Destroyer - Christina H. W. - E-Book

Destroyer E-Book

Christina H. W.

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Beschreibung

Seit einem Schicksalsschlag ist nichts mehr wie es war. Liana versinkt in ihrer Trauer und sucht täglich den Sinn hinter all ihrem Schmerz. Ausgerechnet dann läuft sie Luca über den Weg und ihre Welt steht auf dem Kopf; er ist der Inbegriff von Ärger und genau das, was sie im Moment überhaupt nicht gebrauchen kann. Alles in ihr schreit, dass sie sich von diesem Mann fernhalten soll, aber mit jeder Begegnung wächst die Anziehung zwischen den beiden. Doch Luca kämpft gegen seine eigenen Dämonen und mit seinem selbstzerstörerischen Verhalten droht er immer mehr in einem Strudel aus Gewalt unterzugehen. Schnell muss sich Liana die Frage stellen, ob das wirklich Liebe sein kann. Wird Luca ihre Rettung sein oder ihre endgültige Zerstörung?

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Seitenzahl: 340

Veröffentlichungsjahr: 2025

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»Für all die kaputten Seelen, die sich nach Hoffnung und Wärme sehnen. Für all diejenigen, die immer weiterkämpfen und an das Gute glauben, sich daran festhalten und doch wieder in die Dunkelheit fallen. Eines Tages wird es besser. Eines Tages wird die Sonne wieder strahlen.«

MEINE LIEBEN,

endlich erblickt das Buch das Licht der Welt und ich nehme euch mit nach Apulien, wo Liana und Luca den Anfang machen.

Dennoch muss ich euch warnen, denn in diesem Buch wird die seelische und körperliche Gewalt nicht verschönert und in jeglicher Form dargestellt.

Es ist kein Liebesroman mit Sonnenschein, sondern mit Gewitter und Donnerschlag.

Es werden sensible Themen vorkommen wie Tod, Trauer und Verlust, die nichts für schwache Nerven sind und zeigen, wie brutal die Menschheit sein kann. Eine genaue Auflistung mit Triggerwarnungen befindet sich auf meiner Homepage, die ihr mit dem QR-Code auf der letzten Seite erreichen könnt. Sollte ich darauf etwas vergessen haben, schreibt mich gern an und ich ergänze es.

Wie bei all meinen Büchern gebe ich eine Leseempfehlung ab achtzehn Jahren, da euch bestimmte Inhalte triggern und verstören könnten.

Nehmt euch in Acht, denn die Protagonisten sind gebrochen und führen euch in die Dunkelheit ihrer Seelen. Solltet ihr nach etwas Romantischem und Gewaltlosem suchen, seid ihr hier falsch.

Wenn ihr euch dennoch traut, in die Geschichte von Liana und Luca einzutauchen und somit den Auftakt der Destroyer-Reihe zu lesen, wünsche ich euch viel Spaß. Aber passt auf eure Herzen auf – nicht, dass sie am Ende gebrochen werden.

Eure Christina

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL 1: LIANA

LUCA

KAPITEL 2: LIANA

LUCA

KAPITEL 3: LIANA

LUCA

KAPITEL 4: LIANA

LUCA

KAPITEL 5: LIANA

LIANA

KAPITEL 6: LIANA

LIANA

KAPITEL 7: LUCA

KAPITEL 8: LIANA

KAPITEL 9: LUCA

KAPITEL 10: LIANA

KAPITEL 11: LUCA

LIANA

KAPITEL 12: LUCA

LIANA

KAPITEL 13: LUCA

LIANA

KAPITEL 14: LUCA

LIANA

KAPITEL 15: LUCA

KAPITEL 16: LIANA

LUCA

KAPITEL 17: LIANA

LUCA

KAPITEL 18: LIANA

LUCA

KAPITEL 19: LUCA

LIANA

KAPITEL 20: LUCA

KAPITEL 21: LIANA

LUCA

KAPITEL 22: LIANA

LUCA

KAPITEL 23: LIANA

KAPITEL 24: LUCA

EPILOG: LIANA

SILVANO

PROLOG

Vor einem Monat

Ich dachte, uns gehörte die Welt. Dass wir noch so viel Zeit zusammen verbringen würden. Jetzt sollte das vorbei sein, und du würdest mich allein zurücklassen?

Tränen füllten meine Augen, als ich zu den weißen und roten Rosen auf dem dunkelbraunen Eichensarg starrte. Auf dem Trauerkranz mit der weißen Schleife stand in goldener Schrift ›Du wirst in unseren Herzen weiterleben‹, auf der anderen Seite ›Für einen Freund, Sohn und Bruder‹.

Ich hob langsam meinen Kopf und blickte auf das Sterbebild. Nico lächelte in seinem dunkelblauen Hemd und war so glücklich. Kaum zu glauben, dass dieses Bild erst vor zwei Monaten aufgenommen worden war und jetzt standen wir vor seinem Sarg. Das alles war so surreal. Letztens hatten wir noch gemeinsam am Esstisch gesessen und gefrühstückt, während er mir seine Pläne für das Haus gezeigt hatte, das er renovieren wollte. Wir hatten unseren nächsten Urlaub für den kommenden Winter geplant.

Ich konnte das nicht glauben, doch ich erinnerte mich, als wäre es gestern gewesen, als die Polizei vor einem Monat an unserer Tür geklingelt und von der Schießerei berichtet hatte, bei der mein Bruder seinen Verletzungen noch vor Ort erlegen war. Die Beamten hatten uns seelische Unterstützung angeboten. Doch was sollte das bringen? Wie sollte ich das jemandem erklären, wie sehr ich meinen großen Bruder vermisste? Wie schlimm die Nachricht seines Todes war und wie tief sie mich in die Dunkelheit gerissen hatte. Diesem Schmerz würde ich nie im Leben ein Gehör verschaffen können und ich wollte auf keinen Fall mit jemand Fremdem darüber reden. Am Ende würde niemand meinen Schmerz verstehen.

