Des Meisters Bartel verlorener Ring - Thomas Spyra - E-Book

Des Meisters Bartel verlorener Ring E-Book

Thomas Spyra

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Beschreibung

Eingebettet in die Geschichte Windsheims erzählt der historische Roman, wie eine Witwe aus der Not eine Tugend macht. Als ihr Gatte stirbt, hinterlässt er seiner Frau den Laden, die Kinder Lena und Albrecht, sowie einige Sorgen, denn als Witwe darf Anna Maria die Schneiderwerkstatt nicht weiterführen. Wenn es ihr nicht gelingt, innerhalb eines Jahres einen neuen Ehemann zu finden, wird sie die Werkstatt aufgeben und aus Windsheim fortgehen müssen. Das Schicksal meint es gut mit ihr. Es geschieht anno 1726, als Andreas Christoph Bartel von der Frankenhöhe herunterwandert, um in der Freien Reichsstadt Windsheim sein Glück zu versuchen. Der Zufall will es, dass Bartel der kleinen Tochter Anna Marias aus der Patsche hilft und dadurch ihre Mutter kennenlernt. Anna Maria hält die Begegnung für eine Gottesfügung und macht dem feschen Andreas einen Vorschlag, der beiden von Nutzen sein soll: Wenn er sie heiratet, muss Anna Maria nicht zu ihrer Familie zurück, und Andreas kann die Werkstatt bekommen, nach der er sucht. Christoph übernimmt die Werkstatt und darf als Zeugmachermeister das eigene Tuch herstellen, sowie als Schneidermeister für die Uniformen der Stadtwachen und der Bürgerwehr zuständig sein. In den Folgejahren erwirbt Meister Bartel großes Ansehen in der Stadt, über deren Chronik hier berichtet wird. Als es zu einem Brand auf dem Marktplatz kommt, verlieren viele Menschen ihr Hab und Gut. Christoph verliert bei den Löscharbeiten seinen Siegelring. Eng verbunden mit dem Schicksal der Stadt und den politischen Ereignissen der Zeit ist auch das Los der Bartels, denen es wegen der politisch sehr bewegten Zeiten finanziell immer schlechter geht. Der Roman porträtiert ein Stück deutsche Zeitgeschichte lebendig und unterhaltsam und wartet mit dreidimensionalen Figuren auf.

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Seitenzahl: 324

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Thomas Spyra

Des Meisters Bartel verlorener Ring

Eine fränkische Familiengeschichte

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Des Meisters Bartel verlorener Ring

Anno 1999 - Prolog

Anno 1724 - Lauf, Reifen, lauf

Anno 1725 - Vor dem Stadttor

Anno 1726 - Von den Bürgerrechten

Anno 1727 - Gottes Fügung

Anno 1730 - Neuer Lebensabschnitt

Anno 1730 - Die neue Allee

Anno 1730 - Feuer unterm Dach

Anno 1731 - Große Not

Anno 1731 - Erste Reise

Anno 1731 - Reichsstadt Nürnberg

Anno 1731 - Heim nach Windsheim

Anno 1731 - Aufbauen

Anno 1732 - Ein hartes Jahr

Anno 1732 - Zweite Reise

Anno 1733 - Ein Neubeginn

Anno 1734 - Lena in Nürnberg

Anno 1734 - Zeit der Aufklärung

Anno 1735 - Freud und Leid

Anmerkungen und Dank des Autors:

Personen

Maße und Gewichte:

Impressum neobooks

Des Meisters Bartel verlorener Ring

Thomas Spyra,

Jahrgang 1948, lebt seit über 24 Jahren in Bad Windsheim. Als Bau- und Projektleiter der Kommune kam er mit der Geschichte der Stadt Bad Windsheim buchstäblich auf Schritt und Tritt in Berührung. Historische Spuren, die über 1000 Jahre in die Vergangenheit reichen, mussten bedacht in die Stadtentwicklung einfließen.

Es lag nahe, die über Jahre gesammelten, reichhaltigen, historischen Informationen in der autonomen literarischen Form des Romans zu bündeln. Sie ermöglicht es ihm einerseits historische Zusammenhänge methodisch genau aufzuzeigen und andererseits die fehlenden Details frei auszuschmücken, um eine lebendige Geschichte zu zeichnen.

Copyright © 2009 bei cristom-kunstverlag, Bad Windsheim

1. Auflage 2009, 600 Stück

2. Auflage 2010, 1000 Stück

3. Auflage 2013, E-Book-Auflage

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung

des Verlages wiedergegeben werden.

Printed in Germany

ISBN 978-3-00-028908-8

Es ist besser zu genießen und zu bereuen,

als zu bereuen,

dass man nicht genossen hat.

Giovanni Boccaccio (1313-1375)

Anno 1999 - Prolog

Samstagnachmittag schellte das Telefon schrill durchs Haus. Das gemütliche Kaffeetrinken im Wintergarten wurde dadurch jäh unterbrochen.

Archäologisch interessierte Bürger hatten, bei den am Freitag durchgeführten Probeschürfen auf dem Marktplatz, Mauerreste und Knochen gefunden, teilte mir der Anrufer mit.

Als Bau- und Projektleiter sollte ich den Marktplatz der Stadt Bad Windsheim neu gestalten. Dazu wollten wir an einigen Stellen die genaue Lage der Versorgungsleitung feststellen und hatten die Schürfgruben mit dem Bagger angelegt. Und jetzt? Der Albtraum eines jeden Bauleiters. Archäologische Funde! Auf der einen Seite war es natürlich auch spannend. Was findet man da, was kommt dabei heraus? Bei meiner anderen großen Baustelle, der Spitalkirche, hatte ich es im Moment auch schon mit archäologischen Ausgrabungen zu tun. Hier lernte ich auch die Mauerstrukturen aus dem Mittelalter kennen.

Auf dem Marktplatz angekommen, umringten bereits mehrere Dutzend Leute die Grabungslöcher. Auch die Presse war bereits vor Ort. Mit einem Blick sah ich, dass die Mauerreste in etwa die gleichen Strukturen wie die in der Spitalkirche aufwiesen und die Knochen menschliche Überreste waren. Die zum Vorschein gekommenen Mauern mussten gründlich untersucht werden.

Am darauffolgenden Montag bat ich den Mittelalterarchäologen Wolfgang Steeger, der bereits die Grabungen in der Spitalkirche leitete, sich die Funde auf dem Marktplatz einmal anzusehen. Wie es sich dann herausstellte, waren dies Überreste aus dem frühen Mittelalter.

