Der Zirkus der Stille - Peter Goldammer - E-Book

Der Zirkus der Stille E-Book

Peter Goldammer

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Beschreibung

Thaïs Leblanc wächst nach dem Tod der Mutter bei ihrer Großmutter auf, der unvergleichlichen Victoria, wie sie auf Zirkusplakaten tituliert wird. Thaïs verabscheut das Zirkusleben und zieht, kaum volljährig, nach Paris; sie will nur eins: Normalität. Doch als die Großmutter stirbt, konfrontiert deren seltsames Testament sie mit ihrer Familiengeschichte, die sie zum wundersamen Cirque perdu und seinem Direktor Papó bringt. Dort lernt Thaïs, dass man sich seinen Ängsten stellen muss und für die wichtigsten Dinge im Leben keinen Applaus von anderen braucht.

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Seitenzahl: 241

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Peter Goldammer

Der Zirkus der Stille

Roman

Atlantik

1Der Kuss des Schicksals

Sein Name war Mister Kismet. Ein seltsamer Name, Herr Schicksal, ich weiß. Aber welcher Name ist schon normal für einen grauhaarigen Schimpansen im Smoking?

Mister Kismet gehörte zur Pferdedressur meiner Großmutter, mit der sie in den sechziger Jahren im Zirkus Beck gastierte. Am Ende ihrer Nummer hatte er seinen Auftritt. Wenn die unvergleichliche Madame Victoria, wie sie damals auf Zirkusplakaten tituliert wurde, in der Mitte der Manege stand – die Longierpeitsche in der einen Hand, Mister Kismet an der anderen –, die Schimmel um sie herumgaloppierten, Holzspäne flogen, die Musik anschwoll und sie zum Tusch ihr »Allez!« rief, dann war sein Moment gekommen: Kreischend riss sich Mister Kismet von ihrer Hand los und schwang sich auf den Rücken von Royal Highness, der Lieblingsstute meiner Großmutter, die genau in diesem Moment auf die Hinterbeine stieg. Mister Kismet klammerte sich am Zaumzeug fest, fletschte die großen gelben Zähne, nickte wild mit dem Kopf und gab glucksendes Geschnatter von sich, als würde er lauthals lachen. Die anderen Pferde galoppierten hinaus – meine Großmutter bestieg Royal Highness und drehte eine letzte Runde in der Manege, Mister Kismet auf dem Arm, der allen brav zuwinkte. Das Publikum tobte. Damals reichte so etwas noch, um das Publikum zum Toben zu bringen.

Von Mister Kismet und mir gibt es ein Foto aus dem Jahr 1966. Damals war ich zwölf Jahre alt. Großmutter hat es aufgenommen, als wir zusammen in ihrem Zirkuswagen frühstückten, was in jener Zeit – drei Monate nach dem Tod meiner Mutter – bedeutete, dass sie ihren schwarzen Kaffee trank, schweigend Reitmagazine las und ich hohläugig neben ihr hockte und mein Croissant zerbröselte, ohne einen Bissen zu essen. Großmutter bat mich, ihr den Zucker zu reichen. Ich reagierte nicht. Auch nicht, als sie ihre Bitte wiederholte, und auch nicht, als sie energisch meinen Namen rief. Ich saß einfach da und starrte die Krümel auf meinem Teller an. Bis sie mit dem Fuß aufstampfte und »Allez!« rief.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Ich erschrak, schnellte hoch, Mister Kismet, der bisher gelangweilt herumgeturnt hatte, sprang mir – wahrscheinlich in Ermangelung von Royal Highness – auf den Rücken, klammerte sich an meine Haare, worauf ich in Panik zur offenen Tür hinausrannte und kreischend um den Wagen herumlief. Meine Großmutter, statt mir zu Hilfe zu eilen, griff nach ihrer Kamera, einer alten Voigtländer Vitessa, folgte uns und fotografierte mich und Mister Kismet lachend, als wäre das alles ein riesiger Spaß.

Später ließ sie das Bild rahmen und hängte es über den Esstisch, zeigte es stolz jedem Besucher und schwadronierte, ich hätte dabei vor Vergnügen gekreischt, weil Mister Kismet mir einen Kuss auf die Wange geben wollte. Es sei einer dieser wunderbaren Momente gewesen, das sagte sie wieder und wieder, einer dieser wunderbaren Momente.

Das Schlimmste daran war, dass sie diese Geschichte tatsächlich glaubte. Noch heute sehe ich ihren verzückten Gesichtsausdruck, wenn sie Jahre später, angeduselt von ihren Schnäpsen, von diesem wunderbaren Moment faselte.

Hätte mich je ein Mensch gefragt – was nie jemand tat –, wie ich mich in diesem wunderbaren Moment gefühlt habe, er hätte eine ganz andere Geschichte zu hören bekommen: Für mich zeigte die Aufnahme ein verstörtes kleines Mädchen, das ein wildgewordener Zirkusaffe angesprungen hatte, um ihm ins Gesicht zu beißen.