»Mein Beileid«, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken und wie in Trance nahm ich die Hand des älteren Mannes entgegen, schüttelte sie und nickte, bevor eine weitere Person vor mich trat und ihr Beileid bekundete.

Von all den Menschen, die hier waren, kannte ich eine Handvoll. Davon war einer mein Vater, einer mein Onkel und drei von ihnen Nicos beste Freunde. Die restlichen Trauergäste hatte ich noch nie zuvor gesehen und ich vermutete, dass es sich beim Großteil um Arbeitskollegen oder Geschäftspartner meines Vaters handelte. Er benutzte die Beerdigung meines Bruders kurzerhand dazu, neue Verträge zu unterzeichnen und Gespräche über das Geschäftliche zu führen. Dass Nicos Freunde hatten kommen dürfen, grenzte an ein Wunder. Mein Vater hatte nie sonderlich viel von ihnen gehalten.

Ich drängte die Gedanken beiseite, als ich die letzte Hand geschüttelt hatte, und blickte zu Nicos drei Freunden, die abseits im Schatten der Bäume standen. Vermutlich wollten sie die italienische Nachmittagshitze umgehen. Oder es lag daran, dass mein Vater ihnen verboten hatte, an den Sarg zu gehen, solange wir dort standen.

Silvano, Paolo und Francesco waren so viel mehr als nur Freunde. Ich kannte sie mein halbes Leben lang und würde nichts lieber tun, als jetzt bei ihnen zu sein. Sie waren wie Brüder für mich, die ich dank Nico kennengelernt hatte.

Leise aber bestimmend erklang die Stimme meines Vaters an meinem Ohr. »Nach dem Essen fährst du mit Luigi zurück ins Anwesen.«

Alles, was ich schaffte, war ein Nicken, bevor mein Vater den Anwesenden seinen Dank für ihr Kommen aussprach und sie auf ein Essen ins L’Amore einlud. Dann führte er mich zusammen mit meinem Onkel zum Wagen.

Ich stieg hinten ein, während mein Vater sich hinters Steuer setzte und Luigi auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Mein Blick fiel nach vorn.

Selbst an Nicos Beerdigung strahlte mein Vater mit seinen grau melierten Haaren, der sonnengebräunten Haut und dem dunkelblauen Maßanzug nur Macht und Gefahr aus. In seinen Augen konnte ich keinerlei Trauer finden. Seit Jahren war er schon so, kalt, unerreichbar und gefürchtet. Das galt für seine Geschäftswelt und sein privates Umfeld. Niemand wollte es sich bei ihm verscherzen und manchmal fragte ich mich, wer mein Vater überhaupt war.

Seit Jahren führte er ein erfolgreiches Firmenimperium mit dem Ein- und Verkauf von Grundstücken und Immobilien. Oft glaubte ich, dass hinter seinen Geschäften mehr steckte, als es auf den ersten Blick schien.

Wenige Sekunden, nach denen er den Wagen gestartet hatte und losgefahren war, erzählte er Luigi, dass er heute noch die Unterschrift eines Geschäftspartners unter Dach und Fach bringen würde.

Das machte mir wieder einmal schmerzlich bewusst, dass er nur an sein Imperium dachte – selbst am heutigen Tag. »Warum gehen wir überhaupt Essen, wenn es dir sowieso nur um die Firma geht?«, kam es schneller über meine Lippen als gewollt.

Luigi sah mitfühlend zu mir, während mein Vater schnaubend seinen Kopf schüttelte.

»Weil es sich gehört.«

»Du weißt, wie es abläuft«, sagte Luigi.

Ich seufzte und blickte aus dem Fenster, beobachtete die vorbeirauschenden Olivenbäume.

Es dauerte nicht lange, bis wir in die ersten kleinen Straßen von Brindisi kamen und das L’Amore ansteuerten. Nachdem mein Vater den Wagen geparkt hatte, stieg ich aus und musterte das alte Steingebäude.

Hier hatten sich meine Eltern kennengelernt. Wir waren früher oft als Familie zusammen essen gegangen, doch nach dem Tod meiner Mutter war das vorbei gewesen. Der Einzige, der dann noch mit mir hierhergekommen war, war mein Bruder gewesen.

Verrückt, dass mein Vater für den heutigen Anlass ausgerechnet dieses Restaurant gewählt hatte, obwohl er mehr an seine Firma dachte, als zu trauern. Er war nicht einmal schockiert gewesen, als uns Nicos Todesbotschaft erreicht hatte. Nickend hatte er es hingenommen, als wäre nichts Dramatisches passiert. Und ausgerechnet jetzt gingen wir in das Restaurant, in dem so viele Emotionen und Erinnerungen lagen, dass ich kotzen könnte.

Vielleicht steckte in meinem Vater doch noch ein Herz und nicht nur der kalte Geschäftsmann – zumindest wollte ich das glauben. Schließlich hieß es, dass jeder mit Trauer anders umging.

Man sagte auch, dass die Zeit alle Wunden heilen würde. Dieser Fall würde bei mir definitiv nicht eintreten. Der Tod meiner Mutter hatte mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Doch mit Nicos Tod lag meine Welt in Trümmern und ich hatte meinen letzten Halt verloren.

