Der Zef'ihl, der in den Himmel stieg - Dieter Bohn - E-Book

Der Zef'ihl, der in den Himmel stieg E-Book

Dieter Bohn

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Beschreibung

Zwei Jahre sind vergangen, seit Adriaan Deneersen in »Der Zef'ihl, der vom Himmel fiel« in der Schlacht von Wamuan angeblich den Tod fand. Doch dann macht sich eine Frau auf die Suche nach ihm, die ihn für den Mörder ihres Vaters hält. Dies bringt seine alten Häscher wieder auf Deneersens Spur. Aber der K'atok, der Herrscher, in dessen Diensten Deneersen steht, lässt sich sein wertvollstes Gut nicht so leicht wegnehmen …

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Dieter Bohn

Der Zef’ihl

der in den Himmel stieg

AndroSF 178

Dieter Bohn

DER ZEF’IHL, DER IN DEN HIMMEL STIEG

AndroSF 178

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Mai 2023

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Andreas Schwietzke

Karten & Illustration: Dieter Bohn

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 335 2

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 771 8

1

Athena schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Nase. Eine wahre Flut an Gerüchen überfiel sie mit aller Wucht. Es waren Düfte und Aromen, die sie noch nie gerochen hatte, für die ihr Gehirn keine gespeicherten Erinnerungen finden konnte, weshalb es sich in Vergleiche flüchtete: Pfeffer, nasse Erde, Funkenschlag, Wild, Gras, Dung?

Es waren Gerüche, die sie noch nie hatte riechen können.

Sie war auf einer fremden Welt!

Auf keinem der zweiundzwanzig Planeten des Demoriums, dem Demokratischen Imperium der terrestrischen Welten. Sie war auf einer Welt, die es nicht geben durfte. Nicht von der Erde aus besiedelt. Unter dem Bann der Vereinigten Kirchen.

Auf einer Welt mit echten außerirdischen Bewohnern, die den Unterlagen ihres Vaters nach, praktisch nicht von Menschen zu unterscheiden waren. Aber trotzdem: Es waren Aliens!

Die Luft war kalt und brannte in der Nase. Athena öffnete die Augen.

Die Aussicht war spektakulär.

Der Ringwall des Einschlagkraters, in dem das Basiscamp mit seinen Start- und Landeeinrichtungen versteckt war, umgab sie wie der Rand einer gigantischen Schüssel. Schroffe, kahle Hänge stiegen zu schneebedeckten Gipfeln auf.

Aus den Unterlagen wusste sie, dass man, um hierhin zu gelangen, erst eine kalte Hochebene erklimmen musste. Auch auf dieser Welt galt die barometrische Faustformel, nach der die Temperatur mit zunehmender Höhe alle zweihundert Meter um circa ein Grad Celsius sank. Unten in den Ebenen war es deutlich wärmer. Auch innerhalb des Kraters war es durch die rundum geschützte Lage milder, als man es erwartete. Der Krater lag weit weg von der nächsten Ansiedlung der Eingeborenen, und war zu Fuß oder auf einem Reittier nur schwer zu erreichen. Es war der ideale Platz für eine versteckte Basis.

Der Himmel hatte eine Farbe, über die ihre Mutter zu sagen pflegte: »Die Engelchen backen.« Als Kind hatte sie das geglaubt.

Athena griff nach dem Geländer an der Gangway der Planetenfähre. Vom Widerstreit ihrer Gefühle bekam sie weiche Knie.

Furcht, entdeckt zu werden. Überwältigende Freude – und Panik! – auf dieser fremden Welt zu sein. Erleichterung, es bis hierher geschafft zu haben. Die Trauer über ihren Verlust. Beklemmung vor der Zukunft. Die Anspannung ihres Unterfangens, ihrer Suche, und die Angst vor dem, was sie zu tun hatte.

»Umwerfend, was?«, fragte eine Stimme hinter ihr.

Athena unterdrückte einen Fluch. Das war dieser Geologe Franklin, der sie den ganzen Abstieg über angebaggert hatte. Sie fühlte seine Hand am Oberarm, die ihr Halt geben wollte. Unwillig entzog sie sich seinem Griff, nahm die letzten Stufen und betrat den fremden Boden. Es ärgerte sie, dass der Mann diesen für sie bedeutsamen Moment verdorben hatte. Dabei wollte sie den Augenblick in sich aufnehmen, ihn auskosten, sich umschauen. Auch wenn es außer den Bergen um sie herum und der Handvoll Gebäude am Rande des Landefeldes nichts zu sehen gab: Dies war ihre erste außerirdische Welt! Und er hatte den Zauber ruiniert.

»Sieht man sich nachher?«, hakte er nach.

Sie lächelte Franklin übertrieben höflich an, strich sich eine lange, dunkle Strähne aus dem Gesicht und schwieg. Dann drehte sie sich um und beeilte sich, in den Shuttlebus zu kommen, der sie vom Landeplatz zur Basis bringen sollte.

Das Kirchliche Passantum ihres Vaters hatte sie bis hierher gebracht, nachdem sie alle Absperrungen und die Quarantäne überwunden hatte.

Nun musste sie allein klarkommen, sich allein auf einer primitiven Welt mit primitiven Eingeborenen durchschlagen. Dabei wusste sie immer noch nicht, was sie tun würde, wenn sie diesen Deneersen endlich gefunden hatte.

Ganz oben auf der Liste ihrer Optionen stand »umbringen«.

2

Adriaan Deneersen zog die Weste enger, schloss die Augen und atmete tief ein. Die Luft war klar und frisch, und stank nur wenig. Es war überraschend still hier draußen, stiller als im Haus, wo ein Kind plärrte.

Er öffnete die Augen, trat an die hölzerne Brüstung der Loggia heran und sah nach unten. Der Platz vor der Villa war leer, der Brunnen lag verwaist. Hier saß er oft, hier war er allein mit seinen Gedanken.

Adriaan Deneersen sah an sich hinunter.

Eindeutig, dachte er. Es geht dir zu gut.

Er griff auf Höhe des Bauchnabels zu und presste den Wulst zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen.

Du kriegst ‘ne Wampe!

An mangelnder körperlicher Betätigung konnte es nicht liegen. Ein- bis zweimal in einem Zehntag trainierte er mit seinem Leibwächter K’ahadi den Kampf mit und ohne Waffen – zum Teil bis zur Erschöpfung. Manchmal beteiligte sich auch dessen Frau Oklata, ebenfalls eine ausgebildete Kämpferin. Nach dem Mordanschlag, bei dem der alte Selaroe umgekommen war, hatte er sich auf Geheiß des K’atoks Leibwächter zulegen müssen.

Qiuani kocht vermutlich zu gut. Und ich esse zu gerne.

Aber er wusste, dass er sich etwas vormachte.

Dir fehlt die Herausforderung, der Druck.

Damals hatte es kaum Momente zum Verschnaufen gegeben, in denen er hätte Speck ansetzen können. Die möglichen Repressionen durch den K’atok, falls er beim Ersinnen von wirksamen Waffen versagte, hatten als reale Gefahr immer hinter ihm gestanden. Nun standen seine Projekte nicht mehr unter dem Zeitdruck, dass jeden Moment das mordlüsterne Heer der Masuti vor den Toren der Stadt auftauchen konnte. Er konnte sich mehr oder weniger in Ruhe den Projekten und seiner Familie widmen. Und doch war er unzufrieden.

Du solltest es genießen! Und froh sein, mit dem, was du hast. Wenn jemand von denen da oben rauskriegt, dass du noch lebst, bist du tot.

Fern am Horizont zeigten sich vereinzelte Wolken, die in der Dunkelheit kaum auszumachen waren.

Der Himmel war übersät mit Sternen, die er nicht benennen konnte. Sob’uhn hatte ihm Namen von einzelnen Sternbildern genannt. Adriaan hatte sich nur den »Seefahrer« und die »Wooti« gemerkt.

Wenn man genau hinschaute, sah man winzige Lichtpunkte, die mit großer Geschwindigkeit über den Himmel zogen – viel kleiner als die meisten Sterne. Die Menschen von Kofane nannten sie »K’t’scha«, nach einem Zugvogel.

Was wissen sie schon von Relaissatelliten!

Den wenigsten Menschen in Kofane war bewusst, dass die »K’t’scha« erst seit kurzer Zeit dort oben waren. Wer sie zum ersten Mal bemerkte, ging davon aus, dass er sie vorher nur nicht gesehen hatte.

Adriaan wusste es besser.

