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Der Zorn der Flut E-Book

Hendrik Lambertus

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Beschreibung

Die Katastrophe, die das Gesicht der Nordseeküste für immer veränderte … Im Winter des Jahres 1361 ist die Natur besonders unbarmherzig, Wind und Wellen peitschen gegen das Land. Deichbauer Folkert sieht mit Sorge, wie verwundbar der vernachlässigte Flutschutz seine Heimat macht. Doch seine Warnungen verhallen ungehört. Auch sein Bruder Auke sorgt sich mehr um die Herrschaftsansprüche der dänischen Krone. Er kämpft mit allen Mitteln für die friesische Freiheit – und für seine große Liebe Griet. Von der wird als Tochter des dänischen Statthalters erwartet, zum Vorteil der Familie zu heiraten. Soll sie sich fügen? Oder rebellieren? Dann kommt der 16. Januar 1362. Die Deiche brechen. Und nach der Flut ist nichts mehr, wie es vorher war … Ein Roman über eine der größten Naturkatastrophen, die Deutschland je erschüttert hat: die Marcellusflut von 1362.  Politische und soziale Spannungen, Familienkonflikte, verbotene Liebe – Hendrik Lambertus spinnt ein episches Panorama des mittelalterlichen Frieslands.

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Seitenzahl: 675

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Hendrik Lambertus

Der Zorn der Flut

Historischer Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Die Katastrophe, die das Gesicht der Nordseeküste für immer veränderte …

 

Im Winter des Jahres 1361 ist die Natur besonders unbarmherzig, Wind und Wellen peitschen gegen das Land. Deichbauer Folkert sieht mit Sorge, wie verwundbar der vernachlässigte Flutschutz seine Heimat macht. Doch seine Warnungen verhallen ungehört. Auch sein Bruder Auke sorgt sich mehr um die Herrschaftsansprüche der dänischen Krone. Er kämpft mit allen Mitteln für die friesische Freiheit – und für seine große Liebe Griet. Von der wird als Tochter des dänischen Statthalters erwartet, zum Vorteil der Familie zu heiraten. Soll sie sich fügen? Oder rebellieren?

Dann kommt der 16. Januar 1362. Die Deiche brechen. Und nach der Flut ist nichts mehr, wie es vorher war …

 

Ein Roman über eine der größten Naturkatastrophen, die Deutschland je erschüttert hat: die Marcellusflut von 1362.

Vita

HENDRIK LAMBERTUS ist promovierter Skandinavist und Mediävist und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Bremen. Seit 2011 betreibt er als freiberuflicher Schreibcoach die Schreibwerkstatt «Satzweberei» und veröffentlicht Bücher in unterschiedlichen Genres. Nach «Das Erbe der Altendiecks», einer Familiensaga über eine Bremer Uhrmacherdynastie, erscheint nun mit «Der Zorn der Flut» ein neuer historischer Roman über die Naturkatastrophe, die das Gesicht der Nordseeküste für immer veränderte: die Marcellusflut von 1362.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Sabine Biskup

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung arkivi/akg-images; Aaron Foster, Daniele Atzori/Getty Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01234-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Teil 1Winterstürme

1361

Erstes Kapitel

Grau und schwer hing der Himmel über den Uthlanden, ein wolkenzerfurchter Spiegel der nahen See. Der Wind trieb Graupelregen vor sich her und einen Hauch von jener Winterkälte, die schon bald auf den Herbst folgen würde. Ein Herdfeuer in einer warmen, rauchigen Halle war an solch einem Abend verlockender als die Freuden des Paradieses.

Dennoch verharrte Auke ungerührt in der Kälte und zog seinen Wollmantel fester um die Schultern, wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Es brauchte mehr als Wind und Regenschauer, um einen Bewohner der nordfriesischen Marschen kleinzukriegen.

Auke war sogar dankbar für die Wolkenbänke, die das Land in trübes Zwielicht tauchten. Für das, was er vorhatte, konnte er kein helles Licht gebrauchen – und auch der Herrgott schaute am besten nicht auf seine Tat herab.

Neben ihm schnaubte der lange Eyk missmutig, als ihm eine Bö den Regen ins Gesicht peitschte. Er war ein hagerer Kerl mit rotblondem Bart und Hakennase, der Auke um einen guten Kopf überragte. Eine wuchtige Axt ruhte in seiner Pranke. «Wo bleiben diese Torfköpfe denn?»

«Sie werden uns schon nicht versetzen», erwiderte Auke und zwang sich zu einem spöttischen Grinsen. «Das wäre schließlich kein höfisches Benehmen, oder was meint ihr?»

Nervöses Gelächter ertönte ringsum. Ein gutes Dutzend Gestalten duckte sich zusammen mit Auke in den Schatten: allesamt Söhne und Knechte der Freibauern des Umlands. Sie waren in dunkle Wöbbe-Kleidung gehüllt, dem festen Wollzeug der Friesen. Manche von ihnen trugen Speere, andere Knüppel, Äxte oder Dolche.

«Gebe Gott, dass du recht hast, Auke Feddersen», brummte Eyk. Dass er Aukes Vatersnamen aussprach, war kein Zufall, sondern eine unverhohlene Forderung. Er wies damit darauf hin, dass Auke der Sohn und Erbe des Großbauern Fedder vom Woge-Hof war, eines der mächtigsten Landbesitzer in diesem Teil der Marschen. Aus diesem Grund folgten die anderen ihm – und sie erwarteten, dass alles verdammt noch mal so lief, wie er es ihnen gesagt hatte. Auke trug die Verantwortung.

«Sie werden gleich hier sein», bekräftigte er und verbarg seine Anspannung weiter hinter einem zuversichtlichen Lächeln. Es war seine Aufgabe, Stärke zu zeigen, damit keiner von den anderen einknickte.

Die Männer kauerten sich an die Flanke der alten Klosterwarft. Auf dem Hügel, der zum Schutz vor Überflutungen aufgeschüttet worden war, hatten früher mehr oder weniger fromme Mönche gelebt. Doch das Kloster war schon lange verlassen, und die Witterung hatte die Flechtwerk-Wände der Wohnhäuser abgetragen. Lediglich die Backsteinmauern der kleinen Kapelle ragten noch in den Abendhimmel. Ihre leeren Fenster starrten Auke vorwurfsvoll an.

Weiter vorne führte ein schlammiger Dammweg direkt an der Klosterwarft vorbei, flankiert von Entwässerungsgräben und Weidezäunen aus Haselruten, die um Pflöcke in der Erde geflochten waren. Für jemanden, der sich von landeinwärts aus näherte, waren Auke und die anderen hinter der Warft verborgen.

«Vielleicht haben die Feiglinge etwas gewittert und nehmen jetzt einen anderen Weg», flüsterte der kurze Harro vom Westerhof, während er nervös seinen Speer von einer Hand in die andere wandern ließ.

Auke straffte sich. Es war an der Zeit für ein paar deutliche Worte. Sobald einer zu murren anfing, würde sich Unsicherheit breitmachen.

Er öffnete den Mund zu einer strengen Erwiderung – da tönte ein Pfiff durch das Abenddunkel. Er kam von oben, vom Backstein-Skelett der Kapelle. Lüder, ihr Ausguck, gab das vereinbarte Zeichen!

«Haltet euch bereit», zischte Auke.

Er griff an seinen Gürtel und zog seine Waffe: ein Malchus, ein kurzes Schwert mit breiter, an der Spitze abgerundeter Klinge. Malchus war einer jener Söldlinge gewesen, die einst den Heiland im Garten Getsemani festgesetzt hatten. Der Jünger Petrus hatte seinen Meister verteidigt und Malchus im Kampf ein Ohr abgeschlagen. Nun, Auke hatte vor, seinen Malchus heute ähnlich geschickt einzusetzen …

Jetzt konnte er bereits flackernde Lichter erkennen, die sich näherten. Der Wind trug Fetzen von Stimmen und Pferdeschnauben heran. Metall klirrte, Wagenräder knarrten. Eine größere Gruppe zog die Straße entlang. An der Spitze waren drei Berittene zu erkennen, dahinter rumpelten zwei schwere Ochsenwagen, beschirmt von Bewaffneten zu Fuß. Laternen mit Scheiben aus dünn geschliffenem Horn waren an den Kutschböcken befestigt, ihr Schein wanderte durch die Abenddämmerung wie die Lichter ruheloser Seelen.

Der vorderste Reiter trug einen schweren, tiefrot gefärbten Mantel, und sein Pferd war eine knappe Elle größer als die anderen Reittiere. Unter dem Mantel schimmerten die Ringe einer Rüstung hervor: ein Kettenpanzer, an den Gelenken verstärkt durch bewegliche Plattenteile. An der Seite des Reiters hing ein langes, gutes Schwert, in der rechten Hand trug er eine Lanze mit einem Banner.

Auke kannte das Wappen darauf nur zu gut: drei blaue Löwen übereinander auf gelbem Grund. Sie waren von einem Teppich aus roten, oben leicht eingedellten Tupfen umgeben. Er schnaubte mit grimmiger Belustigung. Die Dänen behaupteten zwar, dass das Seerosenblätter waren. Für ihn aber war das Banner des Dänenkönigs Valdemar übersät mit Herzchen.

Auch den Mann, der das Königsbanner führte, kannte Auke, zumindest vom Hörensagen. Es sprach sich herum, wenn sich ein leibhaftiger Ritter in die Uthlande verirrte. Herr Oluf von Dyre war gekommen, um für seinen König den Plogpennig von den friesischen Freibauern im Edomsharde-Bezirk einzutreiben – der Pflugpfennig war eine Landsteuer, mit der König Valdemar seine zahlreichen Kriegszüge zu finanzieren pflegte. Das taten die Dänen regelmäßig, so auch in diesem Herbst im Jahre des Herrn 1361.

