sie – aus der Ferne natürlich, auf seine scheue, zurückhaltende Art.

Hatte alles über sie herausgefunden, was auf irgendeine Weise von Bedeutung war, und war ihr im Laufe der Zeit immer nähergekommen, unmerklich, versteht sich, zumindest für sie, denn sie hatte ihn bislang noch gar nicht wahrgenommen. Blickte durch ihn hindurch, als wäre er überhaupt nicht vorhanden.

Doch heute Abend war es ihm zum ersten Mal gelungen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, als er die Wurlitzer Musikbox im Rheingold immerzu mit Groschen gefüttert hatte, um ihre Lieblingslieder zu spielen. Er wusste ja, dass sie begeisterter Elvis-Presley-Fan war, und so hatte er alle Elvis-Songs gedrückt, die auf der Musikbox verfügbar waren, und das waren nicht wenige, vor allem die neuesten und beliebtesten, wie »Love Me Tender«, »Jailhouse Rock«, »Heartbreak Hotel« und »Blue Suede Shoes«.

Als eben die bekannte Liedstrophe »Well it’s a-one for the money / Two for the show / Three to get ready now go, go, go …« erklungen war, war sie nicht mehr zu halten gewesen und hatte so wild getanzt, dass man ihren gelben Petticoat und das rosafarbene Rüschenhöschen sehen konnte, als ihr Tanzpartner sie durch die Luft wirbelte. Denn die Halbstarken mit ihren pomadisierten Haartollen und schwarzen Lederjacken standen alle Schlange, um mit ihr zu tanzen. Schon kam es unter ihnen zu einem richtigen Gerangel, wer als Nächster an der Reihe war. Manch einer ließ sogar sein Mädel an der Bar sitzen, um bei der schönen Rita zum Zuge zu kommen, während die solcherart Verschmähten traurig in ihre Bluna- oder Coca-Cola-Gläser starrten oder gar laut weinend aus dem Lokal stürzten.

Auch wenn sie ohnehin nicht mit einem wie ihm getanzt hätte, so hätte er sich doch niemals getraut, sie aufzufordern. Er konnte ja gar nicht tanzen, erst recht keinen Rock’n’Roll, wo er eigentlich viel lieber Jazz hörte.

Immerhin hatte sie ihn vorhin doch wenigstens einmal angesehen, wenn auch nur ganz kurz und mit einer Mischung aus Herablassung und Spott, die schließlich wieder in Desinteresse umgeschlagen war.

Vor lauter Aufregung hatte er einen ganz trockenen Mund bekommen und bei Helga, der blondhaarigen Bedienung, noch eine Cola bestellt. Er mochte die junge Kellnerin mit dem hübschen herzförmigen Gesicht und den veilchenblauen Augen. Sie war immer so nett zu ihm – und machte sich nicht über ihn lustig wie die meisten anderen Gäste im Rheingold.

Dann trat ein ganzer Trupp GIs, denn die amerikanische Housing Area war ja gleich um die Ecke, ins Lokal und wurde von der Wirtin Elfi, die gerade aus der Küche kam, höchstpersönlich begrüßt. Sie sprach fließend Englisch und war selbst mit einem Ami zusammen. Ihre langen, knallrot lackierten Fingernägel standen in bissigem Kontrast zu ihrer dreiviertellangen pinkfarbenen Nylonkittelschürze, die ihre weiblichen Rundungen vorteilhaft betonte.

Elfi, die wie immer eine Hochfrisur trug, ließ ihre Blicke aus von schwarzem Eyeliner umrandeten dunklen Augen, denen nichts entging, durch den Schankraum schweifen. Sie hatte für jeden, auch für ihn an seinem kleinen Ecktisch, ein freundliches Lächeln, das er verlegen erwiderte.

Die GIs platzierten sich an den freien Tischen unweit der Musikbox und der kleinen Tanzfläche und bestellten bei der Wirtin, die für ihre Kochkünste bekannt war, Rippchen mit Kraut und German Snitzel.

»See you later, guys«, empfahl sie sich und verschwand wieder in der Küche.

Die tanzende Rita in ihrem vom Petticoat gebauschten mintgrünen Perlonkleid mit einem Muster aus himmelblauen Federballschlägern und Federbällen, das wunderbar zu ihrer erdbeerroten Lockenpracht passte, zog sogleich die Blicke der jungen Amerikaner auf sich. Einer von ihnen, ein gut aussehender Bursche mit schwarzem Bürstenschnitt, eilte mit federnden Schritten zur Musikbox, drückte geschäftig etliche Knöpfe und streifte Rita, die ihn zu kennen schien und ihm eine Kusshand zuwarf, mit begehrlichen Blicken.

Dann hielt er sich bereit, um Sexy-Rita, die große Ähnlichkeit mit Rita Hayworth hatte, um den nächsten Tanz zu bitten, was von den Halbstarken mit Argusaugen beobachtet wurde, da es nicht selten vorkam, dass ihnen die Amis die Mädels ausspannten.

Auch Ritas Tanzpartner, ein großer, muskulöser Typ mit einer verwegenen Visage aus dem benachbarten Schwalheim, der Anführer einer Motorradgang war, war über die Avancen des GIs nicht sonderlich erfreut und musterte ihn feindselig.

Und es kam, wie es kommen musste. Als die ersten Takte des neuen Songs »Only You« von den Platters, momentan der absolute Hit für verliebte junge Leute, erklangen, stürmten nicht nur etliche Pärchen die Tanzfläche, sondern Ritas GI-Verehrer forderte sie mit unwiderstehlicher amerikanischer Coolness zum Tanzen auf – was Pit aus Schwalheim keineswegs hinnehmen mochte.

»Ami go home!«, zischte er seinem Kontrahenten zu. »Die tanzt mit mir, damit das klar ist!«

»Shut up, you Kraut, it’s my turn«, belehrte ihn der Amerikaner eines Besseren, und die beiden Platzhirsche, beides wehrhafte Burschen und ebenbürtige Gegner, waren nicht weit davon entfernt, aufeinander loszugehen, als Rita ein Machtwort sprach.

»Ich entscheide immer noch selbst, mit wem ich tanze, Pit!«, verkündete sie kalt lächelnd. »Und nur, weil ich eben mit dir getanzt habe, heißt das noch lange nicht, dass es dabei bleiben muss.«

Ehe Pit sich’s versah, ließ sie ihn einfach stehen und eilte mit dem GI Hand in Hand zu einem freien Platz auf der kleinen Tanzfläche, um sich mit ihm eng aneinandergeschmiegt im Blues zu wiegen.

»Dann hau doch ab, du Amiflittchen!«, fluchte Pit, was Rita jedoch wegen der lauten Musik nicht hörte oder einfach ignorierte, da war Pit sich nicht sicher.

Er hatte es jedenfalls gehört, dabei saß er hinten am Ecktisch, ein ganzes Stück weiter weg. Das war ziemlich hässlich von Pit, Rita als Amiflittchen zu beschimpfen, und eigentlich hätte dieser Rüpel dafür eine ordentliche Backpfeife verdient gehabt, doch ein Hänfling wie er hatte gegen einen Schlägertypen wie Pit natürlich nicht den Hauch einer Chance.