Das da oben sind meine Häscher. Dort oben wartet der Tod auf mich!

Er zog einen Korbstuhl zu sich heran und ließ sich hineinfallen. Dann schob er die Arme auf die Brüstung und legte sein Kinn darauf ab.

Lichtreflexe tanzten auf dem Wasser des Waschtrogs in der Mitte des Platzes. Tagsüber war um den Brunnen herum immer viel los, um ihn abzulenken: Die Wäscherinnen, im Wasser tollende Kinder, Reiter, die ihre Siita zur Tränke führten. Jetzt zeugten nur noch dunkle Flecken auf dem Boden um den Trog herum vom Leben, das sich tagsüber hier abspielte.

Ein leises Geräusch erklang von der Tür hinter ihm. Das war vermutlich einer seiner zwei Leibwächter, der ein Auge auf ihn hatte.

Könnte ich hier das Ziel eines heimtückisch abgeschossenen Pfeils werden?

Adriaan zuckte mit den Schultern. Die Zeiten, in denen er sich Sorgen vor den Masuti machen musste, waren vorbei. Zwar zogen noch immer vereinzelt Reste dieser räuberischen Nomaden durch das Umland. Aber seitdem ihr gewaltiges Heer beim Angriff auf Wamuan – mithilfe seiner Erfindungen – geschlagen worden war, bestand keine Notwendigkeit mehr, ihn zu ermorden.

Dafür gibt es jemand anderen, der meinen Kopf will!

Allerdings sollte Sven Hermans annehmen, dass Adriaan tot sei, weil er die Schlacht nicht überlebt hatte. Dafür hatten Frida Helvquist und die anderen Forscher gesorgt.

Aber ist das Täuschungsmanöver auch geglückt? Kann ich sicher sein, dass nicht einer von ihnen geredet hat? Hab’ ich sie von meiner Unschuld überzeugt? Glauben sie mir?

Eine zweite Kinderstimme fiel in das Plärren ein. Adriaan verdrehte die Augen und fühlte gleich darauf Schuldgefühle in sich aufsteigen. So sehr er die Kinder auch liebte, er fühlte sich von dem Drumherum oft überfordert. Dank seiner Frauen und Bediensteten blieb er zwar von vielen der unangenehmeren Seiten eines Großfamilien-Lebens verschont. Trotzdem zog es ihn immer öfter zur Ak’temi, zu seiner Akademie weit vor den Toren der Stadt. Dort hatte er Ruhe, konnte sich konzentrieren, und dort wartete ein Bett auf ihn, das ihm eine ruhige Nacht versprach, ohne dass ihn ein weinendes Kind aus dem Schlaf riss.

Schlaflose Nächte waren Gift für Kreativität, und von seinen kreativen Ideen lebte er. Im wahrsten Sinne des Wortes.

So gut der K’atok ihn auch behandelte, Adriaan war dennoch klar, dass der Herrscher von Kofane nach dem Motto »Zuckerbrot und Peitsche« vorging. Das Zuckerbrot waren Adriaans Villa, sein Status, sein Wohlstand und seine Pa’atni. Die Peitsche hatte er einmal erleben müssen. Nachdem er auf Shi’ialla gelandet war, wurde er wochenlang eingesperrt. Damals dachte er, er müsse in seinem Kellerverlies verrotten. Hinzu kam, dass er sich noch einen Infekt zugezogen hatte, an dem er beinahe krepiert wäre. Die Zeiten und die Sorgen hatten Spuren hinterlassen. Erste graue Strähnen zeigten sich in seinen dunkelblonden Haaren und die Falten in seinem Gesicht waren tiefer geworden.

Diese »Peitsche« will ich nie wieder erleben. Und deshalb muss ich liefern.

Sein Wert lag in dem Wissen um Dinge, die dieser Welt tausendfünfhundert Jahre voraus waren. Seine Aufgabe war es, dieses Wissen aufzuschreiben und wenn möglich, in praktische Anwendungen umzusetzen.

Vorzugsweise in solche, die Kofane den anderen Ländern überlegen machte oder ihnen gegenüber zumindest einen Vorteil verschaffte.

Deshalb war er der Zef'ihl.

3

»Hat was von Kehlkopfkatarrh, was?«, fragte Francesco. Er sprach Terranto, die Standardsprache auf den zweiundzwanzig Welten, die der Mensch besiedelt hatte. Sein Grinsen schien von einem Ohr zum anderen zu reichen.

Er war einer der Instruktoren im Basiscamp, dessen Aufgabe es war, die Neuankömmlinge mit den Gegebenheiten dieser Welt vertraut zu machen, einer Welt unter Kirchenbann. Ohne das Kirchliche Passantum ihres Vaters hätte Athena nie etwas von diesem Planeten gehört, geschweige denn, dass sie ohne diese Kirchliche Sondererlaubnis je einen Fuß daraufgesetzt hätte. Mit Mühe hatte sie verheimlichen können, dass sie keine Anthropologin war. Immer wenn das Gespräch auf sachbezogene Themen gekommen war, hatte sie es geschafft, die Unterhaltung in Bahnen zu lenken, in denen sie sich sicherer fühlte. Dabei kam ihr zugute, dass sie sich in den Ausbreitungswegen der Sprachen auskannte, die sehr eng mit dem Ausbreiten der Menschheit über die Erde verbunden waren. Das sollte ihr als Linguistin eigentlich gefallen. Sie hatte eine Welt voll fremder Sprachen vor sich, die es zu erforschen galt.

Aber sie war nicht zum Forschen hier.

Sie hatte ein anderes Ziel. Sie musste diesen Adriaan Deneersen finden.

Aus der Nachricht ihres Vaters entnahm sie, dass er zuletzt in Wamuan gelebt hatte, der Hauptstadt des Landes Kofane im Nordosten dieses Kontinents. Doch um ihn dort zu suchen, musste sie die Sprache, die dort gesprochen wurde, halbwegs beherrschen.

Den langen Flug nach Shi’ialla hatte Athena die meiste Zeit unter dem Indoktrinator verbracht, jener modernen Variante des »Nürnberger Trichters«, der die Lernfähigkeit des Gehirns im REM-Schlaf nutzte. Nun besaß sie nicht nur ein fundiertes Wissen über diese fremde Welt, sondern verfügte auch über den grundsätzlichen Wortschatz und die grammatischen Regeln der drei wichtigsten Verkehrssprachen. Aber Worte in ihrer Großhirnrinde abgespeichert zu haben, war eine Sache. Sie folgerichtig anzuwenden und vor allem richtig auszusprechen, war etwas anderes.

Atta war eine kehlige, abgehackte, harte Sprache, mit einer Anhäufung von Konsonanten und Plosivlauten wie »k« und »t«.

Dabei sollte sie eigentlich befähigt dafür sein, schließlich hatte sie Sprachwissenschaften studiert. Deshalb ärgerte sie Francescos Feixen über ihre Versuche, sich mit ihm auf Atta zu unterhalten, umso mehr.

Francesco hob die Hände. »Lassen Sie sich nicht frustrieren! Sie machen das für einen Neuling erstaunlich gut, Athena.«

Bei ihrer ersten Begegnung hatte er erklärt, dass sie ihn vom Aussehen her, mit ihren schulterlangen rotbraunen Haaren und dem sonnengebräunten Teint, an seine italienischen Vorfahren erinnerte. Seitdem behandelte er sie besonders zuvorkommend.

Der Instruktor wandte sich an die anderen »Neulinge«.

»Keine Angst, ihr kriegt das noch hin. Bis dahin hilft nur üben, üben, üben. Und das ist der Grund, warum ihr euch daran gewöhnen solltet, euch auch in der Freizeit in Atta zu unterhalten.«

Die Bewohner dieser Welt durften nicht erfahren, dass Forscher von einem anderen Planeten sie studierten. Selbst wenn ein Forscher von der äußeren Erscheinung her in eine Region passte, gehörte jahrelange Erfahrung dazu, nicht aufzufallen oder sich gar wie ein Einheimischer zu benehmen. Schon durch ihren Akzent fielen sie auf. Darum mieden sie so weit wie möglich den Kontakt mit den Eingeborenen, und wenn er nicht zu vermeiden war, dann gaben sie sich als Reisende aus fernen Ländern aus.

