Der Zef'ihl, der vom Himmel fiel - Dieter Bohn - E-Book

Der Zef'ihl, der vom Himmel fiel E-Book

Dieter Bohn

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Beschreibung

Adriaan Deneersen gelingt die Flucht und er strandet auf einer Welt, die von einer mittelalterlichen Kultur bewohnt wird. Nach seiner Landung wird er beinahe von einem bäuerlichen Mob gelyncht und gerät in die Hände des Regenten von Kofane, der in ihm das Potenzial erkennt, das Land gegen das heranrückende Reitervolk der Masuti zu verteidigen. Wenn Adriaan überleben will, muss er als Zef'ihl, als Hofmagier von Kofane sein Wissen in militärisch nutzbare Dinge umsetzen. Und er muss sich der Frage stellen: Wie viel weiß man überhaupt noch von dem, was man einmal gelernt hat – ohne es irgendwo nachschlagen zu können? Und selbst wenn er den Krieg überleben sollte: Seine Häscher geben nicht auf.

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Dieter Bohn

Der Zef’ihl, der vom Himmel fiel

AndroSF 124

Dieter Bohn

DER ZEF’IHL, DER VOM HIMMEL FIEL

AndroSF 124

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Juni 2021

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Andreas Schwietzke

Karten: Dieter Bohn

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 246 1

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 850 0

Teil 1

1

Dies war seine Stadt! Wamuan, die Hauptstadt seines Reiches! Die Heimat seiner Untertanen, seiner Kinder!

Manchmal drückte die Last der Verantwortung schwer auf seine Schultern. So schwer, dass er sie körperlich spüren konnte. So wie jetzt. Ermattet stützte sich der K’atok auf der steinernen Brüstung des Turmes ab.

Er war gerne hier oben. Immer, wenn ihn die Kraft verließ oder ihn die Probleme zu erdrücken schienen, kam er hier herauf. Dann wusste er wieder, wofür er dies alles tat. Dort unten, das waren seine Leute. Einfache, schlichte Menschen. Bauern, Handwerker, Soldaten, Pa’atni – Männer, Frauen, Kinder. Sie alle brauchten die Führung eines Vaters, der schützend die Hand über sie hielt.

Sie lebten gut in seiner Stadt. Es war keine Stadt der pompösen Bauten, der kunstvollen Gärten, der prächtigen Skulpturen oder der wohligen Gerüche. Wamuan lebte. Sie war laut, quirlig und stank zum Himmel. Sie brauchte einen Lenker, der sie an den Zügeln nahm und verhinderte, dass die Siitas mit ihr durchgingen.

Der Blick des K’atoks wanderte die belebte Hauptstraße entlang, vom Platz vor seinem Palast, durch das Bollwerk des Haupttores hindurch, bis sie, sich durch die Hügel des Umlandes windend, in der Ferne verschwand. Dort hinten, bis zum Horizont und noch viel weiter, das war sein Land, Kofane. Es war ein gutes Land. Ein Land, in dem eine fleißige Frau oder ein fleißiger Mann es zu etwas bringen konnte. Er würde Kofane keiner noch so großen Streitmacht der Masuti preisgeben. Er würde seine Heimat mit allen Mitteln verteidigen. Aber er bezweifelte, dass seine Mittel dazu ausreichten.

»Herr! Seht!«

Der K’atok drehte sich zu einem der allgegenwärtigen Leibwächter um, der aufgeregt nach Süden zeigte. Ein feuriger Strich teilte langsam den Himmel. Dort, wo das »Messer« über den Himmel wanderte, brannten die Ränder und hinterließen eine weiße Narbe. Immer wieder verschwand der Schnitt hinter bauschigen Wolken. Der K’atok beschattete seine Augen, während er den Schnitt auf seinem Weg zum Horizont verfolgte. Vereinzelt klangen aufgeregte Rufe und Geschrei aus der Stadt um ihn herum auf.

Er drehte sich zu einem der Diener um.

»Los! Hol mir den Zetul. Sofort!«

Selbst, wenn bis jetzt noch keine Macht der Welt die Horden der Masuti aufgehalten hatte, es gab Mächte und Mittel, die nicht von dieser Welt waren.

2

Das Erste, was Adriaan Deneersen wahrnahm, war seine Nase. Er lag auf dem Bauch und seine Nase drückte sich schmerzhaft an die Innenseite des Schutzhelms. Eine kleine Lache aus Blut schwappte in der Rundung des Helms. Rote Luftblasen zerplatzten, als er durch die Nase ausatmete. Der Geschmack im Mund ließ ihn vermuten, dass sie es war, die geblutet hatte.

Kann man in seinem eigenen Blut ertrinken?

Die Gedanken kamen träge, krochen wie Schnecken an die Oberfläche seines Bewusstseins.

Stöhnend drehte er seinen Kopf auf die Seite, um die Nase zu entlasten. Sofort meldeten sich neue Schmerzen aus anderen Gegenden seines Körpers. Einen Augenblick lang dachte er mit Schrecken daran, ob er vielleicht innere Blutungen hatte und langsam vor sich hin starb. Aber dann beruhigte er sich damit, dass es ihm in diesem Fall wesentlich schlechter gehen müsste.

Durch den dünnen Blutfilm auf der Scheibe erkannte er Grashalme. Sie hatten eine merkwürdig lang gestreckte Pagodenform, aber es waren unverkennbar Grashalme. Er lag in einem dichten Meer aus Gras. Am oberen Rand seines Gesichtsfeldes lugten vereinzelte blaue Flächen des Himmels zwischen den Halmen hervor.

Stöhnend zog er seinen linken Arm unter seinem Körper hervor, brachte beide Ellenbogen auf Brusthöhe und versuchte sich aufzustützen. Eine Welle des Schmerzes durchraste ihn. Keuchend wälzte er sich über die linke Seite auf den Rücken. Dabei lief ihm die Blutpfütze im Helm in sein Ohr. Angewidert verzog er das Gesicht. Jeder Atemzug schmerzte. Eine Weile blieb er so liegen und starrte in den blauen Himmel. Einzelne Schäfchenwolken, schwach rosa getönt von einer rotstichigen Sonne, trieben behäbig durch sein Gesichtsfeld.

Die Nässe im linken Ohr störte ihn jetzt mehr, als die verebbenden Schmerzen in seinem Körper. Auf einmal schien der Wind zu drehen und blies einen schwarzen Rauchfaden über ihn. Sein Blick verfolgte die Schwaden zu ihrem Ausgangspunkt. Dort, in etwa zwanzig Meter Entfernung, lag die Rettungskapsel zwischen verkohlten Büschen. Deneersen konnte nicht erkennen, ob es die Kapsel war, die qualmte, oder das verbrannte Gestrüpp, das noch vor sich hin glomm. Zwei Meter von ihm entfernt hatte sich das abgesprengte Schott schräg in das Grasmeer gebohrt.

Eine Welle der Erleichterung ließ ihn die Augen schließen.

Sein Plan, seine Flucht war geglückt!

An das Aufsetzen hatte er keine Erinnerung. Auch nicht daran, dass er die Kapsel nach der Landung verlassen hatte. Aber irgendwie musste er ja hier hingekommen sein.

Deneersen biss die Zähne zusammen und zog seinen rechten Arm so weit zu sich heran, dass er das Multifunktionsdisplay am Unterarm ablesen konnte. Ein Riss verlief quer über das Glas. Einzelne Anzeigeelemente links und rechts des Risses waren ausgefallen, aber das Display schien immer noch zu funktionieren. Es sagte ihm auch, dass er einen ganzen Tag bewusstlos, hilflos im Gras gelegen hatte. Keuchend hob er den anderen Arm ebenfalls an und tippte mit den unförmigen Fingern des klobigen Handschuhs auf die übergroßen Tasten der Bedienelemente. Er las eine Temperatur von 28 Grad Celsius ab. Kein Wunder, dass er schwitzte.

Die Schwerkraft lag etwas höher als Erdnorm. Auch der Sauerstoffgehalt war erhöht, aber noch nicht so hoch, dass er zu Euphoriezuständen führen würde. Die übrigen Analysewerte zeigten, dass er die Luft würde atmen können. Und früher oder später musste er sie atmen, denn der Sauerstoffvorrat seines Anzuges ging langsam, aber sicher zur Neige.

Mit unbeholfenen Bewegungen der unhandlichen Handschuhe ließ er die Routinen anlaufen, mit der die Atmosphäre auf die wichtigsten Krankheitserreger untersucht wurde. Dies würde einige Zeit dauern.

Adriaan machte sich keine Illusionen. Falls die Luft verseucht war, dann war er so oder so tot, denn der Luftvorrat war bereits bedenklich geschrumpft.

Mühsam und mit Schmerzen in allen Gliedern wälzte er sich zurück auf den Bauch. Eins nach dem anderen zog er die Knie an und rappelte sich umständlich auf. Sein Kopf dröhnte und der schwere Rückentornister zog ihn zusätzlich nach unten. Schließlich stand er aufrecht auf seinen wackeligen Beinen. Langsam drehte er sich um die eigene Achse.

