Desiderata - Bernhard Langenstein - E-Book

Desiderata E-Book

Bernhard Langenstein

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Beschreibung

Kaum ein Text dürfte weltweit öfter kopiert, abgeschrieben und weitergereicht worden sein als "Desiderata". Bernhard Langenstein hat sich vor Jahren mit diesem Buch auf die Suche nach der Entstehungsgeschichte von "Desiderata" gemacht und hat den Text geistvoll und spannend ausgelegt. Dieses Buch führt zu einem tieferen, versöhnlichen Verständnis der eigenen Situation, der eigenen Person und somit zu einer positiven Veränderung der Einstellung zum eigenen Leben. Durch die dabei entstehende Gelassenheit ist es unvermeidlich, viele kleine, aber auch große und wirkliche Glücksmomente zu erleben. Ein Rendez-Vous mit Laotse, Augustinus, Gandhi, Papst Johannes XXIII und vielen anderen.

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Seitenzahl: 176

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Bernhard Langenstein

Desiderata

Die Lebensregel von Baltimore

Bibliografische Information: Deutsche Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder in PCs/Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Rechteinhabers.

Autor: Bernhard Langenstein

© 2017, Hansjörg Schwarz

Umschlaggestaltung:www.christopheberle.de Freiburg

Umschlagmotiv: Kilduffs, (University of Baltimore, Yearbook, 1949)

Lektorat: Hans-Peter Lembeck

Satz und Gestaltung: Hartmut Czauderna

2. durchgesehene Auflage

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN 978-3-7439-2386-7

Inhalt

Vorwort

Es war einmal in Baltimore

Sie müssen einen Weg finden ...

Magna Carta über dem Schreibtisch

Die wahre Geschichte des Kulttextes

Ein Dichter ohne Fortune

Dr. Ehrmann’s Magic Soul Medicine

Desiderata – die Regeln zum Glück

Geh gelassen deinen Weg!

Erinnere dich an den Frieden, der in der Stille wohnt!

Suche nach einer guten Beziehung zu allen Menschen, ohne dich selbst aufzugeben!

Sprich deine Wahrheit ruhig und klar aus!

Höre anderen Menschen zu!

Gehe lauten und aggressiven Menschen aus dem Weg!

Vergleiche dich nicht mit anderen Menschen!

Freue dich an dem, was du erreicht hast, genauso wie an dem, was du planst!

Arbeite an deiner Entwicklung!

Sei vorsichtig in Geschäften!

Werde nicht blind für menschliche Größe!

Sei du selbst!

Täusche keine Zuneigung vor!

Geh nicht zynisch mit der Liebe um!

Werde in Würde alt!

Nähre die Kraft deines Verstandes!

Lass dich nicht von dunklen Einbildungen beherrschen!

Übe vernünftige Selbstdisziplin, aber sei dabei gut zu dir!

Fühle dich als Kind des Universums!

Lebe in Frieden mit Gott, was immer du darunter verstehst

Bewahre den Frieden der Seele

Glaube daran: Die Erde ist noch immer wunderschön!

Sei heiter! Und gib alles, um glücklich zu sein

Weisheit – Nicht mit Geld zu bezahlen

Literatur und Dank

Register

Text- und Bildnachweis

Vorwort

»Geh gelassen deinen Weg

im Lärm und in der Hektik dieser Zeit!«

Die Lebensregel von Baltimore hat viele Freunde in aller Welt. »Man wird still, wenn man sie zu lesen beginnt. Einfacher und doch allumfassender kann man den Schlüssel zu innerem Frieden nicht in Worte fassen. Etwas im Inneren beginnt zu schwingen, und man ahnt, das man eine Tür öffnen darf, die man immer gesucht hat«, sagt ein Leser. Ein anderer: »Manche lesen sie ein- oder zweimal, andere haben sie ständig bei sich, wieder andere schlafen damit ein.« Wieder ein anderer Leser sagt: »Ich finde, dieses Werk ... sollte bereits in den Schulen, den Kindergärten verteilt und gelesen werden. Es sollte allen Menschen zugänglich gemacht werden, die wir doch alle so sehr in unserem Alltagsstress versuchen, unser Leben zu meistern, und so oft einfach nur noch ›funktionieren‹, unseren Rufen des Herzens oftmals nicht genug Beachtung schenken.«