Athena war nur eine von fünf Neuen, die sich erstmals auf Shi’ialla aufhielten und die in einem zweiwöchigen Crashkurs die notwendigen Dinge beigebracht bekamen, bevor sie zu einer Gruppe erfahrener Forscher an ihren Zielort gebracht wurden. Sie war erleichtert, dass Franklin Gheri, der mit ihr angekommen war, nicht dazugehörte. Er war bereits am Tag nach der Ankunft mit einem Hopper weitergereist. Sich zwei Wochen gegen einen zudringlichen Schürzenjäger zur Wehr zu setzen, wäre mehr, als sie in ihrem Gemütszustand ertragen konnte. Deshalb vermied sie es auch, mehr Zeit als nötig mit den anderen Neulingen zu verbringen.

Ihr Tag war vollgestopft mit Lektionen über dieses und jenes, um das unter dem Indoktrinator erlernte Wissen zu vertiefen. Francesco war dabei nur einer von vier Instruktoren. Doch es würde Wochen, Monate dauern, bis sie dieses aufgepfropfte Wissen verinnerlicht hatte.

Nein, nicht »Wochen« und »Monate« hieß das hier, sondern »Zehntage« und »Ssont«! Sie musste sich daran gewöhnen!

Shi’ialla war der vierte Planet der Sonne Uul, einer Sonne mit einem leicht rotstichigen Spektrum. Die anderen elf Planeten waren glühende oder vereiste Steinwelten, die der Sonne zu nah oder zu fern waren, um Leben zu ermöglichen, oder riesige Gasbälle wie der Jupiter.

Der Planet benötigte für einen Sonnenumlauf 247,2 Tage. Ein Tag auf Shi’ialla dauerte knapp sechsundzwanzig irdische Stunden. Das war eine Herausforderung für jeden terranischen Neuankömmling, der an den Vierundzwanzigstundenrhythmus der Erde gewohnt war. Die indigene Bevölkerung rechnete in Parr. Der Tag hatte zwanzig Parr. Somit entsprach ein Parr etwa neunzig Minuten.

Da es keinen einzelnen Mond gab, der das Jahr durch seine Phasen unterteilte, gab es auch keinen Monat im irdischen Sinn. Die Umlaufbahnen der beiden Monde Asuul und Asoon waren zu komplex, um als brauchbarer Zeitmesser zu dienen. Es gab lokale Ausnahmen, aber in weiten Teilen der Welt basierte alles auf dem Zählsystem, das jedem zur Verfügung stand, den zehn Fingern an den Händen. Anscheinend hatten Schifffahrt und weltweiter Handel dafür gesorgt, dass die Standardisierung viel weiter fortgeschritten war als auf der Erde eines vergleichbaren Zeitalters.

Eine »Woche« bestand somit aus zehn Tagen mit kurzen und abgehackt klingenden Namen. Das Jahr war in vier Ssont zu sechs Zehntagen eingeteilt. Zu Beginn eines Ssont gab es einen zusätzlichen Feiertag, der die Sonnenwendtage und die Tage der Tag- und Nachtgleiche auszeichnete. Drei oder vier zusätzliche Feiertage am Ende des Jahres brachten den siderischen Umlauf wieder mit der Zeitrechnung zur Deckung.

»So!«, sagte Francesco bestimmt. Er setzte ein erwartungsvolles Grinsen auf und fuhr auf Atta fort.

»Kommen wir zum heutigen Höhepunkt, der für die meisten sogar der des ganzen Einführungstrainings ist.«

Er öffnete die kleine Seitentür, die zu einem lang gestreckten Gebäude führte, das wie ein weiterer Stall aussah. »Wenn ihr schon die Quhatas beeindruckend fandet, dann müsst ihr erst mal die hier sehen.«

Der Instruktor schob das Tor weit auf, sodass der zartrosa Schein der Sonne Uul in diesen Bereich der Stallungen fiel.

»Das, liebe Newbies, sind unsere Siitas.« Francesco machte eine effektheischende Geste. »Sind sie nicht schön?«

Athena stockte der Atem. Ihre Begegnung im Nachbarstall mit den Quhatas, dem planetaren Äquivalent für Ochsen, war bereits ein Erlebnis gewesen, doch der Anblick der Siitas ließ ihr Herz höherschlagen. Diese anmutigen Wesen auf Bildern oder in Videos zu sehen, war beeindruckend. Einem drei Meter großen Saurier auf zwei Beinen gegenüberzustehen, war atemberaubend.

Als Kind hatte sie sich nie für Saurier begeistern können, sich sogar davor gefürchtet. Aber diese Sauroiden machten ihr keine Angst. Vielleicht lag es daran, dass Siitas außer an Beinen und Hals keine glatten, kalten Reptilienschuppen besaßen, sondern mit einem Fell aus kurzen, platten Haaren bedeckt waren, die an den Rändern fast wie Federn aussahen. Das schmale Maul glich dem eines Kamels, und wie diese, schienen die Siitas fortwährend zu kauen. Alles in allem erinnerten sie diese Tiere eher an übergroße Kängurus mit einem weit nach hinten ausladenden Knochenzapfen am Schädel.

Dagegen waren die Quhatas nebenan plumpe Tiere. Sie glichen einer Kreuzung aus Nilpferd und Gürteltier mit schmalen Geweihschaufeln, die sich seitlich am Kopf befanden.

Francesco trat an ein Tier heran und tätschelte seinen Hals.

»Ihr müsst euch mit ihnen vertraut machen, denn sie sind in fast allen Gegenden von Shi’ialla das Hauptverkehrsmittel. Wir bringen euch zwar mit dem Hopper hin, aber aus verständlichen Gründen darf die indigene Bevölkerung natürlich kein technisches Gadget aus unserer Welt zu Gesicht bekommen. Darum fliegen die Hopper auch nur nachts und im Stealth-Modus, das heißt tief, langsam und leise. Und deshalb müsst ihr die letzten Kilometer auf einheimische Weise weiterkommen. Und da sind die Siitas die erste Wahl. Es sei denn, ihr wollt zu Fuß gehen.«

In einigen Tagen würde eine solche Gruppe aufbrechen. Ihr Ziel lag zehntausend Kilometer südöstlich von hier auf dem Kontinent Me’el. Athena hatte sich für diese Gruppe einteilen lassen, denn der Kurs ihrer nächtlichen Reise würde hundert Kilometer Luftlinie an Wamuan vorbeiführen.

Francesco wandte sich an seine Zuhörer. »Also? Wer will die oder der Erste sein? Keine Panik! Sie sind gutmütig und leichter zu reiten als Pferde.«

4

Hoch über den Zinnen des Palasts, im Zentrum der Stadt Wamuan, erhob sich der Turm. Von hier aus konnte man die ganze Stadt und die Ebene, in der sie lag, überblicken. Dieser Anblick war jedoch nur ganz wenigen Menschen vergönnt.

Eine hagere Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, lehnte einsam am Rand der Plattform, die Hände zusammengefaltet, mit den Ellenbogen auf der steinernen Brüstung abgestützt, und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Auf der einen Seite blieb er an der Straße nach Kallein hängen, die sich zwischen den Hügeln hervor schlängelte, der Stadt näherte und sich als belebte Hauptstraße unter dem Bollwerk des Haupttors hindurch duckte, die direkt auf den Palast zuführte. Auf der anderen Seite war es der Fluss Kjul, der das Auge lenkte, wie er sich in die Bucht von Wamuan ergoss und wo sich zwei Eilande, »die Schwestern« Flar und Fnis, aus der See erhoben.

Im Westen versank die Sonne in einem letzten Aufbäumen blutroten Lichts. In ihrem Schein blühten die Wolkentürme einer grauschwarzen Wolkenfront, die den gesamten südlichen Horizont umspannte. Der Himmel wurde bleifarben und stumpf. Wahrscheinlich würde es ein Gewitter geben.

Ein riesiger Schwarm von Ga’ata schwebte über der Bucht von Wamuan. Nach und nach löste er sich auf. Die Flugechsen kehrten zu ihren Nistplätzen auf den beiden vorgelagerten Inseln Flar und Fnis zurück.

In Anbetracht der politischen Lage hätte der K’atok zufrieden sein können.

Die Masuti waren vor zwei Jahren erfolgreich zurückgeschlagen worden, dank Adriaan Deneason, der ihm so unvermittelt aus dem Himmel in den Schoß gefallen war.

Die sichtbaren Wunden, welche die Schlacht um Wamuan gerissen hatte, waren größtenteils verheilt. Die nicht sichtbaren, die Narben an Körper und Geist seiner Untertanen, seiner Kinder, würden nicht so schnell verheilen.

Mit seiner Hauptstadt und seinem Land ging es aufwärts. Auch dank des Fremden von den Sternen, den er zu seinem Zef'ihl gemacht hatte.