Die Kapsel war rund einen halben Kilometer von einem dichten Wald entfernt niedergegangen, der sich bis zum Horizont über eine sanft geschwungene Hügellandschaft zog. Die andere Hälfte des Panoramas wurde von einem schier endlosen Grasmeer beherrscht. Vereinzelt ragten hier und dort kugelförmige Büsche oder einsame Bäume aus der Oberfläche heraus. Das Gras reichte ihm bis zu den Knien. Erst jetzt fiel Adriaan der leichte türkisfarbene Stich der Halme auf. Auch die Bäume und die Büsche ließen keinen Zweifel aufkommen, dass er sich auf einem fremden Planeten mit einer exotischen Umwelt befand.

Vertreter der Fauna waren nicht zu sehen. Aber da einige der Bäume, die aus der Grasebene wuchsen, etwas trugen, das wie Blüten aussah, sollte es auch etwas geben, was der Funktion von Bienen entsprach.

Deneersen wandte sich in Richtung der Rettungskapsel. Mühsam setzte er einen Fuß vor den anderen, und als er endlich den verbrannten Kreis um das eiförmige Gefährt erreichte, musste er sich an der Kapsel abstützen und verschnaufen. Die schwarzen Hitzeschutzkacheln im unteren Drittel strahlten immer noch Wärme ab.

Als er halbwegs wieder zu Kräften gekommen war, warf er einen ungeduldigen Blick auf das Display. Fünf Minuten musste er noch auf das Ergebnis der Analyse warten.

In der Kapsel gab es einiges, das er für das Überleben auf diesem Planeten würde gebrauchen können. Aber so geschwächt, wie er war, konnte er in seinem unförmigen Anzug mit den klobigen Handschuhen nicht wieder in die Kapsel klettern und diese Dinge bergen.

Am wichtigsten erschien ihm im Moment die Projektilpistole aus der Notfallausrüstung. Damit würde er sich sicherer fühlen, falls ihm ein größerer Vertreter der hiesigen Tierwelt über den Weg laufen sollte.

Eine Tonfolge erklang und die Anzeige an seinem Handgelenk signalisierte mit einem grünen Farbumschlag die Unbedenklichkeit der Luft. Er löste die Arretierung und riss sich den Helm vom Kopf. Dann nahm er einen tiefen Atemzug.

Als er nach dem Hustenanfall wieder zu Atem kam, zwang er sich dazu, langsam und flach zu atmen.

Der hohe Sauerstoffanteil, dachte er. Es dauerte eine Weile, bis die roten Flecken vor seinen Augen verschwanden.

Die Luft roch … unbeschreiblich. Da war vor allem Moos mit einem schwachen Hauch Zimt. Und natürlich der metallische Geruch der Kapsel. Der süßliche Gestank der Hitzeschutzkacheln. Und der Mief nach Angst und Schweiß, der aus der Halskrause seines Anzugs stieg.

Für Feinwerkerarbeiten sind diese Dinger nicht gemacht, dachte er, als er unbeholfen den Bajonettverschluss des linken Handschuhs löste. Achtlos ließ er ihn ins Gras fallen. Mit der nun freien Hand ging es einfacher. Auch der andere Handschuh landete zwischen den Halmen.

Dann entkoppelte er die verschiedenen Anschlüsse, die seinen Anzug mit den Gerätschaften auf seinem Rücken verbanden. Unter Ächzen und Stöhnen entledigte er sich des Rückentornisters.

Adriaan stemmte die Hände in seine Seiten und drückte den Rücken durch.

Nun endlich konnte er in das Fahrzeug zurückklettern, das ihm das Leben gerettet hatte. Die Enge im Inneren brachte die Erinnerungen zurück.

Beißender Geruch nach Ozon. Das Schütteln der Kapsel, das seine Zähne schmerzhaft aufeinander schlagen lässt. Die Bänder der Sicherheitsgurte, die ihm kaum Luft zum Atmen lassen. Und der Lärm, der ihn fast betäubt.

Er erinnerte sich an Leuchtanzeigen, die vor seinen Augen hin und her sprangen und verwaschene Farbstreifen bildeten. Die meisten hatten ein grünes Licht gezeigt, und die roten Tupfer zwischendrin hatte er bei dem Rütteln nicht zuordnen können. Irgendwie hatte er es noch geschafft, seinen Raumhelm zu schließen, bevor er bewusstlos geworden war.

Er schüttelte den Kopf, um diese Erinnerungen zu vertreiben, aber das brachte ihm erneut Kopfschmerzen ein.

Der Sender!, schoss es ihm durch den Kopf. Ich muss den Notsender ausschalten!

Hastig schaute er sich in der Kapsel um. Farbige Anzeigen signalisierten den Status der Systeme. Leuchtmarkierungen machten auf verschiedene Stauräume aufmerksam. Kleine Schilder an Schubfächern wiesen auf den dahinterliegenden Inhalt hin. An der Decke über dem Sitz fand er das Gesuchte. Anscheinend war die Funkbake in der Spitze des Eintrittskörpers untergebracht.

Er löste die Schnellverschlüsse, riss die Klappe auf. Ein unüberschaubarer Kabeldschungel verband die Steckmodule. Kurzerhand griff er hinein und riss einzelne Kabel heraus. Beim dritten Versuch sprang die Anzeige für den Notsender auf Rot.

Nun begann er, systematisch die markierten Stauräume zu durchsuchen.

Er fand Päckchen mit dehydrierten Nahrungsmitteln und einen Notvorrat an Wasser. Er nahm einen großen Schluck. Den Notfallkoffer fand er im Fach unter dem Sitz. Als Adriaan ihn endlich aus der Kapsel gewuchtet hatte, musste er sich ins Gras setzen und erneut verschnaufen. Wenigstens ließen die Schmerzen langsam nach.

Der Koffer war bis zum Rand mit eingeschweißten Überlebensutensilien dicht gepackt.

Zuoberst lag eine klobige Leuchtpistole mit drei, an den Griff geklebten Patronen.

Er legte sie neben sich in das Gras. Dann griff er sich das nächste Päckchen, das dem Aufdruck nach medizinisches Erste-Hilfe-Material enthielt. Darunter kam die kleine, kurzläufige Projektilpistole zum Vorschein. Zwei lose Magazine lagen daneben. Adriaan besaß keine Erfahrung mit solchen Waffen. Darum nahm er die Pistole vorsichtig mit den Fingerspitzen aus dem Koffer. Sie war schwerer als gedacht. Er wandte sich suchend um, wie jemand, der bei etwas Illegalem ertappt worden war. Alles, was er über Waffen wusste, hatte er in Filmen gesehen. Aber er würde nicht umhin kommen, sich mit dieser Materie zu beschäftigen. Bestimmt gab es Raubtiere auf diesem Planeten, vielleicht sogar in dem Wäldchen dort drüben. Er drehte die Pistole zur Seite und sah, dass der Sicherungshebel auf »S« stand. Dann zog er den Schlitten nach hinten und schaute in die Kammer, so wie er es aus den Filmen kannte. Durch den leeren Magazinschacht hindurch sah er die klobigen Schuhe des Anzugs, aber eine Patrone schien nicht im Lauf zu sein.

Mit gehörigem Respekt schob er das Magazin in den Schacht und legte die Waffe neben der Leuchtpistole ab. Den restlichen Inhalt des Koffers durchwühlte er nur noch oberflächlich. Da waren Kompass, Leuchtfarbe, Taschenlampe, Schreibutensilien, Antibiotika.

Schweiß lief ihm über seine Stirn in die Augen. Ohne die isolierende Wirkung des geschlossenen Schutzanzuges machte sich langsam die Wärme der Luft bemerkbar. Er wischte ihn mit dem Ärmel ab. Als er das verschmierte Rot auf dem Weiß des Anzugs sah, wurde er wieder daran erinnert, dass seine Nase geblutet hatte. Jeder Knochen und Muskel protestierte zwar noch, aber ansonsten schien er keine Verletzungen davongetragen zu haben.

Er wollte gerade die Verschlüsse an seiner Hüfte lösen, die Ober- und Unterteil zusammenhielten, da forderte eine Bewegung am Horizont des Grasmeeres seine Aufmerksamkeit.

Etwas kam auf ihn zu.

Adriaan starrte angestrengt auf die Stelle am Horizont. Kurz sprang sein Blick zum Koffer mit der Notausrüstung. Fragend zog er die Brauen zusammen. Ein Fernglas war ihm nicht aufgefallen. Er spähte wieder zum Horizont. Der »Fleck« war in mehrere einzelne Objekte zerfasert, die sich unabhängig voneinander bewegten. Eine größere Anzahl Lebewesen kam auf ihn zu. An ihrem Ziel bestand kein Zweifel.

Deneersen sah sich gehetzt um. Da war die Kapsel im Kreis der verbrannten Pflanzen, die immer noch leicht qualmten. Da waren Büsche und der Wald.