Jahrelang stritt ich mit Großmutter über diesen Moment. Wir wurden uns nie einig. Wenn ich heute an meine Kindheit denke, sehe ich mich in Großmutters Wohnwagen sitzen und mit steinerner Miene das Bild anstarren. Und je grimmiger ich starrte, umso mehr schien Mister Kismet mich auszulachen.

2Die letzte Vorstellung

Meinen vierundzwanzigsten Geburtstag hatte ich mir anders vorgestellt. Ganz anders. Um halb sechs in der Früh zwängte ich mich in das schwarze Kleid, das Isabella mir für diesen traurigen Anlass geliehen hatte, und stieg in mein rostiges Cabriolet, um 800 Kilometer quer durch Frankreich zu fahren. An einer Autobahntankstelle kurz vor Arles kaufte ich mir, als Geburtstagsgeschenk sozusagen, eine Packung Gitanes ohne Filter, obwohl ich eigentlich vor sieben Monaten mit dem Rauchen aufgehört hatte.

Trotz Karte verfuhr ich mich dreimal und erreichte viel zu spät das Ziel meiner Reise, die Rue Ernest Reyer in Arles. Ich parkte direkt vor der Nummer 23, einem weiß getünchten Bungalow, bei dem nur die bleiverglasten Fenster neben der Eingangstür verrieten, dass es sich um ein Bestattungsinstitut handelte – das Bestattungsinstitut Luban. Einen Ort, an dem man sich, wie es so schön in der Firmenbroschüre hieß, mit »besonderem Respekt und tiefem Mitgefühl« den Toten widmete.

Ich steckte mir eine Gitane in den Mund und schaute hinüber. Hier sollte sie also stattfinden, die letzte Vorstellung der unvergleichlichen Madame Victoria. Ich sah sie vor mir, in ihrem Paillettenkleid mit den Strasssternen, wie sie hinter dem Vorhang stand und durch einen kleinen Spalt ihr Publikum fixierte: Ich stand immer neben ihr, den kalten, silbernen Flachmann in der Hand, den ich ihr reichen musste, wenn der Direktor ihren Auftritt ankündigte. Das war das Zeichen. Sie nahm einen letzten Schluck und bestieg Royal Highness. Mir klingt noch das hölzerne Knarren des Tritts in den Ohren, den sie dabei benutzte, und ich sehe noch ihr maskenhaftes Lächeln, bevor sie hinausstürmte – ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Nein, diesmal hatte ich keinen silbernen Flachmann dabei. Bei dieser letzten Vorstellung musste es ohne Wodka gehen.

Ich blickte die Straße entlang. Ich sah das pastellfarbene Wolkenband am Horizont, fast verdeckt von den umliegenden Häusern, sah die gebückten Olivenbäume, deren Blüten auf die Straße schwebten, ganz langsam, wie in Zeitlupe, und sah mich selbst im Auto sitzen, in einem schwarzen Kleid, das mir kaum Luft zum Atmen ließ. Das Klacken des Anzünders schreckte mich auf. Ich drückte den glühenden Heizdraht an die Zigarette und hoffte, dass mich das Nikotin beruhigen würde. Was aber nicht geschah.

Meine Großmutter – die unvergleichliche Madame Victoria – wäre gern woanders gewesen. Das war mal sicher. Zeitlebens wäre sie lieber woanders gewesen, ganz gleich, wo sie gerade war. Ihre Seele war bestimmt schon wieder auf Achse. Vor ein paar Jahren hatte ich im Scherz zu meinem Freund Daniel gesagt, man sollte auf ihren Grabstein schreiben:

Hier ruht die unvergleichliche Madame Victoria Leblanc

(wenn sie nicht schon vorgegangen ist).

Es war wärmer als in Paris, obwohl es bereits dämmerte. Beim Überqueren der Straße blieben die gelben Blüten der Olivenbäume an meinen Schuhen kleben. Ich versuchte sie abzuklopfen, wollte Zeit gewinnen, blickte mich nach allen Seiten um, als würde ich überprüfen, ob mir jemand gefolgt war. Aber da war nichts und niemand, bis auf den warmen Wind der Provence, der mir durchs Haar fuhr. Langsam steckte ich meinen Zeigefinger dem Messingklingelknopf entgegen, holte tief Luft – und drückte.

Künstliche Glocken ertönten. Wenig später öffnete ein ernst blickender Mann die Tür. Zur Begrüßung setzte er ein dünnes Lächeln auf: »Guten Abend. Mademoiselle Leblanc, nehme ich an?« Bevor ich antworten konnte, trat er beiseite und bedeutete mir mit einer elegischen Handbewegung einzutreten. »Ich bin Jean-Baptiste Luban. Wir haben telefoniert, kommen Sie bitte …«

Ich nickte und betrat einen leeren Raum, auf dessen glattem Steinboden das Licht der goldenen Wandlüster buttrig schimmerte.