KAPITEL 1

LIANA

Heute

Jeder Tag fühlte sich unfassbar schwer an und egal, wie oft ich mir sagte, dass Nico gewollt hätte, dass ich weitermachte, lebte und nicht einfach aufgab, schaffte ich es nicht. Ein Monat war seit der Beerdigung vergangen und während mein Vater wie gewohnt weiterlebte und arbeitete, als wäre nie etwas passiert, schickte er mich zu einer Therapeutin, damit ich wieder ich selbst werden würde. Als ich am Montag nach der Beerdigung in der Firma aufgetaucht und zusammengebrochen war, hatte er mich nach Hause geschickt und erlaubte mir seitdem, von dort aus zu arbeiten. Er wollte mich in dieser Verfassung nicht in der Firma sehen, was mir recht war. Praktisch, wenn der eigene Vater der Kopf des Firmenimperiums war, in dem man arbeitete.

Ich ging die letzten Mails für die kommenden Besprechungen in dieser Woche durch, blickte auf die Uhr und klappte meinen Laptop zu. »Verdammt«, nuschelte ich und schloss meine Augen, rieb über meine Schläfen und atmete tief ein und aus. Ich hatte genau zehn Minuten Zeit, um mich fertig zu machen, bevor unser Chauffeur mich zur Therapeutin fahren würde. Wenn ich zu der Sitzung zu spät kommen würde, könnte ich mir heute Abend wieder etwas von meinem Vater anhören. Darauf wollte ich definitiv verzichten.

Ich schlüpfte aus meinen Klamotten und warf sie auf den Sessel in der Ecke meines Zimmers, rannte in mein angrenzendes Badezimmer und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. »Komm schon«, feuerte ich mich leise an und schnappte mir die Bürste. Ich kämmte meine Haare, bevor ich ein schwarzes Sommerkleid aus meinem riesigen Kleiderschrank zog und es mit bequemen Sneakers kombinierte. Gleich fertig! Ich griff zu meiner kleinen roten Tasche und rannte aus meinem Zimmer, die Marmortreppe hinunter. Der große Flur strahlte blitzblank und verkörperte unmissverständlich, in welchem Luxus meine Familie lebte.

Ich zog die schwere Haustür auf und sah Franko in einem weißen Hemd mit dunkler Anzugshose, der bereits in der Auffahrt neben dem schwarzen Cupra Formentor stand und auf mich wartete.

»Gerade noch rechtzeitig«, sagte er lächelnd und hielt mir die Tür auf, woraufhin ich hineinrutschte. Er nahm auf der Fahrerseite Platz und fuhr los.

»Und dennoch wird mein Vater meckern«, murmelte ich und erntete einen mitfühlenden Blick.

»Du weißt, dass ich ihm nie etwas sage.«

»Ich weiß und dafür bin ich dir sehr dankbar.«

Franko war ein guter Mann und mit seinen mittlerweile vierzig Jahren kannte ich ihn schon mein halbes Leben. Wenn es Probleme gab, hatte er ein offenes Ohr und war für mich da. Ein kleines Lächeln bildete sich auf meinen Lippen, als ich zu ihm blickte und er sich durch seine grau melierten Haare strich.

»Es wird mit jedem Tag einfacher.«

»Ich hoffe es.« Das tat ich wirklich. Ich glaubte daran, dass der Schmerz eines Tages aufhören würde, mich in die Dunkelheit zu ziehen, und ich wieder die Lebensfreude empfand wie vor Nicos Tod. Allein diese Hoffnung ließ mich weiterkämpfen, aber einfach war es nicht.

Auch wenn mein Vater kaum da war, bekam er jede meiner Bewegungen mit; er wusste, wann ich das Haus verließ und sogar, wenn ich mir etwas zu essen bestellte. Sollte ich zu spät zu meinen Terminen kommen, ganz gleich ob es sich um die mit meiner Therapeutin oder Sitzungen in der Firma handelte, bekam ich noch am selben Abend eine Ansage von ihm. Wie oft hatte ich schon daran gedacht, auszuziehen. Doch auch was das anging, war mein Vater streng; er verstand nicht, warum ich nicht zuhause leben wollte. Schließlich hatte ich meinen eigenen Bereich in unserer Villa und genügend Platz für mich allein. Trotzdem fühlte ich mich erdrückt.

Am Ende verdiente ich trotz der Tatsache, dass ich in der Firma meines Vaters arbeitete, nicht genügend Geld, um mir eine eigene Wohnung leisten zu können. Ehrlichweise hatte ich mir darüber nie Gedanken gemacht, bis ich zwanzig geworden war und gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Mein Vater wollte die Kontrolle über mich, und womit hätte er sie besser in der Hand als mit Geld? Er würde immer Möglichkeiten und Mittel besitzen, um mich zurückzuholen; wer Geld besaß, konnte sich schließlich die Welt kaufen. Das hatte ich früh genug gelernt. Also hatte ich mich mit meinem Leben arrangiert, hatte meinen Bruder an meiner Seite gehabt, der für mich da gewesen war.

Doch jetzt bereute ich, dass ich nicht früher für mich und mein eigenbestimmtes Leben eingestanden war.

Wenn ich an mein Leben dachte, war das einfach nur erbärmlich. Ich war sechsundzwanzig, hatte nicht genügend Geld, um eigenständig leben zu können, und war meinem kontrollsüchtigen Vater ausgesetzt. Aber wenn ich tief in mich hineinhorchte, wollte ich nur seine Aufmerksamkeit und dass er stolz auf mich war. Deswegen hielt ich meine Klappe und nahm all das hin. Aber jetzt hatte ich meinen Bruder auch noch verloren und war einsamer als je zuvor.

