Wildgänse - Thomas Spyra - E-Book

Wildgänse E-Book

Thomas Spyra

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Beschreibung

Der Bad Windsheimer Autor Thomas Spyra stellt seinen neuen Roman vor. Nach seinem erfolgreichen Erstling: "Des Meisters Bartel verlorener Ring" ist dies seine zweite Geschichte, die auch in Windsheim spielt. Auf fast 400 Seiten wird eine abenteuerliche Reise durch ein Europa im 18. Jahrhundert geschildert. Die Handlung erstreckt sich von 1734 bis 1764, dem Zeitalter der Frühaufklärung. Der Roman beschreibt das Leben der einfachen Handwerker im Zusammenspiel mit geschichtlichen Ereignissen. Besonders die Gedanken der Aufklärung "Freiheit für den Einzelnen" sind wichtige Aussagen. Die Ereignisse fordern zum Vorwärtsdenken auf, jede Entscheidung stellt die Weichen für einen neuen Weg. Der Roman spielt im Zeitalter des Rokoko und der Frühaufklärung. Politische Ereignisse und gesellschaftliche Begebenheiten werden möglichst historisch genau wiedergegeben. Auf der einen Seite das Aufblühen des Absolutismus, auf der anderen der Drang zur Freiheit. Umbruch und Aufbruch in die Neuzeit. Die Kleinstaaterei weicht immer mehr den großen Staatengründungen. Machtkämpfe an allen Ecken: Die Könige von Polen und Preußen, der Kaiser und der Zar sterben, die Erben tragen ihre Kämpfe um Ansprüche auf dem Rücken der kleinen Leute aus. Die Hauptorte der Handlung Windsheim, Ansbach, Leipzig, Quedlinburg, Lassan (bei Usedom), Siracusa und Palazzolo Acreide (Sizilien) hat der Autor persönlich bereist und erkundet. •Hoch über dem Tal thront das Castello der Cardinali. Einmal dort zu arbeiten ist der Traum des kleinen Hirtenjungen Tommaso. Ein Traum, der in Erfüllung gehen wird und den Sizilianer in die weite Welt hinausführt. •Zur gleichen Zeit erlebt das Mädchen Freia am Ostseestrand einen Albtraum – mit einem bitteren Erwachen. Alleine sucht sie ihre Zukunft. •Im ruhigen und idyllischen Frankenland lebt der Schneidermeister Andreas Christoph Bartel. Der Schneider hat es zu Reichtum und Ansehen gebracht, nichtsdestotrotz ist er ein Querdenker. Mit seinem aufklärerischen Gedanken erregt er immer wieder den Missmut der Obrigkeit. Als er eines Tages der Zunft verwiesen wird, beschließen er und seine Frau Anna Maria, ihren Wohnort Windsheim zu verlassen und in die Neue Welt auszuwandern. Es ist der Beginn einer Reise, auf der die beiden mehr als nur ein Abenteuer zu bestehen haben. •Alle sind Träumer von einem besseren Leben, von Wohlstand und Freiheit für jeden Einzelnen. Gemeinsam blickt man in die Zukunft. Die Protagonisten des Romans treten anfangs in einzelnen Geschichten auf und vereinen sich später in einer gemeinsamen Lebensreise.

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Seitenzahl: 414

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Thomas Spyra

Wildgänse

Eine abenteuerliche Reise durch ein Europa im 18. Jahrhundert.

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

1 Aufbruch 1736

2 Tommaso 1730

3 Freia 1733

4 Fattoria Ladro 1731

5 Lassan 1734

6 Leipzig 1736

7 Lars 1736

8 Musikanten 1736

9 Franziskus 730 - 1736

10 Siracusa 1735 - 1736

11 Kerbholz 1736

12 Gloria 1736

13 Entscheidung 1736 - 1737

14 Lena 1736

15 Quedlinburg 1737 – 1740

16 Ansbach 1741

17 Anna Maria 1740 - 1741

18 Bastardo 1741

19 Spreewald 1743

20 Magdalena Knörr 1741

21 Coburg 1743 - 1744

22 Windsheim 1744 - 1750

22 Familie 1762 - 1764

23 Epilog

24 Anhang

25 Die wichtigsten Personen

Impressum neobooks

Widmung

Für Christl

Ohne die hilfreiche Unterstützung und Aufmunterung meiner Frau wäre das Buch nie geschrieben worden.

Waffen töten Menschen viele Male,

nicht durch ihre Bosheit,

sondern durch die Bosheit derer,

die sie bösartig gebrauchen.

Giovanni Boccaccio (1313 – 1375)

Vor Gott sind alle Menschen gleich,

ob einer arm ist oder reich.

Über Allen steht das Himmelszelt,

doch wie gerecht ist unsere Welt?

Christl Spyra

1 Aufbruch 1736

Blutend an den Händen und aus der Nase, mit brummendem Schädel lag Andreas Christoph Bartel im Gebüsch. Mucksmäuschenstill lag er da und wartete ängstlich darauf, wie es weiter gehen würde, hatte er doch gemeint, sein letztes Stündlein sei angebrochen. Immer noch wütete die Bande und er rührte sich nicht, aus Angst die Straßenräuber würden ihn doch noch entdecken.

Langsam kreisten seine Gedanken um die Ereignisse der letzten Tage.

Alles war schief gegangen, seit der Schneidermeister mit seiner Frau in Windsheim, einer kleinen fränkischen Stadt, eine gute Tagesreise westlich von Nürnberg gelegen, aufgebrochen war.

Aus dem einst großen, kräftigen und immer lustigen Burschen, den Anna Maria geheiratet hatte, war im Laufe der Jahre ein etwas beleibter, schon leicht grauhaariger Mann geworden. Aschfahl war seine Haut vom tagelangen Sitzen in der dunklen Werkstatt. Nur sonntags bei schönem Wetter kam er an die frische Luft und in die Sonne, wenn er mit seinen wenigen Freunden auf dem Kornmarkt am Brunnen beim Frühschoppen saß.

Er gehörte zu jenen Menschen, die ein ausgesprochenes Selbstbewusstsein an den Tag legten und die meinten, sie müssten die ganze Welt verbessern. Immer und überall setzte er sich für die kleinen Leute ein und stellte sich damit nicht nur einmal gegen die Obrigkeit. Dabei stand er sich oft selbst im Weg, stieß wegen mangelnder Bildung an seine Grenzen.

„Ein Schneidermeister sollte sich um seine Sachen kümmern und das Reden und Philosophieren den Studierten überlassen.“ Nicht nur einmal bekam er dies gesagt. Aber er schlug alle wohlgemeinten Ratschläge in den Wind.

Zweimal wurde ihm in Windsheim eine besondere Ehre zuteil. Man berief ihn zum Siebener; dies sind Feldgeschworene, die für die Ordnung der Grenzsteine zuständig sind. Etwas später wählte man ihn zum Ratsherrn in den Äußeren Rat.

Leider verhinderte sein Unvermögen, sich gewissen gesellschaftlichen Regeln zu unterwerfen, eine Wiederwahl.

Die größte Stütze in dieser nicht immer leichten Zeit war seine von ihm über alles geliebte Frau Anna Maria. Sie war über zwölf Jahre älter als er, aber das sah man ihr nicht an. Mit ihren fast 53 Jahren war sie immer noch ein Energiebündel und eine schöne Frau. Sie strahlte zwar die Reife einer älteren Frau aus, hatte sich jedoch die Geschmeidigkeit der Jugend erhalten. Freilich war die Zeit an ihr auch nicht spurlos vorübergegangen. Aber die Lachfalten unter den hellgrün leuchtenden Augen und das rotblonde, schon leicht grau werdende Haar, das unter der Haube hervorspitzte, hatten sie nur noch hübscher werden lassen. Manch einer fragte sich, was sie an dem jüngeren und blassen Schneidermeister fand.

„Sei du selbst! Lass dich nicht beugen und unterkriegen. Jeder Mensch ist ein Individuum!“ Mit diesen Thesen der Aufklärung ermunterte ihn seine Frau immer wieder, so weiter zu machen, wie er begonnen hatte.