Er sah, wie Pit sich zu seinen Kumpels trollte, die ihm kameradschaftlich auf die Schulter klopften und aufgeregt gestikulierten. Helga brachte ihnen ein ganzes Tablett mit bis zum Rand gefüllten Schnapsgläschen, die sie herunterstürzten, um sich noch weiter anzustacheln. Da braute sich gewaltig was zusammen, es brodelte förmlich vor Aggressivität, das konnte er, der als Prügelknabe und Außenseiter ganz besonders feine Antennen für Gewalt entwickelt hatte, förmlich riechen.

Am besten, man verkriecht sich ins nächstbeste Mauseloch, ehe man dazwischengerät und die am Ende noch ihr Mütchen an einem kühlen, überlegte er unbehaglich, als Helga unversehens ein Schnapsglas vor ihn hinstellte. »Das ist von Pit«, erklärte sie knapp und hastete wieder davon.

Er fiel aus allen Wolken. Wie kam dieser Typ, der ihn stets als Brillenschlange und Weichei zu hänseln pflegte, dazu, ihm einen Schnaps auszugeben? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, denn zu seiner großen Verwunderung stand Pit plötzlich an seinem Tisch und prostete ihm zu.

»Nix für ungut, Alter, wir Deutschen müssen doch zusammenhalten gegen diese verfluchten Amerigarkaner, oder?«

»Hm, hm!«, stimmte er ihm zu und nickte verlegen.

Pit beugte sich verschwörerisch zu ihm herunter und raunte ihm mit gesenkter Stimme ins Ohr: »Wir veranstalten nachher ein Amiklatschen, und da wollte ich fragen, ob du dabei bist?«

Er war über das Ansinnen so verdutzt, dass er anfing zu stottern. »Ich … ich soll mit … äh … bei euch mitmachen?«, fragte er unsicher und zog unwillkürlich den Kopf ein wie ein geprügelter Hund.

Pit, der offenbar nicht der Schnellste im Vermitteln von Zusammenhängen war, grinste. »Doch nicht in unserer Schlägertruppe, du Depp! Dass du nix draufhast, sieht doch ein Blinder«, feixte er hämisch. »Nee, wir könnten noch jemanden gebrauchen, der Schmiere steht und die Amis ausspäht, wenn du verstehst, was ich meine.«

Doch er stand noch immer auf der Leitung und kapierte nicht so richtig, was Pit wollte, der langsam ungeduldig wurde. »Also pass auf: Wir machen bald den Abflug und beziehen in der ausgebombten Villa an der Frankfurter Straße Stellung, bis die Amis vorbeikommen, und die müssen da ja langkommen, weil das auf dem Weg zur Amisiedlung liegt. Du bleibst so lange im Rheingold, bis die bezahlen und abziehen. Dann spurtest du zu uns auf das Bombengrundstück und gibst uns Bescheid, damit wir die Säcke auch gebührend empfangen können«, raunzte er mit tückischem Grinsen. »Und wenn die Prügelei dann losgeht, stellst du dich unauffällig auf den Bürgersteig und guckst, ob nicht die Bullen anrücken, falls die so ein Simpel aus der Nachbarschaft angerufen hat. In dem Fall gibst du ein Zeichen, damit wir rasch die Fliege machen können.« Pit musterte ihn argwöhnisch. »Und, geht das klar? Können wir uns auf dich verlassen?«

Selbstredend traute er sich nicht, Pit eine Abfuhr zu erteilen. »Ja, ich denke, das kriege ich hin«, murmelte er mit belegter Stimme.

Pit hob schwungvoll seine Pranke, bekräftigte die Zusage mit einem Handschlag, von dem ihm Hören und Sehen verging, und stieß mit ihm an.

»Wir passen in Zukunft auf dich auf, Brillenschlange, und wenn dich nur einer schief anguckt, dann kriegt er es mit mir zu tun, darauf kannst du einen lassen«, ließ Pit ihn mit gönnerhaftem Lächeln wissen und wurde mit einem Mal ernst. »Und wenn ich dir noch einen guten Rat geben darf, Kumpel: Lass die rothaarige Schlampe da vorne sausen, das sieht doch jeder, dass du bis über beide Ohren in die verknallt bist – und da bist du weiß Gott nicht der Einzige. Aber lass dir gesagt sein, die taugt keinen Schuss Pulver! Die macht doch mit jedem GI rum, der ihr was aus der PX mitbringt, diese verfluchte Aminutte. Manchmal könnt ich das Weibsstück glatt umbringen!«

»Ich auch!«, brach es unwillkürlich aus ihm heraus. Er war selbst ganz perplex, was ihm da gerade über die Lippen gekommen war. Ihm war, als spräche ein anderer aus ihm – einer, der es schon längst satt hatte, von Rita keines Blickes gewürdigt zu werden, während sie anderen schöne Augen machte – oder noch ganz andere Sachen mit ihnen trieb. Sein Blick richtete sich auf die Tanzfläche, und er musste zu seinem Entsetzen erkennen, dass sie mit dem Ami wild herumknutschte.

»Ich hasse sie!«, entrang es sich ihm mit einer Heftigkeit, dass selbst Pit, der nicht so leicht zu erschüttern war, zusammenschreckte wie vom Blitz getroffen.

»Mach mal halblang, Alter, lauf doch nicht gleich so heiß«, suchte ihn Pit zu beschwichtigen. »Du musst sie ja nicht gleich verteufeln, es reicht schon, wenn du endlich aufhörst sie anzuhimmeln …«

»Das schaff ich nicht, das ist ja das Problem«, gab er mit kehliger Stimme von sich und war mehr als überrascht, dass er plötzlich so offen war – gegenüber einem Hackklotz, den er kaum kannte. Trau keiner Menschenseele, so lautete normalerweise sein Lebensmotto. Fide, sed cui, vide! – Trau, schau, wem! Diese lateinische Lebensweisheit hatte er sich auf die Innenseite seines linken Unterarms tätowiert, und in seinem noch recht jungen Leben war ihm jedenfalls noch niemand über den Weg gelaufen, zu dem er je Vertrauen gefasst hatte – selbst zu der eigenen Mutter nicht.

Denn Frauen, so wusste er, konnte man im Allgemeinen nicht trauen, dazu waren sie viel zu flatterhaft und wankelmütig. Und so treulos und undankbar noch dazu: Man tat alles für sie, und als Dank dafür betrogen sie einen mit dem Nächstbesten!

Aber irgendwann würde sie ihm gehören, da war er sich sicher. Ihm ganz allein – für immer und ewig.

Er spürte wieder diesen ungeheuren Druck im Kopf, der sich auch mit dem Schnaps, den er in einem Zug hinunterkippte, nicht lockern ließ.