«Was für ein Gockel», brummte Auke, während Herr Oluf den Zug in vollem Ornat anführte, als wäre es eine unheimlich wichtige Sache, eine Fahne zwischen Schafen und Deichen spazieren zu tragen. Immerhin verzichtete der Ritter aus Bequemlichkeit auf seinen Helm und trug nur eine wattierte Haube, sodass sein Gesicht zu erkennen war: Herr Oluf war ein älterer Mann mit einem dunklen Vollbart. Die Hundsgugel mit dem schnabelartig-spitzen Visier musste ein schlaksiger Hänfling für ihn tragen, der hinter ihm ritt, vermutlich sein Knappe.

Inzwischen hatte der Zug die Klosterwarft fast erreicht. Die Männer rings um Auke verlagerten unruhig ihr Gewicht. Lange durfte er den Angriff nicht mehr hinauszögern, sonst würde irgendjemand vor Anspannung etwas Dummes tun. Aber noch war der Zeitpunkt nicht ideal. Die Fuhrwerke mussten ein bisschen näher herankommen und die Klosterwarft passieren, damit Auke dem Zug mit seinen Leuten in die Flanke fallen konnte …

Auke presste die Lippen zusammen, als sein Blick auf den rückgratlosen Kerl fiel, der dicht bei Herrn Oluf ritt, kaum eine halbe Pferdelänge hinter ihm. Er war ziemlich jung, nicht älter als er selbst, und trug einen dunkelblonden Kinnbart. Der Kragen seines Mantels war mit Pelz besetzt, und auch er führte ein Schwert. Das war Owe, der Sohn des Großbauern Ingmar, der das Umland als Staller für den dänischen König verwaltete.

Ingmars Sippe war die einzige in der Gegend, die noch mächtiger als Aukes Familie war. Das machte Owe zu Aukes natürlichem Konkurrenten – das und der Umstand, dass Owe ein Angeber war, der sich nur zu gerne bei den dänischen Oberherren anbiederte. Früher hatte Auke Ingmars Leute dafür gehasst. Doch nun gab es da etwas, das alles änderte …

Er wischte den Gedanken beiseite und konzentrierte sich ganz auf die Aufgabe, die vor ihnen lag. Der Ritter hatte vier Waffenknechte dabei, die sich dicht bei den Karren hielten. Die Männer auf den Kutschböcken waren Knechte aus dem Gefolge des Stallers. Sie trugen keine Rüstungen, waren jedoch ebenfalls bewaffnet.

Grimmig lächelte Auke. Es würde dem dänischen Edelmann bestimmt nicht schmecken, dass hier einfache Bauern mit Waffen einherzogen. Aber er hatte es mit freien Königsfriesen zu tun. Und Auke würde ihm gleich zeigen, dass die sich nichts gefallen ließen – auch nicht vom dänischen König!

Der Zug passierte den Schatten der Warft. Auke vergewisserte sich, dass sein Wollschal fest vor dem Gesicht saß und seine Züge verhüllte. Dann hob er seinen Malchus. Das war das Angriffssignal!

Grölend und heulend, wie eine Horde nächtlicher Dämonen, stürmten Aukes Leute hinter der Klosterwarft hervor und schwärmten in Richtung Straße aus.

Sofort brach Hektik in dem Wagenzug aus, als hätte man in einen Ameisenbau getreten. Männer riefen Befehle, Waffen wurden gezogen, Pferde wieherten. Auke aber brüllte aus voller Kehle, ließ sich von der Kraft des Ansturms vorantreiben, ein starker Arm unter vielen. Wie eine Flutwelle würden sie über die Eindringlinge hinwegspülen!

Zu seiner Linken lief der lange Eyk direkt auf einen der Ochsenkarren zu, die Axt in der schwieligen Hand. Da näherten sich schwere Hufschläge von der Seite. Der Rittersmann hatte sich als Erster von dem Schreck erholt. Er wendete sein Ross in einer scharfen Kehre und galoppierte nun auf Eyk los. Dieser wirbelte herum. Drohend reckte er dem Ritter seine Axt entgegen, schrie eine Herausforderung, die im allgemeinen Lärm unterging. Herr Oluf verlangsamte nicht einmal sein Pferd. Er senkte seine Lanze – und stieß sie dem langen Eyk in den Leib, dass die Spitze aus dem Rücken hervortrat. Blut gurgelte zwischen Eyks Lippen hervor und ergoss sich über seinen Bart, als er auf die Knie sank. Seine Axt fiel klatschend in den Matsch. Der Ritter aber wendete schon wieder das Pferd, zog in einer fließenden Bewegung sein Schwert und rief seinen Waffenknechten einen Befehl zu.

Schlagartig fiel alle Begeisterung von Auke ab. Eyk war tot – der erste Verlust, noch bevor der Kampf richtig begonnen hatte. Herr Oluf war ein ausgebildeter Ritter, aufgewachsen mit der Klinge in der Hand, und seine Männer waren gewiss in den Kriegszügen König Valdemars gestählt worden. Aukes Leute durften nicht darauf hoffen, diesen Kampf durch schiere Schlagkraft zu gewinnen. Wenn sie nicht noch mehr gute Männer verlieren wollten, mussten sie sich sputen!

«Los! Zu den Wagen!», rief Auke zu Harro und dem starken Wolter, die ihm am nächsten waren. Gemeinsam stürmten sie auf den vorderen Ochsenkarren zu. Jemand trat Auke in den Weg – einer der Waffenknechte! Sein Schwert fauchte heran. Instinktiv warf sich Auke zur Seite, und die Klinge zerteilte die Luft, wo er eben noch gestanden hatte. Auke hatte keine Zeit für Angst. Ohne nachzudenken, sprang er den Krieger an, ehe dieser wieder ausholen konnte. Mit der Linken klammerte er sich am Schwertarm seines Gegners fest, mit der Rechten führte er den Malchus. Die kurze Waffe hatte weniger Reichweite als ein Schwert, ließ sich aber im Handgemenge besser führen.

Der Kriegsmann trug einen einfachen Eisenhut-Helm ohne Visier. Seine Züge waren grimmig verzerrt. Auke nutzte seine Chance und zog ihm die Klinge seines Malchus quer über das Gesicht.

Der Waffenknecht taumelte keuchend zurück. Er presste eine Hand auf sein Auge, während Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Entschlossen stieß Auke ihn zur Seite und rannte weiter auf den Karren zu, die rot verschmierte Klinge in der Hand.

Harro hatte inzwischen einen der Fuhrknechte vom Bock gezogen und raufte am Boden mit ihm. Der zweite Fuhrmann schlug mit seiner Peitsche nach Wolter, doch da kam auch schon Lüder von hinten heran und zog ihm einen Knüttel über den Schädel.

«Was für Weicheier!», feixte Lüder grinsend, weil er selbst im Kampfgetümmel keine spöttische Bemerkung auslassen konnte.

«Rasch! Hoch da!», drängte Auke, der dafür keinen Nerv hatte. Zusammen mit den beiden anderen sprang er auf den Karren. In der Nähe schrie jemand auf, um kurz darauf gurgelnd zu verstummen. Ein rascher Blick verriet Auke, dass Herr Oluf immer noch im Sattel saß und mit dem Schwert um sich hieb, gedeckt von seinem Knappen. Gerade ging Gunne unter einem Schwerthieb zu Boden.

Auke wandte sich der Ladefläche des Wagens zu. Hier lagerten Bündel von Wollstoffen neben Spulen voller Garn, ein Stapel gegerbter Rinderhäute neben prächtigen Räucherschinken. Schätze der Marschen, bestimmt für die Heere des Königs.

Doch Auke hatte es nicht auf die Naturalien abgesehen, die Abgaben der einfachen Leute. Gemeinsam mit Lüder und Harro wühlte er sich durch die Waren, warf Wolle und Häute achtlos vom Wagen. Da war sie: eine kleine, eisenbeschlagene Truhe, die inmitten der Güter stand. Sie musste das Silber enthalten, das den Großbauern als Steuer abgepresst wurde.

«Runter damit!»

Auke und Lüder packten die Truhe an den Griffen und wuchteten sie vom Wagen. Unten nahm Wolter sie entgegen, der sich extra dafür Trageriemen auf den Rücken geschnallt hatte. Er machte einen Buckel und hetzte schnaufend mit der schweren Last voran.

Auke pfiff durch seine Finger, drei schrille Töne hintereinander. Das war das Zeichen für den Aufbruch!

Ringsum lösten sich seine Leute aus den Kämpfen und schickten sich an, ins Dunkel zu verschwinden.

Auch Auke schwang sich vom Kutschbock – und wurde hart zur Seite gestoßen, sodass er gegen den Wagen prallte. Plötzlich stand Owe Ingmarsen vor ihm, der Sohn des Stallers. Er wirkte zerzaust und angeschlagen, jemand musste ihn von seinem Pferd gezogen haben. In seiner Faust glänzte das blanke Schwert. Es war ein altes Erbstück seiner Sippe, der eiförmige Knauf war voller Dellen, doch seine Klinge noch immer scharf und gefährlich.

«So einfach entkommt ihr nicht, ihr Pack!» Sofort stürzte sich Owe mit dem Schwert auf Auke. Dieser musste vor den wuchtigen Schlägen zurückweichen, während Owe mit starrköpfiger Wut auf ihn einhieb.