»Schön, dass Sie hergefunden haben, Mademoiselle«, sagte er fast flüsternd. »Die Fahrt war hoffentlich nicht zu … Bitte hier entlang, Mademoiselle, leider haben wir im Büro einen Wasserschaden, ich musste für unser Gespräch deshalb hier provisorisch Platz …«

Er deutete zur Stirnseite des Raums. Auf einem Schleiflackregal stand ein großer Strauß Lilien, davor zwei cremefarbene Stühle mit hohen Lehnen. Wir gingen hinüber und nahmen Platz, der schwere Duft der Lilien raubte mir den Atem.

»Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten«, sagte er. »Aber Sie verstehen, der Wasserschaden …«

Monsieur Luban schien die meisten Sätze nicht zu beenden. Ich nickte und versuchte, möglichst sittsam in meinem kniefreien Kleid zu wirken.

»Mademoiselle Leblanc, bevor wir über die Details der Beisetzung sprechen, möchte ich Ihnen noch einmal mein Beileid aussprechen.« Er senkte den Blick. Pause. Ich senkte ebenfalls den Blick, auf meine Schuhe, an denen noch immer ein paar Blüten klebten. »Sie werden mir erlauben, wenn ich hinzufüge, dass es für Sie ein besonders schmerzlicher Verlust sein muss, wo Sie doch zu Ihrer Großmutter, Madame Leblanc, ein so tiefes …«

»Monsieur Luban«, unterbrach ich ihn etwas zu laut, »warum war es so wichtig, dass ich herkomme und meine Großmutter sehe?«

Er sah mich entgeistert an.

»Ich meine vor der Beerdigung? Hier? Mir erscheint das …«

»Ungewöhnlich?«, fiel er mir ins Wort und setzte wieder sein mattes Lächeln auf. »Ich weiß, es ist ungewöhnlich, selbst für mich – und ich habe bereits einiges … Ich wollte das nicht am Telefon … Es wäre schwierig … Am besten, Sie machen sich selbst ein Bild.«

»Ist denn irgendetwas Schreckliches …« Jetzt brachte ich meine Sätze selbst nicht mehr zu Ende.

»Nein, keine Sorge, Mademoiselle. Es ist aber wirklich am besten …«, er trat an die Wand hinter ihm und zog einen hellen Taftvorhang beiseite, »… wenn Sie sich selbst ein Bild machen.« Hinter dem Vorhang führte eine Treppe nach unten. »Für gewöhnlich führen wir keine Angehörigen hierher«, sagte Monsieur Luban, und ging hinunter, ohne sich zu mir umzudrehen. »Aber in diesem Fall …«

Ich folgte ihm. Nach ein paar Metern erreichten wir einen roh verputzten Gang, an dessen Ende sich eine Stahltür befand.

»Dort ist es, Mademoiselle. Es tut mir leid, dass ich Ihnen Ihre Frau Großmutter nicht anders präsentieren kann, aber Sie werden gleich verstehen.«

Das Herz schlug mir bis zum Hals.

Er öffnete die Tür, griff zur Wand, ein lautes Klack schallte durch den Raum, zwei Leuchtstoffröhren erhellten den gekachelten Raum mit kaltem Licht. In der Mitte stand ein langer Metallrollwagen, verhüllt mit einem flaschengrünen Tuch, dessen Bügelfalten so scharfkantig waren, dass man damit Papier hätte schneiden können. Es roch nach Putzmitteln – irgendetwas Scharfes, Zitroniges. Monsieur Luban trat mit drei langsamen Schritten an den Wagen, ergriff das Tuch, wartete, bis ich neben ihm stand, hob es mit einem Ruck an und faltete es in einer einzigen fließenden Bewegung auf der Brust des Leichnams.

Stille.

Da lag sie. Nicht die Madame Victoria, die ich in Erinnerung hatte, nicht meine Großmutter, sondern eine Greisin, deren Züge ihr vage ähnelten. Der Mund stand halb offen, die Lider waren nicht ganz geschlossen über Augen, matt wie abgewetzte Murmeln. Wie eine dieser Totenmasken, dachte ich, die ich mal im Museum gesehen hatte. Plötzlich verstand ich, warum man von sterblichen Überresten spricht. Madame Victoria war nicht mehr da, ich hatte es mir schon gedacht: Sie war bereits vorgegangen. Wie immer.

»Sehen Sie hier, Mademoiselle«, sagte Monsieur Luban und zog das steife Tuch weiter hinunter.

Ich verstand nicht recht, was ich da sehen sollte. Ich ließ meinen Blick über den faltigen Hals wandern, die pergamentene Haut der Hände.

»Sehen Sie es nicht?« Er deutete mit der ausgebreiteten Hand auf ihre Brust.