Anschließend folgte mit mehreren Archäologen und vielen freiwilligen Helfern eine halbjährige Grabungskampagne. Im Laufe dieser Zeit wurden Mauerreste aus dem 11. bis 14. Jahrhundert und über 45 Skelette aus dem 9. bis 10. Jahrhundert freigelegt.

Die Sensation für so eine kleine Stadt war perfekt. Die Bevölkerung zeigte großes Interesse und belagerte die Baustelle von früh bis spät.

Mithilfe vieler Spenden von Bürgern, Vereinen, Firmen und Institutionen konnte dann das Projekt verwirklicht werden. Im September 2001 wurde der neu gestaltete Marktplatz mit dem „Archäologischen Fenster“ feierlich der Bevölkerung vorgestellt.

Bei der Einrichtung des kleinen Museums tauchten immer wieder Fragen zu einzelnen Fundstücken auf: Wie kam der Siegelring aus Messing an den Brunnenrand auf dem Marktplatz? Wer verbirgt sich hinter den Buchstaben ACB?

Anno 1724 - Lauf, Reifen, lauf

»Lauf, Reifen, lauf«, laut schreiend rannte Kunigunde Magdalena Bäumer, von allen nur kurz Lena genannt, hinter ihrem Bruder Albrecht her. Der schlug den Reifen, einen alten Eisenring vom großen Handwagen und tobte daneben her. Lena klatschte in die Hände und feuerte ihren Bruder mit rot glühenden Wangen an.

Das war ein lustiges Spiel, aber es war ein Bubenspiel. Mädchen sprangen nicht so mit fliegenden Röcken umher, Mädchen übten sich daheim im Haushalt oder gingen sittsam in ihrer Gasse spazieren.

Aber die Bäumer-Kinder waren schon immer etwas anders. Beide zierlich, schlank und rotblond wie ihre Mutter, waren etwas Besonderes!

So trug Lena zu ihrer rostfarbenen Kittelschürze aus grobem Leinenstoff knallrote Schuhe aus weichem Ziegenleder. Die hatte ihr der Vater nach langem Betteln und Bitten selbst genäht. Das war schon etwas Außergewöhnliches, die rote Farbe. Und Schuhe besaßen eigentlich nur die Kinder der reichen Patrizier.

Ihr Vater, der Zeugmacher- und Schneidermeister Johann Georg Bäumer, war daneben auch für die Ausstattung der Stadtwache und der Bürgerwehr in der Stadt Windsheim zuständig.

Zu der Zeit gab es in der Stadt viele Handwerker, die sich mit der Herstellung von Tuch beschäftigten. Die Meisten waren indes Wollweber, Tuchmacher oder Leineweber, und verarbeiteten Baumwolle, gemischte Wolle, Leinen oder Seide.

Meister Johann Georg Bäumer hatte – wie sein Sohn Albrecht jetzt bei ihm – bereits als Kind bei seinem Vater, dem Zeugmacher Johann Adam Bäumer, viel mithelfen müssen und so allerhand über dessen Handwerk erfahren. Zeugmacher waren Weber und Tuchmacher die nur reine, gekämmte Schafwolle verarbeiteten. Später ergab sich für ihn die Möglichkeit, beim Vater seines Freundes Merklein in die Lehre zu gehen. Bei ihm lernte er das Schneiderhandwerk von Grund auf. Und nun hatte er sich zusätzlich darauf spezialisiert, Uniformen anzufertigen.

Die Bäumers wohnten schon in der dritten Generation in der Stadt. Der in Nürnberg geborene Großvater blieb nach seiner Wanderzeit in der kleinen Reichsstadt Windsheim. Es gefiel ihm sehr gut hier und er richtete sich eine Werkstatt als Zeugmacher gleich hinter der Stadtmauer beim Seetor ein.

Die kleine, über 400 Jahre alte Freie Reichsstadt Windsheim lag im weiten fruchtbaren Aischgrund, eingebettet zwischen dem Steigerwald im Norden und der Frankenhöhe im Süden. Fast gleich weit entfernt von Rothenburg, Würzburg und Nürnberg im Frankenland gelegen, stand sie immer im Schatten aber auch unter dem Schutz der großen Stadt Nürnberg. Hier kreuzten sich einige Handelswege und so erhoffte sich Bäumer, dass seine neue Werkstatt genug für ihn einbrachte.

Lenas Vater, ein großer, etwas beleibter, glatzköpfiger Mann, hatte ihr eine kleine Puppe aus Leder genäht. Diese zeigte sie voller Stolz, ließ aber kein anderes Mädchen damit spielen. Die Kinder beneideten sie sehr und hänselten sie. Ihre Puppe war fast schwarz, gerade so wie die Mohrenkinder auf dem Bild, welches ihnen der Pfarrer in der Sonntagsschule gezeigt hatte.

Jeden Sonntag nach der Sonntagsschule trafen sich, wenn das Wetter es zuließ, die Jungen zum Reifen schlagen auf dem Markt. Und dann ging es um die Wette hinunter zum Wirtshaus Zur Sonne am Kornmarkt oder zum Brunnen am Weinmarkt. Zum Wirtshaus war die Straße glatter und es lagen weniger Steine da herum. Hier sprang der Reifen nicht so weit weg, wenn er auf einen Stein traf. Dabei tat sich Albrecht immer hervor, obwohl er noch nicht zu den großen Knaben zählte.

Er war erst in der vierten Klasse, die Erste hatte er wiederholen müssen, und hatte noch zwei ganze Schuljahre vor sich. Für was waren das Lesen, das Schreiben und das Rechnen schon gut? Er konnte gut reden und das Geld zählen konnte er auch. Außerdem wollte er einmal mit seinem Freund Johann Michael auf der Baustelle dessen Vaters arbeiten, da muss man nicht so studiert wie ein Stadtschreiber sein, dachte er sich.

Albrecht flitzte dem Reifen hinterher, er sauste so schnell er konnte, sah weder nach rechts noch nach links. Die dralle ältere Schankmagd Anna trat gerade mit drei Krügen aus dem Wirtshaus und schritt zu den drei Freunden, die an dem Tisch neben dem Brunnen auf dem Kornmarkt saßen und auf ihr Bier warteten.

Die Drei hatten sich auf ihrer Walz im Sommer 1714 zufällig in Bozen im Wirtshaus getroffen. Bäumer und Merklein stammten aus Windsheim und der Krauß aus Steben, einer kleinen Stadt nördlich im Coburger Land.