War da eine Öffnung in seiner Deckung? Auke sprang vor – und stolperte über eine Rinderhaut, die er eben noch selbst vom Wagen geworfen hatte. Plötzlicher Schmerz peitschte durch seinen Arm, als ihm der Malchus aus der Hand geschlagen wurde. Owes Schwert zuckte gleich noch einmal vor. Mit Mühe und Not konnte Auke sich retten, indem er sich nach hinten fallen ließ, doch die Klinge verfing sich in seinem Schal und riss ihm das Tuch vom Gesicht.

Für einen Herzschlag schauten sich Auke und Owe direkt in die Augen. Innerlich fluchte Auke. Doch auf Owes Gesicht zeigte sich keine Überraschung. Nur grimmige Kampfeswut.

Also wich Auke zur Seite und griff sich die Rinderhaut, die noch immer im Schlamm lag. Ehe Owe reagieren konnte, warf er sie dem Sohn des Stallers über den Kopf. Orientierungslos kämpfte Owe mit dem Leder.

Auke wartete nicht ab, bis er sich befreit hatte, sondern griff sich rasch seinen Malchus und rannte zusammen mit den anderen von der Straße runter und über die regenmatschige Wiese.

Hinter sich hörte er Pferde wiehern. Herr Oluf und sein Knappe hatten die Verfolgung aufgenommen, begleitet von ihren Waffenknechten. Auke grinste verächtlich. Wenn sie glaubten, dass Leute in schweren Rüstungen hier draußen eine Chance hatten, kannten sie die Uthlande schlecht!

Vor Auke schimmerte Wasser im Abenddunkel: Ein Entwässerungskanal zog sich quer durch das Land und begrenzte die Weide. Ohne anzuhalten, hielt er mit seinen Gefährten auf ein Ginstergesträuch am Ufer zu. Im Schutz der Büsche lagen einige Holzstangen bereit, die die Männer dort deponiert hatten.

Auke schnappte sich eine der übermannslangen Stangen und lief zum Graben. Gekonnt stieß er ihr Ende in den Schlamm und schwang sich an dem biegsamen Holzstab auf die andere Seite. Seine Leute taten es ihm gleich, wie es in Friesland mit seinen zahllosen Gräben seit Jahrhunderten Brauch war.

Ein Blick zurück verriet ihm, dass Wolter gerade dabei war, sich mit Harros Hilfe die Böschung hinaufzukämpfen. Wegen der Truhe hatte er den unbequemen Weg durch Schlick und Wasser nehmen müssen. Glücklicherweise war er mit genug Vorsprung losgerannt, sodass er nicht zu weit hinter den anderen zurückfiel.

Irgendwo hinter ihnen schimpfte Herr Oluf auf höchst unritterliche Art und Weise. Der edle Herr hatte sein Pferd am Graben angehalten und war nun dabei, seine unglücklichen Waffenknechte in den Schlick hinabzutreiben. Auke und seine Männer würden schon lange verschwunden sein, wenn die schwerfälligen Gestalten den Graben überwunden hatten. Doch weiter hinten kam schon Owe Ingmarsen mit den friesischen Fuhrknechten angerannt …

Auke wandte sich ab und konzentrierte sich wieder aufs Laufen. Ob Owe ihn erkannt hatte? Sogleich schämte er sich für den Gedanken. Er sollte lieber an Eyk denken, den die Lanze des Ritters durchbohrt hatte, an Gunne, den sein Schwert niedergestreckt hatte, und die anderen Gefallenen … War es da nicht gleichgültig, ob in der Zukunft vielleicht Ärger auf ihn wartete?

Es ging am Ufer entlang und schließlich etwas bergab. Nun lag vor Auke das Wasser eines Priels, wo ein flacher Kahn vor sich hin schaukelte. Es war ein Ewer nach der Bauart der Marschen: ein Schiffchen mit einem einzelnen Mast und Plattboden, dessen geringer Tiefgang es ihm erlaubte, auch flache Stellen des Wattenmeers zu befahren.

Der alte Thedo, der den Ewer bewacht hatte, war bereits auf die Füße gesprungen und half Wolter dabei, die Truhe einzuladen.

Thedos Blick überflog die Neuankömmlinge: sechs Gestalten. Dann wandte er sich Auke zu, und Sorgenfalten zerfurchten seine ohnehin vom Wetter gezeichnete Stirn.

«So wenige?»

Seine knappe Frage wog schwerer als so manch langatmige Predigt.

«Sie haben sich mit scharfen Klingen gewehrt», knurrte Harro, während er dabei half, den Kahn fahrbereit zu machen. «Gunne wurde gleich neben mir niedergestreckt.»

«Die anderen sind nicht allesamt tot», warf Auke rasch ein. «Einige haben sich auf der Flucht verstreut. Und sie wissen, wo sie sich verstecken müssen. Wir werden uns bald wieder zusammenfinden.»

«Trotzdem.» Thedo schüttelte den Kopf. «Dieses Silber wurde mit viel Blut erkauft.»

«Es geht nicht um das Silber!», erwiderte Auke heftig. «Es geht darum, dass der Dänenkönig sich nicht einfach von uns nehmen kann, was ihm beliebt. Das Volk der Marschen lebte schon immer frei, und so soll es auch bleiben.»

Niemand erwiderte etwas. Die Männer schwiegen, während der Ewer vom Ufer abgestoßen wurde und schließlich auf dem Priel entlangglitt, dem offenen Meer entgegen. Sie würden schon lange verschwunden sein, wenn Herr Oluf mit dem Sohn des Stallers am Ufer eintraf. Und auf dem Wasser hinterließ man keine Spuren.

Nachdenklich starrte Auke auf die eisenbeschlagene Truhe. Owe würde auf gewissen Höfen nach der Beute suchen. Doch Auke wusste, wie Owe dachte. Und er würde dafür sorgen, dass die Leute des Stallers vergeblich suchten. Dieses Silber gehörte in die Uthlande, und er würde dafür sorgen, dass es dort blieb.

Während der Ewer an der Küste entlangsegelte, versuchte Auke, Befriedigung über ihren Erfolg zu empfinden. «Manchmal müssen eben Opfer gebracht werden», murmelte er.

«Möge der Herr geben, dass es nicht noch mehr werden», erwiderte der alte Thedo, ohne ihn anzuschauen. Das Meer schwieg dazu.

Zweites Kapitel

An dem Tag, als Herr Oluf von Dyre aufbrach, kehrte auf dem Hof des Stallers Ingmar wieder Ruhe ein. Griet stand etwas abseits vom Langhaus ihres Vaters auf der Warft – dem künstlich aufgeschütteten Hügel, auf dem sich ihr Hof befand – und schaute Herrn Oluf mit gemischten Gefühlen hinterher.

Der Ritter reiste durch das graugrüne Marschland in Richtung Norden, und sein Gefolge begleitete ihn: Iver, sein frecher Knappe, seine Bewaffneten und Knechte – und natürlich die Ochsenkarren mit den Abgaben. Das Löwenbanner des Dänenkönigs hing kraftlos im Wind, und die Reisenden schlurften bedrückt hinterdrein, als zögen sie besiegt von einem Schlachtfeld ab.

Griet folgte dem Zug mit dem Blick, bis hinüber zu dem Strauchwerk, hinter dem das Dach der Kirche von Gaikebüll aufragte. Herr Oluf würde noch viel weiter reisen als bis in den kleinen Hauptort des Kirchspiels. Sein Weg führte ins ferne Seeland, wo der Ritter seinen Hof hatte.

Bei dem Gedanken an Herrn Olufs Burg, die eigentlich nur aus einem Wehrturm mit einem Gehöft bestand, verzog Griet das Gesicht. Sie hatte mehr als ein Jahr dort zugebracht, um von Frau Anna, der Gemahlin des Ritters, die höfischen Künste einer Edelfrau zu erlernen. Damals war sie so begierig darauf gewesen, endlich einmal die graue Weite der Edomsharde hinter sich zu lassen und etwas von der Welt zu sehen! Doch ihre höfische Erziehung hatte sich als einzige Aneinanderreihung von ermüdenden Exerzitien erwiesen: Singen und Saitenspiel, das Besticken von Gewändern und Schmuckteppichen, das Benehmen bei Tisch und allgemein das Betragen einer Dame von Stand. Besonderen Wert hatte Frau Anna bei der Ausbildung auf Tratsch, Gerüchte und Bosheiten aller Art über irgendwelche Frauen am Königshof gelegt, die Griet nicht einmal kannte … und auch gar nicht kennen wollte.

Schließlich war sie nur die Tochter eines friesischen Großbauern. Doch ihr Vater hatte darauf bestanden, dass aus ihr eine Dame wurde.

«König Valdemar hat unserer Sippe die Verwaltung der Edomsharde übertragen», hatte er damals erklärt. «Damit stehen wir auf Augenhöhe mit seinen Junkern und Rittern. Und wir brauchen uns, bei Gott, nicht hinter ihnen zu verstecken! Darum wirst du alles lernen, was eine Edelgeborene eben so lernt. Die Zukunft steht dir damit offen. Außerdem …», hatte er mit einem wehmütigen Lächeln ergänzt, «… bist du schließlich nach der Prinzessin Margrethe von Dänemark benannt. Das verpflichtet.»

Auch Griet hatte daraufhin traurig gelächelt. Der Name war Mutters Idee gewesen, und sie hatte Griet auch gerne ihre Prinzessin genannt – bis die Pest sie vor einigen Jahren dahingerafft hatte, wie so viele andere Bewohnerinnen und Bewohner der Uthlande.

Griet war also Vaters Gebot gefolgt und nach Seeland gereist. Frau Anna war mehr als streng zu ihr gewesen und hatte sie spüren lassen, dass sie «nur eine Bäuerin» war. Doch Griet wäre nicht Griet gewesen, wenn sie sich daraufhin nicht doppelte Mühe gegeben hätte, die niemals zufriedene Herrin zu beeindrucken. Herr Oluf hingegen hatte sich auf seine brummige Art durchaus nett gegeben, wenn er Griet überhaupt beachtet hatte. Und in Eufemia, seiner Tochter, hatte sie sogar so etwas wie eine Freundin gefunden, deren abgelegte Kleider sie nun trug.