Da sah ich es, blasse blaugrüne Linien, eine seltsam krakelige Schreibschrift – sie hatte einen Kugelschreiber benutzt. Ich beugte mich hinunter. Tatsächlich. Sie hatte sich selbst mit Kugelschreiber beschrieben.

»Es ist eine Art Vermächtnis«, sagte Monsieur Luban. Er deutete auf eine Stelle an ihrem linken Oberarm. »Ich lese es Ihnen vor:

›Mein letzter Wille. Ich habe mich entschlossen, mein Testament auf diese Weise festzuhalten, um sicherzustellen, dass es nicht …‹«

Er wandte sich zu mir: »Vieles ist verwischt oder verblasst. Aber mein Sohn Pierre – er ist sehr gründlich – konnte schließlich das meiste entziffern.« Er zog ein gefaltetes Stück Papier aus der Anzugtasche: »›… um sicherzustellen, dass es nicht auf irgendeine Weise verschwindet und meinem Letzten Willen nicht entsprochen wird …‹« Monsieur Luban schaute von seinem Zettel auf. »Hier war einiges nicht lesbar. So in etwa geht es weiter: ›… ich verfüge hiermit, dass zum einen meine Enkeltochter Thaïs Leblanc, wohnhaft in … 50 Prozent meines Hauses und meines gesamten Besitzes erbt … Herrn Frederik Rose (Name im Pass), genannt Papó, vererbe ich die anderen 50 Prozent meines Hauses. Möge dies ein kleiner Beitrag sein, meine Versäumnisse und Fehler wiedergutzumachen. Und dem Zirkus in dieser Welt den Platz einzuräumen, der ihm gebührt. Lang lebe der Zirkus! Lang lebe mein geliebtes Enkelkind! Victoria Leblanc, Montpellier, 14. Juni 1978.‹«

Monsieur Luban grinste mich an, als hätte er gerade die Eine-Million-Franc-Preisfrage gelöst, und breitete das grüne Tuch wieder über dem Leichnam aus.

Die Formulierung »geliebtes Enkelkind« war neu für mich. Ich biss mir auf die Lippe. Unter mir schien der Boden zu schwanken.

»Ist Ihnen nicht gut, Mademoiselle Leblanc?«

»Haben Sie vielleicht etwas zu trinken? Ich meine kein Wasser.«

»Aber ja, Mademoiselle. Oben in meinem Büro.« Er ging zur Tür.

»Darf ich noch hier …«, rief ich ihm hinterher, »einen Augenblick …?«

»Aber selbstverständlich.«

Vorsichtig zog ich das Tuch beiseite, nahm die kalte Hand und wollte etwas sagen. Mein Hirn brachte keine ganzen Sätze zustande, nur einzelne Wörter geisterten darin herum: Abschied. Leere. Frieden. Unendlichkeit. Einsamkeit. Auch das Wort Liebe kam mir kurz in den Sinn. Aber ich konnte das damit verbundene Gefühl nicht abrufen. Nicht hier. Nicht vor diesem vollgeklierten Körper.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie auf der Bettkante saß, den Kugelschreiber in der einen Hand, das Wodkaglas in der anderen, wie sie mit glasigen Augen ihre Brust beschrieb, fest davon überzeugt, das Richtige zu tun, weil der Wodka sie das immer glauben ließ.

Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Es fühlte sich an wie kaltes Wachs. Vorsichtig zog ich das Tuch über ihr Gesicht und verließ den Raum, ohne mich noch einmal umzublicken.

Das Büro von Monsieur Luban lag oben, gegenüber dem Treppenaufgang, das gelbe Licht einer Schreibtischleuchte wies mir den Weg. Als ich eintrat, sah ich, dass eine Wand aufgeschlagen war und überall blaue Plastikplane lag. Nur ein grauer Aktenschrank war nicht abgedeckt, aus dem Monsieur Luban gerade zwei Wassergläser hervorkramte. Über die Schulter rief er mir zu: »Einen Augenblick, Mademoiselle. Ich bin gleich bei Ihnen!« Als er eine Flasche ohne Etikett auf den Schreibtisch stellte, wirbelte er eine kleine Wolke grauen Baustaubs auf. Unter einer Plastikplane entdeckte ich einen Bürosessel und ließ mich wortlos darauf fallen.

Monsieur Luban drückte mir ein Glas in die Hand. »Birnenschnaps, selbst gebrannt, von meinem Schwager. Haben Sie schon etwas gegessen? Ich habe von heute Mittag noch ein hartgekochtes Ei übrig. Möchten Sie?«

»Gern«, hörte ich mich sagen.

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Prompt gab mein Magen eindeutige Geräusche von sich.