Wenn man die Weisheitstexte der Menschheitsgeschichte anschaut, bewundert man häufig ihr hohes Alter. Sie stammen aus dem Buch Gilgamesch, aus den Veden, aus der attischen Antike oder dem Buch der Psalmen des Königs David. Ein Text ist aber nicht dann weise, wenn er alt ist, sondern, wenn er gut ist. Unter den jüngeren Weisheitstexten, die es ebenfalls in großer Zahl gibt, hat kein Text eine rasantere Karriere gemacht, keiner hat mehr Freunde in allen Sprachen und Kulturen gefunden als jener Text, mit dem sich dieses Buch befasst. Scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht, ist er in den letzten Jahrzehnten unter verschiedenen Namen immer und immer wieder abgeschrieben und von Hand zu Hand gereicht worden. Einmal trägt er das rätselhafte Etikett DESIDERATA. Dann wieder kommt er als »Die Lebensregel von Baltimore« daher. Wie auch immer der Text heißt – so viel ist sicher: Es handelt sich um den meistgelesenen und meistgelebten jüngeren Weisheitstext der Welt. Er handelt von der wichtigsten Frage der Welt: Wie wird man glücklich? Wenn er ohne reale Wirkung geblieben wäre, hätte ihn niemand tradiert.

Da die Herkunft der Lebensregel von Baltimore faszinierend ist, sich von zahlreichen Mythen umrankt findet und so mancherlei Rätsel aufgibt, fand ich es lohnend, der wahren Geschichte der »Wünschbarkeiten« (lat.: DESIDERATA) nachzugehen. Zu erzählen ist unter anderem ein Stück Amerika des 20. Jahrhunderts. Die Hippies spielen eine Rolle, das Vietnam-Desaster bildet eine dunkle Folie im Hintergrund, ein unglücklicher Präsidentschaftskandidat hat seine Finger im Spiel. Stück für Stück kommt ein Puzzle zustande, das manches, freilich nicht alles über den steilen Aufstieg eines Poems, das bequem auf ein Blatt im Format DIN A 4 passt, erklärt.

Das Geheimnis der DESIDERATA liegt nicht in den Umständen, die das Poem in die internationale Verbreitung katapultierten – es liegt im Text selbst. Die Lebensregel von Baltimore ist »einfach stark«, wobei man das Wörtchen »einfach« betonen muss. Weisheit ist immer Reduktion von Komplexität. Eine Weisheit, für deren Verständnis man einen akademischen Grad braucht, ist keine. Komplizierte Weisheit ist keine Weisheit. Weisheit muss unmittelbar einleuchten – und zwar jedem verständigen Menschen. Dieses Kriterium erfüllt unser Text in einem hohen Maß. Wer die DESIDERATA deshalb für ein simples Produkt einer einfach gestrickten Seele hält, liegt falsch. Das Einfache ist hier die höchste Kunst, ja man könnte anhand der Lebensregel geradezu definieren, was Weisheit überhaupt ist: Eine Weisheit ist eine Weisheit, wenn eine Wahrheit nicht mehr einfacher gesagt werden kann.