Die Stadt roch anders, frischer als vor drei Jahren – aufgrund des Zef'ihls und seiner »K'naal'lis'atzon«.

Der Handel mit den Nachbarländern blühte – mit den Erfindungen des Zef’ihls.

Die Nachbarn hatten Respekt vor dem kleinen Kofane – aus Angst vor dem Zef’ihl.

Es missfiel dem K’atok, dass so viel von einer einzelnen Person abhing. Kofanes Wohl lag in den Händen eines Mannes, der in seiner Welt als Verbrecher galt. Nur weil er angeblich in der Schlacht getötet worden war, wurde der Zef’ihl von seinen Leuten nicht mehr gesucht, und nur deshalb stand er dem K’atok noch zur Verfügung.

Mit dem Zef’ihl besaß Kofane eine unschätzbare Kostbarkeit. Es hatte Überzeugungskraft gebraucht, damit der Fremde sein Wissen und seine Fähigkeiten in den Dienst des Landes stellte. Die Wochen im Kerker hatten dazu beigetragen. Und auch die Privilegien – eine repräsentative Villa, die Pa’atni, die sich seiner sehr menschlichen Bedürfnisse angenommen hatten –, waren ein goldener Käfig gewesen.

Jetzt waren es die unsichtbaren Fesseln einer Familie, die ihn an Wamuan und Kofane banden.

Was dem K’atok Sorgen bereitete, waren nicht die eifersüchtigen Blicke der Nachbarn auf seinen Zef'ihl, sondern dass Kofanes plötzlicher Reichtum an Wissen und Fortschritt die Aufmerksamkeit von jemanden erregte, der ihnen weit überlegen war.

Er wusste, dass es dort draußen Mächte gab, die sie alle – sein Land, seine Kinder – mit einem Wisch auslöschen konnten. Er hatte es in den Mitschriften Sob’uhns gelesen.

Schlimmer noch! Diese Mächte konnten sie zu Sklaven machen, die weniger Rechte als Pa’atni hätten. Sie konnten ihnen ihre Lebensart nehmen, ihnen ihre Religionen aufzwingen, ihnen ihre Würde nehmen.

Und sie würden ihm und seinen Kindern ihren Zef’ihl wegnehmen. Es wurde Zeit, sich diesem Problem zu stellen.

Er richtete sich auf, drückte den Rücken durch und ging mit entschlossenem Schritt zu den Leibwächtern, die an der Treppe warteten.

»Schickt den Zetul zu mir!«

5

Es war warm im Hopper, der Antrieb säuselte vor sich hin, und die Innenbeleuchtung war auf ein Minimum heruntergedimmt. Ideale Voraussetzungen, um auf einem Flug in tiefster Nacht vor sich hin zu dösen. Athena war zu aufgeregt, um zu schlafen. Außerdem war ihr von der Schwerelosigkeit im Hopper übel.

Hinter dem mittleren Sitzblock begann die Außenwand der Kugel, die bis zur Decke und durch sie hindurch reichte, und die den Higgs-Applikator in sich barg. Diese im Raumfahrerjargon »Hickup« genannte Maschine erzeugte das Feld, das den Einfluss der Gravitation aufhob. Was blieb, war eine schwebende Masse, die vom Staustrahltriebwerk im Heck bewegt wurde.

Alle Wände, der Boden und die Decke waren mit einem speziellen Material ausgekleidet. Zusammen mit den Schuhüberziehern sorgte es für den nötigen Halt, wenn der Hickup in seinem kugelförmigen Feld die Schwerkraft aussperrte.

Rechts und links der Kugelwölbung führten schmale Gänge in den hinteren Bereich. Dort befand sich der Stauraum mit den Versorgungsgütern für die Forscher vor Ort, sowie Ausrüstungsgegenstände und die wenige, persönliche Habe der Passagiere. Auch der Rucksack mit Athenas Habseligkeiten und dem heimlich beschafften Proviant befand sich noch im Stauraum hinter der Kugel des Hickups.

Die Kabine verfügte neben den Sitzen für Pilot und Kopilot über weitere acht Sitzplätze für Passagiere.

Alle Plätze waren belegt. Bis auf eine Frau kannte Athena die Passagiere von den Einführungswochen. Sie hatte bewusst vermieden, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Während die anderen sich nach dem Unterricht noch trafen oder den Abend zusammen verbrachten, hatte Athena sich herausgehalten. Man hielt sie vermutlich für überheblich oder eine Eigenbrötlerin. Dabei war Athena normalerweise gesellig. Aber jede unbedachte Äußerung, jedes zwanglose Fachsimpeln mit einem der Forscher konnte ihre Tarnung auffliegen lassen. Dem war sie lieber aus dem Weg gegangen.

Die meisten Passagiere dösten vor sich hin oder unterhielten sich leise. Nur ein paar der Neuen aus ihrer Gruppe hatten offensichtlich Spaß an der Schwerelosigkeit, die nicht nur die Haare wie eine Seegraswiese im Meer wogen, sondern alles, was nicht befestigt war, durch die Kabine umherschweben ließ.

Athena zupfte an ihrem Rock und klemmte den Saum zwischen den Beinen ein. Fast alle trugen bereits die Kleidung, wie sie auch die Eingeborenen trugen. Rock war sie ja gewohnt, aber diese merkwürdige Art von Unterwäsche war gewöhnungsbedürftig. Sie bestand aus einem langen, schmalen Tuch, das einmal um die Hüften geschlungen, dann zwischen den Beinen hindurchgeführt und wieder an der Hüftschlinge befestigt wurde. Die Pobacken blieben dabei frei. Ständig ertappte sie sich, wie sie den Saum des Rocks nach unten zupfte, weil sie sich so nackt vorkam. Vor allem, wenn er wie hier im Antischwerkraftfeld des Hickups ständig bestrebt war, sich zu lüpfen.

Athena saß an einem der Plätze an der Außenwand. Sie lehnte ihren Kopf an das Pla-Glas des Kabinenfensters, beschattete ihre Augen vor dem Restlicht der Kabine, und starrte nach draußen. Die Finsternis einer Welt, die Jahrhunderte von der Entwicklung elektrischen Lichts entfernt war, half ihr gegen die Übelkeit. Ein unterschwelliger Geruch in den Polstern, nicht vollständig von Raumluftparfüm überdeckt, ließ ahnen, dass sie nicht die Erste wäre, die sich im Gefühl des freien Falls übergeben würde.

Einer der Monde stand am Himmel. Der Farbe nach musste es Asoon sein, der größere der beiden Trabanten. Seine dünne Atmosphäre überzog ihn mit einem blauen Schein. In seinem Orbit befand sich auch der »Bahnhof«, an dem das Sprungschiff sie abgesetzt hatte. Von dort aus starteten Shuttles, die Forscher zum Basiscamp an der Oberfläche und wieder zurückbrachten. Der kleinere Mond, die rötliche Asuul, war nicht zu sehen.

Die astromechanischen und geografischen Gegebenheiten waren eine von vielen Schulungseinheiten unter dem Indoktrinator gewesen. Der Planet verfügte über zwei bewohnte Großkontinente, Ajschta und Me’el. Auf Ajschta befand sich das Basiscamp, der versteckte Stützpunkt der Terraner auf Shi’ialla, zugleich der Ort mit der Startvorrichtung, mit deren Hilfe man die Umlaufbahn erreichen konnte.

Eine dritte, kontinentgroße Landmasse mit dem zungenbrechenden Namen Xsesch’an lag unter dem ewigen Eis des Nordens begraben. Lediglich ein Zipfel im hohen Norden blieb vom Permafrost verschont und ragte mit einer geologisch dazugehörenden Inselkette fast bis zum Äquator.

Eine weitere Inselgruppe im Osten bildete den Pseudokontinent Sumsar, vergleichbar dem irdischen Indonesien.

Me’el war die Endstation dieses Hoppers. Die letzten Tage hatten sich die Gespräche im Basislager um nichts anderes als die Ruinen gedreht, die man dort in einem unzugänglichen Dschungeltal mittels LIDAR-Fernerkundung aus dem Orbit entdeckt hatte.

Die Forscher konnten weitgehend frei entscheiden, wo und wann und wie sie eingesetzt wurden. Darum war dieses Tal das Ziel der meisten im Hopper. Der Stauraum im Heck der Maschine war voll mit Materialien und Versorgungsgütern für das neue Forschungscamp.