Kapitel 1

»Your Cheatin’ Heart«

(Hank Williams, 1952)

Wetterauer Zeitung, Montag, 13. Oktober 1958: »Der King of Rock’n’Roll, Elvis Presley, der am Abend des 1. Oktober 1958 auf dem Industriegleis des Friedberger Bahnhofs angekommen war und für die ersten Tage wie jeder andere Soldat ein Mannschaftsquartier in den Ray Barracks in Friedberg bezogen hatte, ist am gestrigen Sonntag ins Hotel Villa Grunewald in Bad Nauheim gezogen. Gemeinsam mit seinem Vater Vernon, seiner Großmutter Minnie Mae und den beiden Freunden und Leibwächtern Red West und Lamar Fike bewohnte er vom 6. bis 11. Oktober 1958 einige Zimmer des Luxushotels Hilberts Parkhotel in Bad Nauheim. Dann mußten er und sein Clan weichen, da König Ibn Saud von Saudi-Arabien das ganze Hotel für sich und seinen 70-köpfigen Hofstaat gemietet hatte. Seit dem Eintreffen von Elvis Presley herrscht in Bad Nauheim der absolute Ausnahmezustand, Fans aus ganz Deutschland sowie die landesweite Presse belagern rund um die Uhr Straßen und Bürgersteige an seiner Unterkunft.«

Elfi legte mit gerunzelter Stirn die Wetterauer Zeitung beiseite. »Was für ein Wirbel um den gemacht wird, ein hübsches Kerlchen, das gut singen kann, ja, aber die tun ja alle so, als wäre er das siebte Weltwunder«, murmelte sie kopfschüttelnd auf Englisch an Brian gewandt, der in der gleichen Panzerdivision diente wie Elvis Presley und ihn daher persönlich kennengelernt hatte.

»He’s the King of Rock’n’Roll!«, protestierte Brian nachdrücklich und streifte Elfi mit einem nachsichtigen Lächeln, da er diese grobe Fehleinschätzung ihrem Alter zuschrieb. Denn »Ölfi«, wie er sie mit seinem unwiderstehlichen amerikanischen Akzent zu nennen pflegte, war zwar auch mit fast 50 noch eine Frau, nach der man sich umdrehte, mit ihrer tollen kurvigen Figur, dem aparten Gesicht und der modischen kastanienbraunen Hochfrisur, doch sie war eben auch kein Teenie mehr wie Karin, sein 20-jähriges Baby Doll aus Friedberg, mit der er seit Kurzem ein Techtelmechtel angefangen hatte, und für die als begeisterte Rock’n’Roll-Tänzerin Elvis der Größte war.

»And he’s also a nice guy«, fügte Brian, der Sohn irlandstämmiger Eltern, verhaltener hinzu.

»Nice guy«, wiederholte Elfi, der die Worte gefielen, versonnen. Sie trug noch ihr lachsfarbenes Negligé mit Spitzen und Rüschen, das auch einer Diva gut zu Gesicht gestanden hätte. Es war ein Geschenk ihres zweiten Ehemanns Alfons, der vor vier Jahren gestorben war.

Elfi hatte Kaffee gekocht und ein opulentes Frühstück bereitet, damit Brian nicht mit leerem Magen in den Ray Barracks seinen Dienst antreten musste.

Es war gerade erst 7 Uhr, weiß Gott keine Uhrzeit für eine Kneipenwirtin, um aufzustehen, und Elfi war hundemüde. Aber was tat man nicht alles für seinen Liebsten – und Brian hatte es ihr mit seinen grünen Katzenaugen, der rotblonden Haartolle und dem sexy Waschbrettbauch halt ganz schön angetan. Außerdem war er 15 Jahre jünger als sie.

»Von einem Extrem ins andere«, hatte ihre Schwester Gerti gelästert, in Anbetracht der Tatsache, dass Alfons 20 Jahre älter gewesen war als Elfi.

»Wo die Liebe hinfällt«, hatte Elfi etwas verschnupft erwidert und sich angesichts von Gertis Singledasein seit nunmehr 13 Jahren nicht verkneifen können hinzuzufügen: »Hauptsache, sie fälltüberhaupt.«

»Im Gegensatz zu dir habe ich einen Sohn, und da kann ich mich eben nicht gleich jedem Kerl an den Hals werfen«, hatte Gerti giftig entgegengehalten.

»Karl-Heinz ist 27, und dass er in dem Alter noch bei seiner Mutter lebt, ist auch nicht ganz normal«, lautete Elfis Kommentar, und wie so oft hatten sich die Schwestern mal wieder so richtig in die Wolle gekriegt und sich alles Mögliche an den Kopf geworfen.

Anschließend waren sie sich heulend in die Arme gefallen. Gerti hatte ihrer Schwester gestanden, dass sie sich halt einfach Sorgen um Elfi mache, da sie das Gefühl habe, Brian nutze sie aus.

»Für den bist du doch nur was fürs Bett und obendrein noch das Hotel Mama, wo er verwöhnt und gehätschelt wird, bis zum Gehtnichtmehr. Was will er denn mehr? Wenn er deiner überdrüssig geworden ist und sich sattgefressen hat, wischt er sich den Mund ab und zieht zur Nächsten, die ihn schon mit offenen Armen empfängt, so gut wie der aussieht, und du heulst dir wegen dem die Augen aus dem Kopf. Mensch, der meint es doch gar nicht ernst mit dir, oder glaubst du denn, der würde eine heiraten, die bald in die Wechseljahre kommt? Entschuldige, Elfi, du bist immer noch eine Schönheit, aber halt eine, die schon auf die 50 zugeht.«

Caterina Valente sang im Radio gerade das wehmütige Lied »Spiel noch einmal für mich, Habanero«, das Elfi so mochte, als ihr die Worte ihrer Schwester durch den Sinn gingen – und das nicht zum ersten Mal.

Ihr Blick fiel auf Brian, der mit gutem Appetit sein Rührei mit Speck in sich reinschaufelte, zwischendurch ein »delicious« von sich gab und hinzufügte, Elfi sei die beste Köchin in »good old Germany«.

»Thank you, baby«, erwiderte Elfi geschmeichelt, die ihrem Süßen einfach nicht lange böse sein konnte, beziehungsweise nur allzu bereit war, ihren Argwohn fahren zu lassen, wenn »Baby« ihr ein charmantes Lächeln schenkte – und auch wenn Gerti bestimmt in mancherlei Hinsicht recht hatte, was Brian betraf, der Sex mit ihm war überwältigend, und Elfi war regelrecht verrückt nach ihm.

Immerhin hatte sie nach dem Tod von Alfons vier Jahre lang keinen Mann angerührt und eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet, dass ihr das Liebesspiel noch solche Höhenflüge bescheren würde – im wahrsten Sinn des Wortes.

Die biederen Leute aus den benachbarten Gründerzeitvillen, alteingesessene Bad Nauheimer, die Anfang der 50er-Jahre wieder in ihre von den Besatzern freigegebenen Häuser zurückgekehrt waren und nach den Schrecken des Krieges alles dafür taten, sich ihre mühsam erkämpfte heile Welt durch nichts mehr erschüttern zu lassen, streiften Elfi zuweilen mit scheelen Blicken, wenn sie Arm in Arm mit Brian durch die Stadt schlenderte.