Es war seltsam, nach so langer Zeit wieder hier, in der Edomsharde, zu sein und zuzusehen, wie mit Herrn Oluf auch ihre anstrengende Zeit bei Hofe dem Horizont entgegenzog. Schon bald würde all das nur eine Erinnerung sein. Doch auch das war so ausgemacht gewesen: dass sie zu ihrem Vater zurückkehren würde, um ihre «Pflichten für die Familie zu erfüllen». Und was das bedeutete, wusste sie nur zu gut.

«Na? Vermisst du Seeland schon?» Owe war unbemerkt an sie herangetreten. Ein verquollener Bluterguss entstellte sein Gesicht, eine Erinnerung an seinen Kampf gegen die Räuber bei der alten Klosterwarft. Damit sah er ein wenig aus wie die Knechte, wenn sie zur Kirchweih zu viel Bier getrunken und sich geprügelt hatten. Nicht, dass ihr biederer Bruder so etwas jemals getan hätte …

«Ja und nein», antwortete Griet ehrlich. «Ich bin froh, keine Teppiche mehr besticken zu müssen und wieder bei euch zu sein. Aber irgendwie …», sie machte eine hilflose Geste, die die gesamte Edomsharde bis zum Horizont umfasste, «… irgendwie hat sich hier nichts verändert. Und das wird es wohl auch nie …»

Owe schaute sie verständnislos an. Dass jemand fehlende Veränderung als Mangel begriff, schien über seinen Verstand zu gehen.

In diesem Moment fauchte eine heftige Bö über die Warft und zerwühlte Griets dunkelblondes Haar.

«Die Herbstwinde sind ungewöhnlich stark in diesem Jahr», murmelte Owe und schaute mit zusammengekniffenen Augen zum Himmel. «Und die Sturköpfe, die die Herrschaft des Königs nicht anerkennen wollen, werden immer dreister. Genug Veränderung, wenn du mich fragst.» Er rieb sich über den Bluterguss.

Griet musterte die Verletzung nachdenklich. «Herr Oluf wird gewiss dem König von dem Überfall berichten.» Sie hegte da so einen Verdacht, was diese Räuber anging.

«Allerdings», knurrte Owe. «Vater hatte seine liebe Müh, ihn glauben zu machen, dass es nur räudige Straßenräuber waren – und nicht etwa aufständische Friesen.»

«Das war gewiss schwierig», erwiderte Griet. «Ich habe gehört, dass Leute von den umliegenden Höfen unter den erschlagenen Räubern waren.»

Herr Oluf hatte mit Vater und Owe über diese Dinge in der Kammer hinten im Haus gesprochen, hinter der einzigen verschließbaren Tür der Halle. Doch Griet war schon immer gut darin gewesen, sich umzuhören und ihre Schlüsse zu ziehen.

«Die Dänen könnten glauben, Vater sei ein schlechter Staller, wenn er solche Umtriebe in der Edomsharde zulässt», fuhr sie fort. «Wie gut, dass Herr Oluf keinen der Angreifer von Angesicht zu Angesicht kannte.»

Owe schmunzelte. «Du gäbest eine gute Stallerin ab. Ich denke jedenfalls, dass Vater es geschafft hat. Herr Oluf schien am Ende davon überzeugt, dass er es mit Räubergesindel zu tun hatte, das längst über das Meer verschwunden ist. Sonst hätte er kaum darauf verzichtet, die Höfe abzusuchen.»

«Das bleibt also Vaters Aufgabe.»

«Ja. Inzwischen sind die Kerle hoffentlich wieder aus ihren Rattenlöchern gekrochen. Ich werde gleich morgen einige Männer zusammenrufen und mich auf den Weg machen. Diese Strolche mögen sich für schlau halten und die Silbertruhe hinter einer doppelten Wand in irgendeinem Vorratshaus verstecken. Aber ihrer Strafe entkommen sie nicht.»

Er spuckte grimmig aus. Griet nickte nur, ohne etwas zu erwidern. Sie mochte Owes Gerechtigkeitssinn; er machte seine Sturheit und seinen gelegentlichen Hang zum Jähzorn erträglicher. Doch in diesem speziellen Fall war ihr daran gelegen, dass die Gerechtigkeit vielleicht einmal nicht ganz so unbarmherzig durchgriff …

Inzwischen war Herr Oluf mit seinem Gefolge hinter dem Moorwäldchen verschwunden, dessen Gesträuch den Blick auf Gaikebüll versperrte. Griet glaubte, die Spitze seiner Lanze noch einmal in der Ferne im Sonnenlicht glänzen zu sehen, wie ein winziges Leuchtfeuer. Dann lag das Marschland wieder flach und einsam vor ihnen.

«Nun gut.» Owe zog die Riemen seiner Wollkappe fester unter dem Kinnbart zusammen. «Ich muss Vater helfen, die Knechte auf den Weiden zu beaufsichtigen. Und du hast gewiss auch zu tun, kleine Schwester.»

Griet schnaubte halb verärgert und halb belustigt. Nach Mutters Tod hatte Owe es sich angewöhnt, sie an ihrer Stelle herumzuscheuchen, wenn sie die Arbeit wieder einmal über irgendwelche Träumereien vergaß. Und seit ihrer Rückkehr aus Seeland war es eher noch schlimmer geworden. Darüber hätte sie sich ziemlich undamenhaft aufregen können, wenn Owe nicht stets alles auf seine hölzerne Art gut meinen würde.

«Ja, die Arbeit lässt uns nicht ruhen», erwiderte sie im halb ernsten Tonfall. «Wir sehen uns nachher.»

Während Owe sich sein Pferd holte, um zu den Rindern auf die Weiden hinauszureiten, ging Griet hinüber zum Haupthaus.

Der Hof des Stallers Ingmar war das prächtigste Anwesen im ganzen Kirchspiel Gaikebüll. Sein Haus war mehr als 70 Fuß lang, das mit Riet gedeckte Dach reichte auf beiden Seiten fast bis zur Erde. Pfosten aus kostbarem Bauholz, das man den weiten Weg aus der Geest bis hierher gebracht hatte, verankerten es fest im Grund. Seine Flechtwerk-Wände waren mit bräunlichem Klei verputzt, entwässertem Schlick aus dem Watt, der wunderbar klebte – nicht nur an den Stiefeln, sondern eben auch am Haus.

Ringsum duckten sich einige Nebengebäude wie demütige Diener um das Langhaus, die deutlich schlichter mit Grassoden-Wänden gebaut waren. Gleich zwei Vorratsspeicher kündeten von Ingmars Reichtum. Man hatte sie auf Pfählen errichtet, um die Früchte des Landes vor Nagern und Nässe zu schützen. Gerade marschierten die Hofgänse schnatternd am Langhaus vorüber. Siegfried und Hagen, die zottigen Hunde, rauften um einen Schafsknochen. Der Anblick war so vertraut, als wäre Griet niemals fort gewesen. Sie schlüpfte ins Haus.

In der Halle, die fast den ganzen Innenraum einnahm, herrschte auch am hellen Tag dämmriges Licht. Zwei Reihen hölzerner Säulen stützten die Decke. Üppige Schnitzereien von Vögeln und Meeresgetier schmückten das Balkenwerk. In den Uthlanden war so viel gutes Holz ein Zeichen von Reichtum, fast noch mehr als Gold oder Silber, denn in den Marschen gab es kaum Wälder.

Die Seitenschiffe der Halle, die links und rechts hinter den Säulen lagen, waren durch halbhohe Zwischenwände unterteilt und dienten als Stall für das Vieh.

Weiter hinten trennte eine Querwand den letzten Teil des Hauses ab. Dahinter lag die Kammer, die der Staller mit seiner Familie bewohnte; ein ganz besonderer Luxus. Das Gesinde hingegen schlief rund um den Herd in der Halle.

Auch gewebte Wandbehänge, auf denen Schiffe auf dem Meer und Reihen von gerüsteten Rittern zu sehen waren, zeugten davon, dass dies das Haus eines reichen Mannes war. Und doch erschien Griet alles irgendwie kleiner als vor ihrer Zeit in Seeland, und im Vergleich zur Kemenate auf Herrn Olufs Burg kam ihr die Halle mit ihrem festgetretenen Boden furchtbar roh vor. Als wäre sie gewachsen – oder die Uthlande mitsamt dem Hof ihres Vaters geschrumpft.

«Da bist du ja endlich», brummte die alte Magd Ocka. Sie hockte am gemauerten Herd, der das wärmende Herz der Hausgemeinschaft bildete.

Die rothaarige Liteke, die ihr zur Hand ging, kicherte. «Hast dich wohl von deinem Ritter verabschiedet?»

Griet schüttelte empört den Kopf. «Herr Oluf ist nicht mein Ritter, du dummes Ding. Außerdem ist er ein alter Mann von fast 50 Wintern, wie du sehr wohl gesehen hast.»

Liteke zeigte mit dem Finger auf Griet. «Dann also von Iver, seinem stattlichen Knappen!» Sie sah sehr zufrieden mit sich aus, als hätte sie Griet erwischt. Diese verzichtete auf eine Antwort. Sollten die Frauen des Haushalts ruhig denken, dass Griet irgendeinem hübschen Dänen hinterhertrauerte. Dann würden sie umso weniger bemerken, was wirklich vor ihren Nasen geschah.

«Genug jetzt von Rittern und Knappen», entschied Ocka resolut. «Hilf uns lieber, Grietke, wenn du nicht am Boden festgewachsen bist.»