»Wir sind da«, holte Franko mich aus meinen Gedanken. »Ich warte wieder auf dem Parkplatz, dort drüben.« Er nickte nach links, ehe ich mich verabschiedete und ausstieg.

Ich streckte mich, sah Franko dabei zu, wie er auf dem Parkplatz unter einen schattenspendenden Baum fuhr, und atmete die frische Sommerluft ein. Es gibt nichts Schöneres als die apulische Landschaft. Ich ging wenige Meter an den für Brindisi typischen steinernen Häusern vorbei und blieb kurze Zeit später an einer Haustür stehen.

Mein Blick glitt zu der alten bräunlichen Fassade hinauf, an der bunte Keramiksalamander hingen. Hinter dem schwarzen Gartenzaun, der das Haus rahmte, blühten farbige Oleander.

Du schaffst das. Ich betätigte die Klingel, als wenige Augenblicke später die Tür geöffnet wurde.

Graue Strähnen mischten sich in die braunen Haare der Frau, die vor mir stand, und die Falten in ihrem Gesicht zeigten, dass sie schon zum älteren Semester gehörte. Ihr freundliches Lächeln und das sommerliche Blumenkleid ließen sie sanft und frisch wirken. »Liana, komm doch rein.«

Schweigend folgte ich ihr in das Haus und sofort sog ich den süßlichen Duft von Lavendel ein; ein frisch gebundener Strauß stand auf dem Empfangstresen. Direkt daneben war ein großer Wartebereich mit einer einladenden Sitzecke. Das Haus war gemütlich und liebevoll eingerichtet und vermittelte eher das Gefühl, einen Besuch bei Freunden abzustatten, anstatt in einer Arztpraxis zu stehen.

Lächelnd betrachtete ich die verschiedenen Bilder der apulischen Landschaft, die an den Wänden hingen, während ich der Frau folgte und das Klackern ihrer Absätze auf dem gefliesten Boden nachhallte.

»Wir müssen heute in ein anderes Zimmer ausweichen. Mein Kollege nutzt gerade den Raum, in dem wir uns die letzten Male unterhalten haben«, erklärte sie.

Sie bat mich in das Behandlungszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Ich ließ mich auf den braunen Sessel fallen und sah mich in dem Zimmer um, das mich mit den Zimmerpflanzen und der Staffelei an ein Atelier erinnerte.

»Das ist unsere fünfte Sitzung. Sag mir doch, wie du dich fühlst«, sagte sie und lächelte mich an.

Richtig. Fünf Wochen waren vergangen und ich fühlte mich genauso beschissen wie zuvor. Ich setzte ein Lächeln auf. »Mir geht es gut, Giulia.«

»Liana, wir sind hier, damit du mit deiner Trauer besser umgehen kannst. Das kann nur funktionieren, wenn du ehrlich zu dir selbst bist«, sagte sie und legte ihren Stift beiseite, bevor sie ihre Hände faltete und mich traurig anlächelte.

»Was soll ich sagen? Mein Bruder ist tot, er wurde erschossen«, zischte ich und schloss gequält meine Augen, rieb über meine Schläfen und versuchte, meinen hämmernden Herzschlag zu normalisieren.

»Dein Bruder hat dir viel bedeutet und ich verstehe deinen Schmerz, den der Verlust in dir auslöst. Aber die Schießerei war nicht deine Schuld.«

»Ich weiß, dass das nicht meine Schuld war und ich weiß auch, dass er einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war.« Immer wieder hörte ich die Worte der Beamten in meinem Kopf. Wie sie sagten, dass es zu einem schrecklichen Unfall gekommen sei. Dass mein Bruder bei einer Schießerei sein Leben verloren hatte. Ich zweifelte jedoch an der Wahrheit ihrer Aussage. Mein Vater hatte mich aus dem Zimmer geschickt, um mir die Details zu ersparen, doch ich hatte deutlich gehört, wie die Polizei sagte, dass Nicos Leichnam mehrere Schusswunden aufwies. Wenn es tatsächlich ein Unfall gewesen wäre, hätte er doch nur einen Schuss abbekommen, oder nicht? Ich hatte meinen Vater nicht nur einmal damit konfrontiert, doch seine Antwort war immer die gleiche gewesen – dass mein Bruder Opfer eines Verbrechens geworden und zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war …

»Liana, hörst du mir zu?«

Scheiße, wieder hatte ich mich in meinen Gedanken verloren. Ich öffnete meine Augen und blickte zu Giulia. »Ich vermisse ihn, aber es wird besser.« Irgendwann musste es doch besser werden.

»Es wird Zeit brauchen, bis die Wunden heilen. Wichtig ist, dass du dir keinen Druck machst.« Lächelnd nahm sie einen Block und tippte mit ihrem Kugelschreiber darauf. »Erzähl mir doch, wie die Situation zuhause ist. Wie ist das Verhältnis zu deinem Vater?«

»Die …«, fing ich an, als plötzlich ein lauter Knall ertönte und mich zusammenzucken ließ. Was zur Hölle war das? Mein Herz schlug schneller vor Schreck.

Ein erneutes Knallen erklang. Es hörte sich so an, als würde im Nebenzimmer jemand gegen die Wand schlagen. Einen kurzen Moment war es still, dann ertönte das Klirren von Glas.

Oh mein Gott, was passiert auf der anderen Seite?

»Ich muss mich für den Lärm entschuldigen. Wir haben einen neuen Patienten«, seufzte sie. »Du wolltest mir von deinem Vater erzählen.«

Na super. Ich hatte gehofft, sie würde mir erzählen, was auf der anderen Seite der Wand los war. Alles war besser, als über meinen Vater zu sprechen.