Für diese selbstgerechten Äffchen mit ihrem ausgeprägten Standesdünkel bin ich doch sowieso nicht gesellschaftsfähig, dachte Elfi bei sich und lächelte die feinen Herrschaften souverän in Grund und Boden, wie sie es von Anfang an, noch ihren weltmännischen Alfons an der Seite, getan hatte. Sie wusste nämlich nur zu gut, was diese Aletters, Kissels und Kuhns so von ihr dachten: Aus einfachen Verhältnissen stammend, hat sie sich als Witwe eines kleinen Taxifahrers hochgeschlafen und einen reichen alten Knacker geheiratet, der dann bald den Schirm zugemacht und ihr die schmucke Villa Rheingold vermacht hat.

Natürlich hatte sie Glück gehabt, sogar ein riesiges Glück, dass sie Alfons kennengelernt hatte. Die sechs Jahre mit ihm würden ihr immer unvergesslich bleiben, und sie hatte jede Minute mit dem klugen, humorvollen Menschen genossen, durch den sie, eine einfache Frau aus der hessischen Provinz, die große Welt kennengelernt hatte.

»Bleib nur so, wie du bist, Frieda, du bist so herzerfrischend echt und ungekünstelt, das solltest du dir unbedingt erhalten, denn damit kannst du dich auf jedem Parkett behaupten«, hatte Alfons zu ihr gesagt, als sie einmal wieder aufgrund ihrer einfachen Herkunft gewisse Selbstzweifel plagten – und als Mann von Welt, der er war, musste er es ja schließlich wissen.

Es ging auf 7.30 Uhr zu, Zeit für Brian, sich auf den Weg zu machen. Er trank noch seinen Kaffee aus, tupfte sich mit der Serviette den Mund und gab Elfi einen heißen Abschiedskuss. »Love you, honey«, murmelte er begehrlich, während seine Hand sanft über Elfis üppigen Busen strich.

»Love you, baby«, säuselte Elfi glückselig und ließ es sich nicht nehmen, Brian hinunter zur Haustür zu begleiten – obwohl ihr die Schlafzimmertür deutlich lieber gewesen wäre. Bevor ihr Prachtkerl in seinen rosafarbenen Cadillac mit den geschwungenen Haifischflossen stieg, den er unweit des Eingangs geparkt hatte, warf er Elfi noch galant eine Kusshand zu, worauf sie ihm gurrend wie ein verliebtes Täubchen gleich mehrere hinterhersandte.

Dennoch fragte sie sich auch jetzt wieder, warum der Schlawiner sie gestern, am Sonntag, ihrem einzigen freien Tag, versetzt hatte und nicht, wie vereinbart, um 14 Uhr nachmittags, sondern erst gegen 21 Uhr am Abend mit der fadenscheinigen Entschuldigung, er sei kurzfristig zum Wachdienst eingeteilt worden, weil ein Kamerad krank geworden sei, bei ihr eingelaufen war?

Das mit dem Wachdienst glaubte sie ihm nämlich nicht so richtig, denn soweit ihr bekannt war, gab es auf dem Kasernengelände genug öffentliche Telefonapparate, sodass er ihr rechtzeitig hätte absagen können. Angeblich hatte er keine Zeit gehabt, sie anzurufen.

Außerdem roch er so seltsam, das war ihr gleich aufgefallen, als sie sich zur Begrüßung geküsst und umarmt hatten. Gewöhnlich, wenn er vom Wachdienst kam, hatte er frisch geduscht, da er großen Wert auf Körperhygiene legte, und verströmte den herben Duft der amerikanischen Herrenseife Barbados.

Doch heute umwehte ihn eine süßliche Note, die Elfi, die dank Alfons’ großzügiger Geschenke eine ganze Sammlung edler Duftkreationen besaß, an ein billiges Damenparfum erinnerte – durchmischt mit dem Moschusaroma gewisser anderer Ausdünstungen.

Kurzum: Brian roch nach einer anderen Frau. Doch Elfi war viel zu diskret, ihn direkt darauf anzusprechen, und außerdem fürchtete sie sich vor der Wahrheit, die, da lag Gerti mit ihren Unkenrufen ganz richtig, tatsächlich äußerst schmerzhaft für sie gewesen wäre.

Denn für Elfi gab es nun mal keine halben Sachen. Das galt für ihr Leben und für die Liebe. Sie gab immer alles, mit vollen Händen und von ganzem Herzen, anders kannte sie es nicht und wollte es auch gar nicht kennen.

Natürlich war sie realistisch genug, um zu wissen, dass die Lovestory mit Brian irgendwann ein Ende haben würde. Spätestens dann, wenn sein Militärdienst in Deutschland vorbei sein und er wieder in die Staaten versetzt werden würde.

Zurückhaltend hatte Brian verlauten lassen, dass das wohl 1959 in der zweiten Jahreshälfte der Fall wäre, es sei denn, sein Dienst werde verlängert – wozu er sich aber nicht weiter geäußert hatte.

Obwohl Brian vor seinen Kameraden kein Geheimnis daraus machte, dass er mit Elfi zusammen war, er schien im Gegenteil stolz auf seine »Lady« zu sein, war es doch für beide von Anfang an klar, auch wenn es nie offen ausgesprochen wurde, dass eine Heirat für sie nicht infrage kam – nicht zuletzt auch wegen dem nicht unbeträchtlichen Altersunterschied von 15 Jahren.

Elfi fröstelte es in ihrem hauchdünnen Seidennegligé, und sie hatte es plötzlich eilig, wieder in die warme Küche zu kommen, wo im Küchenherd ein behagliches Feuer prasselte. Sie überlegte kurz, ob sie wieder in ihr Bettchen zurückkehren sollte, um noch etwas zu schlafen, damit sie später fit wäre für den anstrengenden Tag, der noch vor ihr lag, oder ob sie sich von ihrer knapp bemessenen Zeit ein Stündchen abzweigen sollte, um an ihren Memoiren zu arbeiten. Denn immerhin war Anfang des Jahres ein renommierter Frankfurter Verlag mit dem Vorschlag an sie herangetreten, ihre Erinnerungen an die Ehe mit dem berühmten Künstleragenten Alfons Kunz niederzuschreiben, ihrem zweiten Ehemann, der vor vier Jahren gestorben war und ihr die VillaRheingold vermacht hatte. Nach einer ausführlichen Besprechung mit dem Verlagsleiter und ihrer zukünftigen Lektorin im vornehmen Frankfurter Westend einigte man sich schließlich darauf, dass die Biografie auch viel Lokalkolorit aus dem Bad Nauheim der Nachkriegszeit sowie lebendige Schilderungen von Elfis eigenem Werdegang enthalten, etwa 200 Seiten umfassen und Anfang nächsten Jahres fertig sein solle. Sie hatte sogar einen Vorschuss von 1.000 DM erhalten, den sie natürlich ins Rheingold gesteckt hatte. Und jetzt war schon Mitte Oktober, und sie hatte gerade einmal 20 Seiten geschrieben! Weil sie den Großteil ihrer Zeit ins Rheingold investierte – und seit drei Monaten war sie mit Brian zusammen, was auch zeitraubend war, wenn auch auf eine höchst angenehme Weise. Da war es doch nur allzu verständlich, dass sie lieber mit ihrem Süßen zusammen war, als sich an Alfons’ alter Schreibmaschine die Finger wund zu tippen.