Athena hatte es geschafft, für den Trip nach Me’el eingetragen zu werden. Wäre sie wirklich die Anthropologin, als die sie sich bisher erfolgreich ausgegeben hatte, wäre sie jetzt hoch erfreut, die Gelegenheit zu bekommen, in unerforschtem Gebiet zu graben.

Vorher würde der Hopper jedoch noch einen Zwischenstopp in einem abgelegenen Camp mit Botanikern einlegen. Die Flüge erfolgten fast ausschließlich nachts und für den Fall, dass ein Hopper irgendwo abgestellt werden musste, gab es im Stauraum eine zusammengefaltete Mimikryfolie, die auf optoelektrischem Wege die Struktur des Hintergrunds imitieren konnte. Die Eingeborenen dieser Welt sollten nicht mitbekommen, dass Wesen von den Sternen auf ihrem Planeten umherstreiften und Forschung betrieben. Erst recht durften sie keine Zeugnisse einer hochtechnologischen Zivilisation zu sehen bekommen.

Athena musste sich immer wieder vor Augen halten, dass sie es hier nicht mit Menschen, mit Kindern des Planeten Erde, zu tun hatte. Dies waren echte Außerirdische, Wesen einer parallelen Evolution auf einem fremden Planeten. Das war auch der Grund, warum diese Welt unter Quarantäne, unter dem Bann der Vereinigten Kirchen stand und man nur mit einem Kirchlichen Passantum hierher gelangte. Zumindest war man sich im Kreis der Forscher darüber einig.

Vermutlich rauchten bei einigen klerikalen Würdenträgern die Köpfe, wie man auf den Welten des Demoriums erklären sollte, dass der eine Gott, interpretiert von Ihren Heiligkeiten, auch auf einer anderen Welt als der Erde Wesen nach seinem Ebenbild geschaffen hatte.

Aus den Lektionen des Indoktrinators wusste Athena, dass die eingeborenen Humanoiden von Shi’ialla von Menschen kaum zu unterscheiden waren. Leider stand kein Mittel zur Verfügung, etwas über den Grad der parallelen Evolution auszusagen, da die Disziplin der Genetik seit einigen Hundert Jahren unter dem Bann der klerikalen Dogmen stand. Denen zufolge hatte Gott den Menschen geschaffen und kein Mensch durfte Gott in sein Handwerk schauen, geschweige denn hineinpfuschen. Damit stand auch die Genomanalyse unter Kirchenbann. Den Forschern blieben nur vergleichende Analysen, die von den Kirchen interpretiert wurden.

»In einer Viertelstunde landen wir am Zwischenziel. Wir überfliegen gerade das Zula’ai-Gebirge.«

Athena hatte nicht mitbekommen, dass die Kopilotin sich zu ihnen umgedreht hatte. Einige Passagiere schreckten aus ihrem leichten Schlaf hoch. Manche gähnten, reckten sich und versuchten, ihre schwebende Kleidung zu richten. Das bisher monotone Hintergrundgeräusch änderte sich. Es rumpelte und klackte im Bauch des Hoppers, als das Landefahrwerk ausfuhr.

Das Säuseln des Triebwerks nahm eine andere Klangfärbung an. Als die Pilotin, eine Frau mit deutlich erkennbaren asiatischen Wurzeln, die Leistung des Higgs-Applikators langsam herunterfuhr, war es, als lege sich eine bleierne Schwere auf sie und drohte, sie zu erdrücken. Dann gab es einen Ruck, als das Schiff aufsetzte.

Athena atmete schwer. Nicht nur, weil ihr volles Gewicht wieder auf ihr lastete.

Im Camp der Botaniker stiegen sie aus, um sich die Beine vor dem anstehenden Flug über den Ozean noch einmal zu vertreten und die Versorgungsgüter für die Wissenschaftler auszuladen.

Athena ließ sie sich Zeit mit dem Aussteigen, scheinbar trödelnd, während ihr Herz bis zum Hals schlug. Erst als der letzte Passagier die Kabine verlassen hatte, schnappte sie sich ihren Rucksack. Langsam schlenderte sie nach draußen. Dann, in einem unbeobachteten Moment, spurtete los, hinein in die Dunkelheit der Nacht.

Athena schlug sich in die Büsche. Wortwörtlich. Mehr stolpernd als laufend fiel sie direkt in die Kugel aus Gestrüpp und Blättern. Die Gewächse zerkratzten ihre Haut an Armen und Beinen, aber sie schützten sie auch vor der Sicht der Menschen dort oben am Hügel.

Das Camp war nur schwach vom Schein offener Feuer beleuchtet. Zwar befand es sich viele Kilometer entfernt von jeder Behausung und allen Pfaden, trotzdem wollte niemand das Risiko eingehen, dass ein zufällig vorbeikommender Eingeborener des Anblicks künstlichen, elektrischen Lichts gewahr wurde.

Normalerweise.

Denn nun flammten dort oben die grellen Leuchtfinger von Handstrahlern auf. Anscheinend hatte man ihr Fehlen bemerkt. Rufe wurden laut. Sie hörte ihren Namen heraus.

Athena duckte sich tiefer hinter den Busch. Ihr Atem erschien ihr überlaut. Für einen Moment überfiel sie Unsicherheit, ob sie das Comgerät in ihrem Gepäck wirklich ausgeschaltet hatte.

Leon, der Bauingenieur, der ihr von antiken Monumentalbauten vorgeschwärmt hatte, kam die Zugangstreppe herunter geeilt. Aufgeregt zeigte er den anderen etwas. Vermutlich ihren vorbereiteten Zettel, den sie auf dem Sitz deponiert hatte.

»Folgt mir nicht!«, stand darauf. »Ich weiß, was ich tue.«

Während sie in der Dunkelheit inmitten eines Buschs hockte, fragte sie sich, ob sie das wirklich wusste.

Gefühlte Stunden hockte sie hinter dem Kugelbusch. Die Botaniker dort oben hatten dieser Art bestimmt einen hochtrabend klingenden lateinischen Namen verpasst. Für Athena war es ein Kugelbusch … und ihr Versteck.

Es herrschte Aufregung auf dem Hügel. Personen liefen umher, riefen nach ihr. Sie glaubte, auch das blecherne Geräusch von Sprechfunk zu hören.

Vereinzelt strich der Strahl einer Taschenlampe über ihr Versteck und ein Suchtrupp ging den freigeräumten Bereich des Hügels ab, der dem Hopper als Landefläche diente. Ein, zwei Mal kam sogar jemand unmittelbar an ihrem Kugelbusch vorbei. Dann duckte sie sich tiefer und atmete flach und leise.

Ihr Versteck zu verlassen und weiterzulaufen, traute sie sich nicht. Sie hatte Angst, dass man die Geräusche hören würde, mit der sie durch das Unterholz stolperte. Außerdem war es immer noch so finster, dass die reale Gefahr bestand, sich irgendwo die Knochen oder das Genick zu brechen.

Schließlich, nach gefühlten Ewigkeiten, stiegen die restlichen Passagiere einer nach dem anderen wieder in den Hopper. Die Botaniker des Camps traten beiseite. Dann ertönte der Antrieb. Das Fahrwerk, auf dem das Boot bis jetzt geruht hatte, klappte wie die Glieder eines Insekts ein. Der Hopper blieb schwerelos in der Luft hängen. Nach einer Weile setzte er sich in Bewegung und verschwand in der Nacht.

Als sich die Bewohner des Camps schlafen legten, kehrte oben auf dem Hügel nach und nach Ruhe ein.

Athena war viel zu aufgeregt, um zu schlafen …

… und sie schreckte aus dem Schlaf hoch, als etwas über ihren Fuß krabbelte.

Mit Mühe unterdrücke sie einen Schrei. Das Etwas war schon wieder im Unterholz verschwunden.

Die Sonne Uul ging gerade über dem Horizont auf. Tau schimmerte auf den lanzettförmigen Gräsern. Ihre Kleidung war klamm und sie fröstelte. Fast schlagartig erwachte die urweltliche Natur. Tierstimmen – unheimlich und unbekannt zugleich – plärrten, zischten, fauchten und schrien.

Sie packte den Rucksack. Er war einheimischen Modellen nachempfunden und deshalb längst nicht so funktionell wie Produkte aus den Welten des Demoriums. Im Camp schienen alle noch zu schlafen. Nach einem misstrauischen Blick gen Hügel verließ sie gebückt und leise die Anhöhe. Als sie glaubte, weit genug weg zu sein, reckte sie sich ausgiebig und stöhnte gequält.