Weil sich in den DESIDERATA Erkenntnisse aus vielen Kulturen, Philosophien und Religionen wie in einem Brennspiegel sammeln, möchte ich in einem zweiten Teil des Buches die einzelnen Lebensregeln so auslegen, dass sich in ihnen eine wahre Fülle an Geschichten und Einsichten einfindet. Das entspricht ihrer Art. Die Tiefe ist ein großer Reichtum. Eine Quelle ist einfach, aber aus ihr sprudelt eine nicht enden wollende Fülle hervor. So ging es mir mit den einzelnen Lebensregeln der DESIDERATA. Man wird von großen und kleinen, uralten und ganz aktuellen, sehr bekannten und völlig unbekannten Geschichten hören, wird Shakespeare und Rilke, Gandhi und Mozart begegnen, wird von einem Schweizer Einsiedler und von chinesischen Weisen profitieren und nicht einmal biographische Elemente des Autors ausgespart finden – und das alles nur, weil dies in jenem schlichten Text verborgen ist, der mit den Worten beginnt: »Geh gelassen deinen Weg ...«

Ein letzter Teil des Buches wird die Summe ziehen und fragen: Was ist Weisheit? Wo findet man sie? Was kann man damit machen? So möge dieses kleine Werk möglichst vielen Leuten Lust machen, an sich selbst und an einer humaneren Gestaltung ihrer Welt zu arbeiten. Eines Tages schrieb Johannes von Kreuz seiner Vertrauten, der spanischen Ordensfrau Teresa von Avila: »Ich will die Welt verändern, und ich habe beschlossen, bei mir zu beginnen. Schließt du dich mir an, dann sind wir schon zwei.«

Bernhard Langenstein

Friedberg/Bayern, im Februar 2007

Es war einmal in Baltimore

Alles begann damit, dass meine Frau in ihren Studienjahren einen älteren Herren besuchte. Sie hatte sich, gesegnet mit einer außergewöhnlich schönen Stimme, an einer südwestdeutschen Musikhochschule eingeschrieben und ein paar Semester mehr oder weniger zielund erfolglos studiert – bei den falschen Lehrern, mit der falschen Methode. Nun hatte ihr jemand einen Tipp gegeben, wo sie Rat finden könnte: »Geh zu diesem Mann. Der kann dir sagen, wie du es anfangen musst!« Der alte Herr, ein Cellodozent, empfing sie freundlich und fragte nach ihren Wünschen: »Erzählen Sie mir etwas über sich. Was wollen Sie denn eigentlich erreichen?«

Was meine Frau ihm genau sagte, ist ihr heute nicht mehr in Erinnerung. Vielleicht sagte sie in ihrer Naivität, sie wolle eine »große Sängerin« werden. Etwas in der Art muss es gewesen sein, denn der freundliche Herr verwickelte sie bald in ein Gespräch über Größe: »Was ist das denn – Größe?« Was sollte das schon sein? Eines Tages auf einer bedeutenden Bühne zu stehen, die Menschen durch betörend schönen Gesang in Bann zu schlagen, umjubelt zu werden, bekannt zu werden, berühmt zu sein?

Sie müssen einen Weg finden ...

»Ich kenne eine Menge Künstler«, gab der alte Mann zu bedenken, »die diese Kriterien erfüllen. Aber sie sind alles andere als groß. Sie benutzen die Musik, um sich in Szene zu setzen. Es sind eitle, hohle Gestalten.« – »Was wollen Sie mir damit sagen?«, fragte meine Frau. »Ich will Ihnen damit sagen: Sie dürfen niemals Ihren Wunsch aufgeben, groß zu werden. Aber das kann etwas sein, was jenseits von Publicity stattfindet. Sie müssen einen Weg finden, alles aus sich herauszuholen, was der liebe Gott in sie hineingelegt hat. Was in Ihnen ist, soll strahlen, muss strahlen! Dazu ist es da. Aber verabschieden Sie sich bitte von der äußerlichen Vorstellung, Sie wären dann schon am Ziel, wenn Sie eine Primadonna sind. Vielleicht ist es ja tatsächlich Ihre Bestimmung, eines Tages eine Primadonna zu sein. Ich weiß es nicht. Vielleicht aber sind Sie zu ganz anderen Dingen bestimmt, worin Sie Bedeutung für andere Menschen erlangen. Vielleicht wird sich niemals eine Kamera auf Sie richten; vielleicht wird nur ein begrenzter Bereich von Menschen Ihren Namen kennen. Und trotzdem werden Sie groß sein, wenn Sie reif werden und ja sagen zu sich.«