Ob das Eingeborene sind? Bestimmt haben sie die Kapsel herunterkommen gesehen, halten sie vielleicht für einen Stern, der sich vom Himmel gelöst hatte. Oder für ein böses Omen.

Hektisch stopfte er die ausgepackten Sachen zurück in den Notfallkoffer, bis auf die beiden Pistolen. Mit zittrigen Fingern riss er den Klebestreifen am Griff der Leuchtpistole ab, lud sie mit einer der Patronen und steckte sie griffbereit in eine der rechten Außentasche des Anzugs. Dann klemmte er die Projektilpistole in eine Schlaufe auf der Rückseite des Anzugs. Was sollte er nur tun? Fliehen? In dem klobigen Anzug war er bestimmt nicht besonders schnell und die Notfallausrüstung wollte er auch nicht unbedingt zurücklassen.

Sich im Wald verstecken? Seine Spuren waren im Gras bestens zu sehen. Wer immer sich da näherte, würde rasch herausbekommen haben, wo er sich hingewandt hatte. Ihnen entgegentreten? In den hektischen Minuten vor seiner Flucht in die Rettungskapsel, als ihm klar geworden war, dass sein Leben keinen Credit mehr wert war, hatte er keine Zeit mehr gehabt, sich über die Eingeborenen zu informieren. Es hatte ihm gereicht, dass die Daten von einem erdähnlichen Planeten mit frappierend menschenähnlichen Lebewesen auf einem mittelalterlichen Niveau und guten Überlebenschancen sprachen. Und dass die Quarantäne seine Häscher von einer Verfolgung abhalten würde.

Er verdrängte die Schuldgefühle, die in ihm hochstiegen, als er an die anderen Passagiere dachte.

Der Peilsender in den Kapseln wird ihr Einsammeln erleichtern. Ich habe drängendere Probleme.

Mittlerweile konnte er deutlich humanoide Gestalten ausmachen.

Mit Sicherheit gab es in der Rettungskapsel ein Funkgerät, und wer konnte wissen, welche bis jetzt unentdeckten Schätze mehr? Die durfte er nicht einfach den Fremden überlassen!

Was soll ich bloß tun? Den »Gott, der von den Sternen herab gestiegen ist« spielen? Den Engel aus dem Himmel?

Adriaan ertappte sich dabei, dass er unschlüssig von einem Bein auf das andere trippelte. Er verzog verärgert seinen Mund.

Das dürften die Eingeborenen auch bemerkt haben, schalt er sich. Benimmt sich so ein göttliches Wesen?

Was sie wohl in der Kapsel sehen würden? Einen Himmelswagen, der herniedergefahren ist? Einen Teufel, der auf einem Feuerstrahl ritt? Für ein Verschwinden war es auf jeden Fall zu spät. Eine Flucht könnten sie als Angst oder Unterlegenheit interpretieren. Er aber musste ihnen mit Stärke gegenübertreten.

Also doch die »Gottnummer«!

Adriaan beugte sich in die Kapsel und schaltete die Positionslichter ein. Gelbe Lichter blitzten auf. Die Menge kam abrupt zum Stehen. Einige der Wesen gestikulierten heftig. Dann setzen sie sich wieder in Bewegung, und sie zeigten keine Anzeichen von Zögern, Furcht oder Ehrfurcht.

Adriaan war zu aufgeregt, um mehr als einen kurzen Gedanken daran zu verschwenden, dass die Wesen sich auf den ersten Blick nicht von Menschen unterschieden. Für Details waren sie noch zu weit weg, doch wie es aussah, trugen sie durchweg Kilts. Die Oberkörper bedeckte eine Art Poncho. Es herrschten erdige Farben vor, hier und da von Grüntönen unterbrochen. Die länglichen Gegenstände in ihren Händen beunruhigten Deneersen. Es konnten Ackergeräte sein, aber auch Waffen. Er straffte die Schultern, musste Selbstbewusstsein zeigen, die Überlegenheit eines Gottes. Dabei zitterten seine Hände.

Jetzt erkannte er auch Gesichter. Menschliche Gesichter! Die meist braunen Haare trugen sie schulterlang. Erste Stimmfetzen einer harten Sprache drangen zu ihm herüber. Und es hörte sich nicht nach einer ehrfürchtigen Menge an, sondern klang eher wie eine aufgebrachte Meute.

Adriaan breitete beide Arme in einer, wie er hoffte, salbungsvollen Geste zum Himmel aus, aber die Wesen schienen immer noch nicht beeindruckt zu sein.

Am Horizont zeigte sich eine weitere Bewegung. Es schien eine einzelne Person zu sein, die sich sehr schnell näherte. Wahrscheinlich ein Reiter auf was auch immer.

Die Gruppe hatte ihn fast erreicht. Nun wurde sie langsamer, als ob der Mut sie verlassen hätte.

Dann standen sie vor ihm.

Eine unnatürliche Stille breitete sich aus. Nur das Geräusch des herangaloppierenden Reiters drang leise aus der Ferne. Die Menge vor Adriaan schien den Reiter nicht zu bemerken. Bis auf die Kleidung hätten es Menschen von der Erde sein können. Ihre Haut war durchweg sonnengebräunt und sah aus, als ob sie häufig Wind und Wetter ausgesetzt war. Adriaan zählte zwölf Personen. Vier davon schienen Frauen zu sein. Bei einer vierschrötigen Gestalt war er nicht sicher, ob er einen Mann oder eine Frau vor sich hatte. Auf ihren Gesichtern spielte eine Mischung aus Furcht, Wut und Fanatismus. Adriaan merkte, wie seine Beine zu zittern anfingen. Der Mann, der ihm am nächsten stand, fuchtelte mit etwas, das wie eine gerade, dreizinkige Gabel aussah.

Adriaan hob seine Arme und zeigte seine leeren Hände. Sofort wich die Menge einen Schritt zurück. Ein Raunen und Murren hob an. Dann schubste eine Frau in der zweiten Reihe den Mann mit der »Gabel« voran. Drohend baute er sich vor Adriaan auf. Dabei rief er ihm etwas in seiner kehligen Sprache zu. Es klang nicht nach einer Einladung. Deneersen spreizte abwehrend die Finger seiner Linken, während die rechte Hand langsam nach der Leuchtpistole in der Beintasche tastete. Der Fremde stand nun zwei Meter vor seinen Begleitern, die ihn anscheinend zu etwas anfeuerten.

»Ich komme in Frieden!«, sagte Adriaan Deneersen … und kam sich im gleichen Moment albern vor. »Bitte, ich will euch nichts tun!«

Das schien den Mann nur aggressiver zu machen. Angetrieben von der Menge hinter sich, sprang er vor, und gleich wieder zurück, als ihn offensichtlich der Mut verließ.

Adriaan fühlte, wie seine Knie weich wurden. Etwas musste er tun.

»Jetzt ist es gut!«, schrie er der Menge entgegen. Dann machte er einen Schritt nach vorne, bei dem beinahe seine Beine versagten. Er zog die Leuchtpistole aus der Tasche und richtete sie in den Himmel.

»Ich komme von da oben! Und ich komme … verdammt noch mal! … in Frieden!«

Er drückte er ab. Zischend verließ ein Feuerstrahl den Lauf und erblühte am Himmel über ihnen zu einer gleißenden Feuerblume, die für einen kurzen Moment die Sonne verblassen ließ. Ein Aufschrei ging durch die Gruppe, als sie in rotes Licht getaucht wurde. Die hinten Stehenden wandten sich zur Flucht, die Augen furchtsam zum Himmel gerichtet. Aus den Augenwinkeln bemerkte Adriaan, dass das Reittier in der Ferne sich aufbäumte und beinahe seinen Reiter abwarf.

Auch der Mann vor ihm sprang erschreckt zurück. Dann nahm er eine drohende Haltung ein und stieß einen scharfen Befehl aus. Mit einer herrischen Kopfbewegung winkte er die anderen heran, während sein Blick nicht von Adriaan abließ.

Mit dem Mut einer Übermacht hinter sich drang er auf Deneersen ein, die Gabel streitbar vorgereckt. Der ließ die Leuchtpistole fallen, riss die Pistole in seinem Rücken aus der Schlaufe, lud durch und zielte mit durchgedrückten Armen auf den Angreifer, so wie er es in unzähligen Filmen gesehen hatte.

»Halt!«

Der andere konnte ihn zwar nicht verstehen, aber Deneersens drohende Haltung und sein Tonfall sprachen eine eindeutige Sprache. Der Fremde stockte, unsicher ob des plötzlichen Ausbruchs des Wesens in der weißen Rüstung. Doch nur für einen Moment. Erneut hob der Anführer im Kilt seine Gabel.

»Halt, hab ich gesagt!« Adriaans Stimme überschlug sich.

Dann überstürzten sich die Ereignisse.