Monsieur Luban griff in seine Aktentasche und reichte mir eine giftgrüne Plastikdose. »Ihre Großmutter war eine ungewöhnliche Frau, einzigartig, könnte man sagen.« Er hob sein Glas. »Auf Ihre Frau Großmutter!«

»Auf die unvergleichliche Madame Victoria«, sagte ich ohne jede Euphorie. Dann kippten wir den Birnenschnaps runter, ich zumindest die Hälfte meines Glases. Ich schüttelte mich ausgiebig, öffnete die Brotdose und klopfte das Ei am Rand auf.

Monsieur Luban machte es sich auf seinem Schreibtischstuhl bequem. »Eines Tages werde ich ein Buch schreiben, mit all diesen unglaublichen Geschichten.« Er schenkte sich noch einmal ein. »Und Ihre Großmutter wird gleich auf der zweiten Seite Erwähnung finden …«

Wahrscheinlich hätte ich nachfragen sollen, was auf der ersten Seite Erwähnung finden würde, aber für den Moment war mein Bedarf an Exzentrik gedeckt. Stattdessen nahm ich einen weiteren Schluck aus meinem Glas.

»Ich erinnere mich noch genau daran, wie sie hier durch die Tür kam. Das war ein Auftritt, sage ich Ihnen.«

Ich wartete auf eine Gelegenheit, unbeobachtet in das Ei hineinbeißen zu können.

»Sie trug einen langen Wollmantel, kamelhaarfarben, wenn ich mich recht entsinne. Darunter ein weißes Paillettenkleid mit aufgenähten …«

»… Strasssternen.«

»Richtig, Mademoiselle, Strasssterne, und im Haar hatte sie …«

»Ihr Kostüm, es war ihr Zirkuskostüm. Sie wissen doch: Madame Victoria, die Unvergleichliche!«

Ich klang betrunken, obwohl ich erst ein Glas intus hatte. Er warf mir einen fragenden Blick zu.

»Alles bestens«, sagte ich schnell. »Trinken wir auf die unvergleichliche Madame Victoria!«

»Ja«, erwiderte er etwas zögerlich, »auf Ihre Großmutter!«

Was für eine Ironie. Solange Victoria lebte, hatte ich nie auch nur ein Glas mit ihr getrunken. Ich hasste die Wirkung, die der Alkohol auf sie hatte, erst war sie fröhlich und amüsant, dann aber, schlagartig, verletzend und gemein. Und jetzt betrank ich mich hier, mit ihrem Bestatter. Ich gluckste auf einmal vor Lachen, worauf Monsieur Luban mich erneut skeptisch musterte. Ich hob die Hand, um ihm zu zeigen, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. »Alles in Ordnung. Alles in bester Ordnung.«

Er füllte noch einmal sein Glas, meins aber nicht. »Ihre Großmutter hat mir damals eine dieser kleinen Wegwerfkameras gegeben. ›Fotografieren Sie mich!‹, hat sie gesagt. Und, stellen Sie sich vor, das Kleingeld für die Filmentwicklung und die Abzüge hatte sie abgezählt dabei. Sie holte eine weiße Reitgerte hervor und schmiss sich in Pose, gleich hier, in meinem Büro. Alles sollte ich fotografieren: Schmuck, Make-up … Ich verstand nicht, wofür das gut sein sollte, bis Ihre Großmutter mich anfuhr: ›Herrgott, begreifen Sie denn nicht? Die Aufnahmen machen wir für Sie! Damit Sie wissen, in welchem Aufzug Sie mich unter die Erde zu bringen haben!‹« Er hatte Victorias Befehlston ziemlich gut getroffen. Jetzt sprang er auf, stemmte die Arme in die Hüfte, schmiss den Kopf nach hinten und rief mit heller Stimme: »›Und unterstehen Sie sich, mich schlecht zu schminken! Ich will nicht als Dorfhure zu Grabe getragen werden!‹«

Wir lachten beide, erst verhalten, dann konnten wir uns kaum noch halten. Vielleicht lag es am Schnaps, vielleicht auch daran, dass ich immer noch nichts gegessen hatte oder dass heute mein Geburtstag war oder an Victoria, oder einfach an allem. Mir liefen die Tränen die Wangen herab. So ein Todesfall, dachte ich, bringt einen – was die Lebenserfahrung angeht – wirklich weiter.

»Wo wir gerade dabei sind, könnten Sie mir die Sachen Ihrer Großmutter vorbeibringen, Mademoiselle? Mein Sohn ist in Marseille, sonst würde ich Sie nicht bemühen.«

»Sie meinen ihr Kostüm? Bring ich Ihnen vorbei, kein Problem.«

»Und vielleicht auch den Schmuck. Ich gebe Ihnen die Abzüge mit.« Er stand auf und holte eine Hängeregistratur aus dem grauen Aktenschrank. »Hier sind sie – bei mir geht nichts verloren!«

Die Bilder zeigten meine Großmutter in wohlvertrauten Posen. Monsieur Luban nickte begeistert. Er sah auf den Bildern eine großartige Frau voller Kraft und Anmut – ich sah nur meine aufgetakelte Großmutter, die einen im Tee hatte und sich selbst eine Haltung aufzuzwingen versuchte, die sie Grandezza genannt hätte. Ich hätte gern geheult, aber ich konnte nicht.