»Genau das wirst du jetzt aber machen!«, entschied Elfi streng, sich noch gut daran erinnernd, dass es ihr eigentlich großen Spaß gemacht hatte, ihre Memoiren aufzuschreiben. Sie goss sich noch eine Tasse Kaffee ein mit einem ordentlichen Schuss Kaffeesahne, verschwand im Wohnzimmer, um den Schreibmaschinenkoffer mit der alten Vorkriegs-Olympia aus dem Schrank zu holen. Nachdem sie Papier eingespannt hatte, ging sie das Manuskript noch einmal durch, ehe sie mit dem neuen Kapitel begann, dem sie die Überschrift Als die Amerikaner in Bad Nauheim einmarschierten, gab. Nach kurzem Nachdenken schrieb sie einfach drauflos und kam erstaunlich gut voran:

Ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, an dem die Amerikaner nach Bad Nauheim kamen. Es war der 29. März 1945, einer der ersten Frühlingstage mit blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein. Die Osterglocken, Tulpen und Sträucher blühten um die Wette, und die Vögel zwitscherten so frohgemut, als hätte es nie diesen schrecklichen Krieg gegeben.

Bei mir herrschte totaler Weltuntergang, ich war gerade einmal 35 Jahre alt und schon verwitwet. Erst kürzlich hatte ich die Mitteilung erhalten, dass mein geliebter Fritz, der bei der Firma Henrici als Chauffeur und Taxifahrer gearbeitet hatte, an der Ostfront gefallen war.

Wir kannten uns schon als Teenager, und Fritz war meine erste große Liebe. 1932 heiraten wir, 1934 wurde unser Töchterchen Ursel geboren, und wir waren unsagbar glücklich miteinander, bis Fritz 1939 an die Front musste, Richtung Osten, von wo er niemals zurückehrte.

Im Winter 1942 erlebte ich dann den schwersten Schicksalsschlag meines Lebens, als unser über alles geliebtes Töchterchen an Diphterie starb, ein Verlust, über den ich nie wieder hinwegkommen werde – und jetzt auch noch Fritz.

Ich fühlte mich so leer und entwurzelt, daß es mir fast egal gewesen wäre, wenn mich ein Geschütz getroffen hätte – doch nur fast, denn obwohl ich meine liebsten Menschen verloren hatte, hing ich aus unerfindlichen Gründen trotzdem noch am Leben. Und so ganz alleine war ich ja auch nicht, denn immerhin hatte ich noch meine ältere Schwester Gerti und meine beste Freundin Lottie, denen es auch nicht sehr viel besser ging als mir, außer dass sie noch ihre Buben hatten.

Elf Kriegstote hatte es in Bad Nauheim gegeben, 43 Häuser, einschließlich des Kurhauses, waren beschädigt worden. Schäden, die sich im Vergleich zu anderen Städten deutlich in Grenzen hielten. Statt Bomben warfen die Amerikaner Flugblätter, auf denen »Bad Nauheim wollen wir schonen, denn hier wollen wir wohnen« stand, über der Stadt ab. Was die Bevölkerung ein Stück weit in einem trügerischen Sicherheitsgefühl wiegte, denn Kälte, Brennstoff- und Lebensmittelmangel verschafften dem Sensenmann auch bei uns reiche Ernte. Ganz zu schweigen von der blanken Todesangst, wenn im nahe gelegenen Frankfurt ein solcher Bombenhagel niederging, daß der Nachthimmel taghell erleuchtet war und man das Gefühl hatte, die Hölle tue sich auf und drohe uns alle zu verschlingen.

Beim Einmarsch der Amerikaner standen die Menschen aufgereiht an der Bahnhofsallee und winkten den Truppen mit dankbarem Lächeln zu – dankbar, daß unser Teil von Deutschland der amerikanischen und nicht der russischen Besatzungszone zugeteilt worden war. Von verschiedenenSeiten erreichten die einzelnen Truppenteile das Stadtgebiet. Etwa 200 Panzer rollten, von Ockstadt kommend, über die Homburger Landstraße in die Stadt. Die Einheimischen hängten als Zeichen ihrer Kapitulation weiße Betttücher aus den Fenstern. Die Panzer nahmen alle umstehenden Häuser genau ins Visier, andere Panzer, die die Hochwaldstraße heruntergerollt kamen, trieben eine Gruppe zerlumpter deutscher Soldaten mit erhobenen Händen vor sich her, was mir vor Mitgefühl mit den Gedemütigten die Tränen in die Augen trieb.

Vor der Dankeskirche parkten die Panzer in Reih und Glied. Gingen die Erwachsenen angstvoll auf Distanz zu den Besatzern, drückten sich dort Kinder und Jugendliche neugierig herum, auch mein Neffe Karl-Heinz gehörte dazu. Da reckte sich ein Soldat aus einer Panzerluke und schenkte Karl-Heinz ein wasserdichtes Rationspäckchen, das eine Dose Corned Beef, Kekse, Schokolade, Kaugummis und ein Päckchen Zigaretten enthielt. Für den Jungen war das wie Ostern und Weihnachten zusammen. Am Abend lud mich Gerti zu sich ein, und die Kostbarkeiten wurden genau unter uns dreien aufgeteilt. Nie würde ich die Scheibe Corned Beef vergessen, die für mich nach dem langen Darben der Kriegsjahre das Köstlichste war, das ich jemals gegessen hatte. Auch die Zigaretten waren für mich, die ich, wie die gesamte Bevölkerung, Zigarettenkippen sammelte, um die Tabaksreste zu Hause zu neuen Zigaretten zu drehen, denn im Tausch mit der »Zigarettenwährung« war fast alles möglich, ein wahrer Schatz.

Während des Tippens durchlebte Elfi ihre Erinnerungen noch einmal und vergaß dabei die Zeit. Als sie erschrocken merkte, dass es schon auf 10 Uhr zuging, beschloss sie, es einstweilen mit dem Schreiben bewenden zu lassen, denn sie hatte noch eine Menge anderer Sachen zu erledigen.

*

Es ging schon auf 13 Uhr nachmittags zu, als Elfi alle Einkäufe und Besorgungen abgearbeitet und sämtliche Bestellungen aufgegeben hatte, die für die neue Woche getätigt werden mussten, damit das Rheingold, ihr absolutes Herzenskind, mit Waren, Getränken und allem anderen bestens versorgt war.

Gleich um 17 Uhr, wenn das Lokal öffnete, würde der Automatenmann kommen, der für die Wartung der WurlitzerJukebox zuständig war, einer Musikbox, in der sich 120 Single-Schallplatten beliebter Interpreten befanden.

Da die Musikbox, die bei Elfis älteren und jüngeren Gästen gleichermaßen sehr beliebt war, immer die neuesten Hits enthalten musste, wurden die Single-Schallplatten regelmäßig ausgetauscht. Die Jukebox stand neben einer kleinen Tanzfläche, die vor allem von den jüngeren Gästen mit großer Begeisterung zum Rock’n’Roll-Tanzen genutzt wurde.