Von links sprang ein anderer mit einem spitzen Stock hinzu, bereit zum Zustechen. Aus einem Reflex heraus riss Deneersen die Waffe herum und drückte ab. Der Rückstoß fuhr durch seine ausgestreckten Arme und stieß ihn hintenüber. Mit schmerzverzerrtem Gesicht landete er im Gras. Irgendwo links von ihm, da wo er den Angreifer – vielleicht? – getroffen hatte, breitete sich Tumult aus. Einige flohen. Aber der Anführer der Truppe, derjenige, der Adriaan zuerst bedroht hatte, wich nicht zurück. Drohend baute er sich vor Adriaan auf, die Gabel zum Zustechen erhoben. Die Zeit schien eingefroren. Adriaan sah nur eine dunkle Silhouette vor der Sonne. Der Nachhall des Schusses dröhnte noch in seinen Ohren. Alles an ihm schmerzte: besonders sein Steißbein vom Aufprall auf dem Boden und seine Arme vom Rückstoß der Waffe, die er so sträflich falsch gehalten hatte. Er lag auf dem Rücken, den Oberkörper halb auf den linken Ellenbogen aufgestützt. Seine Rechte umkrampfte die Waffe, richtete sie auf den Schatten vor sich, diesmal mit angewinkeltem Arm. Bis zu diesem Moment hatte er noch nie einem Menschen bewusst ein Leid zugefügt. Nun hatte er aus einem Reflex heraus gehandelt. Ob er überhaupt jemanden getroffen hatte, wusste er nicht. Er konnte, durfte seinen Blick nicht von der Gestalt über sich abwenden.

»Bitte …! Bitte geh weg!«, flüsterte er. Das Stück Metall in seiner Hand wog wie Blei. Sein Zeigefinger schien wie steif gefroren. Er war nicht fähig, abzudrücken … auf dieses außerirdische Wesen zu schießen, das doch so verblüffend wie ein Mensch aussah. Die Sekunden tröpfelten dahin, langsam, wie die Schweißtropfen, die sein Gesicht hinunter krochen.

Der Fremde über ihm regte sich zuerst. Adriaan bewegte leicht seinen Arm und drückte ab. Diesmal riss der Rückstoß nur seine Hand nach hinten. Er hatte diesen Mann nicht töten können! Und so zerriss es nur die Gabel am Ansatz der »Zinken«. Verdutzt starrte der Mann auf das zersplitterte obere Ende des Stockes, den er nun in seinen Händen hielt. Sein Mund öffnete sich zu einer Geste des Unglaubens. Dann verzerrten sich seine Gesichtszüge. Er riss das untere Ende des Steckens hoch und knallte es Deneersen an die Schläfe. Langsam, wie in Zeitlupe kippte die Welt um Adriaan herum auf die Seite.

Das Letzte, was er sah, war eine schwarz gekleidete Gestalt in einer Wolke aus Staub, die von einem Reittier herabsprang, das wie ein prähistorischer Hadrosaurier aussah.

Dann wurde es dunkel.

3

Niemand kannte den Namen des Zetuls. Ja, niemand wusste, ob er überhaupt einen Namen hatte. Er war einfach der Zetul, der starke Arm des K'atoks. Für die Bewohner des Reiches war dies Bezeichnung genug.

Seine Männer und Frauen waren es, die im Land und auf den Straßen der Städte für Ordnung sorgten. Ihm unterstand das Heer, welches die Grenzen von Kofane sicherte. Doch nun war er als Fuhrunternehmer unterwegs. Seine Ladung befand sich auf den zwei schwer bewachten Fahrzeugen hinter ihm. Zwei Zehnerschaften seiner besten Soldaten flankierten den Konvoi. Auf diese Männer und Frauen konnte er sich blind verlassen.

Der Zeitpunkt war gut gewählt. Es war tiefe Nacht. Uul würde erst in zwei, drei Stunden aufgehen. Die breite Straße, die zum Palast führte, war menschenleer, bis auf den Transport, dem er auf seinem Siita voranritt. Das erste Fuhrwerk war ein einachsiger Wagen, wie er zum Transport von Gefangenen eingesetzt wurde. Er wurde wie üblich von einem Quhata gezogen. Unüblich war, außer dass ausgerechnet der Zetul den Transport begleitete, dass bei diesem Wagen, der bereits von allen Seiten von Brettern umgeben war, auch die beiden Fenster an der Seite und die Gittertüre an der Rückseite mit Stoffen abgehängt waren.

Der zweite Karren wirkte noch ungewöhnlicher. Diese Art wurde von den Steinmetzen für schwere Bruchsteine eingesetzt und von vier der schwerfälligen, aber starken Tiere gezogen. Die Quhatas schnaubten unter der Last. Ihre mächtigen, hornbewehrten Schädel bogen sich weit zur Erde hinunter, als sie sich in das Geschirr stemmten. Die Räder des Wagens drückten sich tief in den Staub der Straße. Planen und Decken verbargen seine Ladung. Das Licht von Asuul, dem kleineren der zwei Monde, enthüllte ihren doppelt mannsgroßen, kegelförmigen Umriss.

Die Eskorte, vertrauenswürdige Soldaten der Leibgarde des Zetuls, hatten strikte Anweisung, jeden überflüssigen Lärm zu vermeiden. Und so mühte sich der Wagenlenker des schwer beladenen Wagens, seine Tiere ohne die üblichen Peitschenhiebe und Flüche anzutreiben.

Ganz ohne Geräusche ging das nicht vonstatten. Gelegentlich schaute ein Einwohner der Stadt aus einem Fenster, wenn er seinen Nachteimer auf der Straße entleerte oder weil ihn die ungewohnten Geräusche geweckt hatten. Aber wenn er die Leibgarde oder den Zetul selbst erblickte, verschwand er eilends wieder vom Fenster. Seine hagere, drahtige Gestalt flößte Respekt ein, die schräg stehenden Augenbrauen und die Hakennase verliehen ihm ein dämonisches Aussehen.

Morgen … heute würden Klatsch und Gerüchte in der Stadt die Runde machen. Aber dafür hatte der Zetul gesorgt. Seine Leute würden hier und da gewisse Bemerkungen über einen Möbeltransport für den Palast fallen lassen und in wenigen Tagen war die Sache vergessen.

Die Kolonne erreichte den großen Platz vor dem Palast. Jetzt in der Nacht, ohne das laute Treiben der Händler und der Käufer, wirkten die leeren Stände wie Fremdkörper. Eine breite Gasse, die direkt zum Haupttor des Palastes führte, war frei von Ständen. Tagsüber wimmelte zwar auch hier eine unüberschaubare Menschenmenge, aber seine Leute in der Stadt sorgten dafür, dass der Zugang jederzeit frei für Truppen blieb. Langsam öffnete sich das schwere, zweiflügelige Portal vor ihnen und ließ sie in den großen Innenhof hinein.

Der Palast war eine Stadt für sich. Zur Linken lagen die Kasernen der Leibgarde des K’atoks. Den weiteren Weg in die inneren Bereiche des Palastes verschloss ein schweres hölzernes Fallgitter, dessen Gewicht mit einem ausgeklügelten System von Gegengewichten von zwei Soldaten bewegt werden konnte. Zur Rechten lagen die Unterkünfte der Bediensteten und direkt daneben das große Tor, das zu den Stallungen führte.

Zwei weitere schwer bewaffnete Zehnerschaften erwarteten sie. Der Zetul schickte eine davon mit dem kleinen, einachsigen Wagen in Richtung der Verliese fort.

»Seht zu, dass er nichts mitbekommt! Legt ihn notfalls schlafen!«

Er selbst wandte sich, zusammen mit dem schweren Wagen und den restlichen Soldaten, den Stallungen zu. Dort lagen Hallen und Räumlichkeiten, die genügend Platz für ihre Fracht boten.

Der Zetul versicherte sich persönlich, dass die wertvolle Fracht sicher in einem abgelegenen Gewölbe abgeladen wurde, in der ein früherer K’atok einmal Berge von Weinfässern gelagert hatte. Der jetzige Landesherr hielt nicht viel davon, seinen Verstand auf diese Weise zu verwirren. Nicht nur darin war er seinem Zetul ähnlich.

Der Morgen begann bereits zu dämmern, als der leere Wagen den Palast wieder verließ. Die ersten Händler bestückten ihre Tische am Platz.

Doch es war noch zu früh. Der K’atok würde noch nicht aufgestanden sein. Und es lag kein Grund dafür vor, ihn vorzeitig zu wecken. Seine Bediensteten würden ihm direkt melden, dass sein Zetul wohlbehalten zurück in der Stadt war. Es blieb also ausreichend Zeit für ein kleines Frühstück.

Es war in der Tat noch Zeit, zwei Fleischgemüserollen am Stand eines schwarzhäutigen Ke’iten zu essen. Er reinigte sich gerade die Finger an einem der Tücher, das am Essensstand hing, als sich einer seiner Soldaten näherte, sich vor ihm auf sein rechtes Knie niederließ und ehrerbietig seinen Kopf neigte.