Dankbar um den Themenwechsel schloss Griet sich den beiden Frauen an. Ocka und Liteke waren dabei, am Herd Gniedelsteine zu erhitzen: flache, rundliche Steine aus dunklem Glas, etwa so groß wie eine Handfläche. Eines der guten Kleider, die Griet von Eufemia bekommen hatte, war auf einer Holzplanke ausgebreitet. Es bestand aus blau gefärbtem englischen Leinen und war unter den Armen schon etwas ausgedünnt. Liteke fuhr gerade mit einem warmen Gniedelstein an den Nähten des Kleides entlang, um sie zu glätten und den Stoff glänzend zu machen. Vorsichtig griff sich auch Griet einen Stein. Sie war nicht halb so geschickt darin wie Liteke, die Steine rasch über den Stoff gleiten zu lassen und sich dabei nicht die Finger zu verbrennen. Aber sie tat ihr Bestes!

Griet musste lächeln. Was wohl Eufemia dazu gesagt hätte, dass ihre Freundin ihr Kleid selbst glättete? Für die Tochter eines Edelmannes wäre das keine standesgemäße Aufgabe. Auch als Tochter eines friesischen Großbauern genoss Griet gewisse Privilegien, immerhin trug sie gefärbte Stoffe aus England. Doch auf den Höfen der Uthlande waren die Schranken, die der Herrgott zwischen den Ständen errichtet hatte, nicht so hoch wie auf den Burgen des Inlands, und jeder musste mit anpacken.

Das galt umso mehr, als es gerade an Arbeitskräften mangelte. Die elende Pest hatte nicht nur Griets Mutter geholt, sondern auch zahllose weitere Männer, Frauen und Kinder, die nun die Friedhöfe der Kirchenwarften füllten. Ihre Hände fehlten schmerzlich auf den Feldern und Weiden, an den Spindeln und Webstühlen.

Bei der Arbeit mit den Gniedelsteinen musste Griet sich ziemlich konzentrieren, während Liteke nebenbei über alles Mögliche plapperte und Ocka gelegentlich einen Kommentar brummte. Als Nächstes war Vaters Mantel dran, dann das gute Obergewand, das Owe auf den Thing-Versammlungen zu tragen pflegte. Schon zum dritten Mal nahm Griet einen Finger in den Mund, um die verbrannte Kuppe zu kühlen, als jemand in die Halle gehuscht kam und am Tragepfeiler neben dem Eingang stehen blieb.

Griet schaute auf. Es war Georg, ein zehnjähriger Junge mit großen blassblauen Augen, der für Vater das Kleinvieh hütete. Langsam hob er die linke Hand und streckte wie zufällig zwei Finger aus. Das war das Zeichen!

Griet nickte kaum merklich, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Ihr Herz flatterte wie ein gefangener Vogel in einem Käfig. Es war endlich so weit …

«Ich … komme gleich wieder», murmelte sie und legte den Gniedelstein beiseite. Sie ignorierte Litekes fragenden Blick und Ockas Gebrumm und eilte nach draußen. Dort wartete Georg schon und focht beiläufig mit seinem Hirtenstab in der Luft herum.

«Und?» Griet spürte, dass ihre Wangen glühten. Egal, darum kümmerte sich Georg gewiss nicht …

«Am ollen Brack», erklärte Georg, ohne damit aufzuhören, unsichtbare Gegner zu verprügeln.

«Aber wann?», setzte Griet ungeduldig nach.

«Wie wann? Na, jetzt gleich! Er ist schon dort.»

Griet blinzelte perplex. Er hatte es wirklich eilig! Verstohlen warf sie einen Blick über die Schulter. Es war riskant, sich um diese Tageszeit davonzuschleichen. Das Hofgesinde hatte zwar genug zu tun, doch zumindest Ocka und Liteke würden sie vermissen. Andererseits kannten sie Griet und wussten, dass sie die Arbeit gerne einmal über irgendwelche «Grillen» vergaß. Es würde Schelte geben, aber das war Griet noch von früher gewohnt, und außerdem war es ihr die Sache wert. Wäre doch gelacht, wenn sie nicht ebenso tollkühn sein könnte wie er!

«Gut», sagte sie entschlossen. «Danke, Georg.»

Der junge Hirte hob seinen Stab zum Gruß. «Und du denkst beim nächsten Schlachten an mich?»

«Natürlich.»

Das war Griets Teil der Abmachung: Als Lohn für seine Botendienste ließ sie Georg heimlich einen schönen Anteil vom Schinken zukommen. Zufrieden ging der Junge zurück zu seinen Tieren.

Griet lief rasch an der Flanke des Langhauses entlang und verschwand hinter einem der grasbedeckten Nebengebäude. Das war die unauffälligste Möglichkeit, die Warft des Staller-Hofes zu verlassen. Sie hatte das schon als kleines Mädchen herausgefunden, wenn sie wieder mal zu einem Streifzug über die Marschen bis hinein ins verbotene Moor aufgebrochen war. Was hatte Vater sich darüber aufgeregt! Und Griet war dennoch nicht zu halten gewesen, auch nicht von Owe, der sich damals zu ihrem Aufpasser ernannt und ihr zu folgen versucht hatte …

In der Hinsicht hatte sich eigentlich nicht so viel geändert. Griet war noch immer nicht zu halten und Owe immer noch der Meinung, alles unter Kontrolle haben zu müssen.

Im Vorbeigehen schnappte Griet sich einen Holzeimer, der bei den Schweinen herumstand. Dann eilte sie den Hügel hinab und über eine Holzplanke auf die andere Seite eines Entwässerungsgrabens. Auf dem Feldweg musste sie sich zwingen, nicht zu schnell zu laufen. Inmitten des flachen Landes war sie weithin sichtbar, auch von der Warft ihres Hofes aus. Am besten machte sie den Eindruck einer Magd, die mit ihrem Eimer geschäftig für irgendeine Besorgung unterwegs war – aber nicht zu hastig. Sonst würde sie nur Misstrauen und unbequeme Fragen hervorrufen …

Griet entspannte sich, sobald der Weg um eine Hecke bog, sodass sie vom Hof aus nicht mehr zu sehen war. Nach einiger Zeit näherte sie sich endlich dem Gesträuch, das rings um das Brack wucherte. Ihr Herz tat einen kleinen Sprung, als sie das Pferd entdeckte, das im Schutz des Buschwerks angebunden war. Sie ließ alle Vorsicht fahren und rannte die letzten Schritte.

Die Wasserfläche des Bracks lag wie ein grauer Spiegel vor ihr, umstanden von einem trocken-gelblichen Schilfgürtel. Vor vielen Jahren war hier einst das Meer wütend über das Land hinweggefegt, wie es das in manchen Wintern eben tat. Die Flut hatte sich schließlich wieder zurückgezogen, doch einen Teil des Landes hatte sie nicht wieder hergegeben. Seitdem klaffte mitten in den Marschen ein Loch voll salzigen Wassers, auf dem sich Enten und Seevögel tummelten.

Griet mochte diesen Ort. Hier waren die Grenzen verschwommen, die Menschenwelt schien weit weg und ihre Regeln und Stände wie nichtiger Tand.

Auch er wusste, dass sie das olle Brack mochte. Plötzlich raschelte es im Gesträuch, und schon kam Auke hervorgesprungen. Früher hatte er sie mit solchen Auftritten erschrecken können. Doch inzwischen kannte Griet ihn zu gut und verzichtete darauf, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Stattdessen schlug sie spielerisch mit dem Eimer nach ihm.

«Au, holde Maid!» Auke hob abwehrend den Arm. «Ist das die höfische Art, die Ihr in Seeland gelernt habt?»

«Oh nein», erwiderte Griet grinsend. «Mit Rüpeln wie dir wurde ich schon vorher fertig, das musste mir niemand beibringen.»

Damit stülpte sie Auke den Eimer über den Kopf. Sein Protest wurde zu einem dumpfen Murmeln. Griet lachte und spürte Erleichterung. Alles fühlte sich vertraut an wie immer.

Aukes hellblondes Haar sah ziemlich zerzaust aus, als er sich den Eimer vom Kopf zog. Er lächelte Griet auf diese schiefe Art an, die so typisch für ihn war – als hätte er Angst, seine Freude zu deutlich zu zeigen. Ein Mundwinkel hob sich zu einem ironischen Grinsen.

«Ich hatte schon Sorge, du würdest in Seeland bleiben und die Frau eines dänischen Edelmannes werden», sagte er leichthin, doch Griet konnte die Fragen aus seinem Unterton heraushören: Ist es noch wie früher? Willst du mich noch?

«Und ich hatte Sorge, dass du mich vergessen hast», erwiderte Griet, ohne auf die stumme Frage einzugehen. Wenn sie mit Auke zusammen war, vollführten die beiden stets einen seltsamen Tanz, eine Art Kräftemessen, bei dem man seine Zuneigung zeigte, indem man es dem anderen nicht zu leicht machte. «Mehr als zwei Wochen bin ich schon wieder hier, und du hast nicht einmal von dir hören lassen …»

Auke zuckte mit den Schultern, als wäre das eine Kleinigkeit. «Ich wollte nicht stören, solange euer hoher Besuch noch im Hause ist. Als ich gesehen habe, dass die Dänen wieder nach Norden ziehen, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht und Georg losgeschickt.»

Griet nickte, und ihr Lächeln verblasste ein wenig. Auke hatte Herrn Oluf vermutlich aus gutem Grund gemieden.

«Jetzt bin ich hier», sagte Auke ungewohnt ernst. «Und ich gehe auch nicht wieder weg – wenn du mich nicht mit deinem Eimer in die Flucht schlägst.»