Monsieur Luban spürte den Stimmungsumschwung. Er setzte wieder sein Dienstlächeln auf. »Dürfte ich Ihnen noch eine weitere Frage stellen?«

Lustlos nickte ich.

»An wen dürfen wir die Trauerkarten senden? Ihre Großmutter hat uns über das frühe Ableben Ihrer Mutter informiert. Aber was ist mit Ihrem Vater?«

»Ich bin die letzte Leblanc. Alle tot. Mausetot.«

Monsieur Luban legte die Stirn in Falten: »Ich muss den Zirkusleuten schreiben. Sie einzuladen war der ausdrückliche Wunsch Ihrer Großmutter. Die Kosten der Bestattung hat sie bereits im Vorfeld beglichen, weil sie, wie sie sagte, selbst bestimmen wollte, wer zu ihrer Beerdigung kommt.«

»Alles ist schon bezahlt?«

»Richtig, Mademoiselle. Es sei denn, Sie haben noch Wünsche.«

»Wirklich vorausschauend«, sagte ich. Etwas Intelligenteres fiel mir nicht ein.

»Wenn ich noch einmal auf Ihren verstorbenen Herrn Vater zu sprechen kommen darf. Gibt es väterlicherseits noch Verwandtschaft, die informiert werden …«

»Keine Verwandtschaft«, sagte ich. »Nichts, ein schwarzes Loch in der Familienchronik – ich weiß nichts über meinen Vater.«

Monsieur Luban rutschte unbehaglich auf seinem Bürostuhl herum. »Bitte entschuldigen Sie, ich hatte ja keine Ahnung, welche Schmerzen …«

»Schmerzen?«, unterbrach ich ihn. »Keine Schmerzen, Monsieur … Leere, einfach nur Leere.« Eben noch gut gelaunt und plötzlich am Boden zerstört – ganz die Großmutter, dachte ich.

»Einen letzten Punkt habe ich noch«, sagte Monsieur Luban und lächelte mich dabei bemüht aufmunternd an. »Es geht um die Musik bei der Trauerfeier. Ihre Großmutter wollte, dass diese Zirkusleute Musik machen, und ich hoffe doch sehr, dass mehr als nur ein langgezogener Trommelwirbel zu hören sein wird.«

Ich lachte brav. Meine Großmutter hatte sich, seit sie nicht mehr mit dem Zirkus umherzog, wahrlich nicht viele Freunde gemacht, aber, halleluja, dem Bestatter hatte sie es angetan. Ich stellte das leere Glas ab und blickte auf die Uhr. »Noch zwanzig Minuten.«

»Wie bitte, Mademoiselle?«

»Noch zwanzig Minuten, dann ist mein Geburtstag vorbei.«

Monsieur Luban griff nach meiner Hand, an der noch Eierschale klebte, und schüttelte sie. »Ich hatte ja keine Ahnung, Mademoiselle Leblanc …«

»Lassen Sie uns also ein letztes Mal die Gläser erheben«, sagte ich und streckte ihm mein Glas entgegen.

Er goss beide Gläser randvoll und erhob sich: »Herzlichen Glückwunsch, Mademoiselle! Möge die Grandezza Ihrer Großmutter in Ihnen fortleben.«

Ich stemmte mich aus dem Sessel hoch und stieß mit ihm an, wobei reichlich Schnaps auf die Plastikplane platschte. Monsieur Luban schaute mich erwartungsvoll an.

Ich schwankte und machte einen Schritt auf ihn zu: »Ich glaube, ich nehme wohl besser ein Taxi.«

3Das Vermächtnis

Ich verbrachte die Nacht in der Pension Flaubert, die ihren Namen nicht, wie ich annahm, dem großen französischen Schriftsteller verdankte, sondern ihrer Besitzerin, Emilie Flaubert, einer kettenrauchenden Endfünfzigerin mit einer Vorliebe für Mentholzigaretten – was man schon im Eingangsbereich roch –, die es mit der Reinlichkeit nicht so genau nahm – was ich beim Zähneputzen bemerkte, als mir Silberfische um die Füße herumflitzten. Endlich im Bett, hoffte ich inständig, dass ich mir das Zimmer nicht noch mit weiteren Lebewesen teilen müsste. Eine Sorge, die mir eine unruhige Nacht bescherte.