Dann ging der alte Mann zu einem Schrank und kramte in seinen Unterlagen, um bestimmte Papiere zu finden. »Gleich werde ich Ihnen zwei Texte geben, die mir in meinem Leben entscheidend geholfen haben, zuvor aber will ich Ihnen etwas sagen. Ich werde Sie enttäuschen, denn ich kann Ihnen keinen konkreten Rat geben. Ich kann Ihnen nicht diesen oder jenen Lehrer empfehlen. Dazu verstehe ich zu wenig von Gesang. Richtige Lehrer sind wichtig. Ich selbst habe Jahre verloren, weil ich zu Anfang die falschen Lehrer hatte, Lehrer, die mich dazu benutzten, sich mit meinen Erfolgen zu schmücken, mich in ein bestimmtes Schema zu pressen, mich zu verbiegen und mich von meinem Weg abzubringen. Bei ihnen habe ich nur gelernt, dass ich einmal ein anderer Lehrer werden wollte. Einer, der achtsam ist auf die einmalige Seele des Schülers. Einer, der unendlich behutsam ist und lange darauf hört, was in diesem Menschen ist, der mir für eine bestimmte Zeit anvertraut ist. Vielleicht werde ich ihm dienen können, um das aus ihm zu befreien, was in ihm ist. Vielleicht werde ich ihn sogar fortschicken müssen, damit er seinen Weg macht. Einen solchen Lehrer werden Sie suchen müssen, und wenn Sie 2, 5 oder 10 Jahre oder sogar 20 Jahre dafür brauchen. Vielleicht ist er an dieser Hochschule, vielleicht an einer anderen Hochschule, vielleicht an gar keiner Hochschule. Es kommt nämlich in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis nicht darauf an, bestimmte Techniken zu lernen, sondern Mensch zu werden. Beide müssen sie Mensch werden, der Schüler und der Lehrer.«

Mit einem solchen Vortrag hatte meine Frau nicht gerechnet, als sie nach etwa einer Stunde das Übungszimmer des merkwürdigen alten Mannes verließ. In Händen hielt sie zwei recht abgegriffene und vergilbte DIN-A4-Blätter, die umgehend zurückzubringen sie dem Cellisten hoch und heilig versprochen hatte. Das eine der Blätter enthielt nur drei handgeschriebene Zeilen: Dulden muss der Mensch / sein Scheiden aus der Welt wie seine Ankunft. /Reif sein ist alles. William Shakespeare, König Lear. Auf dem anderen Blatt fand sich ein umfangreicherer, maschinengeschriebener Text, der mit dem lateinischen Wort DESIDERATA und mit »Die Lebensregel von Baltimore« überschrieben war. Unter dem Text stand als Herkunftsangabe »Old St. Paul’s Church, Baltimore A.C. 1692«.

Während meine Frau mit einigen Groschen in der Hand in der Warteschlange des Copy-Shops stand, versuchte sie sich einen ersten Reim auf die Texte zu machen. Der Shakespeare-Text blieb ihr zunächst weitgehend dunkel, während sie sich von dem alten Text aus Baltimore spontan angesprochen fühlte. So viel Latein konnte sie, um zu wissen, dass »Desiderata« so viel bedeutete wie »das zu Wünschende«. Rasch nahm sie die Kopien und eilte wieder in die Hochschule. Bevor sie an dem Zimmer anklopfte, legte sie sich noch einmal zurecht, was sie dem alten Herrn sagen wollte.

»Das ist schön, dass Sie mir die Blätter gleich zurückbringen«, empfing sie der Cellist, »sie haben mich ein halbes Leben lang begleitet. Sie werden verstehen, dass ich sie nur ungern herausrücke.« Als meine Frau ansetzen wollte, um von sich aus zu sagen, was sie den beiden Texten nach erster Lektüre entnommen hatte, schüttelte der alte Herr den Kopf: »Das möchte ich von Ihnen jetzt nicht wissen. Sie können dazu gar nichts sagen. Das ist nichts zum Lesen; das ist etwas zum Leben.« Damit war sie entlassen.