»Herr, der K’atok ist erwacht und möchte Euch sprechen!«

»Ich komme!« Er warf das Tuch in einen bereitstehenden Sammelkorb.

Der Weg zum K’atok war weit, für manche unerreichbar weit. Er führte durch lange Gänge des Palastes, vorbei an schwer bewaffneten Wächtern und nicht weniger Furcht einflößenden Staatsdienern. An deren Bürokratie waren schon mehr Menschen gescheitert als an den Wachen.

Dies galt jedoch nicht für den Zetul. Er hatte Zutritt zu Räumen, von denen das einfache Volk auf der Straße nicht einmal etwas ahnte.

Er hatte erwartet, dass ihn der Soldat in das Büro des K’atoks führte. Doch anscheinend war sein Auftrag so bedeutsam, dass der K’atok ihn noch während des Frühstücks empfing. Als er das Frühstückszimmer des Regenten betrat, saß dieser noch zu Tisch und löffelte gerade ein Ei aus. Zwei Dienerinnen standen am Kopfende der Tafel bereit, jeden Wunsch ihres Herrschers zu erfüllen. Die Sonne stieg eben über den Horizont und lugte durch eines der Fenster herein. Ihre Strahlen ließen die Falten im Antlitz des K’atoks hervortreten. Der Regent hatte seine Lebensmitte schon hinter sich gebracht und die Last der Verantwortung hatte ihre Spuren hinterlassen. Er war zwar nicht groß von Gestalt, aber eine eindrucksvolle Erscheinung. Sein hageres Gesicht wurde von einer leicht gekrümmten Nase dominiert. Er neigte dazu, seinen Kopf abschätzend nach hinten zu ziehen. Zusammen mit dem wachen Blick seiner grauen Augen verlieh ihm dies das Aussehen eines Raubvogels, dem keine Regung in seinem Revier entging. Schon einige Attentäter hatten seine Krallen zu spüren bekommen: Nur eine Handvoll Männer der Garde, und natürlich der Zetul, wussten, dass der Regent einen Dolch unter seiner Kleidung trug.

Er kleidete sich meist in mehr oder weniger schmucklose Gewänder in schwarz oder dunklen Brauntönen. Der einzige Schmuck, den er sich gönnte, war der Siegelring mit den Insignien der Macht an seiner linken Hand. Im Grunde würde er in einer Menge nicht auffallen, wäre da nicht der durchdringende Blick seiner Augen.

Der Zetul und der Soldat ließen sich auf ihr rechtes Knie sinken und senkten die Köpfe.

»Hattest du schon Zeit zu frühstücken, Zetul?«, sprach ihn der Regent an.

Der Zetul sah auf. »Ich habe unten bei den Ständen eine Kleinigkeit zu mir genommen, Herr!«

Mit knappen Handbewegungen scheuchte der K’atok den Soldaten und die Bediensteten aus dem Raum.

»Setz dich zu mir! Ein Ei wirst du bestimmt noch vertragen.«

Der Zetul ließ sich seinem Regenten gegenüber an dem runden Tisch nieder, griff sich ein Messer und eines der bereitstehenden Eier. Während er das Ei köpfte, Gewürze darauf streute und die ersten Bisse tat, beobachtete ihn der K’atok wortlos.

»Nun?«, fragte der K’atok schließlich. »Hast du gefunden, wonach ich dich gesandt habe?«

»Es war eine Art Fass, Herr! Aber ein sehr merkwürdiges Fass! Aus weißem, glänzendem … Metall! Zumindest vermute ich, dass es aus Metall ist. Ich hatte meine liebe Not, das abergläubische Gesindel davon abzuhalten, es in Brand zu stecken.«

»Es … war jemand in dem … Fass?«

»Ja! Einer! Und auch der ist nur knapp dem Feuer entgangen.«

»Berichte!«

»Kurz vor Mittag traf ich mit meinem Trupp in Senandu’ur ein. Eigentlich wollte ich dort einen Karren und ein paar Bauern requirieren. Aber im Dorf herrschte Aufruhr. Einige Männer und Frauen waren aufgebrochen zu dem Ding, das aus dem Himmel gefallen ist. Letzten Zehntag sind ihnen zwei Milch-Zaati und ein Neugeborenes gestorben. Die Dorfälteste hat ihnen eingeredet, dass es ein Zeichen, ein böses Omen sei, das noch mehr Unheil mit sich bringen würde. Nachdem sie sich einen Tag lang Mut antrinken mussten, hat sich die Schar auf den Weg gemacht, um das Ding in Stücke zu hauen. Ich ließ zwei Mann im Dorf zurück, die mit dem Karren folgen sollten. Mit den restlichen vier Soldaten bin ich der Bande hinterher. Meine Männer mit ihren schwerbepackten Siitas hab ich schon bald hinter mir zurücklassen müssen. Mein Siita ist schnell, doch wenn ich nicht alles aus ihm herausgeholt hätte, wäre ich zu spät gekommen. Denn die Dörfler hatten den Ort bereits erreicht. Er war nicht schwer zu finden, denn es qualmte so, dass es von Weitem zu sehen war. Seltsame Lichter leuchteten an dem Fass. Plötzlich stieg ein Feuerstrahl zum Himmel und eine rote Blume aus Feuer wuchs in den Wolken. Mein Siita hätte mich beinahe abgeworfen. Bis ich endlich das Fass erreichte, hatte das Handgemenge zwischen den Dörflern und dem Mann aus dem Fass schon angefangen.«

»Ein Mann, sagst du? Sieht er aus … wie wir?«, fragte der K’atok in einem lauernden Tonfall, der den Zetul stutzen ließ.

»Wie sollte er sonst wohl aussehen? Auch wenn die Bauern wahrscheinlich einen Dämon aus den Unterwelten erwartet haben!« Der Zetul lachte. »Nein, der Fremde sieht recht normal aus. Ein bisschen wie ein Ostling. Aber seine Kleidung …!«

»Seine Kleidung?«

»Er steckte in einer Rüstung, die so weiß ist, wie ich es noch nie gesehen habe! Und erst das Visier am Helm müsst Ihr Euch ansehen. Klarer als jeder Gebirgsbach, aber härter als Stahl!« Die Erinnerung an die ungewöhnliche Begegnung schien den Zetul immer noch aufzuwühlen. Fahrig wischte er durch die Luft. »Aber was erzähl ich da? Ihr werdet Euch seine Sachen später selbst ansehen wollen.«

»Du warst bei dem Handgemenge!«, erinnerte ihn der K’atok.

»Die zwei mutigsten Bauern rückten dem Fremden mit ihren Mistgabeln und Stöcken zu Leibe. Ich war noch zu weit weg, als einer der beiden es beinahe geschafft hätte, den Fremden aufzuspießen. Doch plötzlich gab es einen Donner und den mit dem Spieß riss es von den Beinen. Ich hab ihn mir später angeschaut! Sein Oberschenkel sah aus, als wäre er von einem unsichtbaren Speer durchbohrt worden.«

Das Gesicht des K’atoks nahm einen angespannten Ausdruck an.

»Ja!«, fuhr der Zetul fort, »und gerade als der Zweite ihn auf seine Mistgabel nehmen wollte, gab es wieder diesen Donner und dem Bauer zerriss es seine Gabel in den Händen!« Seine Finger ahmten dabei das Auseinanderplatzen nach.

»Ich traf gerade rechtzeitig ein, als der Bauer mit dem Rest Stock in der Hand auf ihn einschlug. Einen Moment später …« Der General machte eine vielsagende Handbewegung. »Es war nicht einfach, das aufgestachelte Pack zurückzuhalten, die am liebsten Fass und Fremden abgefackelt hätten. Zum Glück kamen mir bald danach meine Männer auf ihren langsameren Siitas zur Hilfe.«

»Gab es Probleme mit den Bauern?«

»Nichts, was man nicht mit ein paar Peitschenhieben richten konnte. Wir haben das Fass auf einem Karren der Bauern zum Garnisonsstützpunkt Kanis geschleppt und dort auf einen größeren, stabileren Wagen umgeladen.«

»Hat der Fremde etwas von all dem mitbekommen?«

»Bewusstlos, wie er war, haben wir ihn geknebelt, in einen Sack gesteckt und gut verschnürt. Dort ist er dann auch bis Kanis geblieben. Wenn er anfing, sich zu regen, haben wir ihn wieder schlafen gelegt.«

»Es hat ihn dort doch keiner gesehen?«

»Nein, Herr! Ihr hattet Anweisung gegeben, dass die Sache in Stillschweigen zu regeln ist. Wie gesagt, den Ritt über hat er auf dem Wagen bei seinem Fass gesteckt und in Kanis haben wir ihn dann in einen der Gefangenenwagen umgeladen.«

»Niemand darf ihn sehen!«, sagte der K’atok eindringlich. »Wo ist er jetzt?«

»In unserem Verlies gut untergebracht. Ihr hattet nicht befohlen, ihn wie einen Gast zu behandeln! – Herr …« Der Zetul stockte. »Darf ich denn wissen, wer der Fremde ist? Und was das Fass ist?«

»Das Fass dürfte so etwas wie ein Boot sein. Und der Fremde?« Der Blick des K’atoks schweifte für eine Weile in weite Ferne. »Ich hoffe, dass er uns mit seinem Wissen helfen kann.« Sein Blick kehrte zurück und heftete sich auf den Zetul. »Was glaubst du, werden die Bauern tratschen?«

»Ich habe von Kanis aus eine Rotte meiner Leute in Bewegung gesetzt. Das Dorf braucht ein wenig Beistand durch das Militär. Sie werden am Rand des Dorfes einen kleinen Außenposten errichten. Ich glaube nicht, dass die Bauern viel Gelegenheit haben werden, wilde Gerüchte über nicht stattgefundene Himmelsereignisse in Umlauf zu bringen.«

»Du bist ein hinterlistiger Hund!«, lachte der K’atok.