Seit sie dann hier in Windsheim sesshaft geworden waren und nun auch jeder eine eigene Werkstatt hatte, trafen sie sich jeden Sonntag früh nach der Kirche zum Stammtisch, meist im Wirtshaus oder im Sommer auch draußen am alten Brunnen. Der bestand aus einem grob gefassten Schacht und war mit einem Schwingbaum als einfacher Ziehbrunnen konstruiert.

Johann Nikolaus Krauß war ein großer, schwarzhaariger, sonnengebräunter Mann. Man konnte ihn glatt für einen Südländer halten. Eine etwas derbe Erscheinung, aber gutmütig. Er kannte fast alles und jeden in der kleinen Stadt.

Seit fast 15 Jahren arbeitete er nun als Stadtmaurermeister in Windsheim. Damals in Bozen war er auf dem Weg nach Florenz. Dort in Südtirol hatte er schon fast zwei Jahre verbracht und vor allem den Umgang mit dem Granit aus den umliegenden Bergen erlernt.

Bozen war eine alte Handelsstadt an der Grenze zwischen dem Deutschen und Italienischen. Große mächtige Häuser standen hier auf dem Markt, ganz anders als in den kleinen Städten Frankens. Sein Meister gab ihm noch ein Empfehlungsschreiben für eine Werkstatt in Florenz mit. Er wollte dort noch einiges über den italienischen Barock lernen, vor allem aber auch über den Umgang mit dem herrlichen weißen Marmor.

Der andere Mann war der Schneidermeister Franz Jakob Merklein, damals auf dem Weg nach Mailand. Ein eleganter Herr, nicht mehr so ganz jung mit schütterem Haar und immer gepflegt mit einer Perücke nach der neuesten Mode, wie die großen Herren.

Die Stadt Mailand war früher und ist auch heute noch, die Modestadt. Für einen Schneidergesellen war dies sicher die Krönung seiner Wanderjahre. Er wollte damals bald nach Hause zurück. Seit über zwölf Jahren war er nun schon unterwegs. Davon drei Jahre im Welschenland und trotzdem hatte er immer noch Probleme mit der italienischen Sprache.

Der Dritte im Bunde, Schneidermeister Johann Georg Bäumer, war zu jener Zeit bereits wieder auf dem Heimweg. Er hatte ein Jahr in Verona, beim dortigen Padrone dell‘ arma, dem Waffenmeister und Uniformschneider der Stadtwache von Verona, seinem Handwerk den letzten Schliff gegeben.

Seit sie sich in der Fremde getroffen hatten, waren die Drei besonders gute Freunde geworden.

»Halt, halt«, schrie Lena immer noch. Aber zu spät. Albrecht rannte und rannte - und rannte Anna fast um. Der eine Krug Bier flog durch die Luft und zerschellte vor den Füßen seines Vaters. Die anderen Krüge konnte die Schankmagd gerade noch festhalten, aber das Bier ergoss sich über die anwesenden Meister. Alle drei schimpften wie die Rohrspatzen und wischten sich das Bier aus dem Gesicht und von den Kleidern.

Bis Albrecht sich aufrappeln konnte, hatte ihn sein Vater schon am Kragen gepackt und schlug ihm mit dem Reifenschlagstock auf den stramm gezogenen Hosenboden. Der Junge biss die Zähne zusammen, jetzt nur nicht schreien, nur nicht heulen. Die herumtollende Kinderschar würde sich köstlich amüsieren und er wäre ein für alle Mal bei Allen, und besonders bei den Buben, unten durch. Lena schrie und klammerte sich am Bein des Vaters fest.

»Aufhören, aufhören«, bettelte Lena. Der Vater schüttelte sie ab. Sie hatte Angst um ihren Bruder. Vater konnte sehr kräftig zuschlagen, wie sie aus eigener Erfahrung wusste.

»Lass es gut sein, das reicht, Meister Bäumer«, rief Meister Krauß.

Bäumer zog seinen Sohn an den Tisch der Männer.

»Entschuldige dich sofort. Du wirst das verschüttete Bier natürlich bei jedem von uns abarbeiten. Beim Braumeister Joseph Seeg fängst du für den kaputten Krug gleich an«, schrie er Albrecht an.

Der Braumeister und Wirt, ein großer rundlicher Mann, von allen Kindern heimlich nur das Fass genannt, trat aus seiner Wirtsstube, als er das Geschrei hörte. Er schüttelte den Kopf. Schade um das Bier, dachte er bei sich.

»Aber Mutter wird gleich zum Essen rufen«, murrte Albrecht noch.

»Heute gibt es für dich nichts mehr. Ab Marsch! Ins Wirtshaus mit dir!« Bäumer ließ keine Widerrede zu.

»Seid doch nicht so streng, wir waren doch alle einmal jung und kennen so was, zum Glück können wir es uns doch leisten noch ein zweites Bier zu bestellen«, meinte sein Freund Krauß.

»Man muss den jungen Pferden schon zeigen, wo´s lang geht. Notfalls auch mit der Peitsche«, setzte Franz Jakob Merklein, der seit einigen Jahren Zunft-und Bürgermeister war, hinzu.

»Ich hab´s bestimmt und dabei bleibt es auch! Albrecht kommt für einen Tag nach der Schule zu euch und wird jede ihm zugewiesene Arbeit ausführen. Ich denke das reicht für den angerichteten Schaden«, schloss Bäumer die Diskussion.

Der Sonnenwirt brachte selbst die neuen Bierkrüge, setzte sich zu ihnen, und alle nahmen zufrieden einen tiefen Schluck von dem kühlen, dunklen Bier.

»Morgen zu Himmelfahrt, nach der Kirche, muss ich nach Rothenburg. Der Stadtrat hat mir den Auftrag erteilt genauso neumodische Uniformen für die Stadtwache anzufertigen, wie sie jetzt auch bei den Wachen in Nürnberg, Rothenburg und Dinkelsbühl üblich sein sollen. Aus dünnerem Stoff, nicht so dick wie unsere Uniformen, damit unsere Soldaten nicht mehr so schwitzen. Dass ich nicht lache, die Kerle sollen weniger Bier trinken, dann wird´s ihnen auch nicht so schnell warm«, setzte der Zeugmachermeister die Unterhaltung fort.

Von allen Türmen riefen die Glocken zu Mittag, Zeit für ein ordentliches Mahl. Die Freunde bezahlten, verabschiedeten sich, und schlenderten nach Hause.