Die original Wurlitzer Konsole aus Amerika war eine kostspielige Investition gewesen, die sich aber inzwischen voll und ganz ausgezahlt hatte, denn viele Gäste waren höchst erpicht darauf, im Rheingold ihre Lieblingsschlager zu hören und dazu zu tanzen.

Die meisten hatten immer eine Handvoll Groschen für die Musikbox einstecken, und falls nicht, ließen sie sich bei Elfi Geld wechseln, die stets ein Kontingent an Münzen zur Verfügung hatte.

Außer den Superstars des amerikanischen Rock’n’Roll wie Elvis Presley, Bill Haley, Chuck Berry, Buddy Holly und Little Richard waren auch Peter Kraus, der sogenannte »deutsche Elvis Presley«, mit seinem neusten Song »Hula Baby«, oder Freddy Quinn mit »Die Gitarre und das Meer« zurzeit sehr beliebt.

Auch die Spielautomaten in dem kleinen separaten Spielsalon mussten vom Automatenmann überprüft werden. Es handelte sich um einen Münzspielautomaten, der sehr angesagte Rotomat Monarch sowie der neuste aus den USA kommende Flipperautomat, die Williams Satellite Pinball Machine, an der sich bevorzugt die Halbstarken tummelten.

Im Spielzimmer, das sowohl von deutschen als auch von amerikanischen Gästen rege frequentiert wurde, gab es außerdem noch einen Billardtisch und einen Zigarettenautomaten mit deutschen und amerikanischen Marken.

Als Elfi die Treppe zum zweiten Stock hochstieg, wo Asta Lagrin und Renato Schmidt zwei Zimmer bewohnten, stieg ihr von dort schon ein köstlicher Duft in die Nase, der ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ.

In den zehn Jahren, seitdem die ehemalige Zirkusartistin und der Opernsänger hier lebten, hatte es sich eingebürgert, dass die beiden die Pensionszimmer des Künstlerhotels Rheingold in Ordnung hielten, das Ein- und Auschecken der Gäste abwickelten, das Frühstück bereiteten und sich auf sonstige Weise nützlich machten.

Dafür erhielten sie eine angemessene Bezahlung und freie Kost und Logis. Da beide die 60 bereits überschritten hatten, waren sie für ihre künstlerischen Tätigkeiten, in denen sie einst überaus erfolgreich gewesen waren, schon zu alt und froh, bei Elfi im Alter ihr Auskommen zu haben.

Nach der Flucht aus Ostpreußen waren sie nach vielerlei Umwegen schließlich in Bad Nauheim in dem heruntergekommenen Kurhotel Sieglinde in der Lindenstraße 18 gelandet, das ursprünglich als Kurpension für Bedürftige gedacht war und am Ende des Zweiten Weltkriegs der Aufnahme älterer Flüchtlinge aus Ostpreußen, Schlesien und dem Sudetenland diente.

So hatte es sich gefügt, dass sich die beiden Paradiesvögel im Kurhotel Sieglinde kennengelernt und auf ihre alten Tage noch einmal richtig ineinander verliebt hatten. Das Wenige, das sie hatten, teilten sie miteinander, – auch den Alkohol, mit dem sie in den Kriegswirren versucht hatten, ihre angespannten Nerven zu beruhigen, und der sie seither nicht mehr losließ.

Als Alfons Kunz davon erfahren hatte, dass zwei seiner Künstler, die wunderbare Asta Lagrin, die als Angehörige einer berühmten Artistenfamilie als »Prinzessin Wanda« auf dem Hochseil triumphale Erfolge gefeiert hatte, und der berühmte Startenor Renato Schmidt in Bad Nauheim gestrandet waren, kümmerte er sich um die beiden Kriegsflüchtlinge und verschaffte ihnen eine Anstellung in seinem Kurhotel. Seither gehörten die zierliche Asta mit ihren pechschwarz gefärbten Haaren, die in ihren Bewegungen immer noch über die Anmut einer Balletttänzerin verfügte, und der beleibte Kammersänger mit dem markanten Charakterkopf längst zur Familie. Sie hatten Elfi nicht nur in der schweren Zeit nach Alfons’ Tod liebevoll zur Seite gestanden, sondern unterstützten sie auch sonst bei allem, was sie tat, und hielten der wunderbaren Frau mit dem großen Herzen unerschütterlich die Treue.

Renato, der ein gutes Essen stets zu schätzen wusste und sehr gut kochen konnte, ließ es sich nicht nehmen, ein tägliches Mittagessen zuzubereiten, damit »Elfchen«, wie die beiden sie zärtlich nannten, sich vor der anstrengenden Schicht im Rheingold noch einmal richtig stärken konnte.

»Heute gibt’s dein Lieblingsessen, Königsberger Klopse«, flötete er mit seiner vollen, wohltönenden Stimme aus der Küche, als Elfi durch die Wohnungstür trat.

Elfi musste sich beim Gedanken an Königsberger Klopse unwillkürlich schütteln, da sie gegen die wabbligen Hackfleischbällchen in der streng riechenden mehligen Kapernsoße eine ausgewachsene Aversion hegte – was Renato auch sehr wohl bekannt war, der es daher tunlichst vermied, die Spezialität aus seiner alten Heimat auf den Tisch zu bringen, wenn Elfi mitaß. Dennoch liebte es der alte Scherzbold, sie damit zu hänseln, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.

Der Geruch, den Elfi so liebte, da er sie an ihre Kindheit erinnerte, und der inzwischen das ganze Stockwerk erfüllte, war einfach unverkennbar und weckte in ihr eine unbändige Vorfreude auf die Mahlzeit, die schon von Kindesbeinen an ihre absolute Leibspeise war: Kartoffelpfannkuchen und Apfelmus – Äppelbrei, wie man im Hessischen sagte. Als Kind hatte Elfi gejubelt, wenn sie aus der Schule gekommen und der verheißungsvolle Duft der gebratenen Reibekuchen schon im Hof zu riechen war.

»Du bist ein Schatz, Renato!«, rief sie begeistert, schloss den korpulenten Opernsänger, um dessen vorgewölbten Bauch eine karierte Küchenschürze gebunden war, herzhaft in die Arme und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, dankbar, dass Renato es sich nicht nehmen ließ, Elfis Leibgericht nach einem Originalrezept ihrer Mutter zuzubereiten, damit »Elfchen« rundherum zufrieden war.

Asta Lagrin, die ebenfalls eine Schürze trug, da sie beim Kochen stets als Renatos »Küchenjunge« fungierte, kam auf Elfi zu und umarmte sie innig.

»Ist ja doch noch gekommen, dein Süßer, freut mich für dich, Schätzchen, wir haben sein Auto vor der Tür stehen sehen, als wir gestern unsere Nachtrunde gedreht haben«, rief die schlanke Frau, deren hageres Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen von herber Schönheit war, mit dunkler rauchiger Stimme.

Die von fein geschwungenen schwarzen Lidstrichen umrahmten dunklen Augen musterten Elfi verschmitzt. In der einen grazilen Hand mit den langen rot lackierten Fingernägeln hielt Asta ein Küchenmesser, in der anderen qualmte die unvermeidliche Zigarette.