Er sah zu, wie sich der Soldat devot verneigte.

»Überall um mich herum sind deine Leute, Zetul, deine Soldaten. Manchmal frage ich mich, warum ich noch der K'atok bin. Du könntest leicht die Macht an dich reißen.«

»Herr, die Pflicht, die als Euer Zetul auf mir liegt, ist mir Bürde genug. Wir sind beide nur Diener. Jeder auf seine Weise. Ich diene Euch, Ihr dient dem Volk. Warum sollte ein Diener dem anderen etwas neiden? Außerdem … bin ich sicher, dass Ihr für den unwahrscheinlichen Fall vorgesorgt habt, dass Ihr plötzlich und unerwartet von uns gehen solltet, Herr.«

Der K’atok lachte leise vor sich hin.

»Was soll nun mit ihm geschehen?«, fragt der Zetul.

»Lass ihn eine Weile im Verlies schmoren! Die Erinnerung an die anheimelnde Behaglichkeit unserer Kerker wird ihm später ein Ansporn sein, dort nicht wieder hinkommen zu müssen.«

»Stock und Sirupsaft?«

»Jeder Mensch hat die Wahl!« Der K’atok breitete ergeben die Hände aus.

»Und Ihr glaubt, er kann uns helfen?«

»Glaube ist etwas für die Priester, mein Zetul!« Der K’atok schüttelte gespielt missbilligend den Kopf. »Ich habe die Hoffnung, dass er uns an seinem Wissen teilhaben lässt.«

4

Da saß er nun: tief unter der Erde. In einem stinkenden, fauligen Rattenloch. Nackt. Die Ratten hatten sich schon persönlich vorgestellt. Oder jedenfalls etwas, was auf diesem Planeten die ökologische Nische der Ratten besetzte. Seitdem fröstelte er nicht nur vor Kälte.

Seine Arme hielt er fest um seine Beine geschlungen, aber auch das konnte das Zittern nicht unterdrücken. Er hatte seine Genitalien zwischen den Oberschenkeln und seinem Bauch eingeklemmt. Der Gedanke, dass ihm eine der Ratten ein Fleischstück aus seinem Arm oder aus einem Bein biss, war nicht so schrecklich wie die Vorstellung, dass eines der Viecher seinen Hoden zu nahe kam. Wie lange er schon hier unten saß, wusste er nicht. Er merkte, wie die Müdigkeit langsam seine schmerzenden Glieder ergriff.

Aus einer weit entfernten, anderen Zelle drang leises Wimmern und Stöhnen zu ihm. Und über allem lag der Geruch von Fäkalien … und ein Hauch von Verwesung.

In seiner Fantasie stellte er sich vor, wie in den Nachbarzellen vergessene Gefangene vor sich hinfaulten. Ob er auch bald da liegen würde? Verrottend? Stinkend?

So hatte er sich das nicht vorgestellt! Dass er eine Zelle gegen eine andere tauschte. Die eine Todesart gegen eine andere.

Sein Handeln war aus Panik geboren gewesen. Nach der Erkenntnis, dass am Ende des Fluges der Tod auf ihn wartete, hätte er jeden Strohhalm ergriffen. Da war es ihm wie eine Verheißung erschienen, dass er aus den Daten von diesem Planeten erfahren hatte. Einem erdähnlichen Planeten mit einer menschenähnlichen Bevölkerung! Unter der Quarantäne des Demoriums! Das versprach Sicherheit vor den Klerikalen Söldnern.

Wie einfach sein Fluchtmanöver gelungen war, hatte ihn selbst überrascht.

Wäre er nicht in Panik verfallen, hätte er sich intensiver mit den Systemen der AURORA BOREALIS »beschäftigen« können und vielleicht einen ausgefeilteren Plan entwickelt.

Erneut stiegen Schuldgefühle in ihm hoch. Was war mit denen, die er in die Rettungskapseln getrieben hatte? Den Großteil davon würden die Rettungskräfte direkt aus dem Orbit auflesen können. Doch was war mit denen, die wie er – nur unfreiwillig! – von der Schwerkraft dieses Planeten eingefangen wurden? Seine Fantasie malte Schreckensbilder von Kapseln, die beim Eintritt in die Atmosphäre verglühten. Von versagenden Bremsraketen und Menschen in stählernen Eiern, die es metertief in den Boden rammte. Vielleicht waren auch welche in den Ozean gestürzt. Möglicherweise hatten die Schwimmkammern versagt und die Kapsel war in die bodenlose Tiefe eines fremden Ozeans gesunken.

Und wenn sie sicher den Boden erreicht hatten, wurden sie dann wie er von den Eingeborenen gefangen genommen … und getötet? Oder mussten sie den Rest ihres Lebens auf dieser Welt beschließen, weil die Quarantäne keine Bergung erlaubte?

Ein Übermaß an Fantasie konnte auch etwas Schreckliches sein.

Adriaan Deneersen wimmerte.

Er war schuld an alledem! Und nun würde er büßen. Wer auch immer ihn da draußen vor dem Pöbel gerettet hatte … vielleicht schichtete er nun schon einen Scheiterhaufen auf?

Hätte er sich nur direkt in das Wäldchen verdrückt! Aber nein, er hatte ja Gott spielen müssen, den großen Macker!

Was er anpackte, ging schief!

Die Kälte kroch seine Beine hoch, ließ sein Sitzfleisch gefühllos werden und machte ihn müde.

Es war dunkel um ihn herum. Nicht gerade stockfinster, aber sehen konnte er nicht viel. Dafür roch er genug. Die Reste von Kot, Urin und Erbrochenem aus dem rostigen Blecheimer. Die faulenden Lumpen auf der Pritsche gegenüber.

Und er hörte genug. Das Wimmern aus den anderen Zellen und das Rascheln aus dem Stroh in der Ecke. Den Rest besorgte seine Vorstellungskraft.

Unter der Holztüre und durch ihre Ritzen hindurch flackerte schwach der Lichtschein einer Fackel weit den Gang hinunter. Er war die einzige Lichtquelle und beleuchtete grob gemauerte Wände, eine grob gehauene Decke und eine grob gezimmerte Tür. Mehr wollte Adriaan nicht sehen.

Hier würde es also enden! Hier würde er enden. Er sah sich schon als verwesende, halb flüssige Masse auf dem Boden, an dem sich diese Rattenviecher gütlich taten. Es schüttelte ihn vor Ekel … und vor Kälte.

Adriaan schreckte hoch. Er war eingenickt! Die Müdigkeit hatte ihn, wie er da so kauerte, übermannt. Beinahe wäre er umgekippt und hätte sich lang auf den Boden gelegt. Aber dann wäre er schutzlos den Ratten ausgeliefert! Er schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit zu vertreiben. Ein Krampf ergriff seine Waden. Mit klammen Fingern versuchte er, sie zu massieren. Dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel zur Seite. Er wollte sich aufstemmen … doch wozu? Umso schneller war es zu Ende. Gleichgültigkeit füllte ihn mit einem trügerischen Ersatz für Wärme.

Hauptsache, es ging schnell!

Er rollte sich zusammen wie ein Ungeborenes im Mutterleib … und fiel in den Schlaf der Erschöpften.

Der Riegel der hölzernen Gefängnistür glitt mit einem überlauten Scharren zurück. Adriaan Deneersen schreckte vom Boden hoch. Schmerzen aus allen Regionen seines Körpers ließen ihn stöhnen. Panisch blickte er an sich herunter, ob die Ratten ihn schon angeknabbert hatten. Aber es waren nur die Auswirkungen seiner unbequemen Schlafposition. Das schmerzhafte Pochen in seinem Kopf, das Brennen in seinen von Kälte steifen Fingern und Füßen, der Krampf in seinen Muskeln und die Stiche in seinem Rückgrat.