»Bum, bum, bumdabum, bum bum ....«, hörten sie die Trommel rufen.

Der Knecht vom Wagnermeister kam ihnen ganz aufgeregt entgegengelaufen und brüllte: »Schnell schickt die Buben nach Hause, die Werber kommen.«

Die Männer rannten eilig nach Hause und nahmen ihre Kinder mit. Merklein, der einige Häuser weiter wohnte als die Bäumers, schimpfte noch:

»Seit wir dem Kaiser Soldaten geben müssen, nimmt das überhand, ständig ziehen die Werber vorbei und unser feiner Herr Oberrichter, der von Keget, lässt die auch noch rein, wahrscheinlich bekommt er für jeden Soldaten, den die Stadt stellt, ein Handgeld.«

»Beruhige dich, daran kannst du doch nichts ändern«, meinte Johann Georg zu ihm. Aber sein Freund hatte ja recht, dachte er bei sich.

»Warum kann man da nichts ändern?«, fragte ihn sein Sohn.

»Seit der Verabschiedung der Reichskriegsverfassung 1681 legen sich alle Herren, auch die mit den kleinsten Gebieten, eine stehende Armee zu. Das heißt, es gibt nun immer Soldaten, auch im Frieden. Selbst die Bürgermiliz in unserer Stadt Windsheim hat sich zwei Fahnenhaufen, einen Roten und einen Blauen, zu je zwei Hauptmannschaften, zugelegt. Du weißt ja auch, dass wir zwei Fähnriche, 10 Korporale und einen Stadtmajor haben. Im Rathaus gibt es sogar eine extra Kriegsstube, in der auch der Muster-Schreiber Quartier hat. Hier wird dann festgelegt, wie sich die Einwohner im Kriegsfall zu verhalten haben, und zu welchem Haufen sie gehören. Wir gehören zur blauen Fahne.«

»Muss da jeder hin?«

»Bei Krieg ja, aber im Frieden lässt du dich besser nicht mit dem Muster-Schreiber oder einem der Offiziere ein, sonst haben sie dich gleich am Schlafittchen. Wenn fremde Werbeoffiziere kommen, und wenn sie noch so schön trommeln, rennst du so schnell wie möglich ins Haus und lässt dich nicht mehr sehen, bis sie weg sind. Hast du einmal das Handgeld genommen, kann dir keiner mehr helfen. Dann musst du in den Krieg, oder irgendwo für einen fremden Herrn dienen und deinen Kopf hinhalten.«

Schnell schlossen sie hinter sich das große Hoftor.

Am nächsten Morgen richtete Johann Georg schon vor dem Kirchgang den Wagen her. Der neue Wagen war sein ganzer Stolz. Da hatte sich doch der Wagnermeister Strampfer schon etwas Besonderes einfallen lassen. Die Seitenwände waren aus Weiden geflochten. An sechs Stangen, die seitlich in Ösen gesteckt werden konnten, ließ sich eine Plane gegen den Regen darüber spannen. Freilich taugte dies nicht zum Mistfahren oder für andere grobe Arbeit. Aber er konnte es sich leisten einen zweiten Wagen, in dem man zusätzliche Bretter zum Sitzen einschieben konnte, anzuschaffen. Und heute sollte es zum ersten Mal weiter weggehen. Eine Tagesreise von Windsheim bis nach Rothenburg und zurück. Es wird bestimmt spät werden, dachte er. Ich muss noch mit der Wache am Rothenburger Tor reden, damit diese später noch aufmacht. Das wird ein Festausflug. Die ganze Familie freute sich schon darauf.

Nach der Kirche, die wieder einmal viel zu lange gedauert hatte, ging er in den Stall um seine zwei prächtigen Pferde herauszuführen. Warum war der Braune heute nur so unruhig und zog das rechte hintere Bein nach. Bestimmt hatte er sich wieder etwas eingetreten, was sehr oft vorkam bei den verschmutzten Wegen. Er zog das Bein hoch und sah, dass sich sein brauner Hengst einen Dorn eingetreten hatte. Beim Versuch diesen Dorn heraus zu ziehen zuckte das Pferd vor Schmerz zusammen und schlug nach hinten aus. Der scharfe Huf traf seine Hand, ein wahnsinniger Schmerz durchzuckte ihn. War seine Hand zerschmettert? Nun drückte das Pferd mit seinem Hinterteil auch seinen rechten Arm über die Deichsel. Er brüllte auf und das Pferd machte einen jähen Satz nach vorne.

»Au, auaaa! Hilfe! Hilf mir Maria, Anna Maria«, stöhnte er laut und krümmte und wand sich am Boden.

Seine Frau, die hinten am Wagen gerade die Decken für die Fahrt herrichtete, kam entsetzt angelaufen als sie die Schreie hörte.

»Was ist dir? Oh mein Gott. Schnell, lauf zum Bader«, rief sie nach hinten ihrem Sohn zu.

Eilig zog sie ihre Schürze aus, riss sie in Streifen und verband ihren Mann notdürftig. Die Hand hing nur noch wie eine blutige Masse am Arm. Hand und Arm waren mehrfach gebrochen. Der herbeigeeilte Bader flickte ihn so gut es ging zusammen.

Es war unerträglich, nach einigen großen Gläsern Obstler stöhnte er nur noch und merkte nicht mehr, wie sie ihn ins Haus trugen.

Anno 1725 - Vor dem Stadttor

Es war schon eine traurige Gesellschaft, die da zum Rothenburger Tor hinauszog. Vorne weg ein Hund, schmutzig und zottelig, schon lange nicht mehr gestreichelt. Zwei Buben zogen eine einfache Holzkarre. Gleich dahinter drei schwarz verhüllte Gestalten, der Größe nach könnten es eine Frau und zwei Kinder sein. Eine Handvoll Frauen, alle in ihre Kopftücher gehüllt, schlossen sich dahinter an. Sie geleiteten den in einer schwarzen, grob zusammengezimmerten Holzkiste liegenden und vor drei Tagen verstorbenen Schneidermeister Johann Georg Bäumer weit vor das Stadttor hinaus hinter den neuen Friedhof.

Hier mussten sie schon drei ihrer Kinder, alle tot geboren und ungetauft, verscharren. Zwei Weitere waren im Alter von ein und zwei Jahren und schon getauft, vorne im Familiengrab der Bäumers begraben worden.