Er grübelte viel über sich und die Welt nach. Viel Zeit für den Aufbau einer eigenen Werkstatt, für das Erlangen von Ansehen und Reichtum lag hinter ihm. Er hatte es mithilfe seiner Frau zu etwas gebracht. Aber dann vor knapp einem Jahr wurde er aus der Zunft ausgeschlossen und nun durfte er keine eigene Werkstatt mehr betreiben. Er war mit seinen aufrührerischen Reden bei den Stadtoberen unerwünscht. Wer Gleichheit und Brüderlichkeit für alle Menschen forderte, war ein Querulant und so einen wollte man nicht innerhalb der Stadtmauern haben.

So hatte er seinen beruflichen und gesellschaftlichen Auf- und Abstieg in der Freien Reichsstadt Windsheim erlebt. Zu guter Letzt blieben ihm nur noch Flickschneiderei und Gelegenheitsarbeiten, sodass er für sich und seine Frau keine Zukunft mehr in der Stadt gesehen hatte.

Am ersten Montag im März 1736 hatten sie sich gemeinsam in aller Herrgottsfrühe auf den Weg gemacht. Frierend saß er auf dem Kutschbock, zog die Decke fester um sich. Die ersten Morgennebel lichteten sich bereits im Aischtal. Rotglühend schimmerte die aufgehende Sonne durch die Bäume des dichten Waldes. Der Morgensonne entgegen hinauf in Richtung Frankenhöhe, einer Hügellandschaft zwischen dem Aisch- und Zenntal im Rangau, ging die Reise. Dichte Eichen- und Buchenwälder bestimmten die Landschaft, nur unterbrochen von kleinen Dörfern und Weilern, hauptsächlich Besitzungen, die sich die verschiedenen Familien der Reichsfreiherren von Seckendorff mit den Rittern des Deutschherrnordens teilten. Zwielichtiges Gesindel, umherziehende Soldaten und Räuber sollten in den dunklen Wäldern hausen. Nur gemeinsam trauten sich die Bauern, ihre Schweine und Kühe auf die wenigen Hutungen zu treiben.

“Hü, ho, los vorwärts, hü”, schrie Christoph und trieb die Pferde mit dem schwer beladenen Reisewagen den steilen, steinigen Weg hinauf vorbei an der Burg Hoheneck. Er hatte zwar die Zusage des Burgherrn auf einen unversehrten Durchzug durch die dichten Wälder des Hohenecker Schussbachforstes, aber trotzdem war er froh, als sie das etwas lichtere und sichere Zenntal erreichten.

Bis zum Abend wollten sie bei einem Freund, dem berühmten Kupferstecher Johann Adam Delsenbach in Nürnberg sein, der ihnen durch seine guten Verbindungen zu den Händlern eine Mitreisegelegenheit in einem Nürnberger Handelszug verschaffen wollte. Immer noch war es gefährlich, alleine oder in kleinen Gruppen zu reisen.

Sie näherten sich der Freien Reichsstadt Nürnberg, eine der größten und reichsten Städte im ganzen Land. Vor vielen Jahren hatte Christoph hier seine Lehr- und Wanderjahre beendet und die Fertigkeiten eines Meisters erlangt.

Sie fuhren aus dem Wald heraus und erschraken, als plötzlich vor ihnen Todesvögel aufflogen. Hunderte schwarzer Raben kreisten, verdunkelten den Himmel und ein markerschütterndes Krächzen und Kreischen lag in der Luft. Christoph brachte den Wagen abrupt zum Stehen und sprang vom Bock. Auf dem Acker hier vor der Stadt sahen sie viele aufgeworfene Erdhügel. Der Gestank des Todes brannte beißend in der Nase. Vermummte Gestalten mit Kapuzen und Tüchern vorm Gesicht zerrten von einem Karren Stofffetzen und Leichenreste auf einen brennenden Holzstoß. Andere waren dabei, Gruben auszuheben und Leichen hineinzuwerfen. Sie bestreuten die Toten mit Kalk und schaufelten die Gräber wieder zu.

„Heda, macht, dass ihr weiterkommt“, rief ihnen einer der Wachen zu, „hier in den Dörfern vor der Stadt Nürnberg erntet der Schwarze Tod.“

Entsetzt blickten die Bartels auf das Geschehen und rasch kletterte Christoph wieder auf seinen Kutschbock. Er hatte gedacht, diese Seuche sei endlich ausgerottet. Sie fuhren weiter in Richtung Spittlertor.

Als sie am späten Nachmittag dort ankamen, fanden sie das Tor der Stadt verschlossen. Auf Anordnung des Stadtrates durfte niemand hinein oder heraus. Alle Reisenden mussten sich erst in ein Gehöft vor den Mauern der Stadt in Quarantäne begeben und dort zwei Wochen warten, bevor sie die Stadt betreten durften.

Soviel Zeit hatten die Bartels nicht, sie wollten ja zügig weiter. Christoph gelang es, einen der Stadtwachen zu überreden, seinen Freund ans Tor holen zu lassen. Es dauerte sehr lange, bis Delsenbach auf der Stadtmauer erschien.

„Grüß Gott Christoph, Ihr seid spät dran. Fang auf, hier habe ich ein Empfehlungsschreiben des Patriziers Abraham Levi Rosenzweig“, damit warf er ihnen den Brief von der Stadtmauer hinunter, „versucht es in den kleineren Städten und Dörfern nördlich der Stadt. Viel Glück und eine gute und gesunde Reise. Schreibt einmal, wenn Ihr angekommen seid.“ Delsenbach winkte ihnen noch einmal zum Abschied zu, bevor ihn einer der Wachen wegdrängte.

Heute, drei Tage nach ihrer Abreise aus Windsheim, waren sie mit einigen Kaufleuten, denen sie sich angeschlossen hatten, bis kurz vor die fürstbischöfliche Residenzstadt Bamberg gekommen, als das Unglück über sie hereinbrach. Sie fuhren in einem mit herrlich weißblühenden Schlehengebüsch gesäumten Hohlweg einen steilen Berg hinunter. Lauer Frühlingsduft lag in der Luft.

Christoph hatte Mühe, die Pferde zu zügeln. Obwohl er den Bremshebel fest angezogen hatte, schob der vollgepackte Wagen die Pferde abwärts. Plötzlich, mit lautem, markerschütterndem Geschrei stürzten von den seitlichen Hängen und den Bäumen maskierte Wegelagerer über den Kaufmannszug her. Alles ging sehr schnell. Des Meisters Pferde scheuten und brachen aus. Sie rasten mit der immer noch voll gebremsten Kutsche den Bergweg hinunter und rammten einen umgekippten Kaufmannswagen. Unten an der Kurve brach das Fuhrwerk nach links aus und flog über eine Böschung seitlich ins Gebüsch. Christoph wurde vom Bock geschleudert und landete durch das kratzende Dornengestrüpp in blühendem Bärlauch. Er konnte gerade noch erkennen, wie der Wagen umkippte und das Gespann mit lautem Krachen nach unten verschwand.

Völlig benommen lag er da, alles tat ihm weh. Der starke Knoblauchduft des Bärlauchs trieb ihn in die Höhe, er rappelte sich auf und sah entsetzt, wie die Räuberbande wütete. Wahllos stachen sie auf die Reisenden ein, rissen den Toten die Kleider von den Leibern und sackten alles ein, was sie gebrauchen konnten. Er hörte das laute und erbärmliche Schreien, Heulen und Betteln seiner Reisegefährten. Ängstlich kroch er tiefer zurück ins Gebüsch. Endlich zog die Bande mit den noch heil gebliebenen und nun vollgepackten Wagen der Reisegruppe ab. Noch eine kleine Weile, dann war Ruhe. Eine unheimliche Stille – Totenstille.

Vorsichtig stand er auf und rannte erst leise, dann immer lauter rufend zur Schlucht: „Anna Maria!“ Keine Antwort. „Frau? Anna Maria!“ Stille - ihm war, als hielte die Natur den Atem an, die Angst kroch in ihm hoch. Lebte Anna Maria noch? Tränen brannten in seinen Augen, wo war sie?

Dann - nahe am Abgrund fand er seine Frau, in sich zusammengekauert und schluchzend. Sie hatte gerade noch aus dem Wagen springen können.

Gott sei Dank, auch sie war nur leicht verletzt und blutete aus einer kleinen Platzwunde am Kopf. Verzweifelt und glücklich zugleich klammerten sich beide aneinander. Sie hatten überlebt!