Ein paar Mal noch lief sie dem alten Dozenten über den Weg. Man lächelte sich zu. Es kam nie zu einem weiteren Gespräch.

Magna Carta über dem Schreibtisch

Mir selbst begegnete die Lebensregel von Baltimore, als meine Frau und ich heirateten und wir unseren Haushalt zusammenlegten. An einem schönen Nachmittag taten wir das, was bei solchen Gelegenheiten üblich ist: Man geht die persönlichen Stücke durch und sieht danach, was man entsorgen kann und was man aufgehoben wissen möchte. Dabei fiel mir auch die mit DESIDERATA überschriebene schwarzgraue Kopie in die Hände, die allerhand Knicke, Flecken und Gebrauchsspuren aufwies. »Oh, bitte nicht wegwerfen ...«, erschrak meine Frau, »das ist ein ganz wichtiger Text – vielleicht gibt es keinen wichtigeren in meinem Leben!«

In raschen Worten erzählte sie mir, was es damit auf sich hatte, welche Tiefenwirkung er ausgeübt, ja welche Wende in ihrem Leben er bewirkt hatte. So setzten wir uns miteinander auf eine Kiste, vergaßen das ganze Umzugschaos um uns herum und lasen:

Geh gelassen deinen Weg / im Lärm und in der Hektik dieser Zeit, / und erinnere dich an den Frieden, / der in der Stille wohnt.

Suche nach einer guten Beziehung / zu allen Menschen, / soweit es dir möglich ist, / ohne dich selbst aufzugeben.

Sprich deine Wahrheit / ruhig und klar aus, / und höre auf alle, / auch auf die Langweiligen und Unwissenden, / denn auch sie haben ihre Geschichte.

Geh lauten und aggressiven Menschen aus dem Weg, / denn sie sind ein Ärgernis für den Geist.

Vergleiche dich nicht mit anderen; / das macht dich nur eingebildet oder bitter. / Es wird immer Menschen geben, / die größer oder geringer sind als du.

Freue dich an dem, / was du erreicht hast genauso / wie an dem, was du planst!

Arbeite an deiner Entwicklung, / so bescheiden sie auch sein mag; / das ist ein wirklicher Besitz / in den Wechselfällen des Glücks.

Sei vorsichtig in Geschäften, / denn die Welt ist voller Fallen. / Werde aber nicht blind dafür, / dass es menschliche Größe in der Welt gibt. / Nicht wenige Menschen folgen hohen Idealen, / und wo du nur hinsiehst, findest du Heroisches.

Sei du selbst! / Vor allem täusche keine Zuneigung vor! / Geh nicht zynisch mit der Liebe um! / Trotz aller Ernüchterung und aller Dürreperioden, / die es auch in ihr gibt, / kommt sie immer wieder wie das Gras auf dem Feld.

Nimm ruhig den Rat an, den dich die Jahre lehren, / und lass mit Würde von den Dingen der Jugend.

Nähre die Kraft deines Verstandes; / er schützt dich, wenn dich plötzliches Unglück heimsucht.

Lass dich nicht von dunklen Einbildungen beherrschen. / Viele Sorgen und Ängste sind nur da, / weil du müde und einsam bist.

Übe vernünftige Selbstdisziplin, / aber sei dabei gut zu dir!

Denk daran: / Du bist ein Kind des Universums, / nicht weniger als es die Bäume und die Sterne sind. / Du hast ein Recht, da zu sein. / Ob du es nun verstehst oder nicht: / Das Universum folgt ohne jeden Zweifel dem Gesetz, / das sein Schöpfer hineingelegt hat.