Ob der Meister mit Absicht oder aus Versehen vom Rattengift getrunken hatte, wurde nie offenbar. Jedenfalls galt er als Selbstmörder und diese Menschen durften nicht mit den ehrbaren Toten auf dem Friedhof bestattet werden. Der Gehilfe des Totengräbers hatte schon eine Grube ausgehoben und schnell wurde der einfache Holzsarg hinabgelassen und polternd mit Erde zugefüllt. Keine tröstenden Worte, keine Lieder, nur das stille Gebet der Witwe mit ihren zwei Kindern, einem Bub und einem Mädchen. Schon musste die Trauergesellschaft wieder den Rückweg antreten. Der Rat der freien Reichsstadt Windsheim, und besonders der Pfarrherr, bestimmten dies so.

Zuhause angekommen setzte sich Frau Anna Maria mit ihren Kindern Lena und Albrecht an den großen Tisch in der Werkstatt, um zu besprechen, wie es weiter gehen sollte. Zum Totenmahl war keine Zeit und außerdem hatten sie auch fast nichts mehr zum Essen. Seit der Meister vor über einem Jahr beim Einspannen der Pferde den Unfall hatte und auch alle Hilfe im Spital erfolglos blieb, war Schmalhans ständiger Gast im Hause Bäumer.

Die Flickschneiderei, welche die Frau Meisterin nun gemeinsam mit ihren Kindern weiter betreiben musste, lag im Erdgeschoss des Bürgerhauses in der Rothenburger Beigasse, gleich neben dem Kornmarkt. Alle Arbeit, auf den wenigen kleinen Äckern hinter der Winterung, die ihnen gehörten, und im Garten vor der Stadtmauer rechts neben dem Rothenburger Tor, sehr günstig im Wallgraben am Gänsbrunnen gelegen, lagen nun schon seit Wochen in den Händen der Witwe, ihrer sechsjährigen Tochter und dem vierzehnjährigen Sohn.

Das Dienstpersonal und den Schneidergehilfen konnten sie sich schon im letzten Jahr nicht mehr leisten. Nur die Küchenmagd, Lisa Scheitacker, hatten sie behalten.

Laut dröhnte der Türklopfer durchs Haus.

»Wer kann das sein? Geh, Albrecht schau´ mal nach! Sag ich will jetzt keinen mehr sehen«, forderte Anna Maria ihren Sohn auf. Albrecht ging zum Öffnen und begrüßte den Schreiber des Stadtrats, einem dürren, ungepflegten Mann mit immer schwarzer Zunge und Lippen vom Anlecken der Schreibfeder.

»Grüß Gott, Herr Stadtschreiber.«

»Grüß dich Gott, ist deine Frau Mutter da? Ich komme in einer wichtigen Angelegenheit!«

»Entschuldigung, Herr Schreiber, ihr geht´s nicht so gut. Sie will heute niemand mehr sehen.«

»Das ist mir egal! Ich muss mit deiner Mutter sprechen! Und zwar sofort, der Rat hat es befohlen!«

»Dann kommt halt in Gottes Namen herein«, rief die Mutter aus dem Hintergrund, »was führt euch zu uns.«

»Der Herr Oberrichter von Keget schickt mich um euch sein Beileid zu übermitteln und mitzuteilen, dass euch die Zunft eine Frist von drei Jahren einräumt, das ist eine angemessene Zeit, meinte der Rat zum Abwickeln der Geschäfte. Wie ihr wisst, dürft ihr als Witwe den Laden und die Schneiderwerkstatt nicht weiterführen. Der Herr Oberrichter ist euch wohl gesonnen und wird euch bei der Suche nach einer Anstellung als Dienstmagd in einem der Bürgerhäuser behilflich sein.«

Der Schreiber schnaufte tief durch und fuhr fort:

»Solltet ihr dieses Angebot nicht annehmen, so bleiben euch noch diese drei Jahre, um entweder zu den Euren nach Lenkersheim zu gehen oder ihr findet einen neuen Mann. Auch da lässt euch der Herr Oberrichter ausrichten, könne er behilflich sein. Ihr seid ja tüchtig und gesund und könntet für manch ehrbaren Bürger auch noch eine ganz brauchbare Partie abgeben. Die beiden Kinder sind bestimmt kein Hindernis, in dem Alter kann man sie auch schon in Dienste geben, sollte der neue Mann sie nicht wollen.«

Frau Bäumer wusste nicht, wie ihr geschah, hatte sie doch zu dem Verlust ihres geliebten Mannes schon die Not im Haus; und jetzt drohte man ihr auch noch mit der Ausweisung aus der Stadt. Das war zu viel, ihr drehte sich alles und sie musste sich auf den Stuhl setzen.

Dem Stadtschreiber war diese ganze Angelegenheit offensichtlich unangenehm, er verabschiedete sich eilig nur mit einem leichten Kopfnicken.

Die beiden Kinder schmiegten sich an ihre Mutter und alle drei weinten sich mit knurrendem Magen in den Schlaf.

Zurück auf den elterlichen Hof? Nein! Den bewirtschaftete jetzt ihr Bruder und der hatte schon immer etwas gegen den »armen Schneider« gehabt, der ihrer doch so unwürdig gewesen sei. Eine reiche und hübsche Bauerstochter wie sie war doch nicht auf so einen Hungerleider angewiesen, sie hatte etwas viel Besseres verdient.

Ihre Eltern hatten auch schon mit einem großen Bauern aus dem Nachbardorf Ipsheim gesprochen. Das wäre eine gute Partie gewesen, der einzige Erbe. Aber er war halt schon ein bisschen alt, zu alt wie Anna Maria gemeint hatte. Sie hatte sich ihren zukünftigen Mann in ihren Träumen anders vorgestellt.

Auf der Kirchweih in Windsheim hatte sie ihren Traummann gesehen und sich sofort in den Unbekannten verliebt. Hinten am Schützenhaus sah sie ihn das erste Mal. Ein gut aussehender stattlicher Mann, vornehm gekleidet.

Antonia, eine Freundin von ihr, stellte sie einander vor. Er brachte kein Wort heraus, starrte sie nur an und stotterte seinen Namen.

»Johann Georg Bäumer aus Windsheim, ein Schneidermeister«, hatte Antonia wiederholt und beide verstehend angegrinst.

Anna Maria war sofort von ihm verzaubert gewesen. Da er schüchtern und kein großer Redner war, musste sie ihm fast jedes Wort aus der Nase ziehen.