Lautes Pferdewiehern drang von unten herauf. Christoph kroch an den Rand der Schlucht und entdeckte etwa acht Ellen tiefer seine zerschellte Kutsche und zuckende Pferdeleiber in einem knietiefen Bach.

„Bleib hier und rühr dich nicht vom Fleck, man weiß ja nie, ob die nicht noch einmal zurückkommen. Ich klettere hinunter und sehe nach, ob noch etwas zu retten ist.“

Vorsichtig rutschte Christoph den steilen Hang hinab, sich immer wieder am Gebüsch und an kleinen Bäumen festhaltend. Unten angekommen zerschnitt er die Riemen der eingespannten Pferde und löste sie vom Wagen. Er versuchte die Gäule einen nach dem anderen hochzuziehen. Aber es gelang ihm nicht. Laut wieherten die Pferde vor Schmerzen und knickten immer wieder ein, wenn er versuchte ihnen aufzuhelfen. Offensichtlich waren beide schwer verletzt, hatten sich Fesseln oder Beine gebrochen. Schweren Herzens erlöste er sie von ihrem Leiden und schnitt ihnen die Halsschlagadern durch. Das zweite Pferd zuckte noch einmal auf und ein großer Schwall Blut spritzte Christoph von oben bis unten voll.

Die Kutsche war nur noch ein Trümmerhaufen. Zusammen mit Anna Maria, die ihm nachgerutscht war, blieb ihm nichts anderes übrig, als die schweren Reisetruhen und ihre sonstige Habe aus dem Bach ans trockene Ufer zu ziehen. Aus dem nun offen stehenden Geheimversteck am Wagenboden nahm Christoph seine Gold- und Schmuckstücke an sich und versteckte sie in seinem weiten Mantel.

Erschöpft setzten sie sich auf eine der Kisten. Sie hatten Glück im Unglück gehabt. Dadurch, dass ihr Wagen das Steilufer hinabgestürzt war, hatten die Räuber sich nicht die Mühe gemacht, sie auszurauben.

Betend sanken beide in die Knie: „Herr, wir danken dir, dass du unser Leben gerettet hast. Bitte hilf uns jetzt weiter.“ Eng kuschelten sich die Eheleute aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Jetzt im März war das Wasser doch recht kalt.

„Es wird bald Nacht, ich laufe zurück zum letzten Dorf, durch das wir vor etwa zwei Stunden gekommen sind, und hole Hilfe.“

„Bleib hier, bitte lass mich nicht alleine, ich habe Angst, die Räuber könnten zurückkommen. Warten wir lieber, bis jemand vorbeikommt“, flehte ihn seine Frau an.

„Also gut! Sehen wir erst einmal nach, was mit den anderen ist.“

Beide kletterten den Hang hinauf und schlichen vorsichtig zum Weg zurück. Nichts rührte sich mehr. Auf dem schmalen Hohlweg verstreut lagen die Ermordeten, grausam verstümmelt, halbnackt, ihrer Kleidung beraubt. Erbarmungslos hatten die Halunken auf die wehrlosen Kaufleute und ihre Gehilfen eingestochen, Hälse aufgeschlitzt und Köpfe eingeschlagen.

„Christoph, komm, hier lebt noch einer!“, rief Anna Maria plötzlich.

Nach weiterem Suchen fanden Christoph und Anna Maria nochmal einen schwer verletzten Kaufmann und eine ältere Dienstmagd. Diese hatte ebenso viel Glück gehabt wie sie und lediglich einige Abschürfungen davongetragen. Aber nervlich war sie völlig am Ende, zitterte und schluchzte in einem fort. Nur mühsam brachten sie aus ihr heraus, dass sie neben ihrer Herrschaft auch ihren Mann und ihren Sohn, beide Kutscher, bei dem Überfall verloren hatte.

Mit Stoffstreifen aus zerrissenen Kleidern, die verstreut herumlagen, verbanden sie notdürftig die Wunden der beiden Händler. Sie beratschlagten gerade, wie es nun weiter gehen solle, als sie Pferdegetrappel näherkommen hörten. Eilig zogen sie die Verletzten mit sich ins Gebüsch.

Eine schwer bewaffnete Eskorte geleitete mehrere Wagen den Weg herunter und näherte sich ihrem Versteck. Als die Soldaten die vielen Leichen sahen, stoppten sie und sicherten ihren Wagentreck sofort nach allen Seiten. Ein vornehm gekleideter Herr rief aus einer prachtvollen Karosse: „Herr Hauptmann, was ist da los? Lass Er nachschauen!“

Christoph erhob sich und trat vorsichtig aus dem Gebüsch. Sofort hielt ihn ein Bewaffneter mit einer Lanze in Schach.

„Helft uns Herr! Wir sind Räubern in die Hände gefallen“, flehte er zu dem hohen Herrn hinüber.

„Was geht uns das an! Wir sind in Eile!“, damit drängte ein Offizier hoch zu Ross Christoph zur Seite. „Macht Platz und belästigt seine Exzellenz Bischof Johann Theodor von Bayern nicht länger.“

Auf einen Wink des Hauptmannes wollten die Soldaten Bartel zur Seite drängen, aber der fiel auf die Knie und bettelte laut schreiend: „Exzellenz, bitte …! Es wird bald dunkel. Wenn Ihr uns schon nicht mitnehmt, dann wenigstens die beiden Schwerverletzten, die brauchen einen Medikus, sonst sterben sie.“ Christoph zeigte auf die beiden Kaufleute, welche die Frauen aus dem Gebüsch herausschleiften.

„Hört Ihr schlecht! Macht Platz! Wir sind in einer sehr wichtigen Mission zum Fürstbischof unterwegs und werden noch heute Abend erwartet“, schrie ihn der Hauptmann an.

„Bitte! Eure Exzellenz, denkt doch an die Worte Jesu in dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Wir sind auch unter die Räuber gefallen und solltet Ihr nun nicht genauso handeln, wie es in der Bibel steht?“ Bartel war zwischen den Soldaten hindurchgeschlüpft und hatte sich vor der Kutsche abermals auf die Knie geworfen.

„Was fällt Euch ein, mich, einen Bischof der Kurie, an die Heilige Schrift zu erinnern. Überhaupt, was wisst Ihr davon, Ihr als einfacher Handwerker, könnt Ihr überhaupt lesen? Am Ende seid Ihr ein Ketzer bei Eurem Betragen“, echauffierte sich der Angesprochene.

Offensichtlich hatte aber der Hinweis auf die Bibel den Bischof nach kurzem Zögern umstimmen können.

„Also gut, wir nehmen Euch mit. Ladet die Verletzten auf!“, gab er den Befehl. „Zwei meiner Männer werden Euch helfen und der Marketenderwagen soll Euch aufnehmen. Aber beeilt Euch! Wir warten nicht!“ Der Reisezug setzte sich wieder in Bewegung.

Die verletzten Kaufleute wurden auf den letzten Wagen gebettet und gegen ein kleines Trinkgeld waren die beiden Soldaten sogar bereit, die Truhen der Bartels zu holen und aufzuladen.

Mittlerweile dämmerte es bereits und in rasanter Fahrt hetzten sie den Vorausfahrenden hinterher. Kurz vor dem Stadttor holten sie den Tross ein, gerade noch rechtzeitig, bevor die Tore geschlossen wurden.

Der Wagen hielt neben einem stattlichen Anwesen, dem Gasthaus Zum Roten Ochsen.

„Hier könnt Ihr bleiben“, meinte einer der Soldaten und half bereits den beiden Frauen vom Wagen. Auch der Wirt war mit ein paar seiner Knechte eifrig zur Stelle, als er das Bischofswappen auf dem Wagen erkannte.

„Die zwei Verletzten bringen wir ins Spital.“ Mit einem kurzen Gruß verabschiedeten sich die Soldaten und fuhren weiter.

Anna Maria schaltete, bevor der Wirt es sich anders überlegen konnte: „Ein schönes Zimmer für meinen Mann und mich und eine Kammer für unsere Magd.“

In der Zwischenzeit hatten sich die beiden Frauen darauf geeinigt, dass Elisabeth als Magd für Kost und Logis mit den Bartels reisen würde.