Elfi, die vor Asta und Renato keine Geheimnisse hatte und vor allem der lebensklugen Artistin Dinge anvertraute, die sie ihrer gestrengen Schwester geflissentlich verschwieg, ließ Asta seufzend wissen, dass Brian allerdings erst gegen 21 Uhr bei ihr eingetroffen sei.

»Ich habe gar nicht mehr damit gerechnet, dass er noch kommt, und mich grün geärgert, dass ich nicht mit Lottie ins Kino gegangen bin. – Um 19 Uhr lief nämlich im Viktoria Theater Spiel mit dem Feuer mit Rita Hayworth, Jack Lemmon und Robert Mitchum – den sehe ich doch so gerne mit seiner fiesen Gangstervisage. Ich war ja ziemlich niedergeschlagen, weil Brian mich versetzt hat, und da hat Lottie am Nachmittag, als wir telefoniert hatten, vorgeschlagen, später zusammen in den Film zu gehen, damit ich auf andere Gedanken komme. Ich habe ihr auch zugesagt. Anschließend habe ich mich aufs Sofa gelegt, Radio gehört und in dem Jerry-Cotton-Heftchen gelesen, Dynamit in schwarzer Seide aus dem Stapel mit Krimiheftchen, die du mir am Samstag gebracht hast, und dabei muss ich eingeschlafen sein. Als Lottie an der Tür geläutet hat, um mich abzuholen, war ich noch total verpennt und habe ihr schweren Herzens abgesagt. Sie hatte ihren Karl-Otto dabei, der ein Fan von Rita Hayworth ist, und sie sind dann alleine ins Kino gegangen. Im Laufe des Abends bin ich mehr und mehr ins Grübeln geraten wegen Brian, dass er einfach nicht gekommen ist, wo wir doch fest um 14 Uhr verabredet waren und er noch nicht mal den Anstand hatte, mir abzusagen. Habe versucht, den Jerry Cotton weiterzulesen, weil der Krimi doch so spannend war, aber ich konnte mich einfach nicht mehr richtig konzentrieren. Und je mehr ich gegrübelt habe, desto mehr war’s mir auf einmal zum Heulen zumute …«

Asta streichelte mitfühlend Elfis Wange. »Warum bist du denn nicht zu uns gekommen, dummes Kind? Du weißt doch, dass wir immer für dich da sind, wenn du Sorgen hast.« Die ehemalige Hochseilartistin, die niemals eigene Kinder gehabt hatte, hatte auf ihre alten Tage so etwas wie Muttergefühle für Elfi entwickelt, was Elfi, die Asta liebte und bewunderte, rührend fand und ohne Murren über sich ergehen ließ.

»Na ja, und um 21 Uhr abends hat es plötzlich an der Tür geläutet, und Brian stand da und hat mich angestrahlt, als wäre nichts gewesen. Da bin ich gleich schwach geworden und hab ihn reingelassen, und dann sind wir natürlich im Bett gelandet, und alles war so schön wie immer. Mensch, ich kann doch auch nichts dafür, dass ich so verliebt in den Kerl bin«, platzte es aus Elfi heraus, als sie Astas empörte Miene sah, die durchaus berechtigt war, wie Elfi wusste.

»So etwas darfst du dir nicht bieten lassen, Kindchen«, erwiderte Asta entrüstet und zog indigniert die hauchdünnen halbkreisförmigen Augenbrauenbögen in die Höhe. »Das hast du doch gar nicht nötig, dich mit einem Mannsbild abzugeben, das dir so wenig Achtung und Respekt entgegenbringt. Der kommt und geht, wann er will, dein Brian, und du lässt es dir gefallen und nimmst ihn sogar noch mit offenen Armen auf. Womöglich hat er auch noch andere Weibergeschichten am Laufen, das würde mich bei dem gar nicht wundern. Wenn du mich fragst, schick ihn in die Wüste, Elfchen, das wäre das Allerbeste …«

»Sie fragt dich aber nicht, Haselmaus«, mischte sich nun der Kammersänger ein und bat die Damen zu Tisch. »Die Liebe hat nun mal ihre ganz eigenen Gesetze«, bemerkte er neckisch, lüftete mit pathetischer Geste seine Schürzenzipfel und stimmte die Strophe aus Frauenliebe und Leben von Robert Schumann an:

»Seit ich ihn gesehen,

Glaub ich blind zu sein;

Wo ich hin nur blicke,

Seh ich ihn allein;

Wie im wachen Traume

Schwebt sein Bild mir vor,

Taucht aus tiefstem Dunkel,

Heller nur empor.«

Wenn auch nicht mehr so kraftvoll und voluminös wie in seinen besten Jahren als gefeierter Operntenor, so war Renatos Stimme immer noch so wohltönend, dass Elfi und Asta vor Ergriffenheit die Tränen in die Augen traten.

»Liebe macht zuweilen blind, das ist wohl wahr«, murmelte Elfi nachdenklich. »Aber so blind nun auch wieder nicht«, erklärte sie mit grimmigem Lächeln. »Das nächste Mal trete ich ihm in den Hintern, wenn er mich noch mal so versetzt«, fügte sie entschlossen hinzuund schob sich ein großes Stück Reibekuchen in den Mund.

Kapitel 2

»Sugar Baby«

(Peter Kraus, 1958)

Am Mittwochabend, dem 15. Oktober 1958, fühlte sich Elvis zum ersten Mal nach den rund zwei Wochen, die er nun schon in Germany weilte, so erleichtert und guter Dinge, dass er kurzerhand beschloss, noch auszugehen und mit seinen beiden Kumpels Red und Lamar darauf anzustoßen, dass er endlich wieder frei war.

Heute Morgen hatte er nämlich seinen Vater und seine Großmutter zur Air Base nach Wiesbaden-Erbenheim gebracht, wo sie mit einer Militärmaschine zurück in die Staaten geflogen waren. Wenngleich er seine Großmutter von Herzen liebte, so war es doch für ihn eine regelrechte Wohltat, nicht länger unter der Fuchtel der ebenso überfürsorglichen wie dominanten alten Dame zu stehen, die noch zehnmal gluckenhafter war als seine verstorbene Mutter Gladis – und das wollte was heißen.

Auch wenn Minnie Mae es mit der Familie ihres Sohnes Vernon nur gut meinte, »viel zu gut«, wie ihre Schwiegertochter Gladis oftmals beklagt hatte, so war es doch für alle Beteiligten ein offenes Geheimnis – selbst Außenstehende kamen schnell dahinter – dass »Dodger«, wie Elvis seine Oma scherzhaft zu nennen pflegte, eine ziemliche Kratzbürste sein konnte.

So war es dem Weltstar auch ausgesprochen peinlich gewesen, wie sie sich im vornehmen Hilberts Parkhotel in Bad Nauheim aufgeführt hatte. Obwohl die Speisen dort den höchsten Ansprüchen genügten und nichts zu wünschen übrig ließen, hatte Dodger darauf bestanden, die Mahlzeiten für ihren Augapfel Elvis selbst zuzubereiten, weil ja diese Krauts sowieso keine Ahnung von gutem Essen – will heißen, der gehaltvollen amerikanischen Küche – hatten.