LUCA

WAS FÜR EINE VERFICKTE SCHEISSE! ICH KONNTE es noch immer nicht fassen, dass meine Familie mich zu einem Seelenklempner schickte. Und das, obwohl sie mit mir gebrochen hatte. Warum ich das auch noch tat, wusste ich selbst nicht. Vielleicht in der Hoffnung, sie würden endlich wieder mit mir reden und nicht irgendjemand Fremden vorschicken, um mir Nachrichten zu überbringen. »Merda!« Wütend schlug ich erneut gegen die Wand, schmiss die braune Vase um, die mir als nächstes in den Weg kam, und ballte meine Hände zu Fäusten. Die Wut in meinem Bauch wollte raus und ließ sich nicht bändigen. »Cazzo!«

»Bist du fertig damit, das Büro zu zerstören?«, fragte Lorenzo seelenruhig und ich drehte mich langsam zu ihm um. Wie bei unserem ersten Treffen trug er ein dunkelblaues Hemd mit weißen Punkten und wirkte trotz seinen grauen Haaren viel jünger, als dass er schon fünfundfünfzig sein sollte.

»Keine Sorge, mein Vater zahlt die kaputte Einrichtung sicher«, sagte ich zynisch und tigerte wütend auf und ab.

»Mir geht es nicht um die Einrichtung, Luca. Es geht um dich. Wenn du nicht hier wärst, wärst du im Knast.«

Ein dunkles Lachen drang aus meiner Kehle. Wie oft habe ich das in den letzten Wochen gehört? Niemand verstand die Wut, die in mir tobte und nur gestillt werden konnte, indem ich sie mit meinen Fäusten rausließ. Ich konnte erst wieder ruhig atmen, wenn ich Blut fließen sah. »Tue uns beiden einen Gefallen und brich das einfach ab. Sag meinem Vater ich bin ein hoffnungsloser Fall. Ich bin mir sicher, du bekommst dein Geld auch so.«

»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass mir das Geld egal ist? Komm schon, Luca. Du bist siebenundzwanzig, du hast dein ganzes Leben noch vor dir.«

Auch das hörte ich ständig, aber es interessierte mich nicht. Ich stieß meine angestaute Luft aus, presste meine Fäuste zusammen und starrte auf die zerstörte Vase auf dem Boden und den abgebröckelten Putz an der Wand. Mein Blick fiel auf meine blutenden Knöchel.

»Setz dich endlich hin. Merda, ich versuche doch nur, dir zu helfen!«

»So viel zum Fluchen«, sagte ich. Er hatte mich mehrmals darauf hingewiesen, dass ich aufhören sollte, permanent Schimpfwörter zu verwenden. Grinsend setzte ich mich auf den Sessel vor seinem Schreibtisch.

Sichtlich erleichtert ließ Lorenzo seine Schultern sinken. »Wegen dir fluche ich und bekomme noch mehr graue Haare, als ich eh schon habe.«

»Du weißt, wie du das alles beenden kannst.« Ich zuckte mit meinen Schultern. Er müsste nur meinen Vater kontaktieren und schon wäre er mich los. Aber Lorenzo hatte sich tatsächlich freiwillig gemeldet, um mit mir die Therapiesitzungen und die Betreuung meiner gemeinnützigen Arbeit zu übernehmen. Er war schon jahrelang ein Freund der Familie. Was für ein Idiot; früher oder später würde auch er es aufgeben, mir helfen zu wollen. So, wie es bisher jeder getan hatte.

»Das wird nicht passieren. Ich weiß, dass mehr in dir steckt, als du der Welt preisgeben möchtest.«

Lachend schüttelte ich meinen Kopf und griff zu meiner Jacke, die über dem Stuhl lag. Ich kramte eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie mir in den Mund und zündete sie mit meinem silbernen Clipper an.

»Wenn du hier schon rauchen musst, dann gib mir wenigstens eine ab. Und dann fang an zu reden«, sagte Lorenzo seelenruhig und ich reichte ihm die Schachtel.

»Was wird das? Willst du mir zeigen, dass du mich verstehst, früher genauso Scheiße gebaut und dann dein Leben auf die Reihe bekommen hast?«, schnauzte ich ihn an und erhob mich. Das alles hatte doch keinen Sinn. »Tja, ich muss dich enttäuschen, denn du kennst mich nicht und wirst es auch niemals tun.« Ich hatte die Nase voll. Sollten sie mich doch in den Knast stecken. Was interessierte es meine Familie überhaupt? Merda, alles war besser als vor einem Fremden einen verfickten Seelenstriptease hinzulegen.

»Luca«, hörte ich ihn noch rufen, doch ich war schon aus der Tür und hatte sie hinter mir mit meiner Ferse zugeschlagen. Aufgebracht zog ich an meiner Zigarette. Ich wollte nur noch eines: aus diesem verflixten Haus verschwinden.

Gerade als ich zur Haustür steuerte, knallte etwas in mich hinein.

»Hast du keine Augen im Kopf?«, schnauzte ich und blickte an mir hinunter.

»Entschuldige«, murmelte die Frau, die in mich gerannt war.

Ich schaffte es nicht, meinen Blick von ihr zu nehmen. Ihre langen schwarzen Haare fielen über ihre Schultern. Dazu dieses schwarze Kleid, das mich neugierig darauf machte, was sich darunter verbarg. Ganz zu schweigen von ihren vollen Lippen, die sich sicher perfekt um meinen Schwanz schließen könnten. Cazzo, diese Frau war die pure Sünde.