Die Tür wurde aufgestoßen. Er bedeckte seine Augen, als ihn das Licht einer Fackel blendete. Kamen sie jetzt, um ihn zu seiner Hinrichtung abzuholen? Auf Händen und Füßen krabbelte er in eine Ecke seiner Zelle. Wie ein in die Falle getriebenes Tier kauerte er sich in den schmierigen Schmutz der Ecke. Er wimmerte. Der Lichtschein kam näher. Tritte schwerer Stiefel. Etwas stieß ihn an der Schulter an. Adriaan wagte nicht, nach oben zu sehen. Vier Beine ragten vor ihm auf. Nackte Beine, gegurtet mit ledernen Beinschützern, die nach oben unter einem Kilt verschwanden und unten in verzierten Stiefeln endeten.

Erneut stieß ihn einer der zwei Wärter an. Dabei bellte er etwas in seiner kehligen Sprache. Adriaan kauerte sich noch mehr zusammen. Als Adriaan nicht weiter reagierte, stupste der andere Wärter ihn mit seinem Stiefel an. Adriaan nahm seine Arme hoch und barg schützend den Kopf darin. Jeden Moment mochten Schläge auf ihn niederfahren und Tritte ihn traktierten. Doch die beiden Wärter packten ihn nur an den Oberarmen und stellten ihn auf seine Beine … die ihn nicht tragen wollten.

»Nu’ bleib doch steh’n!«

»Mann, hat der Schiss! Der pisst sich gleich an!«

»Dann halt ich ihn aber in deine Richtung!«

»Untersteh dich, Umma!«

»Wenigstens wehrt er sich nicht.«

»So wird das nichts! Der geht nicht von selbst. Pass auf … ich fass ihn hier unterm Arm, du bei dir, dann tragen wir ihn. Hier, halt mal die Fackel!«

»Tragen? Ich schleif’ den rüber!«

»Tust du nicht! Ihm soll nichts geschehen!«

»Außer’n paar Kratzern passiert ihm ja auch nix.«

»Nix da! Der Befehl kommt von ganz oben.«

»Der Wachoffizier kann mich mal!«

»Ich sagte ›von ganz oben‹!«

»Oh …! Muss sich der Kommandant jetzt auch schon bei uns einmischen?«

»Hallo! Noch höher …! Jetzt kapiert?«

»Äh …«

»Na also! Los, pack an!«

»Warum soll’n wir ihn ausgerechnet zum alten Sob’uhn stecken?«

»Der hier kommt aus irgendeinem fremden Land …«

»Könnte ein Demaware sein. Hast du jemals solche Augen gesehen? Ob die Demawaren alle so blaue Augen haben?«

»… und soll erst mal Atta sprechen lernen! Denn …«

»Und guck mal, was für’n kleinen, dicken Hayt der hat. Und so behaart! Das ist kein ›Stock‹, das ist ‘ne Raupe.«

»… schließlich ist … war der Alte mal Lehrer.«

»Hey, Kiegon! Ob alle Demawaren so’n kleinen Stock haben? Wie kann man denn mit so was Kinder machen?«

»Anscheinend geht’s, sonst gäb’s keine Demawaren!

»Ob die Weiber von denen dann auch so weite ›Grotten‹ haben? Mit so ‘ner Frau würd’s bestimmt keinen Spaß machen.«

»Komisch! Das Gleiche hat mir deine Frau auch erzählt.«

»Du Arsch! Ich krieg meine Frau immer zum Stöhnen, wenn …«

»Ja, ist gut! Reg dich ab, Umma! Da sind wir!«

»Sob’uhn, verschwinde von der Tür!«

»So, mein Jüngelchen, das hier is’ Sob’uhn. Eigentlich ganz harmlos … nur reißt er sein Maul zu oft auf.«

»Sag ›Hallo‹, Sob’uhn! Das ist dein neuer Mitbewohner. Noch’n bisschen schwach auf’n Beinen. Aber das gibt sich schon.«

»So, hier setz dich mal! Der liebe Umma geht dir jetzt mal ein paar Klamotten holen, dann brauchst du dir auch nicht mehr deinen Hayt abzufrieren.«

»Macht der liebe Umma doch glatt! Dann muss er nämlich dieses Raupending nicht mehr ansehen!«

Adriaan durfte weiterleben. Vorerst zumindest. Die zwei finster aussehenden Kerkermeister packten ihn grob und schleiften ihn, fortwährend wüste Beschimpfungen in ihrer kehligen Sprache ausstoßend, durch die Katakomben des Verlieses. Und er gab sich schon auf, ergab sich in sein Schicksal. Doch dann machten sie urplötzlich vor einer Bohlentür mit einem Guckloch in Augenhöhe Halt. Einer der Wärter schloss die Tür auf und sie luden ihn unsanft auf einer Pritsche ab.

Die Holzkonstruktion sollte wohl so etwas wie ein Bett darstellen. Zumindest hatte sich sein Zellengenosse mit Decken und Kissen darauf ein Lager eingerichtet. Adriaan schielte sehnsüchtig nach den Decken. Seine Gliedmaßen waren mittlerweile taub vor Kälte. Einer der Wärter, er war älter und etwas dicker als der andere, lehnte wachsam an der geöffneten Tür. Es war ein grimmiger Kerl in martialischer Kleidung, sofern man bei Männern in Röcken von »martialisch« sprechen konnte. Der Kilt war mit Streifen aus Blech bewehrt. Auch die Weste hatte solche sich überlappenden Blechstreifen. Sie mochten so etwas wie eine leichte Panzerung darstellen, aber Adriaan bezweifelte, dass sie gegenüber einem Pfeilhagel ausreichend Schutz boten. Zumal Arme und Beine bis auf ein paar lederne Schienen nackt waren.

Der Wärter blaffte fortwährend seinen Leidensgenossen an. Aus ihren Gesten war herauszulesen, dass sie sich über Adriaan unterhielten.

Adriaans Mithäftling ließ sich wieder auf seine Pritsche nieder. Es war ein Mann um die fünfzig. Mit seinen grau melierten Schläfen sah er wie einer der alten griechischen Philosophen aus, wie man sie von antiken Statuen her kannte. Er ließ seinen Blick nicht von Adriaan, während die Wärter auf ihn einschimpften.

Adriaan kauerte auf seiner Pritsche, die Arme um seine Beine geschlungen, und versuchte das Zittern zu unterdrücken. Nach der Dunkelheit seiner letzten Zelle kam ihm diese hier lichtdurchflutet vor. Eine vergitterte Öffnung hoch über der Liege des Alten ließ das rötliche Licht der für Adriaan fremden Sonne ein. Ein verschlissener Vorhang trennte eine Nische am Fußende ab. Dahinter war ein Blecheimer zu erkennen. Unter dem Bett des Alten stand ein schmutziges Schälchen, in dem eine Art Löffel in den Resten einer gelben Pampe stak. Direkt hinter der Türe stand ein Holztischchen, auf dem eine Schüssel, eine Blechkanne und zwei hölzerne Becher standen.

Schritte näherten sich draußen auf dem Gang. Der zweite Wärter trat in den Raum, eine Decke über die Schultern und ein Bündel in den Armen.

Das Bündel ließ er auf das Fußende von Adriaans Pritsche fallen, die Decke reichte er Adriaan. Dieser warf einen gehetzten Blick zu den Wärtern. Der an der Tür machte eine aufmunternde Geste. Mit zitternden Fingern wickelte sich Adriaan in die Decke ein. Der ältere Wärter hob das Bündel auf, blafft Adriaan kurz an und drückte es ihm an die Brust. Adriaan nahm dies als Aufforderung und wickelte das Bündel auseinander. Es entpuppte sich als sackähnliches Gewand aus grobem Stoff. Adriaan war das egal; jeder Fetzen Stoff mehr würde ihn etwas mehr wärmen. Er warf die Decke ab und zog das Gewand an, begleitet von augenscheinlich bissigen Bemerkungen. Der Jüngere der beiden schob mit seinem Fuß ein Schälchen unter Adriaans Pritsche hervor, anscheinend sein Schälchen. Dann war er allein mit dem Alten.

Eine Weile sahen sie sich schweigend an. Langsam kroch ein Gefühl von Wärme in Adriaans taube Glieder. Er zog die Decke enger um seine Schultern. Dann stand der Alte auf, ging zum Tisch und goss Wasser aus der Kanne in die Becher. Mit einem Behälter in jeder Hand setzte er sich wieder auf seine Pritsche. Dann beugte er sich vor und reichte Adriaan seinen Becher. Dieser griff mit beiden Händen danach und stürzte den Inhalt hinunter.

»Sopp Uhn!«, sagte der Alte plötzlich.

Adriaan sah ihn irritiert an.

Der Alte legte seine Hand flach auf seine Brust und sagte erneut: »Sob’uhn! Tscha Sob’uhn ki ek!«

»Adriaan«, sagte Adriaan versuchsweise und legte dabei die Handfläche auf die eigene Brust.

»Attri Ahn?«, wiederholte der Alte, grinste ihn an und überfiel ihn anschließend mit einem Wortschwall.

Anscheinend hatte Adriaan einen Freund gefunden.