Dann kramte sie die Decke aus ihrem Gepäck und wickelte sich bis zu den Knöcheln darin ein. Das machte das Gehen zwar nicht einfach, aber sie musste erst einmal wieder warm werden. Sie ärgerte sich, dass sie nicht die Decke ausgepackt und sich damit zugedeckt hatte, bevor sie eingeschlafen war.

Mit den Jahreszeiten dieser Welt und dem Klima in dieser Region hatte sie sich nicht großartig beschäftigt. Ein Fehler, wie ihr jetzt aufging. Denn nun, wo sie der Natur des Planeten so unmittelbar nahe war, bemerkte sie Anzeichen, die sie auf der Erde mit einem heraufziehenden Herbst in Verbindung brachte.

Bei diesem Gedanken überfiel sie der Anflug eines Herbstblues.

Was machte sie eigentlich hier?

Nachdem Athena die Nachricht ihres Vaters abgehört hatte, hatte sie zuerst keinen klaren Gedanken fassen können. Dann hatte sie sich in dieses Abenteuer gestürzt, ohne viel nachzudenken, was danach kam.

Nun war sie auf einem fremden Planeten fern der Zivilisation gestrandet, mit Außerirdischen, die ihr möglicherweise an den Kragen wollten, einer Umwelt, in der es unzählige Lebewesen gab, die sie vielleicht fressen wollten, und einem Ziel, von dem sie bestenfalls eine vage Vorstellung hatte, was sie dort zu erreichen gedachte.

Gedanken über den Rückweg hatte sie sich auch nicht gemacht. Wenn sie Pech hatte und der Winter früh hereinbrach, musste sie sich die weite Strecke zurück ins Camp zu Fuß durch Eis und Schnee kämpfen. Genauso wie sie nun die rund zweihundert Kilometer über Land nach Wamuan zu Fuß zurücklegen musste.

Dabei lag das Camp der Botaniker noch am nächsten zu dem Ort, der ihr Ziel war. Vielleicht hätte es im Laufe der Zeit eine andere Gelegenheit gegeben, näher an Wamuan heranzukommen. Aber Zeit hatte sie nicht. Jede Stunde, die sie länger in Kontakt mit den Forschern blieb, erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass sie aufflog. Und wenn es stimmte, was sie in der Aufzeichnung gehört hatte, wurden alle, die von dieser »Sache« wussten, mundtot gemacht. Mit Betonung auf »tot«.

Athena aber wollte wissen, aus welchem Grund!

Entschlossen setzte sie den Rucksack ab, raffte die Decke fester zusammen und kramte in ihrem Gepäck nach dem Comgerät, von dem sie vorsorglich schon vor dem Start die Ortungsfunktion deaktiviert hatte. Ihre Hand stieß an etwas Hartes, den Schocker, den alle Forscher ausgehändigt bekommen hatten. Er war ein probates Mittel, um sich gegen eine aufdringliche Fauna zur Wehr zu setzen. Darunter, ganz unten unter ihrer Kleidung, ertastetet sie die Projektilpistole ihres Vaters.

Den Schocker hatte man ihr aufgenötigt. Die Pistole war für Deneersen reserviert.

Athena schaltete das Com ein, versicherte sich, dass die Ortungsfunktion tatsächlich ausgeschaltet war, und rief die Kartenfunktion auf, die mit Geodaten aus der Satellitenerkundung gespeist war. Wenn sie jeden Tag zehn Stunden marschierte, wäre sie in fünf Tagen in Wamuan.

Sie stopfte den schweren Schocker in die Innentasche ihrer Jacke, hängte sich den Rucksack über den Rücken und stapfte weiter.

6

Das war einer jener Tage, an denen Adriaan das Gefühl hatte, dass seine Batterie leer war und er es nicht schaffte, sie wieder aufzuladen, auch nicht in seiner sogenannten »freien Zeit«. Seinen Frauen verlangte es nach ihrem Mann, seine Kinder verlangten nach ihrem Vater, Kofane verlangte es nach dem Zef’ihl und gesellschaftliche Verpflichtungen verlangten nach dem Hausherrn.

In wenigen Tagen stand T’Frii an, der »Erntetag«, das Fest der herbstlichen Tagundnachtgleiche. Saias Vater und ihre restliche Familie würden zu Besuch kommen, und er würde seinen Pflichten als Gastgeber nachkommen müssen.

Pflichten über Pflichten! Und zu viele Projekte nebeneinander. Zu vieles, bei dem ich und mein Team nicht weiterkommen oder in einer Sackgasse stecken.

Von den Prototypen einer kleinen Dampfmaschine waren ihnen bereits zwei Exemplare um die Ohren geflogen. Und trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die er getroffen hatte, waren drei Personen verletzt worden. Die Versuche mit einer elektrischen Batterie scheiterten momentan daran, dass er nicht wusste, wo er die benötigten Materialien herbekommen sollte. Wie sollten sie Kupfer zu Drähten ziehen? Und falls irgendwann einmal Kupferdraht zur Verfügung stand: Wie brachte man außen einen elektrischen Isolator auf? Welches Material eignete sich dafür?

Das Fahrrad-Projekt war ebenfalls in eine Sackgasse geraten. Die Metallurgie auf Shi’ialla gab Kettenglieder und Speichen aus Stahl noch nicht her.

Für vieles ist diese Welt noch nicht bereit.

Das brachte ihn wieder an den Punkt, über den er mit sich haderte.

Unter dem Druck seiner Erlebnisse in Skurwe, dem Ort eines Massakers durch die Masuti, und weil sein Leben vom Wohlwollen des K’atoks über seine »Erfindungen« abhing, hatte er vorwiegend Waffen für die Verteidigung ersonnen.

Durfte ich den Menschen von Kofane diese Dinge geben?

Die hydraulischen Pumpen, die sie in der Schlacht gegen die Masuti als Flammenwerfer eingesetzt hatten, bewährten sich inzwischen als Feuerlöschpumpe. Zelad’ori, seine pausbäckige Schreinermeisterin mit der breiten Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, hatte vor, sie in größeren Stückzahlen zu produzieren, um sie in anderen Städten und Länder zu vertreiben.

Darüber war eine Diskussion entbrannt. Durfte man etwas, das potenziell als Waffe gegen einen selbst benutzt werden konnte, an andere Länder verkaufen? Würde sie nicht sowieso früher oder später von jemandem nachgebaut werden? Adriaan war sich sicher, dass sie sich zu einem Verkaufsschlager entwickeln würde. Und ebenso sicher würde jemand aus der Wasserspritze eine Feuerspritze bauen. Egal, was er noch »erfand«, um den Menschen das Leben zu erleichtern, irgendjemand würde daraus ein Instrument zum Quälen oder Töten machen.

Mach ich mich damit mitschuldig? Macht mich das zu einem schlechten Menschen? Oder bin ich, wie Sob’uhn mir einmal geschmeichelt hat, der Wohltäter, der einem anderen Volk auf die Sprünge hilft, um ihr ein paar blutige Umwege und Rückschläge der Geschichte zu ersparen?

Adriaan schloss die Augen, atmete tief ein und zählte langsam bis zehn.

Er wusste, dass er in eine Abwärtsspirale von negativen Gedanken geriet. Auf den Welten des Demoriums würde man ihm ein paar Stimmungsaufheller verschreiben. Hier hatte er nur seine Arbeit und Familie, die ihn aufmuntern aber auch runterziehen konnten.

Oh, ja! Dies war einer jener Tage!

7

Hochkommissar Mario Guranti schreckte aus seinem Schlummer, als das Bordsprechgerät summte.

Für einen Augenblick erschien eine Falte der Verärgerung auf seiner Stirn, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Viele Personen würden sich nicht trauen, ihn zu stören. Wer das tat, hatte gewichtige Gründe.

In der Tat war es Weiszman, der Kapitän des Sprungschiffs RASÛL. In einem historischen Monumentalfilm hätte er gut eine Heldenrolle spielen können. Sein Haar hatte bereits einen grauen Ton angenommen, während der dreieckige Schnurrbart schwarz wie in seinen besten Jahren war. Seine grauen Augen schienen den Bildschirm durchdringen zu wollen.

»Verzeihen Sie, dass ich Sie störe, Eminenz. Eben ist per Tiefraumfunk eine Nachrichtenanfrage für Sie hereingekommen. Die Ihren persönlichen Schlüssel erfordert. Mit Dringlichkeitsvermerk.«

Guranti verzog keine Miene. Viele Nachrichten für ihn waren kodiert oder »dringlich«, persönliche Anrufe über Tiefraumfunk eher die Ausnahme. Diskretion war sein Geschäft.