Forschend schaute Griet in seine blaugrünen Augen. Es lag nicht eine Spur von Spott in seinem Blick. Wie von selbst traten ihre Füße einen Schritt vor. Auke empfing sie in seinen Armen, ein Gefühl, das sie über lange Monate vermisst und niemals vergessen hatte. Wie viel schöner als die Erinnerung war die greifbare Wirklichkeit! Ihr Kuss zog sich lange hin, während auf dem Brack die Enten schnatterten und der Wind Wolken über den grauen Himmel trieb.

Als die beiden nach einer viel zu kurzen Ewigkeit wieder auseinandertraten, räusperte sich Auke verlegen.

«Griet, ich … ich habe etwas für dich.»

Er griff unter seinen Wollmantel, zog einen kleinen Gegenstand hervor und drückte ihn Griet in die Hand. Mit gehobenen Augenbrauen betrachtete sie, was sie da bekommen hatte.

Es war eine Gewandfibel, ein Ring aus dünnem, goldglänzendem Metall mit einem Dorn in der Mitte, an dem man ein Obergewand an der Schulter feststecken konnte. Eine Inschrift lief einmal rund um den Ring.

«AVE MARIA GRTIA», entzifferte Griet. Der Anfang des Mariengebets – nur das erste «A» von «Gratia» schien der Schmied vergessen zu haben. Vater hatte dafür gesorgt, dass sie zumindest in Ansätzen die lateinischen Buchstaben lesen konnte, und Frau Anna hatte diese Fähigkeit mit strenger Zucht weiter gefördert.

«Ich hoffe, die Fibel findet das Wohlgefallen der hohen Dame», sagte Auke, der sich nun wieder hinter seinem schiefen Lächeln versteckte. «Ihr Gold überstrahlt dich jedenfalls in keiner Weise, das kann ich dir versichern.»

Nun musste auch Griet lächeln. «Das ist kein Gold, Auke – auch wenn es so glänzt. Es ist eine Mischung aus Bronze und Kupfer, Ersatz-Gold gewissermaßen.»

Das hatte sie bei Eufemia gelernt. Die junge Tochter des Herrn Oluf vermochte die Qualität von Schmuckstücken ebenso sicher zu beurteilen wie das Gewebe eines Wandteppichs oder die Herkunft eines Seidenstoffes.

Auke guckte ziemlich bedröppelt, als hätte jemand einen Kübel Mist über ihm ausgegossen. Griet tat es plötzlich leid, und sie beschloss, das Thema nicht zu vertiefen. Spontan schloss sie ihn noch einmal in die Arme.

«Danke», hauchte sie ihm ins Ohr. «Die Fibel ist wunderschön – ganz egal, woraus sie gemacht ist.»

Dann schaute sie sich das Schmuckstück noch einmal näher an. Es war sauber gearbeitet, trotz des fehlenden Buchstabens.

«Wo hast du sie her?», fragte Griet mit einer Spur von Misstrauen in der Stimme. «Warst du bei den Kaufleuten in Rungholt?»

Eine vage Handbewegung und ein breites Grinsen waren die Antwort.

«Sag schon!»

«Ich habe so meine Möglichkeiten, Schätze zu bekommen, wenn ich Schätze haben will», erwiderte Auke.

Griet nickte grimmig. Sie hatte sich nicht geirrt. Schon früher hatte Auke gerne junge Männer um sich geschart, die gegen die dänische Herrschaft wetterten. Offenbar blieb es inzwischen nicht mehr bei Worten … «Du warst einer von den Männern, die Herrn Oluf überfallen und das Silber geraubt haben!»

Auke erwiderte nichts und stritt es auch nicht ab. Aufmerksam musterte er Griet. Ihr Vater war der Staller der Edomsharde, der Statthalter des dänischen Königs! Doch ein Teil von ihr verstand Auke. Derselbe Drang nach Freiheit, der sie als junges Mädchen auf Streifzüge übers Moor getrieben hatte, tobte auch in ihm und hatte ihn zum Schwert greifen lassen.

«Wie soll das alles bloß enden?», fragte Griet.

«So, wie es angefangen hat», erwiderte Auke. «Mit freien Friesen, die ihre Geschicke selbst aushandeln und keinem Fürsten folgen.»

Für einen Moment herrschte beklommenes Schweigen zwischen ihnen. Nur eine Ente krakeelte lautstark im Schilf, als wollte sie sich zur Königin der Uthlande ausrufen.

«Wirst du sie tragen?», fragte Auke schließlich und deutete auf die Fibel.

Griet seufzte. «Sie gefällt mir wirklich. Aber ich kann sie nicht annehmen. Die Leute werden fragen, wo ich sie herhabe.»

Auke machte eine wegwerfende Handbewegung. «Ach was. Sie könnte doch aus Seeland stammen.»

«Meinst du, Liteke hätte nicht schon lange alles durchwühlt, was ich von dort mitgebracht habe?» Griet schüttelte schmunzelnd den Kopf. Auch das war typisch Auke. Er war tollkühn und entschlossen, doch er dachte nicht immer zu Ende, was er geplant hatte.

«Ich danke dir von Herzen», sagte Griet und drückte Auke die Fibel wieder in die Hand. «Aber es geht einfach nicht. Das weißt du auch, wenn du darüber nachdenkst.»

Auke betrachtete das kleine Schmuckstück finster. Doch schon wenige Herzschläge später zeigte sich wieder der Ansatz eines schiefen Lächelns auf seinem Gesicht.

«Dann hebe ich die Fibel für dich auf, für später. Eines Tages wirst du sie stolz und offen am Mantel tragen können. Als Geschenk deines Mannes.»

Griet schaute zur Seite, auf das graue Wasser des Bracks. Es war Auke also noch immer ernst damit. Natürlich, was er sich vorgenommen hatte, brachte er auch zu Ende – und wenn halb Friesland in seinem Weg stand. Doch Vater hatte sie nach Hause geholt, damit sie ihre familiären Pflichten erfüllte. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.

«Bald», sagte Auke, der ihre Gedanken erraten zu haben schien. «Bald spreche ich mit deinem Vater.»

Mit dem Staller, den du gerade erst beraubt hast, dachte Griet.

«Aber wenn mein Vater nun nicht mit dir sprechen will, Auke Feddersen …»

Als Sohn des zweitmächtigsten Großbauern der Region und Erbe des Woge-Hofes war Auke eigentlich eine gute Partie. Wenn der Bauer Fedder und der Staller Ingmar nicht schon lange in Konkurrenz um Rang und Ansehen gestanden hätten … Und Auke und Owe hielten es anscheinend für eine großartige Idee, die törichten Streitereien ihrer Väter fortzusetzen.

«Zu Weihnachten», sagte Auke selbstbewusst, und ein scharfer Windstoß fuhr ihm durchs Haar. «Es ist schon spät im Jahr, und der Staller wird gewiss wieder die halbe Edomsharde zum Fest laden. Wenn ich bei dieser Gelegenheit mit ihm spreche, während alle satt und zufrieden sind, wird er nicht ablehnen. Das heißt, wenn du mich überhaupt noch willst …»

«Ich will», sagte Griet rasch. «Wen soll ich sonst mit meinem Eimer verprügeln?»

Das sollte leicht klingen, doch es hörte sich eher gezwungen an. Griet machte sich Sorgen. Auke war furchtbar stur, und auch ihr Vater hatte seinen eigenen Kopf. Er hatte sie nicht umsonst aus Dänemark zurückgerufen. Mochte der Herrgott geben, dass nicht schon irgendein Bräutigam für sie unterwegs war.

Drittes Kapitel

Rumpelnd und knarrend drehte der Neue Kran sich um die eigene Achse – ein übergroßes hölzernes Fass mit einem Schindeldach, aus dem der Kranarm wie die Pranke eines Riesen herausragte. Tagelöhner, die sich in Tretmühlen abstrampelten, trieben die Konstruktion an, die der Rat der Stadt Hamburg erst vor einigen Jahren nahe der Hohen Brücke hatte errichten lassen.

An armdicken Ketten, die vom Kran herabhingen, schwebte eine Palette mit mehreren Fässern mitten in der Luft. Jedes einzelne von ihnen hätte, bauchig wie es war, die Schankstube eines Gasthauses dominiert. Der Neue Kran jedoch schwenkte sie so beiläufig durch die Gegend, als wären sie nicht schwerer als das Reisigbündel irgendeines alten Mütterleins.

«Uuund runter damit!» Ein massiger Vorarbeiter thronte auf einer Kiste nahe der Kaimauer und bellte den Tagelöhnern im Kran Befehle zu. Das Rasseln der Ketten mischte sich in das allgegenwärtige Kreischen der Seevögel, als die Fässer im Bauch der Jakobus von Hamburg verschwanden.

Ulrich Wullenwever, Erbe eines großen Namens und eines weit weniger großen Vermögens, stand bei der Laufplanke, die an Bord der Kogge führte, und verfolgte, wie das Schiff mit Waren beladen wurde. Die Fässer enthielten kräftiges Bier, das in den zahlreichen Brauereien von Hamburg nach Einbecker Art zubereitet wurde; in den Landen des Nordens eine begehrte Kostbarkeit.

Ulrich dagegen zog einen edleren Trunk vor. «Burkhart», brummte er. «Den Claret!»

Ein Hüne mit lockigem Vollbart trat an ihn heran. Eine Klappe aus Leder bedeckte eines seiner Augen, und an seinem Gürtel baumelte ein Streitkolben mit dornenbesetztem Kopf. Irgendwie brachte Burkhart es fertig, sich trotz seiner bärenhaften Erscheinung unauffällig im Hintergrund zu halten, wie ein Möbelstück, das man leicht übersah – und doch sofort zur Stelle zu sein, wenn Ulrich ihn brauchte. Wortlos reichte er ihm einen Lederschlauch.