Christoph zählte dem Wirt die ausgehandelte Summe in die Hand und erkundigte sich: „Wir sind auf dem Weg nach Bremen, dort will ich mich in Diensten der Hadson Companie nach Amerika einschiffen. Wir möchten uns gerne einem Handelszug in Richtung Norden anschließen. Könnt Ihr uns da weiter helfen?“

„Oh, da habt Ihr aber Pech. Alle Reisegruppen in diese Richtung sind in den letzten Tagen aufgebrochen. Da wären nur noch ein paar aus Schwäbisch Hall, die mit einer Ladung Salz nach Leipzig wollen. Ich mach Euch später bekannt.“ Damit verließ der Wirt das geräumige Zimmer, das er den Bartels vermietet hatte.

„Gerne könnt Ihr Euch uns anschließen, Meister Bartel. Von Leipzig aus kommt Ihr in gut zwei Tagen nach Torgau an die Elbe. Von dort könntet Ihr ein Schiff nehmen, das Euch den Fluss abwärts bis Hamburg bringt. Es ist der schnellste und sicherste Weg.“

Froh nahm Christoph das Angebot des Handelsherrn an.

Auch der Wirt riet ihm dazu: „Schließt Euch dem schwerbewaffneten Treck der Schwäbisch Haller an. Man weiß nie, wann sich wieder so eine günstige Gelegenheit ergibt.“

Nachdem der Zug erst in zwei Tagen aufbrechen wollte, hatte der Meister Zeit und Muße, sich die Bischofsstadt genauer anzusehen. Am Nachmittag stand er am Prachttor vor dem Bamberger Dom und betrachtete erstaunt eine aus Sandstein gehauene Figur. Die bildhübsche Jungfrau hatte einen zerbrochenen Stab in der rechten Hand und zehn Ziegel in der linken. Ihre Augen waren mit einem Tuch verbunden. Seltsam, dachte er und schüttelte den Kopf.

„Werter Herr, Ihr seid nicht von hier - oder?“, fragte ihn ein kleines spindeldürres Männchen, das ihn schon seit einiger Zeit beobachtete. „Kennt Ihr die Geschichte?“

Bartel schüttelte den Kopf und sah ihn fragend an.

„Man nennt die Figur die blinde Jungfrau, oder auch die blinde Gerechtigkeit und erzählt sich Folgendes: Eine Jungfrau wurde einst der Unzucht beschuldigt, sie beteuerte aber immer wieder ihre Unschuld. Vergebens – trotz ihres Flehens wurde sie gefoltert und schon halbtot erst vor den Dom und dann zum alten Schloss vors Gericht geschleppt. Verzweifelt bettelte sie zum Himmel: Der Mensch hat kein Erbarmen mit meiner Unschuld, ihr Ziegel auf dem Dache habt´s noch eher, so erbarmt ihr euch meiner! Kaum hatte sie das gerufen, fielen zehn Ziegel vom Dach und schlugen sie tot. Volk und Richter nahmen es als Himmelszeichen ihrer Unschuld. Seitdem mahnt das steinerne Bildnis der Jungfrau hier. Allerdings vergaß der Bildhauer die Augenbinde, die das blinde Urteil bedeuten soll. Darum verbindet man ihr nun die Augen mit einem Tuch ,und immer, wenn der Stoff verfault herabfällt, soll die Jungfrau um Mitternacht auf dem Domplatz auf- und niederschweben.

Einige Wachposten, die sie gesehen haben wollen, hatten nicht den Mut, sie anzurufen. Es heißt, sie pocht solange an die Wohnungen der Domherren und schwebt hier herum, bis sie wieder eine frische Augenbinde bekommt.“

Kopfschüttelnd über so viel Dummheit und Herzlosigkeit meinte der Meister: „Nun das hat ihr auch nicht mehr geholfen. Aber wenigstens ein gnädiger Tod."

Von einem nahegelegenen Fuhrbetrieb erstand Bartel zu einem angemessenen Preis einen stabilen Planwagen und zwei starke Kaltblüter.

„Gebt den Pferden Bier, wenn Ihr einmal eine Höchstleistung von ihnen wollt, sie haben zu einer Brauerei gehört und sind das Biersaufen gewöhnt“, riet der Verkäufer Christoph lachend.

Bereits zwei Tage später fuhren sie in Richtung Norden, naja, vielleicht etwas zu weit nach Nordosten.

Am Tag bevor sie losfahren wollten, war ein großer Handelszug aus Nürnberg angekommen. Es hatten nun alle beschlossen, erst gemeinsam nach deren Ziel Halle und dann weiter nach Leipzig zu reisen. Vielleicht ergab sich unterwegs noch eine Gelegenheit für Christoph und Anna Maria, sich einer anderen Reisegruppe anzuschließen, deren Weg besser für ihre geplante Richtung passte. Nun waren sie ein großer Treck mit über 40 Wagen und fast 80 Söldnern. So waren sie sicher, von keinem Gesindel überfallen zu werden. Allerdings ging es etwas langsamer, es dauerte seine Zeit, bis sich dieser Wagenzug jedes Mal wieder in Bewegung setzte.

Nach neun Tagen erreichten sie Halle, eine schmucke kleine Stadt mit einer sehr alten Universität. Gut drei Wochen waren nun seit dem Aufbruch in Windsheim vergangen. Je länger sie darüber nachdachten, umsomehr waren die beiden Eheleute überzeugt, dass Gott trotz allen Unglücks seine schützende Hand über sie gehalten hatte und sie glimpflich davongekommen waren.

Christoph entschloss sich, erst einmal eine größere Rast einzulegen und die Reise bei einer günstigen Gelegenheit nach Bremen fortzusetzen. Sie mieteten sich in einem kleinen, sauberen Gasthaus nahe der Universität ein - sehr preiswert, darum verkehrten hier mehr Studenten als Reisende. Mit dem Wirtsknecht vom Gasthaus Zum Wilden Mann, einem der führenden Häuser, in dem die durchreisenden Handelszüge haltmachten, hatte er vereinbart, dass dieser ihm Nachricht gab, sobald eine geeignete Reisegesellschaft ankäme.

Am zweiten Abend, die Bartels saßen gerade beim Abendbrot in einer Ecke des Wirtshauses, fragte sie der Wirt, nachdem er jedem einen großen Humpen Bier serviert hatte: „Wo seid Ihr eigentlich her? Ihr sprecht schon etwas anders als wir.“

„Wir kommen aus Windsheim, einer Reichsstadt zwischen Rothenburg und Nürnberg. Etwa zehn Tagesreisen südlich von hier, im Frankenland“, antwortete Christoph dem freundlichen Mann.

„Windsheim? Das habe ich doch schon mal gehört - Else!“, schrie er nach hinten, „woher kennen wir Windsheim?“

„Na einer der Studenten, der Medikus, der Große! Wie hieß er doch gleich nochmal? Der war schon einige Zeit fertig mit dem Studium, hatte nur noch keine rechte Lust zum Arbeiten“, erklärte seine Frau.

„Ach, du meinst den Stellers Georg, oder?“

„Ja, genau den!“

„Der ist doch im letzten Jahr nach St. Petersburg aufgebrochen, an die Akademie des Zaren.“

„Meint Ihr den Georg Wilhelm Steller, einen Studenten der Medizin, der Theologie und vieler anderen Wissenschaften?“, fragte Christoph nach.

„Ja, aber der ist wie gesagt kein Student mehr. Der ist schon fertig mit seinem Studium und ist nun ein Arzt“, erwiderte der Wirt, „der Meiers Friedrich, einer der Philosophiestudenten, der kennt ihn gut. Ist auch so ´n Eigenbrötler wie der Steller. Morgen am Sonntag, da kommt er gewöhnlich zum Mittag vorbei. Soll ich Euch miteinander bekannt machen?“

„Wenn sie wollen“, Christoph war nicht sehr begeistert, er kannte den Steller ja nur aus seiner Anfangszeit vor über zehn Jahren in Windsheim, da war er ihm ein paar Mal begegnet. Was wollte er nun mit diesem Meier? Aber was soll´s, war vielleicht eine kleine Abwechslung während der Warterei.

Am nächsten Tag stellte der Wirt die beiden einander vor: „Meister Bartel kommt, setzt Euch hier an den Tisch. Das ist der Student Meier, er kann Euch weiterhelfen.“

Widerwillig setzte sich Christoph.