Lebe daher in Frieden mit Gott, / was immer du unter ihm verstehst. / Bewahre den Frieden der Seele, / welche Projekte und Sehnsüchte dich / im lauten Durcheinander deines Lebens / auch immer bedrängen!

Trotz allen Schwindels, aller Plackerei / und aller zerbrochenen Träume: / Die Erde ist noch immer wunderschön!

Sei heiter! / Und gib alles, / um glücklich zu sein.

Mir gefiel der Text auf Anhieb. Lange tauschten wir uns darüber aus. Weil meine Frau meinte: »Da steckt noch viel ungelebtes Leben drin!«, machten wir etwas Praktisches. Wir suchten in unseren Kisten nach einem passenden Rahmen, fassten die reichlich schrabbelige Kopie darin, nahmen Hammer und Nagel und hängten sie – eine kleine Magna Charta unserer kommenden gemeinsamen Jahre – über den Platz, an dem unser Schreibtisch stehen sollte. Viele, die uns später besuchten, entdeckten dort den liebenswerten Text »von 1692«. Einige fanden so viel Gefallen daran, dass sie sich ebenfalls eine Kopie erbaten, so dass wir uns bald ausmalten, wie Kopien von Kopien von Kopien ihren Weg durch die Welt machten. Manche unserer Besucher kannten den Text bereits, ja wussten zu sagen, dass es wirklich ein richtiger »Kulttext« sei, der uns da zufällig in die Hände gefallen war.

Das ging so bis zu dem Tag, an dem ein besonders kundiger Gast uns darauf hinwies: »Das mit 1692 ist aber eine Fälschung. Der Text ist bei weitem nicht so alt. Er stammt von einem gewissen Max Ehrmann und ist im 20. Jahrhundert entstanden.« Anfangs waren wir etwas enttäuscht, dass uns die altehrwürdige Aura unseres Lieblingstextes so schnöde geraubt wurde. Dann aber sagte meine Frau: »Du, das ist mir egal. Wer auch immer diesen Text geschrieben hat, er war ein Weiser. Ich lasse mir die Freude daran nicht rauben! Die Lebensregel wirkt.« Nicht nur der Verfasser der Lebensregel war weise, sondern auch meine Frau.

Wir ließen DESIDERATA an der Wand hängen.

Die wahre Geschichte des Kulttextes

Da inzwischen das Internet erfunden worden war, kam ich auf den Gedanken, nach dem wahren Hintergrund des Textes zu forschen. Dabei machte ich eine überraschende Entdeckung: Es wimmelt geradezu vor Beiträgen zum Thema DESIDERATA , »Max Ehrmann« und die wahre Herkunft des Kulttextes. Ein Wilhelm Hischemöller ist hartnäckiger Vertreter der Fraktion »uralt«; seine umfangreichen Untersuchungen münden in dem Satz: »Desiderata fasst die Weisheit aus Jahrhunderten zusammen und ist die Quintessenz der Lehre der irischen Mönche.« Er verweist auf Steve Rabeys »Alphabet of Devotion« und auf den Text eines irischen Mönchs, der ganz aus dem Geist der DESIDERATA geschrieben sei: »All das zusammen macht Frömmigkeit aus: Glaube an gute Taten, Beständigkeit in der Sehnsucht, Gewissenhaftigkeit in der Stille, Keuschheit mit Bescheidenheit, Armut mit Großherzigkeit, Hartnäckigkeit ohne Feindseligkeit, Armut ohne Stolz, Vertrauen ohne Hochmut, Beichte ohne Rechtfertigung, Sanftmut im Angesicht von Aggression, Einfachheit mit Vernunft, Demut ohne Verstellung.« Eine Nähe des Denkens ist zweifellos da. Doch Max Ehrmanns Autorenschaft zu bestreiten wäre töricht.