Ulrich öffnete den Korkverschluss und ließ sich den süßen Claret in den Mund laufen. Der gewürzte Wein schmeckte nach Zimt und Nelken und nach der Sommersonne über dem fernen Rheintal. Ein solcher Geschmack hatte seinen Preis, doch Ulrich wusste, was er dem Namen Wullenwever – und sich selbst! – schuldig war.

Er wischte sich den Wein mit dem Handrücken vom Bart und ließ den Blick über den Hafen seiner Heimatstadt schweifen. Hier, wo die Alster in die Elbe mündete, lagen behäbige Koggen wie riesige, schlafende Tiere dicht beieinander, dazwischen waren auch wendige Schniggen zu sehen und gelegentlich sogar ein Holk in moderner Bauweise mit zwei oder drei Masten.

Schmale, hohe Packhäuser aus rotem Backstein zogen sich am Hafenbecken entlang und warteten darauf, mit Tuch aus Brabant, Wolle aus England, Stockfisch aus Norwegen und Pelzen von der Ostsee-Küste gefüllt zu werden. Über den Dächern ragte stolz der Turm der Katharinenkirche auf, und auch Ulrich empfand Stolz darüber, dass er Spross des Handelshauses Wullenwever und somit ein Teil von alledem war. Natürlich wäre er noch stolzer gewesen, wenn die Jakobus etwas weniger sturmgezeichnet und ihr muschelbesetzter Rumpf gepflegter gewesen wäre. Oder besser noch: wenn man anstelle der alten Kogge einen schnittigen Holk zur Fahrt gerüstet hätte. Doch das gaben die Truhen der Familie schon lange nicht mehr her. Ein Umstand, den Ulrich schnellstmöglich zu ändern gedachte …

«Ah, der junge Meister Wullenwever!»

Ein kleiner, graubärtiger Mann näherte sich entlang der Kaimauer. Er trug eine üppige Pelzkappe, unter der sein Kopf fast verschwand. Auf seinem Gesicht lag ein onkelhaftes Lächeln. Es war der Kaufmann Bertram Wittold. Ulrich verzog das Gesicht. Wittold war stets von vorbildlicher Freundlichkeit, doch ihm war nicht entgangen, wie sehr er das Wort «jung» betont hatte. Ständig musste irgendjemand ihn darauf hinweisen, dass er nicht sein Vater, der angesehene Fernkaufmann Gero Wullenwever, war.

«Da.» Ulrich gab Burkhart den Schlauch mit dem Claret zurück, auf den er schlagartig keinen Appetit mehr hatte. Dann zwang er sich zu einem Lächeln und wandte sich dem Neuankömmling zu.

«Meister Wittold. Wie schön, Euch zu treffen. Ich beaufsichtige gerade, wie die Jakobus mit den letzten Waren beladen wird, bevor es endlich losgehen kann.»

Und er ärgerte sich über sich selbst, noch während er es aussprach. Wittold konnte doch sehen, was er hier tat. Warum musste Ulrich es ihm noch darlegen wie ein übereifriges Kind, das nach Lob gierte?

Doch Bertram Wittold lächelte nur gleichmütig. «Hervorragend. Die glasierten Tonwaren aus Köln, die Johann Giesecke und ich zur Fahrt beitragen, wurden bereits an Bord gebracht. So geht alles seinen Gang.»

Ulrich straffte sich angespannt. Wittold hatte es fertiggebracht, ihm gleich zweimal auf die Füße zu treten: Erst das süffisant vorgetragene Wörtchen «jung» und dann auch noch die Erinnerung daran, dass die Wullenwevers dieses Unternehmen mit fremder Unterstützung ausrichteten.

In vergangenen Tagen war Ulrichs Familie vermögend genug gewesen, um die Jakobus von Hamburg allein in ihrem eigenen Auftrag auf die Fahrt zu schicken. Doch Vaters lange Krankheit hatte diesen Zeiten ein Ende gesetzt, und Ulrich hatte sein Geld mit weiteren Anteilseignern zusammenlegen müssen, um die Kogge ausrüsten und mit Waren beladen zu können.

«Bei dieser Gelegenheit möchte ich Euch noch jemanden vorstellen, Meister Wullenwever», fuhr der alte Wittold fort. «Dies ist Martin Groote, einer meiner erfahrensten Kontorschreiber.»

Ein schmaler Mann in den Dreißigern, der sich hinter Wittold hielt, verbeugte sich leicht. Er musterte Ulrich konzentriert, aber ausdruckslos – als wäre der ein Frachtstück, dessen Wert er bestimmen musste.

«Er wird die Jakobus auf ihrer Fahrt in den Norden begleiten und dafür sorgen, dass in Rungholt alles zu unserer Zufriedenheit läuft. Die Erfahrungen, die er als Vertreter unseres Hauses in Flandern gesammelt hat, werden ihm dabei gewiss von Nutzen sein.»

«Das ist sehr erfreulich», erwiderte Ulrich nach einem raschen Seitenblick auf den Schreiberling. Und natürlich war es das auch, schließlich konnte es nicht schaden, einen kompetenten Vertreter vor Ort zu haben. Dennoch fühlte sich die Sache schal an. Der Rungholt-Handel sollte Ulrichs erstes großes Unternehmen werden! Doch Bertram Wittold nahm die Sache immer mehr in seine altersfleckigen Hände.

«Die Uthlande sind nicht Flandern», hörte Ulrich sich sagen. «Es heißt, dass die Friesen nicht ganz einfach im Umgang sind.»

Der Kontorschreiber Groote erwiderte Ulrichs Blick kühl. «Erfahrung ist ein Schatz, den einem niemand rauben kann und den man stets bei sich trägt, egal, ob in Antwerpen oder in Rungholt.»

Ulrich biss die Zähne fest aufeinander. Dass Bertram Wittold ihn wie einen unmündigen Knaben behandelte, war schlimm genug. Aber dass nun auch noch dieser Schreiberling damit anfing …

«Nun gut», knurrte er in dem vergeblichen Versuch, gelassen zu klingen. «Dann werdet Ihr unsere Sache gewiss …»

«Meister Ulrich!»

Ein schlaksiger, sommersprossiger Junge kam die Kaimauer entlanggelaufen. Es war Simon, ein Knecht im Wullenwever’schen Hause. Atemlos blieb er schließlich vor Ulrich stehen.

«Meister Ulrich … Frau Apolonia lässt Euch ausrichten, dass das Abendessen aufgetragen wird.»

In der Tat: Die Sonne stand schon tief über den Dächern. Doch Ulrich hatte nicht die geringste Lust, sich von irgendjemandem herumkommandieren zu lassen. Er setzte dazu an, Simon mit einer scharfen Erwiderung davonzujagen – doch dann nahm er sich zusammen. Was war noch peinlicher, als sich von einem Laufburschen zum Essen rufen zu lassen wie ein kleiner Junge, der auf der Gasse spielte? Sich mit dem besagten Laufburschen auch noch vor den Augen eines anderen Handelsherrn zu streiten!

Also nickte Ulrich nur knapp. «Gut. Richte der Herrin aus, dass ich komme.» Dann wandte er sich an Wittold. «Ihr müsst mich nun entschuldigen, fürchte ich …»

«Gewiss.» Bertram Wittold lächelte verbindlich. «Richtet Eurer Frau Mutter meinen Gruß aus.»

Auch der Schreiberling Groote lächelte schmallippig, doch es sah nicht besonders freundlich aus. Ulrich ließ ihm einen letzten finsteren Blick zukommen. Dann folgte er Simon über die Hohe Brücke, fort vom Neuen Kran, der schon die nächste Fuhre Bierfässer im Bauch der Jakobus von Hamburg versenkte. Eine Gruppe Schauerleute, die ihnen entgegenkam, machte respektvoll Platz. Ulrich versuchte sich einzureden, dass es an seinem würdigen Auftreten als Fernkaufmann lag. Doch vermutlich hatten die zerlumpten Kerle einfach nur Angst vor Burkharts Hünengestalt und seinem Streitkolben.

Das Wullenwever’sche Haus lag nicht weit von der Hohen Brücke entfernt. Ein stolzer Stufengiebel, der wie die Zinnen eines Schlosses in den grauen Himmel ragte, verkündete der Welt, dass hier eine angesehene Familie von Kaufleuten residierte. Ulrich entledigte sich seiner Kappe und seines Mantels und durchquerte die große Diele, ohne die Kontoristen eines Blickes zu würdigen, die hier an Stehpulten ihrer peniblen Arbeit nachgingen. Er schickte Burkhart in die Küche, wo das Gesinde aß, und betrat selbst die gute Stube, die sich hinten an die Diele anschloss.

Seine Mutter, die ehrbare Kaufmannswitwe Apolonia Wullenwever, erwartete ihn bereits am gedeckten Tisch. Sie trug eine strenge Haube, die gut zu ihrer missbilligend gerunzelten Stirn passte. Ulrich war sich nicht sicher, ob sie ungehalten war über sein spätes Erscheinen oder schlicht ihre übliche Geringschätzung für die empörend unperfekte Welt im Allgemeinen zur Schau stellte. Doch bei einer Frau, deren größte Gefühlsäußerung in verkniffenen Altersfalten an den Mundwinkeln bestand, war der Unterschied ohnehin marginal.