Es wurde erfreulicherweise ein lustiger und unterhaltsamer Nachmittag, den man in der Sonne sitzend vor dem Wirtshaus gemeinsam verbrachte. Von dem Studenten der Philosophie und Theologie erfuhr der Schneidermeister, dass von den Abgesandten des Zaren immer noch Wissenschaftler aller Fachrichtungen und auch Handwerker zur Erkundung des großen russischen Reiches gesucht wurden. Auch Steller versuchte dort sein Glück.

„Wäre das nicht etwas für uns?“, fragte Anna Maria ihren Mann, „Wir bräuchten dann nicht über das große Meer.“

Im Grunde war das die größte Angst der Windsheimerin, das durfte sie sich aber nicht anmerken lassen, denn ihr Mann zeigte dafür kein Verständnis.

„Fahrt nach Leipzig, dort ist die Gesandtschaft. Zahlen sollen die auch recht gut. Viele Studenten von hier sind schon in deren Dienste getreten“, riet Meier ihnen.

„Das müssen wir noch einmal in Ruhe besprechen. Habt jedenfalls vielen Dank. Sollten wir nächsten Sonntag immer noch hier sein, junger Freund, so seid Ihr gerne zum Mittagessen eingeladen“, damit verabschiedete sich Christoph.

Später am Abend drängte Anna Maria ihren Mann: „Nun sag doch schon was! Was hältst du davon? Gehen wir nach Russland! Neu anfangen wolltest du doch, warum nicht im Osten statt im Westen? Seit der Zarin Katharina sprechen doch viele Russen auch deutsch.“

„Ich weiß nicht. Amerika soll das Land der Freiheit sein. Dort in Russland herrscht genauso der Adel wie bei uns. Aber wenn du meinst, können wir uns ja in Leipzig bei der Gesandtschaft erkundigen.“

Die Zarin Anna Iwanowna setzte die wissenschaftlichen Forschungen ihres vor drei Jahren gestorbenen Onkels, Zar Peter, fort. Sie sei als eine Freundin der Deutschen bekannt, hatten ihm Meier und seine Kommilitonen erzählt. „Vielleicht kann ich dort mein neues Glück versuchen. Forschungsreisen - so richtig vorstellen, was das ist, kann ich mir nicht”, meinte Christoph zu seiner Frau, als er das Licht ausblies, „schlaf jetzt, morgen wird ein harter Tag.“

Lange noch blieb Christoph in dieser Nacht wach liegen und grübelte vor sich hin. Vielleicht kam er dort, in den Weiten des russischen Reiches, zur Ruhe?

2 Tommaso 1730

Hoch über dem Tal des Fiume Ladro thronte majestätisch auf einem senkrecht aufragenden Felsvorsprung der Landsitz des Conte Paolo Alessandro de Cardinali. Das Adelsgeschlecht der Cardinali reichte zurück bis weit vor Kaiser Friedrich, der seinen Hauptwohnsitz in Palermo hatte. In den zurückliegenden Jahrhunderten hatte es die Familie zu Ruhm und Reichtum gebracht. Der Vater des jetzigen Conte hatte allerdings fast alles verspielt, sodass die Familie zwar noch einige Palazzi, Fattorie und den Hauptwohnsitz auf der Piazza di Duomo in Siracusa hatte, politische Macht und Vermögen aber waren verschwunden.

Wenn die Hitze im Sommer in der großen Stadt unerträglich wurde, entflohen sie in die vor einigen Jahren neu errichtete Villa in der Campagna. Die angeschlossene Fattoria sorgte für den nötigen Unterhalt und machte das Landleben für die Herrschaften recht angenehm.

Obwohl er schon zehn Jahre alt war, hatte Tommaso noch nicht mal seine Erstkommunion erhalten. Aber der Monsignore Alfredo, der ab und zu einmal aus Palazzolo Acreide herüberkam, übersah ihn immer, weil er so zierlich und klein war - selbst für einen Sizilianer.

„Für dich hat es nicht mehr ganz gereicht“, meinte Mutter immer scherzhaft. Alle seine Geschwister waren für sizilianische Verhältnisse ziemlich groß. Er gab die Hoffnung nicht auf, dass auch er noch etwas wachsen würde. Sehnsüchtig schaut er nach oben zum Palazzo.

„Der ist bestimmt so hoch oben wie die Kirchturmspitze vom Dom in Palazzolo Acreide“, vermutete seine Mutter.

Er wusste nicht, wie hoch der war, denn er war noch nie aus dem kleinen Tal herausgekommen, allerhöchstens bis zu Giovanni, dem alten Schweinehirten vorne am Berg. Von dort konnte man weit in der Ferne die Stadt schimmern sehen, zu Fuß etwa eine Tagesreise hin und zurück.

„So möchte ich auch einmal wohnen oder wenigstens da oben arbeiten“, träumte Tommaso. Aber das hatte ja noch ein wenig Zeit. Er hoffte noch immer, die Schule besuchen zu dürfen. Das Wenige, das ihm bisher seine Mutter beigebracht hatte, reichte ihm nicht. Er wollte mehr wissen. Aber seine Eltern konnten es sich nicht leisten, den Jüngsten nun auch noch zur Schule zu schicken. Bei Zia Giovanna, einer Schwester seines Vaters, die in der kleinen Stadt am Ende des Tales wohnte, waren schon drei Kinder der Casserinos untergebracht. Und mehr passten in das Häuschen einfach nicht hinein. Sehnsüchtig wartete Tommaso darauf, dass am Samstagabend seine Geschwister heimkamen und ihm von der Schule berichteten.

“Bitte, bitte erzählt! Was hat der Lehrer euch erklärt?“, bettelte er.

Francesco, sein ältester Bruder, meinte genervt: „Jetzt sei endlich ruhig, ich bin froh, wenn ich nichts mehr von der Schule höre. Ich freue mich schon auf den Sonntagnachmittag, wenn ich wieder in der Stadt bin, dann muss ich mir nicht mehr deine ständige Fragerei anhören.“

Die Frauen der Landarbeiter, die auf ihrem Weg zu den Feldern oft bei ihnen vorbeikamen, wuschelten ihm immer durch seine tiefschwarzen Locken und küssten ihn auf beide Wangen. Dabei kreischten sie: „Ach was für ein süßer kleiner Kerl.“ Er zog seine Stirn in Falten und versuchte, mit seinen schwarzen Kulleraugen so finster wie möglich drein zu schauen. Dieses Getue konnte er überhaupt nicht ausstehen. Natürlich hatte das aber auch sein Gutes, die Frauen steckten ihm immer etwas Süßes zu. Wenn er sie jedoch rechtzeitig kommen sah, suchte er schleunigst das Weite.

Die Casserinos, das heißt seine Eltern und seine zehn älteren Geschwister, wohnten in den Grotten am Fuße des hohen Schlossfelsen. Dabei hatten sie es bei Weitem noch besser als die einfachen Landarbeiter. Als Ziegenhirte war sein Vater für eine vielhundertköpfige Herde verantwortlich, seine Mutter betreute die Imkerei.

Es gab drei Höhlen hier unten, eine große für die neu geborenen und kranken Ziegen. Außerdem zwei Kleinere für die Familie des Hirten - eine Schlaf- und eine Wohnhöhle. Die Kinder jedoch schliefen, sobald sie alt genug waren und nicht mehr bei der Mutter sein mussten, meist unterm überhängenden Felsfuß im Freien. In der hinteren Schlafhöhle sollte es einen geheimen Abgang aus der Villa hoch oben geben. Aber Tommaso wusste nicht wo – der war ja schließlich geheim.

Schwer lastete die Hitze über dem Tal, besonders jetzt im außergewöhnlich heißen Sommer 1731. Kein Lüftchen wehte über die kahlen, spärlich mit vertrocknetem Gras und Flechten bedeckte Hügel und Berge aus Kalkgestein. Es war wieder einer der drückend heißen Tage im Landesinnern Siziliens. Keine Bäume, nur hin und wieder ein paar Sträucher die etwas Schatten spendeten. Tief eingeschnittene und steil abfallende Täler durchzogen die Landschaft. Des Öfteren waren die Flächen von sauber aus Bruchsteinen aufgeschichteten Mauern in Parzellen geteilt. Selbst jetzt noch am späten Nachmittag flimmerte das Sonnenlicht über den blanken, weißen Felsen. Ab und zu huschte eine Eidechse über einen Stein.