Ein amerikanischer Landsmann des Verfassers hatte sich die Mühe gemacht nachzuzählen, wie viele Homepages dem Kulttext gewidmet waren: bei 260 hörte er auf zu zählen. Neben der amerikanischen Originalfassung gibt es diverse deutsche Übersetzungen, dazu Fassungen in Finnisch, Französisch, Italienisch, Japanisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Spanisch und Schwedisch nebst mehr oder weniger ernst gemeinten Spezialversionen für Piloten, Bürokraten, Bewohner von Tokyo, Star-Trek-Fans und Spieler. Kurz: Ich fand jede Menge wertvolle Puzzleteile, die es erlaubten, mir ein zuverlässiges Bild von der Sache zu machen.

Apropos Bild: Dank wirksamer Suchmaschinen trat mir der geheimnisvolle Max Ehrmann, dessen Lebensdaten mit 1872–1945 angegeben werden, auch bildlich vor Augen. Familienaufnahmen zeigen den jüngeren Ehrmann, einen jungen Stutzer, aus dem man noch nicht erkennen kann, was aus ihm werden wird; dann den fein gescheitelten amerikanischen Bürger mit sanften Zügen und sensiblen Augen. Ein Bild aus späteren Jahren zeigt einen wohlsituierten, durchaus beleibten Herren bei elitärem Freizeitvergnügen: vor einer schwarzen Limousine und gekleidet nach dem Chic der Zeit, gibt sich ein mit Kappe versehener Herr in weißen Knickerbockern dem Bogenschießen hin. Befasst man sich näher mit der Biographie Ehrmanns, wird man mit einem Leben konfrontiert, das durchaus in zwei Welten spielt – der Welt des amerikanischen Bürgertums, auch des American Business, und der Welt der Poesie. Was aber hat dieser Mann mit der St. Paul’s Church in Baltimore zu tun? Was mit der Jahresangabe 1692? Die Antwort lautet: nichts. Max Ehrmann war vermutlich nie in dieser Kirche, mit Sicherheit nicht im Jahr 1692.

1. Der junge Max Ehrmann –

2. Der gutsituierte Bürger und Businessman Max Ehrmann –

3. Max Ehrmann bei gehobenem Freizeitvergnügen –

4. Max Ehrmanns Witwe Bertha Ehrmann, geb. Baur

Am 27. November 1977 ließ Barbara J. Katz, eine Journalistin der »Washington Post« die Bombe platzen. Mit Lust stach sie in einen amerikanischen Mythos, der sofort mit lautem Knall zerplatzte. Denn ein solcher Mythos war DESIDERATA im Jahr 1977 auf jeden Fall. Hunderttausende von Karten mit dem Text kursierten im Land. In jedem besseren Wohnzimmer hing ein Poster mit der »altehrwürdigen« Lebensregel. Ein Kontinent ohne Geschichte, gebeutelt gerade durch das Desaster des Vietnamkrieges, schmückte sich mit dem patinabehafteten Credo an ein Leben in Frieden und Zuversicht, einem Stück besseres Amerika.

Wahre Pilgerströme suchten das Gotteshaus in Baltimore auf und nervten die Geistlichen »for a glimpse of an old gravestone or some other ancient marker beaming the famous verse« (Barbara J. Katz). Frau Katz notierte das Elend des Reverends Halsey M. Cook von der Episkopalkirche, der zu Protokoll gab: » Ich bin es echt leid! Seit 15 Jahren höre ich mir diese Geschichte 40-mal die Woche an! Hören Sie – 40-mal!«, und sein geistlicher Kollege Henry Haller pflichtete ihm bei: »Wir wünschen nur, dass die ganze Sache der Vergessenheit anheimfällt!« Barbara Katz tat ihr Bestes, den frommen Wünschen zu entsprechen. Sie entlarvte die Lebensregel von Baltimore als plumpe Fälschung aus dem 20. Jahrhundert. Entstanden sei der Text 1927, also vor genau 50 Jahren in Terre Haute, Indiana; ihr Urheber sei ein gewisser Max Ehrmann, Rechtsanwalt einer Overall-Firma, gewesen. Banaler geht es nicht.