Vielleicht war ich auch deshalb am nächsten Morgen die Erste an der Rezeption. Ich versuchte, Madame Flaubert verständlich zu machen, dass ich keine weitere Nacht dafür zahlen wollte, die Brandlöcher in der Bettdecke zu zählen. Sie quittierte meine Beschwerde mit einem sehr langen Blick auf ihre gelben Fingerspitzen. Gebucht sei gebucht, meinte sie knapp und widmete sich wieder ihrem Kreuzworträtsel. Ich zeterte noch eine Weile, zahlte aber letztlich entnervt die gebuchten drei Nächte und verließ laut fluchend Madame Flauberts gastliches Haus.

Nachdem ich meinen Wagen beim Bestattungsinstitut abgeholt hatte, fuhr ich mit offenem Verdeck durch Arles. In einer Apotheke kaufte ich mir eine Packung Aspirin, im Supermarkt eine Flasche Mineralwasser und eine Packung Zigaretten. Ich fühlte mich sicherer mit Notfall-Zigaretten im Handgepäck. Um meine Laune zu heben, fuhr ich eine lange, besonders schöne Platanenallee fünfmal rauf und runter, drehte das Radio auf und sang alles mit – sehr laut und sehr falsch –, in der festen Absicht, nicht an Tod, Trauer, Einsamkeit oder Erbschaften zu denken. Nach einer halben Stunde fühlte ich mich gewappnet für den ersten offiziellen Termin des Tages.

Die Kanzlei Hublot lag im ersten Stock eines aufwendig renovierten Altbaus. Eine der beiden Empfangssekretärinnen führte mich zum Besprechungszimmer, vorbei an langen Reihen von in Leder gebundenen Gesetzestexten, manierlich gerahmten Stichen und indirekt beleuchteten Wandteppichen. Wir betraten eine Art Salon. Es roch nach Möbelwachs, wahrscheinlich war der edle Mahagonitisch gerade poliert worden. In der Mitte des Tisches stand ein Porzellanteller mit Plätzchen, stramm unter Frischhaltefolie gespannt.

Als ich gerade dabei war, eines davon zu befreien, riss ein zackiger kleiner Mann die Tür auf und rannte mit ausgestreckten Armen auf mich zu. »Rechtsanwalt Bac, Maurice Bac, ich bin Partner dieser Sozietät. Bitte setzen Sie sich, Mademoiselle.«

Er knallte zwei Heftmappen auf den Tisch, zog sich einen Stuhl heran und zückte einen goldenen Kugelschreiber. Ich setzte mich ebenfalls und versuchte unbemerkt den trockenen Keks in den Mund zu schieben. Mit ausladender Geste knipste er die Mine des Kugelschreibers hervor.

»Fangen wir mit dem sogenannten Testament an, Mademoiselle. Sie müssen sich keine Sorgen machen, nach gültiger Rechtsauffassung handelt es sich bei diesen – wie soll ich sagen? – Aufzeichnungen, also, handelt es sich bei diesen Aufzeichnungen nicht um ein Testament, weil sie eine wesentliche Bedingung nicht erfüllen.«

Ich hatte den Keks in den Mund gebracht. »Welche«, fragte ich undeutlich, »welche Bedingung?«

»Nun ja, ein Testament muss tatsächlich vorliegen, also, in diesem Falle kann man ganz und gar nicht von vorliegen …«

»Was meinen Sie mit ›vorliegen‹?«

»Es muss zugänglich sein, verstehen Sie? Also, wenn jemand beispielsweise nachträglich das Testament anzweifelt, muss es einsehbar sein – von Gesetzes wegen. Wir können schwerlich jedes Mal den Leichnam Ihrer Großmutter exhumieren – nur um noch mal nachzulesen.« Er grinste breit und erwartete offensichtlich das Gleiche von mir.

»Und eine Abschrift reicht nicht?«

»Nur wenn die Abschrift in vollem Umfang die Ansprüche erfüllt, die an ein Testament gestellt werden.« Er lehnte sich wieder zurück und begann zu dozieren: »Das heißt, de jure einem Testament gleichrangig ist. Wenn die Abschrift also bei einem Notar oder durch einen Notar erfolgt ist. Würde das zutreffen, ja, dann wäre sie bindend. Wenn nicht? Dann wäre sie kein Testament und damit nichtig – und das ist hier der Fall. Allein die Unleserlichkeit so vieler Passagen und die damit verbundenen Mutmaßungen über den Inhalt würden die Abschrift im höchsten Maße anfechtbar machen.« Er grinste triumphierend. »Gute Nachrichten also, Mademoiselle. Sie brauchen sich nicht mit zweifelhaften Miterben herumzuärgern. Es greift die gesetzliche Erbregelung. Das heißt, Sie sind Alleinerbin. Basta.«

Um seine Aussage zu unterstreichen, schlug er den Aktendeckel zu. Sein Grinsen war so angespannt, dass ich fürchtete, es würde jeden Moment sein Gesicht zerreißen. Ich sagte erst einmal nichts.