Nur unten in der tief eingegrabenen Talsohle herrschte selbst im Hochsommer eine angenehme Kühle. Einige Eukalyptusbäume, Weiden, Ulmen, etwas Ginster und sogar ein paar Feigenbäume säumten den kleinen Fluss, der sich mühsam seinen Weg über den steinigen Grund suchte.

Zur Aufgabe des aufgeweckten Jungen gehörte es, am Tag auf die Herde der Jung- und Muttertiere aufzupassen und abends die Ziegen ins Melkgatter zu treiben. Seine Mutter und seine älteren Geschwister molken dann die Tiere. Er musste hierbei aufpassen, dass nicht aus Versehen die Jungböcke mit ins Gatter gerieten. Das war ihm schon zweimal passiert und bedeutete dann jedes Mal kein Abendessen für ihn.

Aber jetzt am Tag war für ihn die schönste Zeit: Irgendwo im Schatten liegen und auf die Ziegen aufpassen. Er träumte dann immer mit offenen Augen vor sich hin. Manchmal kam seine Mutter Franca vorbei und brachte etwas Melone und einen kleinen Krug verdünnte Ziegenmilch. Wenn sie gut gelaunt war, erzählte sie ihm Geschichten.

Am häufigsten, wie sie Tommasos Vater kennengelernt hatte:

„Es war damals, vor über zwanzig Jahren auf dem Markt in Palazollo Acreide“, begann Franca ihre Geschichte. „Dein Großvater und ich, wir waren bereits vor dem Morgengrauen von unserem Zuhause, einer kleinen Hütte unterhalb der Bergspitze des Monte Cortessa, einem der höchsten Berge hier in der Gegend, heruntergekommen, um auf dem größten Markt des Jahres unseren Honig anzubieten. Das Fest des San Sebastianowar eine große Prozession und das schönste Ereignis des Jahres. Gerne hätte dein Großvater auch einmal die schwere Statue des Heiligen mit um die Piazza getragen, aber er durfte nicht. Das war nur den Meistern und Gesellen aus der Stadt erlaubt, die zu den Zünften gehörten. Man feierte damals mehrere Tage. Zum Abschluss gab es den großen Markttag, bei dem die Bauern der Umgebung und manchmal von weiterher angereiste Händler ihre Waren anboten.

Wir waren bereits mehrere Stunden unterwegs, als wir an der Hängebrücke ankamen, die in schwindelerregender Höhe über dem Fiume Anapo führte. Ich hatte jedes Mal Angst, über das schwankende Holz zu laufen. Immer wieder konnte man durch den Bretterbelag tief nach unten in den reißenden Fluss sehen. Vorsichtig auftreten, sich gut am Geländerseil festhalten und aufpassen, dass kein morsches Brett dabei ist, hatte mir mein Vater eingeschärft. Ich blickte auch immer nach allen Seiten, ob nicht gerade ein Carretto, ein zweirädriger Eselskarren, die schaukelnde Konstruktion passieren wollte. Hierbei schwankte die Brücke nämlich immer besonders heftig. Je näher wir der Stadt kamen, desto mehr drückte der Korb mit den Waren auf meinen Rücken. Die trutzige Ansammlung von stattlichen Häusern, die alle nach dem großen Erdbeben vor etwa 30 Jahren neu errichtet worden waren, ragten hoch über dem steilen Felsen auf.

Ich trug die Hauptlast, mein alter Vater hatte nicht mehr so viel Kraft, seine Beine wollten nicht mehr so wie früher. Er war ein sizilianischer Bergbauer mit wettergegerbtem Gesicht und von kleiner, schmächtiger Statur. Sommer wie Winter in der gleichen Filzjacke. Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben. Und seit Zia Chiara, die Schwester meines Vaters, die mich wie ihr eigenes Kind aufgezogen hatte, bei einem Unwetter vom Blitz erschlagen worden war, lebte ich mit deinem Großvater alleine auf dem Berg.

Der wilde Ginster tauchte den Berg im Juli in ein gelbes Blütenmeer. Der Duft war im wahrsten Sinn des Wortes berauschend“, Franca schnaufte durch und versuchte sich daran zu erinnern. Nach einer kleinen Weile fuhr sie fort: „Es war die schönste Zeit im Jahr. Die Natur hatte uns unsere wichtigste Einnahmequelle geschenkt. Die von deinem Großvater gehegten und gepflegten Bienenvölker waren ausgeschwärmt und hatten reiche Ernte in die Stöcke gebracht. Dann im Herbst schleuderten wir den Honig und vermischten ihn mit verschiedenen getrockneten Blüten. Die zäh fließende Masse wurde in irdene Amphoren abgefüllt und dann mit Korken und Bienenwachs versiegelt. In diesen Krügen hielt sich der Bienenhonig frisch. Einen Teil verarbeiteten wir auch zu Wein, Likör und vor allem zu Süßigkeiten. Die Dolce de Miele erfreute sich auf jedem Markt größter Beliebtheit. So konnten wir davon recht gut leben. Gemüse und Obst bauten wir auf weiter unten am Berg liegenden Feldern an.

Hier gab es noch aus der Zeit von Kaiser Friedrich sogenannte Freiflächen, auf denen die armen Leute ihren Bedarf anbauen durften. Gegen die wilden Ziegen - und eventuell neidischen Nachbarn - war jede Parzelle mit einer mannshohen Bruchsteinmauer umwehrt. Manchmal gab es damals auch ein wildes Kaninchen als Sonntagsbraten, das sich in einer der von deinem Großvater aufgestellten Fallen verirrt hatte.

Unsere Hütte hatte schon der Großvater meines Vaters errichtet. Sie war aus aufgeschichteten Felssteinen erbaut und unter einem Felsvorsprung angelehnt, der im Sommer Schatten spendete und im Winter vor starken Regen, manchmal auch Schnee, schützte. Jeder von uns besaß ein einfaches Kleidungsstück und eine warme Wolldecke. Viel mehr hatten wir nicht - aber brauchte man mehr? Richtige Schuhe hatte ich in meinen vierzehn Jahren noch nie besessen. Heute aber, hatte Vater mir am Abend versprochen, sollte ich ein paar Schuhe aus Leder und ein neues Kleid bekommen.

Nach dem Passieren der Hängebrücke erreichten wir zügig die alte Provinzstadt und einstige Sommerresidenz des Siracuser Adels, Palazzolo Acreide. Gleich nach dem Südtor bogen wir auf die Piazza ein und da sah ich ihn. Wir schauten uns in die Augen und ich starrte ihn an, den gut aussehenden, braungebrannten Hirten, erkennbar an seiner Tracht, mit der Mütze und dem Stab. Erst als ich stolperte, erwachte ich aus meiner Erstarrung und senkte den Blick. „Komm weiter, sonst sind die besten Standplätze weg“, ermahnte mich mein Vater.

Plötzlich entstand kurz vor uns ein Tumult und Geschrei. Ein wildgewordener tonnenschwerer Stier hatte sich losgerissen und war brüllend durch die auseinanderrennende Menschenmenge die fünfundzwanzig Stufen zur neuen Chiesa di San Sebastiano hinauf gestürmt. Hier versuchten einige Männer, ihn zurückzutreiben und einzufangen. Vergebens, mit voller Kraft und Gebrüll raste er nun die Piazza hinunter, geradewegs auf uns zu. Die Menschen schrien und flüchtesten in Panik. Ich war wie gelähmt, in letzter Minute wurde ich zur Seite gerissen, als das Tier angestürmt kam. Mein Vater hatte nicht so viel Glück. Der Stier hatte ihn überrannt und mehrmals mit seinen scharfen Hufen getroffen.“

Franca wischte sich ein paar Tränen aus den Augen.

„Der junge Mann, den ich so angestarrt hatte, war zu meinem Retter geworden. Er kümmerte sich um uns und gemeinsam bemühten wir uns um deinen Großvater, der zusammengekrümmt und blutüberströmt im Staub des Platzes lag. Als der hinzukommende Conte de Cardinale sah, was eines seiner Tiere angerichtet hatte, befahl er seinem Hirten Francesco, er solle sich weiter um uns kümmern und wenn nötig den Dottore holen. Aber wirklich nur, wenn es unbedingt nötig sei, dieser solle ihm die Rechnung dann zusenden.