Das kann ja heiter werden, dachte sie damals bei sich. Er hatte eine gut gehende eigene Werkstatt mit mehreren Gesellen, vom Vater, der vor einigen Jahren gestorben war, geerbt. Die Bäumers waren eine angesehene Handwerkerfamilie in Windsheim und hatten es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht.

Für beide war es Liebe auf den ersten Blick. Sie ließen keinen Tanz mehr aus. Georg brachte Anna Maria erst spät abends nach Hause. Heimlich hatten sie sich dann später immer vor dem Dorf, auf halben Weg nach Windsheim, getroffen. Ihn hatte sie gewollt, sonst keinen anderen.

Aber da waren die Eltern und die Verwandtschaft. Alle hatten sie vor einem Schneider, noch dazu einen aus Windsheim, gewarnt. Ihre Mutter hatte gewollt, dass der Vater sie enterbe, aber sie hatte dennoch eine kleine Mitgift erhalten und die Eltern waren trotzdem zu ihrer Hochzeit gekommen. Wenigstens da hatte sich ihr Vater durchsetzen können.

Die Lenkersheimer und die Windsheimer konnten sich seit Vorzeiten nicht leiden, warum, wusste allerdings fast keiner mehr so richtig. Wahrscheinlich mitgeerbt über mehrere Generationen. Die Windsheimer Bürgerwehr hatte die damalige freie Reichsstadt Lenkersheim im Städtekrieg 1381 wegen des Raubrittertums überfallen und die Burg zerstört. Nach der Niederschlagung eines Bauernaufstandes 1452, als den Lenkersheimern das Stadtrecht aberkannt wurde, hatten die Nachbarn aus Windsheim auch noch bei der Schleifung der Stadtbefestigungen mitgeholfen. Seitdem gingen sich die Bewohner der beiden Ortschaften lieber aus dem Weg, obwohl sie ja nur eine gute halbe Stunde zu Fuß auseinanderlagen.

Nein, zurück niemals! Diese Genugtuung gab sie der Verwandtschaft nicht. Dann lieber doch eine Stelle als Dienstmagd. Vielleicht nicht gerade in Windsheim. Weit weg, in Ansbach oder Würzburg vielleicht.

Anna Maria lag in dieser Nacht noch lange grübelnd wach im Bett. Was werden die Jahre ihr bringen? Wie soll´s weiter gehen?

Am nächsten Morgen, man schrieb den 28. August Anno 1725, hatten sie eigentlich alle gemeinsam zur Kirchweihe gehen wollen. Johann Georg hatte endlich wieder einmal einen großen Auftrag bekommen. Die Tücher an der Festtribüne und die Fahnen für die Wiedereinweihung der Seekapelle hatte er noch angefertigt.

Lena gehörte zu den Fahnenjungfern und hatte in ihrem weißen Kleidchen schon tagelang geprobt. Beide Kinder hatten sich schon so darauf gefreut. Und nun diese Trauer.

Schon in der Frühe kam der Schulmeister vorbei, sie solle doch mit ihren Kindern trotzdem auf das Fest kommen.

»Wir brauchen eure Magdalena, Frau Bäumer. Auch wenn es schmerzt, ich kann es ja verstehen. Lasst den Kindern doch ihre Freude. Eure Tochter singt so schön, es wäre schade, wenn sie nicht teilnehmen könnte.«

Der Lehrer war doch etwas verlegen, wusste nicht so recht, was er noch sagen sollte. Warum nicht, das Leben muss weiter gehen, seufzte Anna Maria innerlich.

»Also gut, der Kinder wegen, aber ich setze mich nicht mit vorne hin.«

»Gut, abgemacht. Bis später dann.«

Damit verschwand er schnell wieder.

Nachdem die Seekapelle in den letzten Jahren fast ganz zerfallen war, wurde sie nun wieder festlich eingeweiht. Nach längeren Bauarbeiten hatte man das Gotteshaus grundlegend renoviert. Besonders Oberrichter Georg Wilhelm von Keget, der gleichzeitig der Kirchenpfleger war, hatte es sich etwas kosten lassen und einen großen Teil der Summe für den Bau übernommen.

Orgel, Altar, Stühle und Fenster erstrahlten im neuen Glanz. Viele Stuckarbeiten hatte er nach der neuesten Mode anbringen lassen.

Nach dem Festgottesdienst und dem heiligen Abendmahl sangen die Schulkinder der deutschen Schule und des Gymnasiums abwechselnd einige Lieder zu Gottes Lob.

Die neue Kirchenfahne wurde feierlich von den Kindern hereingetragen und vom Pfarrer geweiht. Später saß man dann in gemütlicher Runde zusammen.

Aber die Bäumers waren da bereits nach Hause gegangen.

Anno 1726 - Von den Bürgerrechten

Andreas Christoph Bartel, ein großer, kräftiger Mann mit glatten schwarzen Haaren, schritt schnell von der Frankenhöhe herunter. Vor ihm lag die Freie Reichsstadt Windsheim im Abendlicht. Viele Türme ragten hinter der Stadtmauer auf. Sein Meister und Freund, Herrenschneider- und Zeugmachermeister in Nürnberg, hatte ihm den Rat gegeben, doch in Windsheim zu versuchen eine eigene Werkstatt zu eröffnen. In Nürnberg gab es davon schon viel zu viele. Die Zunftherren würden sicher keinen neuen Meister, noch dazu einen Fremden, mehr zulassen.

Christoph war 1695 in Quedlinburg, der im nördlichen Harz gelegenen Königspfalz und Freien Hansestadt, geboren. Die Stadt wurde besetzt und stand nun seit 1698 unter brandenburgisch-preußischer Verwaltung.

Seit er auf seiner Wanderzeit im Fränkischen angelangt war und bei Meister Brunner seine Gesellenjahre abgedient und die Fertigkeiten eines Meisters erlangt hatte, drängte es ihn nach einer eigenen Werkstatt. Er hatte einiges ansparen können, nicht viel, aber es würde für den Anfang reichen, dachte er. Zurück nach Hause zog es ihn nicht. Das Leben in einer freien Reichsstadt fand er angenehmer. Hier herrschten keine absoluten Fürsten wie in seiner Heimatstadt. Jeder konnte sich etwas aufbauen, wenn er sich anstrengte und die richtigen Verbindungen besaß. Er musste sich beeilen, bald würde es dunkel werden und dann werden die Stadttore wie in jeder befestigten Stadt geschlossen. Er eilte auf das nächste Tor hinter einem kleinen See zu, entrichtete seinen Obolus bei der Stadtwache und fragte auch gleich nach einer geeigneten Herberge für die Nacht. Dort hinter der Kapelle Marie am See, im Gasthaus Zum Birnbaum, soll man billig und gut unterkommen, wies ihm einer der Soldaten den Weg.