Am nächsten Tag kam der Durchfall, am Tag darauf das Fieber. Ob er das Essen nicht vertrug, fremdartige Viren seinen Körper in Besitz nahmen, er sich in der ersten Zelle verkühlt hatte … oder alles zusammen, Adriaan war das für eine lange Zeit egal. Er wollte nur noch sterben. Bis zur Nasenspitze in die Decke eingemummelt lag er auf seiner Pritsche und zitterte sich die Seele aus dem Leib.

Sein Körper glühte. Verglühte. Er fühlte sich wieder in die Rettungskapsel versetzt. Und diesmal verglühte er. So, wie die Besatzungsmitglieder in seiner Fantasie, die seinetwegen auf den Planeten zutrieben, die seinetwegen in der Atmosphäre verglühten.

In seinem Fieberwahn registrierte er nur am Rande, dass der alte Sob’uhn an seiner Pritsche saß, ihm Wasser und Nahrung einflößte oder wie die Wärter vorbeischauten, um die Verpflegung zu bringen oder den Eimer zu entleeren.

Was er nicht mitbekam, war, dass auch die Gesichter der Wärter besorgter wurden. Am dritten Tag der Verlegung in Sob’uhns Zelle nahm Kiegon seinen Kollegen beiseite und sagte: »Der nippelt uns ab, wenn wir nicht was unternehmen!«

»Wär’ nicht der Erste.« Umma zuckte mit den Schultern. »Kommt vor.«

»Aber bei dem hier kriegen wir Ärger!«, unterstrich Kiegon. »Ich mach’ mir Sorgen um unsere Gesundheit, falls der Fremde ›in den Wind geht‹. – Wir sollten einen Heiler holen!«

»Einen Heiler?« Ummas Gesicht war eine Landkarte der Entrüstung. »Ich hab’ noch nie einen Heiler für einen Gefangenen geholt. Entweder er wird aus eigenen Kräften wieder gesund, oder wir holen den Totenkarren.«

»Glaub mir! Das hier ist was anderes!«

»Und wer soll den bezahlen?«

»Na, die Staatskasse!« Kiegons Gedanken hatten den Weg auf ein für sie ungewohntes Neuland betreten. Sie wollten nicht den Schwanz einziehen und sich nach dieser kurzen Stippvisite in ihre alten Bahnen zurückziehen. »Wenn wir krank sind, bezahlt das doch auch die Staatskasse.«

»Ich möchte mal seh’n, was der Wachoffizier mit dir anstellt, wenn du ihm mit der Rechnung für den da kommst.« Umma schürzte spöttisch die Lippen.

»Dann geh’ ich zum Zetul!«

»Klar gehst du zum Zetul.« Umma nickte übertrieben. »Und anschließend in eine von uns’ren Zellen. Und da bleibst du dann seeehr lange!«

»Der Befehl«, Kiegon brachte sein Gesicht ganz nahe an das von Umma, »dass wir auf diesen Gefangenen ein Auge haben sollen, kommt direkt von ihm!«

Es dauerte eine Weile, bis Umma das Gesagte geistig verdaute, dann entfuhr ihm ein »Oh!«

»Und deswegen ist mir egal, was der Wachoffizier sagt.«

5

 

 

 

Der K’atok betrachtete den »Sandkasten« mit sorgenvollem Gesicht. Es war ein länglicher, rund zwei Meter breiter Tisch, rundherum nach oben hin mit einem handhohen Rahmen eingefasst. Ein Kerzenleuchter an jeder Ecke tauchte eine aus Sand modellierte Landschaft in helles Licht. Kurze Stöckchen formten einen groben Umriss. Blau eingefärbter Sand bildete die größeren Flüsse und das Meer im Osten nach. Kleine Holzklötzchen in verschiedenen Formen und Größen symbolisierten die großen und kleineren Ansiedlungen und die befestigten Lager des Landes.

Der Sandkasten stellte den zentralen Punkt des Planungszimmers dar. In diesen Raum kamen nur die höchsten Mitglieder des Militärs hinein. Diesmal jedoch war der K’atok alleine. Er kam oft alleine hierher. Das da im Sandkasten war Kofane, sein Land. In all seiner Vielfalt und seinen Ausprägungen. Vom Senjo-Gebirge im Südwesten bis zum Meer im Osten.

Sein Land, begrenzt von den Flüssen B’rell im Norden und Turp im Süden, war annähernd quadratisch, bis auf zwei fingerförmige Zipfel, die sich rechts und links um die felsigen Ausläufer des Senjo-Gebirges herumwanden. Mit viel Fantasie sah es wie eine zupackende Hand aus.

Doch so oft der K’atok auch hierher kam, seine Probleme wurden nicht kleiner. Im Gegenteil: Sie wuchsen mit der Anzahl der Grüppchen roter Holzklötzchen, die sich jenseits der Grenzstöckchen links und rechts des Gebirges anhäuften … und immer näher kamen.

Es klopfte an der großen Türe.

»Komm herein, Zetul!«

Die Tür öffnete sich knarzend und sein oberster Feldherr betrat den Raum. Er ließ sich auf sein rechtes Knie sinken und senkte kurz den Kopf. Mit einer nachlässigen Geste bedeutete der K’atok ihm aufzustehen.

»Nun, wie macht er sich?«, fragte der K’atok. »Wann ist er so weit, dass er uns versteht?«

»Er lernt schnell. Allerdings gibt es in seiner Zelle auch wenig, was ihn vom Lernen ablenken könnte.« Der Zetul grinste. »Andererseits sind in einer Zelle auch zu wenige Gegenstände, um neue Worte zu lernen. Sob’uhn hat mich vor einem Zehntag um Papier und Stifte gebeten, um dem Fremden durch Zeichnungen neue Worte beizubringen. Mittlerweile soll er sich schon ganz gut verständigen können. Vielleicht sollte man ihn …« Der Zetul stockte.

»Ja?«

»Verzeiht, Herr, aber vielleicht sollte man ihn in eine etwas freundlichere Umgebung bringen … langsam anfangen, ihm unsere Welt zu zeigen, damit er auch die entsprechenden Worte lernen kann. Man könnte ihn ja in einer Behausung in der Stadt unter Hausarrest stellen.«

Der K’atok erlaubte sich ein nachsichtiges Lächeln. »Genau das hatte ich auch vorgehabt, mein Zetul. Aber es gab Gründe für das Wegschließen! – Wie hat er seine Krankheit überstanden?«

»Nun, ein paar Tage sah es so aus, als würde er uns unter den Händen wegsterben. Zum Glück hat ein Wärter so viel Weitsicht besessen, dass er mir rechtzeitig Bescheid gegeben hat. Ohne die Künste Eures Leibarztes, den Ihr so großzügig mit seiner Heilung betraut habt, wäre er gestorben.«

Der K’atok nickte zustimmend »Aber der Arzt war nicht persönlich bei ihm?«

»Nein, nein, Herr! Wie Ihr befohlen habt. Nur seine Gehilfen haben sich um den Fremden gekümmert.«

»Und wie geht es diesem Sob’uhn?«

»Ich habe den Eindruck, dass es ihm besser geht, als es ihm in einer Zelle gehen dürfte. Ein Gefängnis sollte keinen Spaß machen! Doch es scheint ihm Freude zu machen, für den Fremden den Lehrer zu spielen.«

»Ich meinte: Sob’uhn ist nicht krank geworden?«

»Warum sollte er? Er hat sich doch nicht erkältet.«

Wieder lächelte der K’atok. »Zetul, du bist ein hervorragender Heerführer. Nicht nur Waffen, Männer, Reiterei können ein Land zerstören. Dass ich den Fremden wegschließen ließ, hatte nicht nur den Grund, ihm ein wenig Demut beizubringen. Er kommt aus einem fremden … Land. Und wer weiß, welche fremdartigen Krankheiten es dort geben mag. Darum hab ich ihn diese Zehntagen von anderen Menschen ferngehalten. Abgesehen von Sob'uhn, den Wärtern und den Gehilfen des Arztes. Wir können uns nicht noch einmal so eine Seuche wie vor dreißig Jahren leisten.«

Bei der deine und meine Eltern gestorben sind, schickte der K'atok in Gedanken hinterher. Er sah am Blick des Zetuls, dass dieser das Gleiche dachte, es aber nicht laut auszusprechen wagte.

»Nun denn!«, sagte der K’atok. »Ich glaube, es wird Zeit, dass ich ihn mir zur Brust nehme! Lass ihn säubern, einkleiden und heute Nachmittag zu mir bringen. Und den Lehrer gleich mit. Möglicherweise hat er mehr von seinem Schüler erfahren, als uns lieb sein kann.«

Der Zetul nickte.

»Und wenn du gehst, schicke mir einen der Sekretäre rein. Sie sollen eine Behausung vorbereiten.«

 

Zum ersten Mal seit seiner Landung verspürte Adriaan Deneersen wieder so etwas wie Hoffnung.