Francesco – dein Vater - folgte damals gerne dem Befehl seines Patrone. Leider konnten wir meinem Vater nicht mehr helfen. Er starb noch auf der Piazzain meinen Armen, inmitten einer gaffenden Menschenmenge. Drei Tage später haben wir ihn beerdigt“, der Blick von Tommasos Mutter schweifte in die Ferne, sie dachte an die damaligen Ereignisse. „Der Conteerteilte Francesco sein Einverständnis, mich mit auf die Fattoria Ladrozu bringen.

Ein letztes Mal bin ich auf den Berg gestiegen. Gemeinsam mit dem jungen Ziegenhirten. Wir haben meine paar Habseligkeiten zusammengepackt und dazu vier Kisten mit Bienenvölkern mitgenommen. Diese sind dann der Grundstock für die erfolgreiche Imkerei auf der Fattoria geworden. Wir habenen alles den Berg hinuntergeschleppt und auf den Carretto geladen, auf dem Francesco vorher einige Ziegen zum Markt gefahren hatte. Ja – so war das damals.

Kurze Zeit später erhielten wir vom Patrone die Erlaubnis zu heiraten. Jetzt sind wir schon zwanzig Jahre verheiratet und haben euch elf Kinder.“

Tommaso hörte seiner Mutter gerne zu, wenn sie von früher erzählte, auch wenn er die Geschichten schon alle kannte.

„Tommaso! Tommaso, wo steckst du denn wieder.“

Der Junge schreckte hoch, war er doch ein bisschen eingedöst, als sein Bruder Joseph nach ihm rief.

„Hier, was ist denn“, hastig stand er auf.

„Es ist spät, wir müssen die Ziegen eintreiben!“

Spät abends nach dem Melken kam Sebastiano fröhlich vor sich hin pfeifend von der Käserei. Seinen Karren zog ein Esel, dessen rechtes Ohr kerzengerade stand und dessen anderes schlaff herunterhing - lustig anzusehen.

Der Käser holte die Milch ab. Schon zwei Mal durfte Tommaso mit zurück in die Käserei fahren. Der Weg war nicht weit, aber sehr steil und führte in einem großen Bogen um den Felsen herum den Berg hinauf. Durch ein großes Tor kam man links in die Fattoria, im hintersten Eck lag die kleine Käserei des Conte. Aus der Milch der Ziegen, Schafe und Kühe, die zu dem großen Gut gehörten, wurden die verschiedensten Käsesorten hergestellt.

Bei den Städtern war der geräucherte Ricotta, ein Käse aus Ziegen- oder Schafsmilch, gewürzt mit wilden Kräutern, am Beliebtesten. Die Erzeugnisse der Fattoria wurden zweimal die Woche auf dem Markt in Siracusa feilgeboten. Die beiden Wagen fuhren bereits abends los, um rechtzeitig am Morgen an ihrem Marktstand zu sein. Dabei kutschierten die Fuhrknechte und die Begleiter, von denen einige oft mit Lampen vorauslaufen mussten, äußerst vorsichtig. Erst in Stadtnähe wurden die Wege besser.

Tommaso bekam jedes Mal große Augen, am liebsten wäre er überall herumgesprungen und hätte sich alles angeschaut. Aber Sebastiano schärfte dem Jungen eindringlich ein, bei ihm zu bleiben und nicht in der Hofanlage herumzulaufen, auf keinen Fall in die Nähe des Herrenhauses, sonst bekomme er, der Käser, Schwierigkeiten.

Letzte Woche durfte er wieder einmal mit. Sie waren gerade durchs Tor gefahren und hielten vor der Käserei, um die Milch abzuladen, als eine große, geschlossene Kutsche und mehrere hoch beladene Pferdewagen in den Hof rumpelten. Sofort eilten einige Bedienstete herbei und alle, die sich im Hof befanden, verbeugten sich vor dem Herrn, der aus der Kutsche stieg.

Bevor er sich versah, hatte Sebastiano Tommasos Kopf nach unten gedrückt: „Verbeug dich gefälligst vor dem Patrone“, zischte er ihm zu.

„Aha, Sebastiano, hast deinen Jüngsten nicht richtig erzogen“, meinte der Conte, ein stattlicher mittelgroßer Mann mit leichtem Bauchansatz, leutselig zu ihm.

„Nein Euer Gnaden, das ist Tommaso, der Sohn des Ziegenhirten, er hilft mir nur die Milch abzuladen“, antwortete Sebastiano untertänigst mit einer noch tieferen Verbeugung, wobei er den Jungen wiederrum mit nach unten zog.

„Soso“, mit seinen blitzenden dunklen Augen betrachtete der Conte den Jungen näher, dann entfernte er sich mit wehenden Rockschößen in den Palazzo.

Am nächsten Morgen, Tommasos Mutter wusch gerade die Milchtöpfe am Bach aus, kam ein Reiter den Weg heruntergaloppiert. Als er vor den Höhlen sein Pferd zügelte, rannte sie herbei und verbeugte sich vor ihrem Patrone mit einem missglückten Knicks.

„Nur keine Verrenkungen. Frau? Frau …?“

War dies das hübsche Mädchen, das er sich immer wieder hatte kommen lassen? Früher war es Brauch gewesen, dass dem Patrone die Brautnacht gehörte. Sein Vater hatte ihm damals dieses Recht abgetreten, damit er seine Erfahrung sammeln konnte, wie er lachend meinte. Damit hatte er seinen Sohn zu der jungen hübschen Braut ins Bett geschoben. Anfangs hatten sie Probleme gehabt, denn für beide war es das erste Mal gewesen. Aber als sie dann gegenseitig ihre Körper erkundeten, fanden sie aneinander Gefallen. Immer wieder befahl er sie später in sein Bett. Er war sich sicher, dass zumindest die älteste Tochter und der jüngste Sohn von ihm waren, da diese beiden völlig anders ausschauten als die anderen Kinder. Aber das war schon lange her, über zehn Jahre. Seit er seine junge Frau heimgeführt hatte, eine Adelige aus dem Hause einer reichen Familie aus Catania mit normannischen Wurzeln, waren die Zeiten der Bettgespielinnen vorbei. Und nun war diese einstige Schönheit alt und verbraucht von der Last des Alltages und den vielen Kindern.

„Casserino - Patrone“, half ihm Franca verlegen weiter.

„Hm, Euer Sohn war gestern mit dem Käser im Hof …“, fing der Mann an.

„Ich werde ihn gleich zur Rechenschaft …“, setzte Tommasos Mutter zur Erwiderung an.

„Nein, nein. Er hat nichts angestellt. Die Contessa und ich haben überlegt, dass Euer Sohn in etwa das gleiche Alter wie unser Jüngster haben dürfte. Der Junge, wie heißt er nochmal?“

„Tommaso, Patrone!“

„Tommaso, ach ja - unser Christiano braucht jemanden zum Spielen und zur Unterhaltung, wenn wir hier sind. Schickt uns den Tommaso jeden Morgen hinauf ins Schloss. Und jetzt soll er gleich mitkommen“, befahl der Conte.

„Tommaso!“, rief Frau Casserino nach hinten in die Höhlen.

Sofort erschien der Junge.

„Hast schon wieder einmal gelauscht“, mit einer Kopfnuss trieb ihn die Mutter vorwärts, „dann hast du ja gehört, was der Patronegesagt hat. - Verbeug dich gefälligst!“ Schon wieder hagelte es Kopfnüsse.

„Ja!“, stotterte Tommaso ängstlich und verbeugte sich.

Der Herr ritt los und der Junge lief hinterher. Zum Glück ging es steil nach oben und der felsige Untergrund des Weges war so glatt, sodass das Pferd immer wieder ausrutschte und der Reiter es zügeln musste.

3 Freia 1733

Es war spät nachmittags, die Sonne stand schon sehr tief und alles tat ihr weh. An ihren nackten Füßen, Armen und Händen hatten die scharfen Schilfstoppeln ihre blutigen Spuren hinterlassen. Die fünfzehnjährige Freia half wie auch ihre fünf jüngeren Geschwister den Eltern. Jeden Tag, vom späten Herbst nach den ersten Nachtfrösten bis zum zeitigen Frühjahr, bei jedem Wetter schnitten sie das Reet. Trockene Kälte und kein Hochwasser war die beste Erntezeit. Mit dem Verkauf des Reets konnte sich die Familie gerade so versorgen. Trotzdem war Meister Schmalhans stetiger Gast bei ihnen und oft gingen die Kinder hungrig schlafen.