Am nächsten Morgen, nach einem reichlichen und preiswerten Frühstück machte er sich auf und ging zum Rat der Stadt. Der Gehilfe des Stadtschreibers hörte sich sein Begehren an und brummte, er solle am nächsten Tage wieder kommen, der Herr Schreiber sei im Moment beschäftigt.

Am nächsten Tag hieß es wieder das Gleiche, der Herr Stadtschreiber sei zu beschäftigt.

Christoph hatte viel Zeit und bummelte durch die belebte und geschäftige Stadt. Der Sohn des Stadtmaurermeisters Krauß, Johann Michael, den er zufällig traf, begleitete ihn und erklärte ihm voller Stolz einiges. Er schwärmte davon, dass er später auch einmal so große und schöne Häuser bauen möchte wie sein Vater.

Windsheim, kein Vergleich zu Nürnberg, auch Quedlinburg seine Heimatstadt, sowie die Städte Leipzig, Weimar und Bayreuth, die er auf seiner Wanderschaft kennengelernt hatte, waren größer und interessanter. Doch es war ein sauberer und überschaubarer Ort. In einer guten Stunde konnte man ihn bequem zu Fuß umrunden. Überall vor den Toren der aufstrebenden Stadt legten Arbeiter die Sümpfe trocken, bereiteten neue Äcker vor oder bauten neue Häuser.

So hatten die Bürger sich vor fast neun Jahren ein neues schlossartiges Rathaus bauen lassen. Viel zu groß für so eine kleine Stadt. Alles im neuzeitlichen Markgräflich-Ansbacher Baustil, nach italienischer Mode. Mit einem riesigen »Kaisersaal« von 27 Ellen in der Länge und 11 1/2 Ellen in der Breite und Höhe. Vielleicht kam der Kaiser ja wieder einmal vorbei. Man sparte auch nicht mit reichem Stuck und vielen Verzierungen. Nach den Plänen des bekannten Baumeisters Gabriel de Gabrieli wurde durch den Ansbacher Maurermeister Michael Aspacher und dem Graubündner Polier Giovanni Rigaglia der Bau errichtet.

Auch die Seekapelle, an der er gestern Abend vorbei kam, war wieder wunderschön instand gesetzt worden. Vor ungefähr 300 Jahren hatte man die gotische Kapelle an einem damals noch vorhandenen See errichtet. Zwei Frauen erzählten ihm im Vorbeigehen, dass vor einem guten Jahr erst die Wiedereinweihung gefeiert worden war. Den Turm hatte man sehr aufwendig wieder mit bunten Ziegeln eingedeckt.

Der Stadtmaurermeister hatte lange mit den Ziegelbrennern an den Farben herumexperimentiert. Wie bei einem Tonkrug wurden die Farben mit Engoben, das sind dünnflüssige Tonschlicker, aufgebrannt.

Auf seine Frage, woher der Reichtum der Stadt käme, erklärten sie ihm, dass es um die Stadt Windsheim viele Gips- und Alabastergruben gäbe. Im weiten Land ringsum wurde das begehrte teuere Baumaterial verkauft. Besonders der neue Baustil des Barock, mit vielem Stuck und künstlichem Marmor ließ die Kassen klingeln. Die Kaufmannsfamilie von Keget handelte hauptsächlich damit und wurde dadurch reich.

In Ansbach ließ der Markgraf viele neue Gebäude und ein prunkvolles Schloss erbauen. Auch in Würzburg und Bamberg gaben die Fürstbischöfe Unmengen an Geld für neue Residenzen und Paläste aus. Der Würzburger Baumeister Balthasar Neumann arbeitete gerne mit viel Stuck und Marmor aus Windsheimer Gipsgruben.

Der große Krieg war nun schon seit über 80 Jahren zu Ende gegangen und hatte viel Leid und Armut für alle gebracht. Jetzt lebten zwar wieder über 2.000 Einwohner in 510 Haushalten, aber immer noch stand etwa ein Drittel der Wohnhäuser in Windsheim leer.Nun war wieder Überfluss vorhanden, man konnte wieder im Prunk schwelgen. Zumindest die reichen Bürger und Fürsten. Das eine oder andere Gebäude wurde abgerissen, um mehr Platz in der Stadt zu bekommen. Die armen Bauern und Handwerker jedoch mühten sich wie jeher um ihr tägliches Brot.

Nach einigen Tagen, die Geldkatze von Christoph wurde immer schmaler, sollte er endlich zum Herrn Bürgermeister vorgelassen werden.

Wieder im Rathaus angekommen, musste er allerdings vom hochmütigen diensteifrigen Stadtschreibergehilfen vernehmen, dass nur wohlhabende Meister das Bürger- und Zunftrecht in Windsheim erlangen könnten. 60 Gulden Bürgeraufnahmesteuer waren zu bezahlen und ein Vermögen von mindestens 6oo Gulden musste nachgewiesen werden. Soviel hatte er sich bei aller Bescheidenheit in den letzten acht Jahren in Nürnberg nicht zusammensparen können.

»Wenn ihr das nicht zahlen könnt, so müsst ihr es, wo anders versuchen. Hungerleider haben wir genug in Windsheim«, erklärte ihm der arrogante Schreibergehilfe.

Mutlos verließ er das Rathaus und trank sich im nahen Brauereiwirtshaus einen gewaltigen Rausch mit dem guten, süffigen, dunklen fränkischen Bier an. Der gutmütige Wirt hatte Mitleid mit ihm und ließ ihn hinterm Stall ausschlafen. Als Fremder am Tag betrunken, da hätten ihn die Stadtschergen sicher gleich ins Gefängnis geworfen.

Am nächsten Morgen holte er seine Sachen aus dem Gasthaus Birnbaum, frühstückte noch ausgiebig, und machte sich wieder auf die Wanderschaft.

Mit schnellen Schritten aus der Stadt hinaus. Hinter dem Seetor bog er um den Wallgraben nach Süden ab, Richtung Rothenburg oder Dinkelsbühl, er wusste nicht so recht, wo er hin sollte. Durch Gärten und Felder kam er nach kurzer Zeit an einen Weiher. Eine Bank neben einem Steinkreuz lud hier zum Verweilen ein. Er setzte sich. Von hier hatte er einen herrlichen Blick über den See zur Stadt Windsheim.