Als sich unsere Blicke trafen und ich in ihre braunen Augen blickte, trat ich geschockt zurück, als hätte ich mich verbrannt. In ihren Augen spiegelte sich die gleiche Dunkelheit wie in meinen. So viel Schmerz und Trauer lagen darin, die mir beinahe den Boden unter den Füßen wegrissen. Es war verrückt, einfach nur völlig bekloppt, aber etwas in mir wollte diese Frau beschützen, ihr den Schmerz nehmen. Und gleichzeitig wollte ich ihre süße unschuldige Seele zerquetschen. »Was glotzt du mich so an?«, zischte ich und verengte meine Augen zu Schlitzen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, rannte ich an ihr vorbei und rempelte ordentlich gegen ihre Schulter. Ich muss hier weg, ehe ich noch etwas Dummes mache. Während meine Wut sich in meinem Bauch meldete, stürmte ich aus dem Haus und flüchtete zum Parkplatz.

Ich war drauf und dran, mich umzudrehen, um zu sehen, ob die schwarzhaarige Schönheit aus dem Haus kam. Cazzo, hör auf und reiß dich zusammen! Auch wenn ich in ihren Augen eine Dunkelheit gesehen hatte, war es die Trauer darin gewesen, die mich wahnsinnig machte. Und trotz der Finsternis in ihrem Ausdruck hatte sie etwas Unschuldiges und Gutes ausgestrahlt. Das verstand ich noch weniger als meine Reaktion, die zwischen Wut und Neugierde hin- und herschwankte. Am Ende war das egal; ich wusste wer ich war und dass ich alles Gute und Schöne in meinen Händen zerstörte, wenn ich auch nur in die Nähe davon kam.

»Was ist nur los mit mir?«, murmelte ich und erreichte meine schwarze Yamaha. Ich würde diese Frau vermutlich nie wiedersehen und das war gut so. Trotzdem musste ich mich zwingen, auf mein Bike zu steigen und loszufahren, anstatt zurück in die Praxis zu gehen, um herauszufinden, wer sie war. Das war krank. Frauen waren mir egal. Ich benutzte sie und warf sie danach weg. Sie waren nichts weiter als schönes Spielzeug, um Druck abzulassen. Gefühle machten schwach und Schwäche war etwas, was ich mir nicht erlauben durfte.

KAPITEL 2

LIANA

Völlig geschockt starrte ich zur Tür, durch die der Kerl verschwunden war, hielt meine Schulter, die er getroffen hatte, und ging mit langsamen Schritten aus dem Haus. Ich konnte seine Augen nicht vergessen. Sie waren beinahe schwarz gewesen, passten irgendwie zu diesem Typen mit der Lederjacke und den Tattoos. Oh Gott, was ist nur los mit mir? Der Kerl wusste allen Anscheins nach nicht, wie man sich benahm. Er bedeutete definitiv Ärger. Ich hatte seine blutigen Knöchel auf dem Handrücken gesehen; vermutlich war er es gewesen, der in dem Raum nebenan getobt hatte.

Ich schüttelte meinen Kopf, ging in die Richtung des Parkplatzes und strich meine Haare zurück, als wie aus dem Nichts ein schwarzes Motorrad an mir vorbeiraste und ich vor Schreck mehrere Meter nach hinten strauchelte.

»Ey, pass doch auf!«, schrie ich ihm wütend hinterher.

Der Fahrer des Motorrads machte plötzlich eine Vollbremsung und kam quer mitten auf der Straße zum Stehen. Es handelte sich eindeutig um einen Mann, jedenfalls deuteten die breiten Schultern und der angespannte Rücken darauf hin. Die Statur und das Erscheinungsbild ließen mir sämtliche Nackenhaare zu Berge stehen. Er wollte mir eindeutig Angst machen; immer wieder drehte er den Gasgriff bis zum Anschlag und ließ die Räder seines Motorrads auf dem Asphalt durchdrehen, sodass er innerhalb weniger Augenblicke in dichten und stinkenden Rauch gehüllt war.

Ich blinzelte mehrmals und starrte auf das verdunkelte Helmvisier, das mir sämtliche Sicht auf sein Gesicht verwehrte. Ich hätte schwören können, dass er mir geradewegs in die Augen starrte. »Das ist nicht gut«, flüsterte ich und schluckte, mein Herz hämmerte wild in meiner Brust.

Der Mann gab erneut Gas und bretterte im nächsten Moment davon.

Oh Gott, was war das bitte? Erst der Typ bei meiner Therapeutin und jetzt wurde ich auch noch fast von einem Motoradfahrer über den Haufen gefahren. Konnte mein Tag noch beschissener werden? Ich schüttelte meinen Kopf und blickte hinauf in den Himmel. Mit geschlossenen Augen atmete ich tief durch, die warme Sonne küsste meine Haut.

Gemeinsam mit Franko fuhr ich zurück nach Hause. Meine Gedanken kreisten um diese merkwürdige Begegnung, was mich die ganze Fahrt über schweigen ließ. Selbst nachdem ich mich von Franko verabschiedet und es mir auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem gemacht hatte, herrschte in mir ein reines Gefühlschaos. Frustriert legte ich meinen Kopf in den Nacken und starrte hinauf zum Kronleuchter. Die verdammten Augen des Fremden kamen mir in den Sinn. Wer ist dieser Mann nur?

»Da bist du ja«, ertönte die Stimme meines Vaters, als er ins Wohnzimmer trat. Er verengte seine Augen, bevor er seine dunkle Krawatte gerade zupfte, die perfekt zu dem grauen Anzug passte.