Das großgewachsene, hübsche Mädchen bestritt, besonders seit ihre Mutter nach der dritten Fehlgeburt melancholisch und gleichgültig geworden war, größtenteils allein den Haushalt. Kurz vor Sonnenaufgang stand sie auf, schürte das Feuer an, kochte den Haferbrei und versorgte ihre Geschwister. Ihre Mutter lag meist trübsinnig und lustlos auf ihrem Strohsack und jammerte. Der Vater brummte mürrisch, aß eilig seinen Brei und verzog sich schleunigst nach draußen. Er bereitete alles für die Tagesarbeit vor, dazugehörte auch, dass er sich hinterm Haus einen kräftigen Schluck aus der im Holzstapel versteckten Schnapsflasche genehmigte. Wenn Freia es bemerkte, funkelte sie ihn aus ihren hellblauen Augen immer nur missbilligend an, traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Einmal, als sie es doch gewagt hatte, ihn zu tadeln, schlug er sie windelweich und schrie: „Was fällt dir ein, das geht dich einen Dreck an, ich kann tun und lassen, was ich will!“

„Zscht, zscht …“, wieder und wieder fraß sich der Reetschieber, vom Vater kraftvoll geschoben, durch die Halme. Es war ein mistkarrenähnliches Gerät, an dem sich statt eines Rades ein scharfes Messer befand. Einige der Kinder hoben jeweils einen Armvoll des abgeschnittenen Reets auf und trugen dieses auf das trockene Land. Hier verarbeitete die Mutter, die sich mittlerweile aufgerafft hatte, mit den anderen Kindern diese Schilfhalme zu einem Schoof, das waren etwa armdicke Bündel. Diese wurden so lange auf den Boden gestukt, bis das untere Ende gleichmäßig glatt war. Anschließend banden sie diese mit einem blauen Band fest zusammen. Dann stapelten sie 60 Stück davon zu einem Schock in Pyramidenform zum Trocknen auf. An guten Tagen, so wie heute, schafften sie gemeinsam acht bis zehn Schock.

Reetschneider - eigentlich kein Beruf, sondern nur eine sehr schlecht bezahlte Arbeit für arme Leute. Aber schon der Vater des Vaters und auch dessen Vater lebten hier im breiten Schilfgürtel des Peenestromes, unweit der kleinen Stadt Lassan. Ihre seit mehreren Generationen im Besitz der Familie befindliche, einfach zusammengezimmerte Bretterhütte bestand nur aus einem Raum mit einem über die Hälfte reichenden Obergeschoss.

Die Hütte stand schon immer schief, behauptete der Vater. Sie erweckte den Eindruck als wiegte sie sich mit dem Schilf im Wind. Selbst das leiseste Lüftchen brachte das alte Gebälk zum Ächzen und Stöhnen. Im Sommer sammelte die Familie auf den Feldern der umliegenden Bauern das restliche Stroh, um es mit Schlamm und Lehm vermischt in die Ritzen der Hütte zu schmieren. Dieses Abdichten sollte wenigstens etwas gegen die starken Winterwinde schützen.

Der untere Raum war, mit der offenen Feuerstelle gleich neben dem seitlichen Eingang, Küche sowie Wohn- und Arbeitsraum. Gleichzeitig diente er abends als Stall für die in einem Verschlag im hinteren Eck eingesperrten zwei Ziegen, dazu kamen noch ein paar Hühner und drei fett gemästete Kaninchen.

Auf dem Zwischenboden, der über eine Leiter erreichbar war, schlief die ganze Familie eng aneinander gekuschelt. Hier sammelte sich der beißende Rauch, besonders wenn Mutter im Winter noch einmal eine Handvoll Torf auf das Feuer warf. In die Torfglut streute sie zudem getrockneten Kampfer, das sollte das lästige Ungeziefer vertreiben. Ein übelriechender Geruch zog dann durch den Raum, leider waren die lästigen Plagegeister nicht totzukriegen, nach ein paar Tagen krabbelten und schwirrten sie wieder munter umher.

Freia hatte Glück, ihre Schlafstelle befand sich über dem Ziegenverschlag und so hatte sie es besonders im Winter etwas wärmer.

Seit dem letzten Krieg 1720 war die Stadt Lassan eine Grenzstadt und stand unter schwedischer Verwaltung. Zwei Stadttore und eine Backsteinmauer bildeten das Bollwerk zur Landseite. Von hier führten zwei Straßen, gesäumt mit schmucken ein- und zweistöckigen Häusern, zum Hafen. Nach dem Durchschreiten der Stadttore sah man auf einem kleinen Hügel die ebenfalls aus Backsteinen errichtete Kirche. Der Handel und die Handwerker litten unter der gegenwärtigen Situation. Besonders schmerzlich empfanden das die Bierbrauer und Schnapsbrenner. Deren Hauptabsatzgebiete, die Insel Usedom und die Gegend um Wolgast, lagen nun jenseits der Grenze im preußischen Land. Der Aufschwung der letzten Jahrzehnte, der besonders in den Städten Anklam und Greifswald stattgefunden hatte, war an der kleinen Fischerstadt vorübergegangen. Die Zeiten, als die Anklamer Händler ihre großen Schiffe hier im Hafen beladen hatten, waren endgültig vorbei. Noch vor dem großen Krieg im letzten Jahrhundert lief der Ostseehandel von Frankfurt und Berlin über Lassan. Der Handel wurde damals auf dem Stettiner Haff und dem Peenestrom immer umfangreicher. Von hier aus waren die Schiffe im ganzen Ostseeraum unterwegs. Die von Anklam kommende Peene war für die immer größer werdenden Segler jedoch nicht mehr passierbar und so wurden die Waren hier umgeladen. Aber jetzt, rund einhundert Jahre später, versank die Stadt Lassan in Bedeutungslosigkeit. Nur wenige Handelszüge passierten noch die beiden Stadttore. Längst hatten die alten Hansestädte Greifswald und Swinemünde, nicht zuletzt wegen steuerlicher Vorteile, diesen Handel mit übernommen. Schon seit 1729 bauten die Preußen an der Vertiefung der Swine, um einen unabhängigen Zugang von Stettin über Swinemünde zur Ostsee zu bekommen. König Friedrich Wilhelm träumte von einer Seemacht Preußen.

Von ihrer Hütte aus konnten die Reetschneider über dem Wasser einer kleinen Bucht die wenigen Häuser und die Backsteinkirche der Stadt sehen. Alle Häuser waren mit Reet gedeckt. Jedes Mal nach den Winterstürmen benötigten die Kleinstädter wieder neues Material, um die Sturmschäden auszubessern.

„So sorgt Gott immer wieder dafür, dass wir armen Reetschneiderfamilien genügend Arbeit haben“, meinte Freias Vater fast ein wenig schadenfroh, lächelnd zu seinen Kindern.

Das Mädchen hatte sich ihren einzigen warmen, wollenen Rock hochgebunden und lief barfuß in dem eiskalten, knöcheltiefen Wasser hin und her. Nur nicht stehenbleiben, dachte sie, sonst kriecht die Kälte noch weiter an mir hoch. Immer wieder strich sie sich das strohblonde Haar aus dem Gesicht. Sie hatte heute früh verschlafen und in der Eile den Zopf nicht fest genug gebunden, sodass er sich immer wieder auflöste. Es war trotzdem heute ein schöner Tag gewesen. Die letzten Mückenschwärme tanzten im untergehenden Sonnenlicht.

Vater brummte: „Heute können wir zufrieden sein, wir haben viel geschafft.“

Das war gut so, denn Bürgermeister Sarren hatte eine große Wagenladung bestellt. Er wollte eines seiner kleineren Häuser neu eindecken.

„Endlich werde ich mich mal wieder richtig satt essen können“, freute sich Freia über diesen Auftrag.

Sofia, die Tochter des Bürgermeisters, sollte nach ihrer Hochzeit in das neu hergerichtete Haus einziehen. Sie war vor ein paar Jahren zusammen mit Freia in die unteren Klassen der Schule gegangen. Nun wurde sie mit dem Sohn des Hafenmeisters verheiratet. Eine gute Partie, wie man so sagte, von den Eltern arrangiert und zu beider Familien Nutzen.