»Legen Sie mir das Gespräch auf meine persönliche Konsole. Wann erfolgt der nächste Sprung?«

»In einer halben Stunde. Die Berechnungen laufen noch.«

Guranti nickte zum Zeichen, dass die Unterhaltung beendet war. Der Kapitän des Sprungschiffs salutierte und schaltete um. Für einen Moment spiegelte der Monitor Gurantis Gesicht: lange, spitze Nase, Stirnglatze und der Schatten eines starken Bartwuchses, eingerahmt von Falten.

Dann poppte die neu eingegangene Anfrage hoch. Der Hochkommissar gab seinen Kode ein, der das Gespräch dechiffrierte.

»Sie sind auf dem Weg nach Shi’ialla, Commissarius? Wegen diesen Artefakten?«

Der Bildschirm blieb dunkel, aber diese Stimme würde er unter Tausenden erkennen.

»Ja. Wie berufen. Ankunft in zwei Wochen.«

Selbst mit überlichtschnellen Sprungschiffen dauerte ein Flug zwischen den Sternen Wochen bis Monate. Eine Reise von den entferntesten Sternen, von einem Ende des Demorium zum anderen, konnte über zwei Jahre dauern.

Er musste vier Sekunden auf die Antwort warten. Auch wenn sich die Wellen des Tiefraumfunks mit Überlicht durch das für normale Sterbliche unbegreifliche Medium des Hyperraums bewegte, benötigten sie eine gewisse Laufzeit. Wenn Guranti den Planeten erreicht hatte, würde sich diese Latenz weiter vergrößert haben.

»Ich habe einen zusätzlichen Auftrag für Sie. Niemand – und damit meine ich auch ›niemand‹ – darf davon erfahren!«

»Ich höre und gehorche«, antwortete der Hochkommissar und musste erneut vier Sekunden warten.

»Ein Kirchliches Passantum ist missbräuchlich verwendet worden. Vermutlich hat sich jemand unter falscher Identität Zugang zu Shi’ialla erschlichen. Die Fakten dazu finden Sie in der angehängten Datei. Dieses Subjekt ist sofort unter Verschluss zu nehmen … und zu halten! Und niemand spricht mit dieser Person! Auch keiner Ihrer Soldaten. Bericht erfolgt an mich … ausschließlich an mich! Haben wir uns verstanden?«

»Verstanden!«, bestätigte Guranti.

Nach vier Sekunden verriet ihm ein leises Knacken, dass die Gegenstelle abgeschaltet hatte. Regungslos saß er da und runzelte die Stirn.

Mario Guranti hatte innerhalb der Hierarchie der Vereinigten Kirchen eine besondere Position inne. Nicht nur, dass er akademische Abschlüsse in verschiedenen Fachrichtungen der Wissenschaften vorweisen konnte, er war auch Bevollmächtigter im Namen der Kirchen und gebot über eine Kommandoeinheit Prätorianer zu seinem Schutz.

Als Bevollmächtigter war er nach Shi’ialla beordert worden, denn die dort jüngst gefundenen Ruinen stellten eine aufsehenerregende Entdeckung dar, von denen noch niemand wusste, welche Auswirkungen sie haben mochten.

Er hatte sich vorbereitet, dafür sogar das Vatikanische Apostolische Archiv aufgesucht und dort Abteilungen in Augenschein genommen, die selbst für das ehemalige Geheimarchiv des Vatikans geheim waren. Er hatte Schriftrollen in Händen gehalten, von denen der türkische Admiral Piri Reis seine berühmte Landkarte 1513 abgezeichnet hatte. Er hatte Dinge gesehen, die im Gegensatz zur Grabplatte von Palenque keinen Raum für Interpretationen ließ.

Dort hatte er auch erfahren, dass Shi’ialla nicht der erste Planet war, der unter dem Bann der Vereinigten Kirchen stand und von dem die Öffentlichkeit nichts wusste. Der Planet Shinosekai beherbergte eine mörderische Flora, die keine Besiedlung zuließ, und die Wasserwelt Shallow Water war seinerzeit aufgegeben worden, weil ein Störfall in einer der schwimmenden Pharmafabriken den Planeten verseucht hatte.

Bei Shi’ialla lag der Fall anders, weshalb seit seiner Entdeckung vor fünfzehn Jahren die eingeweihten Schriftgelehrten, Bischöfe und Imame der Vereinigten Kirchen kontrovers über die Auswirkungen auf das Seelenheil der Gläubigen aller drei Religionen diskutierten.

Wie ließ sich die Existenz eines weiteren humanoiden Volks mit dem Alleinstellungsmerkmal des Menschen in den jeweiligen Schöpfungsgeschichten der Vereinigten Kirchen vereinbaren?

Boten die nun gemachten Entdeckungen eine Lösung, um die sich anbahnende Kirchenspaltung zu verhindern? Die Untersuchung der Ruinen zeigte Ergebnisse, die es eigentlich nicht geben durfte. Und er musste diese Ergebnisse bewerten.

Dieser Zusatzauftrag jedoch betraf andere Aspekte seiner Profession, die weniger bekannt waren und auf die er nicht unbedingt stolz war, denn als Hochkommissar war er nicht nur mit umfassenden Vollmachten ausgestattet. Er hatte Macht!

In früheren Zeiten hätte man ihn anders bezeichnet. Damals trugen seine Vorgänger noch den Titel »Inquisitor«.

8

Nach drei Tagen war Athena der Stadt Wamuan kaum ein Stück nähergekommen.

Das lag zum nur zum Teil an der unwegsamen, felsigen Landschaft, in der sie nur mühsam vorwärtsgekommen war. Sie befand sich an den Ausläufern des Zula’ai, einem grob keilförmigen Gebirgszug im Zentrum von Kofane. Wamuan lag rund vierhundert Kilometer östlich von seinen höchsten Gipfeln entfernt. An der östlichen Flanke des Gebirges war das Camp der Biologen in einer versteckt gelegenen Talenge angesiedelt.

Die Nächte verbrachte sie meist schlaflos in dem winzigen Einmannzelt, das man ihr im Lager ausgehändigt hatte, und lauschte furchterfüllt den nächtlichen Geräuschen. Sie wusste aus den Instruktionen, dass es in dieser Region keine Raubtiere gab, die ihr gefährlich werden konnten. Trotzdem wollte sie um nichts auf der Welt unter freiem Himmel schlafen.

Das Zelt war eine Ultraleichtausführung, dessen Gewicht sie kaum belastete. Auch wenn es nur aus einem hauchdünnen Stück Stoff bestand, war es doch eine Oase der Normalität. Durch seine Mimikrybeschichtung war es von außen kaum wahrzunehmen.

Mittlerweile schätzte sie ihre Kräfte realistischer ein. Aber es gab noch andere Gründe, die ihre Reise verzögerten.

Die neuen Eindrücke und das Wissen, dass sie ohne Rückversicherung durch die Wildnis einer außerirdischen Welt wanderte, überforderten fast ihren Verstand. Sie war hin und her gerissen zwischen Euphorie und Mutlosigkeit, zwischen Tatendrang und Angst.

Immer wieder tastete sie nach dem Schocker, der die Innentasche ihrer wildledernen Jacke ausbeulte und mit seinem Gewicht nach unten zog.

Auch wenn sich hier noch Gruppen von Masuti, den Wilden aus dem Süden, herumtreiben sollten, gehörte dieser Teil des Kontinents doch zu den »zivilisierten« Ländern, in dem einem Reisenden nur wenige Gefahren drohten. Im Falle des Landes Kofane war dies auch ein Verdienst des Landesherrn. Der K’atok – wieder eines dieser schwierig auszusprechenden Worte –mit strenger, aber gerechter Hand, wie die Soziologen im Lager erzählt hatten.

Aber noch war sie nicht bereit, die Waffe aus ihrer Griffweite zu entfernen und im Rucksack zu verstauen.

Sie fühlte sich wie berauscht, auf einem fremden Planeten zu sein. Jeden Tag sah sie Dinge, die noch kein Mensch im Demorium vor ihr gesehen hatte. Höchstens die Handvoll Forscher, die undercover auf Shi’ialla unterwegs waren, und selbst die vielleicht nicht.

Hüfthohe Sauropoden beim Paarungstanz, Flugechsen im wilden Luftkampf, handgroße Laufechsen beim Nestbau, und ein Baby-Etwas, eine Mischung aus Gürteltier und Eidechse, das unbeholfen durch das Unterholz tappte.