»Vater.« Ruhig, bleib einfach ruhig. Ich stand auf, trat vor ihn und stellte mich auf meine Zehnspitzen, küsste seine Wange und ging an ihm vorbei ins Esszimmer, wo bereits für das Mittagessen gedeckt worden war. »Ich wusste nicht, dass du schon zurück bist.« Ich war davon ausgegangen, ihn erst am Abend zu sehen. Normalerweise kam er nie um diese Uhrzeit nach Hause.

»Liana, du bist meine Tochter und es wird Zeit, dass wir reden«, sagte er und setzte sich an den Kopf des Tisches.

Sofort beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Das konnte nichts Gutes bedeuten. »Und über was möchtest du reden?«

»So kann es einfach nicht weitergehen. Ich weiß, dass Nico tot ist. Deine Therapeutin meinte, dass so etwas seine Zeit brauche, aber wie lange könne sie mir nicht sagen. Niemand sagt mir, wie lange diese Trauer gehen soll.«

Echt jetzt? Er hat sich bei meiner Therapeutin erkundigt, wie die Sitzungen laufen? Eigentlich sollte es mich nicht wundern. Das war typisch für meinen Vater. Aber ich konnte seine Fragen nach der Dauer meiner Trauer nicht mehr hören. Ich setzte mich an das andere Ende des Tisches und faltete meine Hände in meinem Schoß. »Nico ist tot und es tut mir herzlich leid, dass dir das alles egal ist.«

»Nicht in diesem Ton!«, brüllte er und schlug mit seiner Faust auf den Tisch.

Ich zuckte augenblicklich zusammen und senkte meinen Kopf. Scheiße, ich wollte nicht vor ihm weinen, doch Tränen drängten sich an die Oberfläche. Nur mit Mühe konnte ich sie hinunterschlucken.

»Der Tod gehört nun mal zum Leben dazu. Was willst du tun, Liana? Dein Leben wegwerfen, nur weil dein Bruder tot ist?« Seine Stimme war leise und drohend.

In dem Augenblick, als ich meinen Kopf hob, gefror mir sämtliches Blut in meinen Adern. Ich wusste, dass mein Vater seine Gefühle nicht zeigen konnte, dass seine Eltern ihn mit harter Hand erzogen hatten. Ich starrte in Augen, die ich kaum wiedererkannte. Kein Funken Wärme war darin zu sehen. Nur Kälte, Dunkelheit und die Macht, die er so sehr liebte und auslebte. Damals, als meine Mutter noch gelebt hatte, war er anders gewesen. Liebevoll, beschützend und fürsorglich. Doch das war Jahre her. »Er wurde erschossen. Mehrmals hat man ihm in seine Brust geschossen und du tust so, als wäre es nichts«, flüsterte ich und erhob mich. »Glaub mir, ich will diesen Schmerz nicht. Aber es gibt keinen Schalter, den ich umlegen kann, und alles wäre wieder gut. Ich wünschte, es wäre so einfach, Mario.« Meine Stimme brach und die erste Träne lief über meine Wange. Ich drehte ihm den Rücken zu, rannte zur Treppe und hinauf in mein Zimmer.

Es war egal, was ich sagte oder tat; mein Vater würde es niemals verstehen, weil er es einfach nicht konnte. Ich wusste nicht, ob das besser war oder alles noch schlimmer machte. Wie oft hatte ich mir gewünscht, dass er mich in den Arm nahm. Dass er mir sagte, dass wir diese Zeit zusammen durchstehen würden und er für mich da wäre. Das war nicht mehr als Wunschdenken.

Schluchzend warf ich mich ins Bett und schrie in mein Kissen. Dann zog ich meine Beine an, umklammerte meinen Körper und wünschte, ich könnte dem Schmerz entkommen. »Bitte, ich kann nicht mehr«, wisperte ich und presste meine Augen zusammen, dachte an Nico, was den Schmerz nur noch mehr antrieb. Ich hatte das Gefühl, immer tiefer in eine unausweichliche Finsternis zu stürzen.

Ich werde immer für dich da sein, la mia piccola, drangen seine Worte in mein Gedächtnis. Die Erinnerung, wie er mich immer ›meine Kleine‹ genannt und mir versprochen hatte, mich niemals im Stich zu lassen, ließ mich laut schreien. »Du hast es mir versprochen!« Aber selbst du lässt mich allein. Warum? Wieso musstest ausgerechnet du sterben? Das Leben war noch nie fair gewesen.

Wie in Trance blickte ich zu meinem Schreibtisch, auf dem das Messer lag, womit ich heute morgen die Briefe geöffnet hatte. Wen würde es interessieren, wenn ich es einfach nahm und meine Venen aufschnitt? Langsam kroch ich aus meinem Bett, stellte mich vor den Schreibtisch und nahm das Messer in die Hand, legte die Klinge auf meinen Unterarm und spürte die Kälte des Metalls. Es wäre ein Schnitt, ein kurzer Schmerz, um endlich Erlösung zu finden. Es war so verdammt verführerisch.

»Cazzo di merda«, schrie ich und warf das Messer zu Boden, räumte den Schreibtisch mit meinen Händen ab, sodass sämtliche Blätter durch das Zimmer flogen. Dann fiel ich auf meine Knie und stemmte meine Fäuste in den Boden. Ich schloss meine Augen, atmete tief ein und wieder aus. Mein Herzschlag normalisierte sich mit jedem Atemzug.

Nach einer Weile blickte ich auf das Papierchaos am Boden. »Komm schon, du schaffst das«, machte ich mir Mut und fing an, die Blätter aufzusammeln und alles wieder aufzuräumen.