»Da muss Ihnen doch ein Stein vom Herzen fallen?«

»Ich weiß nicht, Monsieur Bac, ich kann doch nicht einfach über den letzten Willen meiner Großmutter hinweggehen? Wegen einer Formalie?«

»Mademoiselle«, sagte er schneidend, »das ist keine Formalie, das nennt man Gesetz. Als Nachlassverwalter vertrete ich nicht nur die Interessen Ihrer Großmutter – ich vertrete auch das Recht. Am Ende ist es Ihre Entscheidung, was Sie mit dem Erbe anstellen. Ich kann Ihnen nur sagen, was rechtens ist und was nicht. Wenn Sie diesen Leuten den halben Besitz Ihrer Großmutter zusprechen wollen, nur zu! Aber dann müssen Sie das rechtlich wie eine Schenkung handhaben. Sie können sich dabei nicht auf ein Testament berufen, das keine Rechtsgültigkeit besitzt. Bedenken Sie das bitte.« Er steckte den goldenen Kugelschreiber in seine Brusttasche. »Darf ich Sie noch etwas Persönliches fragen?«

»Ja, bitte.«

»Kennen Sie diese Leute?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, um wen es sich handelt. Meine Großmutter war früher selbst beim Zirkus, ihr Verhältnis zu Zirkusleuten war schon immer ein besonderes.«

»Sie wissen vielleicht, dass es um die Gesundheit Ihrer Großmutter nicht zum Besten bestellt war. Und ich spreche nicht von körperlichen Leiden …« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Ich kann also nur hoffen, dass diese Leute ihre bedauernswerte Situation nicht in irgendeiner Form ausgenutzt haben …«

»Ich glaube nicht, dass sich meine Großmutter ausnutzen ließ. Und viel zu holen war auch nicht bei ihr.«

»Keine Reichtümer, fürwahr, das Haus ist bescheiden, aber reizvoll genug für Leute, die gar nichts haben.«

»Kennen Sie diese Zirkusleute?«

»Nein, und mein Verlangen danach hält sich auch in Grenzen.« Er räusperte sich. »Mademoiselle Leblanc, ich übergebe Ihnen nun gegen Quittung die Hausschlüssel. Beachten Sie bitte, dass dies noch keine offizielle Übergabe des Hauses ist. Erst wenn das Nachlassgericht die notwendigen Papiere ausgestellt hat, können wir die Übertragungsdokumente aufsetzen. Das wird einige Tage in Anspruch nehmen. Sie verstehen?«

Ich nickte. Er schüttete einen großen braunen Umschlag auf dem Tisch aus. Scheppernd landete ein dicker Schlüsselbund auf der glänzenden Platte.

»Falls Sie daran denken, das Haus zu veräußern, empfehlen wir Ihnen gern einige Makler hier in der Gegend. Und dann gebe ich Ihnen jetzt noch die Adresse einer ehemaligen Nachbarin Ihrer Großmutter. Welches Verhältnis diese Frau zu Ihrer Großmutter hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Sie scheint Ihrer Großmutter zur Hand gegangen zu sein: Einkäufe und Ähnliches. Madame Raphael möchte Ihnen noch einige persönliche Dinge Ihrer Großmutter geben.« Er überreichte mir einen gelben Zettel. »Und wenn Sie hier bitte unterschreiben: die Quittung für die Hausschlüssel. Wenn Sie dann noch so freundlich wären, mich bezüglich Ihrer Entscheidung über die Erbschaft respektive Schenkung zu informieren. Wegen der Papiere, Sie verstehen?« Beim Wort Schenkung verzog er das Gesicht, als würde gerade direkt vor ihm ein Fäkalientank leer gepumpt.

Ein paar Minuten später saß ich wieder in meinem Wagen. Ich entschied mich, erst Madame Raphael zu besuchen. Auf der Fahrt blickte ich immer wieder auf den Schlüsselbund neben mir. Das Haus meiner Großmutter. Seit fast einem Jahr war ich nicht mehr dort gewesen.

Gleich nach meinem achtzehnten Geburtstag hatte ich sie verlassen, und ein Jahr später hatte sie selbst dem Zirkus den Rücken gekehrt und war nach Arles gezogen. Zunächst besuchte ich sie alle paar Monate, dann waren die Abstände größer geworden. Vielleicht, weil sie immer mehr trank. Irgendwann telefonierten wir nur noch, und das sehr selten. Von ihrer Krankheit hatte ich erst erfahren, als sie bereits gestorben war.

Plötzlich war er da, dieser Satz: Als sie mich brauchte, war ich nicht für sie da. Ich trat aufs Gaspedal, um der Wahrheit davonzufahren, aber es half nichts. Ich schaltete das Radio an, Edith Piaf sang Non, je ne regrette rien. Ich wünschte, ich hätte das auch von mir behaupten können. Eine einzelne Träne lief mir die Wange herab.

Madame Raphael wohnte etwas außerhalb. Das mehrstöckige Haus mit der Nummer 24