Denn der Tag hatte mit einem »full American breakfast« zu beginnen, stapelweise Pancakes mit Ahornsirup, Bagels, Cornflakes, Bohnen, Würstchen, Speck und Eiern, nach dem man so pappsatt war, dass man den ganzen Tag nichts mehr zu essen brauchte außer vielleicht ein Sandwich. Und zum Abendessen gab es dann deftige Burger, gefolgt von Hot Dogs, Buffalo Wings, panierten Hähnchenflügeln, und fetttriefenden Spareribs.

Bedauerlicherweise hatte der Küchenchef in Hilberts Parkhotel nicht mitgespielt und Minnie Mae mit allem Nachdruck den Zugang zur Hotelküche verwehrt, worauf sie tätlich gegen ihn geworden war. Zum Glück war dem Manager des Luxushotels ebenso wenig wie Elvis daran gelegen, dass der Vorfall nach draußen drang und am Ende noch die Zeitungen davon Wind bekamen – ein gefundenes Fressen für die Aasgeier von der Presse.

Obwohl Dodger nicht im Traum daran dachte, sich bei Maître Hasenfranz aus dem Elsass für ihren Gewaltausbruch zu entschuldigen, wurde das Vorkommnis dennoch rasch untern Teppich gekehrt, das Küchenverbot für die alte Dame jedoch aufrechterhalten.

Daher war Minnie Mae gezwungen, sich zurückzuhalten, was die Verköstigung ihres Enkels betraf, und konnte erst wieder nach dem Umzug in die Villa Grunewald so richtig loslegen – sehr zum Unmut der Eigentümerin, die über den permanenten Presserummel und die Belagerung der Villa durch Heerscharen von Fans von früh bis spät ohnehin erbost genug war.

Für den solcherart schon genug geplagten Elvis war es nur eine Frage der Zeit gewesen, wann sich die beiden Frauen in der Küche der Villa Grunewald die Augen auskratzen würden, denn die Hotelinhaberin, Frau Schmidt, war eine streitbare Gegnerin, die sich von Minnie Mae nichts gefallen ließ.

Das Gezeter aus der Küche war ihm derart auf die Nerven gegangen und hatte ihn beim feierabendlichen Musizieren gestört, sodass er häufiger, als ihm lieb gewesen war, geflüchtet war, um sich in der nahegelegenen Auguste-Viktoria-Bar, in der hauptsächlich GIs verkehrten, noch ein paar Drinks zu genehmigen.

Kurz entschlossen schickte Elvis seine beiden Kumpels durch die Hintertür in den rückwärtigen Garten, der von Reportern und Fans nicht einsehbar war, um den am Kurhaus geparkten Jeep zu holen, der deutlich unauffälliger war als der weiße BMW. Inzwischen schlüpfte er rasch in seine Militäruniform, stülpte sich die Schirmmütze auf den Kopf und setzte eine dunkle Sonnenbrille auf, damit er aussah wie jeder x-beliebige amerikanische Soldat und nicht wie der »King of Rock’n’Roll«, dem die ganze Welt zu Füßen lag – was ihm manchmal ganz schön auf die Nerven ging.

Es klappte alles erstaunlich gut, und im Nu saß er neben Lamar und Red im Jeep und instruierte Red, runter zur Frankfurter Straße zu fahren, dort gebe es ein Lokal namens Rhinegold, in dem man die besten »German snitzels in town« kriegen würde. Den Tipp hatte ihm Brian O’Shaugnessy, ein Sergeant, gegeben, der in der gleichen Einheit diente wie er, und darauf hatte er heute Lust.

»Guten Abend, Madam. Gestatten Sie, ich bin Red West, der Freund und Leibwächter von Elvis Presley«, stellte sich der rothaarige Mann mit dem muskulösen Oberkörper unter der amerikanischen Armeeuniform Elfi mit einer höflichen Verbeugung vor. »Mister Presley kommt auf Empfehlung eines Armykameraden hierher, der sagt, bei Ihnen gäbe es die besten German Snitzels in ganz Bad Nauheim. Er wartet draußen im Wagen und möchte gerne inkognito bleiben, wenn das möglich ist. Daher möchte ich Sie um einen ruhigen Tisch bitten, der etwas im Hintergrund steht, wenn das machbar wäre?« Er blickte die Wirtin, die ihn aus großen Augen ansah, fragend an.

»Es ist mir natürlich eine große Ehre, Mister Presley in meinem Lokal als Gast begrüßen zu dürfen«, erwiderte Elfi in fließendem Englisch entgegenkommend. »Doch einen ausgesprochen separaten Tisch kann ich Ihnen leider nicht anbieten. Sie können sich aber gerne an den kleinen Tisch neben der Küchentür setzen, dort sind Sie etwas abseits von den anderen Tischen. Das ist normalerweise der Personaltisch, wo meine Kellnerin und ich uns kurz hinsetzen, wenn wir mal eine ruhige Minute haben.«

Elfi wies auf den kleinen Tisch mit den zwei Stühlen unweit der Tür mit der Aufschrift »Privat«, auf dem ein Aschenbecher und zwei Gläser standen. »Für zwei Personen sollte er reichen«, fügte sie hinzu und zog skeptisch die geschwungenen, sorgfältig gezupften Augenbrauen in die Höhe. »Ich kann Ihnen allerdings nicht garantieren, dass Mister Presley auch inkognito bleibt. Was mich und meine Bedienung betrifft, können Sie sich natürlich auf absolute Diskretion verlassen. Ich werde Herrn Presley behandeln wie jeden anderen Gast und mir in keinster Weise etwas anmerken lassen und auch meine Angestellte entsprechend instruieren.«

»Danke schön, Ma’am«, bedankte sich der Leibwächter charmant und eilte hinaus, um dem »King of Rock’n’Roll« Bescheid zu geben.

Elfi war verblüfft, als sie die Bestellungen von Elvis Presley und seiner beiden Begleiter aufnahm. In der frisch gebügelten Ausgehuniform, der tief in die Stirn gezogenen Schirmmütze und der dunklen Sonnenbrille war der Superstar aus Memphis, Tennessee wirklich kaum zu erkennen und sah aus wie Bill aus Iowa oder Tom aus Ohio. Er erkundigte sich bei ihr, welches Schnitzel sie besonders empfehlen könne, und entschied sich auf ihren Tipp hin für Jägerschnitzel mit Bratkartoffeln, während seine Leibwächter Zwiebelschnitzel bestellten. Elvis hatte sich extra so hingesetzt, dass sein Rücken dem Gastraum zugekehrt war, während Red und Lamar das Geschehen unauffällig im Auge hatten.

Während er seine Blicke über den gut besuchten Schankraum schweifen ließ und die jungen Leute beobachtete, die auf der kleinen Tanzfläche tanzten, stieß Red beim Anblick der hübschen Fräuleins in ihren von Petticoats gebauschten Röcken und den hautengen bonbonfarbenen, den Busen betonenden Rippenpullis einen gedämpften Pfiff durch die Zähne aus. Vor allem die Rothaarige in dem flaschengrünen Lurex