Ulrich murmelte einen Gruß und setzte sich. Auf seinem Zinnteller warteten Getreideküchlein und in Schmalz gebackenes Schweinefleisch an Kraut, dem Geruch nach zu urteilen nur wenig gewürzt. Nicht gerade die Tafelfreuden, die man im Haus eines Fernhändlers erwartet hätte … Lena, die Hausmagd, trat an ihn heran und füllte seinen Krug mit Wein. Mechanisch nahm Ulrich einen Schluck. Er schmeckte wässrig, als käme er direkt aus der Alster. Kein Vergleich zum guten Claret, den Burkhart für Ulrich verwahrte!

Es fühlte sich merkwürdig an, das dünne Zeug an diesem Ort zu trinken, unter dem kostbaren flämischen Wandteppich, der eine Jagdgesellschaft im Wald zeigte. Mutter sorgte mit strenger Hand dafür, dass von außen nicht zu erkennen war, wie erbärmlich es um die Truhen der Familie wirklich stand. Sie trank ihren Wein lieber doppelt und dreifach mit Wasser verdünnt, als dass sie die prunkvolle Zinnkanne mit dem gravierten Henkel versetzt hätte, die den Tisch ihres Hauses wie eine beleibte Matrone beherrschte.

Ulrich erkannte natürlich trotzdem die Anzeichen. Allein, dass von oben keine knarrenden Schritte der Arbeiter auf den Zwischenböden des Hauses zu hören waren, wo die Waren eingelagert wurden – weil es gerade schlichtweg nichts zum Einlagern gab …

«Du lässt die Jakobus für die Fahrt ausrüsten», sprach Mutter ohne jede Einleitung. Ulrich zuckte zusammen. Der simple Satz klang wie eine Anklage. Wie fast alles, was Mutter von sich gab.

«Ja.» Er nahm noch einen Schluck Wein, um sich zu sammeln. Ulrich hatte die Sache so lange wie möglich vor Mutter geheim gehalten, damit sie ihre bleichen Finger aus seiner ersten richtigen Unternehmung heraushielt. Doch die ehrbare Dame Apolonia Wullenwever hatte ihre Augen und Ohren überall, und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie über die Unternehmung Bescheid wusste. Ulrich entschied sich, in die Offensive zu gehen; so, wie er es im Geiste schon oft getan hatte.

«Die Jakobus wird nach Rungholt aufbrechen», erklärte er bestimmt, aber sachlich. «Salz aus den Uthlanden erzielt derzeit einen guten Preis.»

«Salzhandel mit den Uthlanden also», fasste Mutter zusammen. Und schwieg gleich wieder. Es war ein Schweigen mit einer deutlichen Aussage: Ich missbillige es.

Ulrich hob seinen Kelch, damit Lena ihm aus der Kanne etwas von dem sogenannten Wein nachschenken konnte. Er hatte keine Lust, sich vor Mutter zu rechtfertigen. Und natürlich tat er es schlussendlich doch.

«Ja. Salzhandel mit den Uthlanden.» Er zwang sich, seine Stimme nicht zu erheben. «Ich habe bereits alles Notwendige in die Wege geleitet. Johann Giesecke und Bertram Wittold haben ihren Teil an Waren beigesteuert. Die Jakobus wird sich noch diese Woche auf den Weg machen.»

Mutter musterte ihn ungerührt.

«Dein Vater hätte das nicht getan.»

Ein simpler Satz. Ein Schlag ins Gesicht.

«Vater ist tot!»

Das klang jetzt gar nicht mehr sachlich. Ulrich lauerte auf eine Reaktion, irgendeine menschliche Regung. Doch die blassen, ebenmäßigen Züge seiner Mutter blieben unbewegt: ganz die Patrizierdame Apolonia Wullenwever.

«Die Uthlande sind unruhig in diesen Tagen», sagte sie mit tadelndem Unterton, als müsste sie einem begriffsstutzigen Kind etwas erklären. «Der Dänenkönig beansprucht sie für sich, doch nicht alle Friesen wollen sich beugen. Und Valdemar ist immer hungrig, er hat sich jüngst erst Gotland einverleibt. Über kurz oder lang wird er sich mit den freien Hansestädten um den nächsten Bissen streiten. Dann wird es Krieg geben. Und der wird jeden Taler fressen, den du in die dänischen Uthlande steckst.»

«Der Salzhandel wird unsere Truhen endlich wieder füllen», erwiderte Ulrich trotzig. «Und wenn andere Kaufleute so sorgenvoll und zögerlich sind wie du, umso besser. Dann bleibt mehr Gewinn für uns übrig.»

Mutter musterte ihn schweigend. Ulrich nahm noch einen Schluck Wein, um seine Hände zu beschäftigen.

«Das ist die Rede eines Abenteurers. Nicht die eines Kaufherrn. Oder eines Wullenwevers.»

Jeder von Mutters Sätzen war ein unumstößliches Urteil, als wäre sie der leibhaftige Heiland am Jüngsten Tag. Ulrich setzte seinen Kelch so heftig ab, dass der Wein auf die gute Tischdecke spritzte. «Es ist entschieden! Die Jakobus fährt in die Uthlande, nach Rungholt. Der Hafen ist ein Tor in den Norden, er wächst und gedeiht seit Jahren. Und wir werden daran teilhaben!»

«Und wie gedenkst du dort Fuß zu fassen?», fragte Mutter ruhig. «Bei störrischen Marschbauern und fremden Handelsleuten? Wer soll deine Geschäfte für dich führen, so weit von Hamburg entfernt?»

«Niemand!», fauchte Ulrich. «Ich werde selbst nach Rungholt gehen und mich um alles Nötige kümmern!» Ja, genau das würde er tun. Er würde sich nicht diesen blutarmen Kontorschreiber vor die Nase setzen lassen, den Bertram Wittold ausgewählt hatte!

«Erwarte mich nicht wieder in Hamburg, bis im kommenden Jahr zu Petri Stuhlfeier die Schiffe wieder fahren.»

Ruckartig stieß er seinen Stuhl zurück und sprang auf die Füße. Sein Entschluss stand fest – eine Entscheidung, von der er bis vor wenigen Momenten noch gar nicht gewusst hatte, dass sie im Raume stand. Doch nun war es beschlossene Sache. Ulrich würde die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen! Er würde mit der Jakobus nach Norden fahren, in die Uthlande. Hauptsache, weg von hier. Weg von Mutter!

«Du?» Das kleine Wort, fast sachte hervorgebracht, ließ ihn auf halbem Wege zur Tür innehalten. Ulrich drehte sich noch einmal um. Mutter saß noch immer auf ihrem hochlehnigen Stuhl wie auf einem Thron, umgeben von kostbaren Zinnkannen und Wandbehängen. Ihre kleinen, klugen Augen bohrten sich unbarmherzig in Ulrichs Seele.

«Wie sollte es dir wohl gelingen, so lange von Hamburgs Bierkellern und Hafenschenken fernzubleiben, Ulrich?»

Ihre herabhängenden Mundwinkel hatten nun einen bitteren Zug. Ulrich gab keine Antwort. Er wirbelte herum und stürmte über die große Diele nach draußen. Mutter würde schon sehen, wie er seinen Weg ging und die Familie wieder zu alter Größe brachte! Sie alle würden es sehen … Und sie würden dem Handelsherrn Ulrich Wullenwever, Sohn des angesehenen Gero Wullenwever, mit dem Respekt begegnen, der ihm gebührte.

Er machte sich nicht die Mühe, Burkhart aus der Küche zu holen. Ohne Begleitung eilte er durch die Gassen der Stadt, dem Goldenen Löwen entgegen.

Viertes Kapitel

«Ihr habt die Deiche vernachlässigt.»

Prüfend bohrte Folkert eine Stiefelspitze in die Grassoden, die den flachen, aus Klei aufgeschütteten Wall bedeckten. In seinem Rücken erstreckte sich die trügerische Weite des Watts. Irgendwo zur Rechten weideten einige von Vaters Schafen. Ihr Blöken drang zuweilen herüber.

«Nein, haben wir nicht», erwiderte Auke und zog sich trotzig den Wöbbe-Mantel fester um die Schultern. Es war kalt hier draußen, der Wind blies, und auf dem Hof gab es noch viel zu tun. Doch sein Bruder bestand darauf, dass sie sämtliche Deiche auf den Ländereien abliefen, die ihrem Vater, dem Großbauern Fedder, gehörten. Als wenn Auke das nicht schon vor geraumer Zeit getan hätte, zusammen mit erfahrenen Männern!

«An der Nordweide hättet ihr einiges nachbessern müssen.»

Folkert schaute Auke ernst aus hellblauen Augen an, die einen eigentümlichen Kontrast zu seinen dunklen Haaren bildeten. Er war schmaler als Auke und nicht halb so kräftig, im Ringkampf war er ihm stets unterlegen. Und doch verfolgte er alles, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, mit stiller Beharrlichkeit.

«Das haben wir, kleiner Bruder», knurrte Auke.

«Nicht gründlich genug.» Folkert sprach ruhig, aber bestimmt. Eine nervtötende Kombination, wenn man sich mit ihm streiten wollte! «Eine einzelne Schwachstelle genügt, um das Meer über das Land hereinbrechen zu lassen. Da kann der Deich an anderen Stellen noch so stark sein. Das weißt du sehr gut, Auke.»

Ein missmutiges Schnauben war die Antwort. Die Brüder mochten beide Vaters Sturheit geerbt haben, doch in einem Punkt unterschieden sie sich gewaltig: Folkert war ein furchtbarer Bedenkenträger. Er würde selbst an einem Deich aus lauterem Gold herummäkeln. Immer sah er Gespenster und klopfte jedes mögliche Hindernis noch dreimal ab, während Auke schon entschlossen dabei war, es zu überwinden. Diese Eigenschaft war sogar noch schlimmer geworden, seit Folkert nach Rungholt gegangen war, wo er bei Meister Alrich, dem Deichbauer, dessen Handwerk erlernte.