Sie musste sich zur Ordnung rufen, dass sie die nötige Vorsicht nicht außer Acht ließ. Auch ein Löwenbaby war ein süßes Ding, bis seine Mama über einen herfiel.

Die meiste Zeit wanderte sie staunend wie ein Kind durch eine Landschaft, die zwar fremdartig war, ihr aber dennoch auf eine merkwürdige Art vertraut vorkam. Was ihr jedoch vollkommen fremd war, war die Fauna. Außer den Wesen, die wie Menschen aussahen, schien es auf Shi’ialla keine weiteren Säugetiere zu geben. Zum Glück hatte sie keine Abneigung gegen Schlangen, Eidechsen oder andere Reptilien, denn auf Shi’alla gab es wohl nichts anderes. Die zahlenmäßig dominanten Spezies waren echsenähnliche Kreaturen in allen Variationen. Sie konnte nur bemühte Vergleiche zu irdischem Leben anstellen. Für sie waren es Echsenvögel, Echsenungeziefer, Echsenrehe, Echseneichhörnchen und die ganze Bandbreite an jenen Wesen, die sie in ihrer Kindheit als »Dinosaurier« kennengelernt hatte. Allerdings, zu ihrer Erleichterung, nicht mit dem Riesenwuchs der irdischen Jurazeit. Die größten Exemplare, die ihr über den Weg liefen, waren zwei wildlebende Siitas, mit rund zweieinhalb Metern für ihren Geschmack groß genug.

Während die Haut irdischer Reptilien vorwiegend aus Hornschuppen bestand, gab es sie auf Shi’ialla vielfach in Ausprägungen, die mehr an Fell oder Federn erinnerten.

Auch die Siitas trugen ein Fell. Nur an Beinen und Hals schimmerte Schuppenhaut durch.

So marschierte sie durch eine vordergründig vertraute und doch verstörend fremde Landschaft und ertappte sich oft dabei, dass ihr vor Staunen der Mund offenstand.

Es war kein Wunder, dass sie für die bisherige Strecke weit mehr Zeit gebraucht hatte, als veranschlagt.

Was ihr Sorgen machte, waren ihre schwindenden Vorräte. Sie traute sich nicht, von den Früchten um sie herum zu probieren. Wenn sie nicht bald auf »Zivilisation« traf, bei der sie sich neu eindecken konnte, würde sie wohl mit knurrendem Magen weiterwandern müssen.

9

Es gab auch Tage, an denen Adriaan halbwegs zufrieden mit sich war.

Suldinatschan hatte ihm ihre neue Manufaktur für Krüge zum Einwecken gezeigt. Sie war eine Frau, die ihr Alter mit übertriebenem Make-up und auffälliger Kleidung wettzumachen versuchte. Ihre Krüge und Vasen dagegen bestanden aus einer schmucklosen Keramik, deren Härte sich jedoch für den Einsatz als Wurfbomben gegen die Masuti als Vorteil erwiesen hatte. Nun war sie auf dem besten Weg, die erste Fabrikantin Shi’iallas zu werden, in deren Werk Massenprodukte für den Alltagsgebrauch produziert wurden.

Ein weiteres Projekt war die Standardisierung. Adriaan hatte dazu ein System konzipiert, um Schraubverbindungen zu vereinheitlichen. Und mit einigen Baumeistern entwickelte er genormte Ziegelsteine von der Länge einer Elle. Er bediente sich dabei ungeniert dem Vorbild von Bausteinen, wie Kinder von der Erde sie zum Bauen und Spielen benutzten. Einige Bauwerke in der Akademie waren bereits auf diese Weise errichtet worden, in einem Drittel der üblichen Zeit.

Andere Projekte verliefen weniger Erfolg versprechend.

»Penner! Stockknabberer! Schnarchnasen! Grottenolfe!«

Sob’uhn verschränkte die Arme und sah Adriaans Ausbruch mit einem unterdrückten Grinsen zu. »Wie ich höre, kann dein Vokabular fast schon mit dem eines einheimischen Quhatatreibers konkurrieren. Ist das der Verdienst deines anderen Lehrers?« Sob'uhn, der Adriaan in ihrer gemeinsamen Zelle die ersten Worte auf Atta beigebracht hatte, spielte damit auf Kolto an. Den dicklichen Kutscher mit dem interessanteren Wortschatz hatte er auf der Reise nach Skurwe kennengelernt. Nachdem ihm für seine Fahrten zur Akademie eine Kutsche zur Verfügung gestellt worden war, hatte Adriaan den Kutscher als »Chauffeur« angestellt.

»Atta hat gar nicht so viele Worte, wie ich fluchen möchte!«

»Dem entnehme ich, dass etwas nicht zu deiner Zufriedenheit läuft«, stellte Sob’uhn fest. Er setzte sich auf den Diwan in der Ecke hinter der Tür des Arbeitszimmers, auf dem Deneersen gelegentlich seinen Mittagsschlaf hielt, und breitete die Arme erwartungsvoll auf der Rückenlehne aus. »Erzähl, Zef’ihl!«

Adriaan stand hinter seinem Schreibtisch, der schräg im Raum stand. Nachdem er die Berichte gelesen hatte, hatte es ihn nicht mehr auf seinem Platz gehalten.

»Nichts läuft! Vielleicht sind es zu viele Projekte! Ich kann mich nicht allen gleichzeitig widmen, nicht mit dem nötigen Nachdruck. Der Buchdruck krankt am Schneckengetriebe. Die Dampfmaschine fliegt uns ständig um die Ohren, weil das Blech den Druck nicht aushält. Selbst gegen die Einführung der Hygieneregeln gibt es Widerstände! Was ist so schlimm daran, sich die Hände zu waschen und mit Alkohol zu übergießen, bevor man zu einem Kranken geht?«

»Die meisten Salber halten sich doch an deine H’ki’ene und auch gegen den Golden Kjul gibt es keine Widerstände mehr.«

Eine von Adriaans Herzensangelegenheiten, war der Bau einer Kanalisation gewesen. Es hatte Monate gedauert, bis die ersten beiden Abschnitte eines unterirdischen Kanalsystems fertiggestellt waren. Zwar hatten die wochenlangen Baumaßnahmen vor den Haustüren für Unmut gesorgt, doch seit die Exkremente aus den Nachttöpfen und Eimern nicht mehr auf den Wegen landeten, stank die Stadt nicht mehr so stark. Erst recht, seit sie begonnen hatten, Wasser des Fluss Kjuls, der Wamuan in zwei Hälften teilte, durch die Röhren unter den Straßen und Häusern zu leiten. Dieser »goldene Kjul«, wie ihn der Volksmund nannte, spülte die Fäkalien in ein Klärbecken vor den Toren der Stadt, bevor die Abwässer, grob durch Kies und Sand gereinigt, ins Meer geleitet wurden. Mittlerweile waren die Bewohner der angeschlossenen Stadtteile voll des Lobes darüber.

Adriaan verzog den Mund und äffte den Volksmund nach: »Und das soll funktionieren? Versteh’ ich nicht. Das haben wir noch nie so gemacht.« Er schüttelte den Kopf.

»War es nicht der Zef’ihl, der gesagt hat, ihm wären Leute lieber, die mitdenken und hinterfragen, als solche, die zu allem nicken?«, fragte Sob’uhn süffisant.

»Ja! Aber manchmal muss man auch vertrauen, einfach mal machen!«

»Du bist in letzter Zeit ganz schön gereizt und launisch geworden, mein Zef’ihl«, quittierte Sob’uhn seinen Ausbruch spöttisch.

Adriaan senkte den Kopf. »Ich weiß.« Er rieb sich die müden Augen. »Das ist so ein kräftezehrender Kampf gegen Windmühlen.«

»Uint’müln?« Sob’uhn legte den Kopf schief.

»Ein Märchen aus meinem Land. Bei euch würde man wohl sagen: Bei der Gru'utz-Schwemme den Strand räumen. Als die Masuti vor unseren Türen standen, hat niemand meine Ideen und Ausarbeitungen infrage gestellt.«

»Damals war der Leidensdruck größer.«

»Vielleicht bräuchten wir mal wieder eine kleine Bedrohung.« Adriaan deutete mit Daumen und Zeigefinger eine Winzigkeit an.

»Ich weiß, es klingt abgedroschen«, bemerkte Sob’uhn, »aber man sollte vorsichtig sein, mit dem, was man sich wünscht.«