»Hier wäre ich gerne geblieben«, murmelte er vor sich hin. Das neu errichtete Rathaus und auch der Turm der Seekapelle glänzten im Sonnenlicht. Die waren schon reich, diese Städter. Aber was soll´s? Woanders kann es auch schön sein.

Er zog sein Pfeiferl aus der Tasche hervor und spielte sich ein lustiges Lied. Nach einer kleinen Weile stand er auf und zog fröhlich seines Weges. Nach Rothenburg hatte er sich entschieden. Vielleicht wartete dort das Glück auf ihn.

Nicht weit vor ihm zog ein klappriger Gaul, an den Zügeln gehalten von einer zerlumpten Gestalt, einen eisernen Pflug hinter sich her. Die Furchen wanden sich alle krumm von einem Ende des Ackers zum Anderen. Offensichtlich beherrschte die Person das Pflügen nicht so richtig. Sein Weg führte ihn an dem Feld vorbei. Er hörte ein jämmerliches Schluchzen, nur unterbrochen von Befehlen an das Pferd. Dieses interessierte sich dafür nicht, es verfolgte stur seinen eigenen Weg.

»Was ist mit euch, kann ich euch helfen«, rief er hinüber.

»Nichts, lasst mich in Ruhe, Herr«, antwortete eine kindliche Stimme heulend.

Besorgt sprang er über den Ackerrain hinüber und sah ein Mädchen, das sich redlich mit dem Pferd und dem schweren Pflug abmühte.

»Warum pflügst du hier so alleine?«, wollte Christoph wissen.

»Jemand muss es ja machen«, brummte das Kind ärgerlich vor sich hin.

»Komm lass dir helfen, ich habe Zeit.«

Erschrocken über dieses Angebot eines Fremden, Mutter hatte immer gesagt, sie solle vorsichtig sein mit Leuten, die sie nicht kannte, wehrte sie ab.

Sie wendete den Pflug wieder und dabei fiel das schwere Arbeitsgerät um. Nun war es ganz vorbei mit ihrer Kraft. Sie ließ sich auf die letzte Ackerscholle fallen und heulte los. Der Fremde legte behutsam seinen Arm um sie. Das Mädchen zuckte zusammen. Sofort ließ er den Arm fallen und rutschte von ihr weg.

Er sah ja ganz freundlich aus mit seinen schwarzgelockten Haaren und dem verschmitzten Lächeln, aber er war halt ein Fremder, und Fremden soll man nicht trauen.

»Ich kenne euch nicht! Wer seid ihr?«, stotterte Lena zaghaft.

Mit einer eleganten Verbeugung zog er seinen Hut. Gerade so als hätte er eine große Dame vor sich, stellte er sich vor:

»Ich bin der Andreas Christoph Bartel und komme aus Nürnberg.«

»Was wollt ihr dann hier«, warf das Mädchen dazwischen.

»Ich war auf der Suche nach einer eigenen Werkstatt in Windsheim.«

Das Mädchen lachte kurz auf, dabei schaute sie ihn spöttisch an.

»Und warum wandert ihr dann hier vorbei?«

»Ging leider nicht. Euer Stadtrat verlangt viel Geld dafür. Mehr als ich besitze. – Aber sag, wer bist denn du?«

»Ich, ich bin die Kunigunde Magdalena Bäumer. Aber alle sagen nur Lena zu mir. Ich soll diesen ganzen Acker bis heute Abend pflügen, aber ich habe keine Kraft mehr, und hungrig bin ich auch«, heulte da Lena weiter.

»Hier!«

Der Fremde hielt ihr ein Stück Brot hin. Gierig nahm sie es, biss hinein, und stockte.

»Ich soll nichts von Fremden annehmen!«

»Nun iss einfach erst einmal, dann werden wir weiter sehen.«

Christoph stand auf, nahm die Zügel in die Hand und fing an zu pflügen. Ganz schön schwer, für ihn ungewohnt. Seine Eltern hatten einen kleinen Hof bewirtschaftet, da mussten sie auch als Kinder feste mit anpacken. Doch sein älterer Bruder hatte alles geerbt. Er selbst bekam genug Geld um eine fünfjährige Lehrzeit bei einem Schneidermeister zu beginnen. Wann war er zuletzt zu Hause gewesen? Leben die Eltern überhaupt noch? Über vierzehn Jahre war dies nun schon her. Ich sollte ihnen einmal schreiben, es gab ja jetzt in fast alle Städte eine Post oder einen Kurier, auch für private Briefe.

»Hü«, schrie er nach der nächsten Wendung und schon flog er im hohen Bogen in den Dreck, und der Gaul schleifte ihn über den ganzen Acker mit. Christoph pflügte mit der Nase im Dreck. Er hing mit seinem Jackenärmel am Pflug und konnte sich nicht lösen.

»Brrrr, ...Brrrrr«, vor lauter Lachen konnte Lena fast nicht schreien. Das Pferd blieb abrupt stehen und er konnte sich vom Pflug lösen. Er stand vorsichtig aber unverletzt auf, und schaute an sich hinunter. Ja wie sah er denn aus? Alles voll Dreck und Schlamm.

Zuerst kicherte Lena verlegen und dann prustete sie schallend los, und er, er lachte mit. Am nahen See konnte er sich halbwegs reinigen. Nachdem Lena fertig gegessen hatte, pflügten sie bis zum Abend gemeinsam weiter.

Sie hatten viel Spaß miteinander. Christoph erzählte lustige Geschichten. Dazwischen trällerten sie gemeinsam einige fröhliche Lieder.

Das Läuten von der Stadtkirche rief bereits zum Abendgebet, höchste Zeit um nach Hause zu gehen. Lena zögerte, als sich Christoph am Wegekreuz von ihr verabschieden wollte. Sollte sie ihn fragen? Ach ja.

»Komm mit mir mit, Mutter wird sich bestimmt freuen, und ein Bett haben wir auch noch für die Nacht.«

Zögernd nahm Christoph an. Um nach Rothenburg zu kommen, war es jetzt sowieso schon zu spät.

So richtig schön recht schaffend müde zogen beide langsam in Richtung Stadt. Mit kräftiger Hand führte er das Pferd am Zaum. Lena achtete nicht auf den Weg und stieß sich öfter die Zehen an. Die Schuhe, die ihr Vater angefertigt hatte, waren schon längst zu klein, und so trippelte sie barfuß schnell hinter ihm her.

Am Tor entrichtete er nochmals den Stadtzoll an die Stadtwache.

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