Ich setzte mich auf mein Bett und ein Klopfen ließ meinen Kopf zur Tür schnellen.

Langsam wurde sie geöffnet und Maria kam mit einem Tablett herein.

»Du hättest mir nichts bringen müssen«, sagte ich und wischte schnell meine Tränen weg, bevor ich aufstand und ihr das Tablett mit der Pasta abnahm. Ich stellte es auf meinem Schreibtisch ab.

»Dein Vater bat mich darum. Und du musst etwas essen, auch wenn es schwierig ist.« Liebevoll tätschelte sie meinen Arm und ging aus meinem Zimmer.

Maria war damals unser Kindermädchen gewesen und als wir älter wurden, war sie geblieben und half uns bis heute im Haushalt. Wenn ich ehrlich war, pflegte ich mit ihr ein besseres Verhältnis als zu meinem Vater.

Sie hatte recht, ich musste etwas essen. Also nahm ich mir den Teller vom Tablett und aß die Pasta. Dann nahm ich mir ein Buch zur Hand, denn das war das Einzige, was mich schon immer ablenken konnte. So schaffte ich es abzuschalten, auch wenn es nur für eine kurze Zeit war. In diesen Momenten konnte ich in eine andere Welt abtauchen, all meine Probleme für einen Augenblick vergessen.

Als die Sonne langsam unterging und ich das Tablett in die Küche gebracht hatte, verkroch ich mich wieder in meinem Zimmer und steckte meine Nase weiter in eines meiner Bücher.

»Es wird besser«, sagte ich seufzend und legte das Buch beiseite, blickte auf mein Nachtkästchen und zu dem Bild, das darauf stand. Ich liebte es. Es war letztes Jahr entstanden, als Nico und ich zusammen in Paris gewesen waren und versucht hatten, selbst Croissants zu backen. Wir waren kläglich gescheitert. Mein Bruder und ich waren mit Mehl befleckt und grinsten, während ein verkohltes Croissant vor uns lag. Gott, hatten wir gelacht, als mein Bruder meinte, wir hätten ein Mörder-Croissant erschaffen. Genau das hatte ich so sehr geliebt; mit Nico hatte ich nicht nur alles besprechen können, was mir auf dem Herzen lag, sondern auch jeglichen Blödsinn machen. Er war nicht nur mein älterer Bruder, sondern auch mein bester Freund, mein Vorbild und mein Held gewesen.

LUCA

DEN RESTLICHEN TAG WAR ICH BLIND DURCH DIE Stadt gebrettert, bis ich zurück in meine Wohnung gefahren war und meinen Boxsack bearbeitet hatte. Selbst Stunden später, als die Sonne bereits untergegangen war, war ich nicht auf andere Gedanken gekommen. Also zog ich mir frische Kleidung an und ging raus, in der Hoffnung, mich dadurch ablenken zu können.

Merda. Wer hätte gedacht, dass so eine Kleine meinen Kopf ficken würde? Darüber musste ich selbst lachen, als ich meine Hände in die Hosentasche steckte und durch die Gassen zur nächsten Haltestelle ging. Sobald ich in den Bus eingestiegen war, der in die Richtung des Zentrums fuhr, konnte ich mit jedem Meter die Veränderung der Gegend wahrnehmen; die Junkies, die in den Seitengassen lagen, wurden allmählich weniger.

Im Zentrum der Stadt war es definitiv ungefährlicher als in meiner Wohngegend. Auch wenn es überall Kriminelle gab, trauten sich die Einheimischen in meiner Siedlung nach Einbruch der Dämmerung nicht mehr nach draußen.

Hier saßen sie vor ihren Wohnungen, unterhielten sich, spielten Karten und tranken das ein oder andere Gläschen Limoncello.

Sobald ich ausgestiegen war, fischte ich aus meiner Hosentasche eine Zigarette heraus und zündete sie mir an, den Rauch zog ich tief in meine Lunge. Im Park angekommen setzte ich mich auf eine freie Bank und drehte das Clipper in meiner Hand umher. »Fratelli per sempre«, las ich die schwarze Gravur gedankenverloren.

Brüder für immer. Das war nicht nur irgendein Satz; jedes Mal, wenn ich darauf sah, musste ich an meinen verstorbenen Bruder denken. »Merda«, murmelte ich, steckte das Feuerzeug zurück in meine Hosentasche und stemmte meine Ellbogen auf meine Oberschenkel. Ich zog an meiner Zigarette und blies den Rauch vor mir zu Boden.

Wie verkorkst die Welt doch ist. Ich war hier in Brindisi aufgewachsen und liebte die Stadt. Die alten Gebäude, des Meer, die kleinen Gassen mit den bunten Malereien; das alles gehörte zu Apulien und ich konnte mir keinen besseren Ort zum Leben vorstellen. Ich hatte zwar immer mehr von der Welt sehen wollen, doch das Schicksal war ein kleiner Bastard, der mich hierbehalten wollte. Durch meine kriminelle Vergangenheit und meine Vorstrafen konnte ich einen gut bezahlten Job vergessen. Ehrlichweise wollte ich Italien nach dem Tod meines Bruders aber auch nicht verlassen.

Während mein alter Herr sein Leben in einer schicken Villa genoss, lebte ich in einer kleinen, heruntergekommenen Wohnung. Natürlich könnte ich zurückgehen und dort in der Bonzengegend leben, aber ich wollte mit diesem Leben nichts mehr zu tun haben. Weder mit meiner Familie, die mich verstoßen hatte, noch mit meiner kriminellen Vergangenheit.

Merda, das sollte mir egal sein. Ich hatte meine eigene kleine Wohnung, war in wenigen Minuten mitten im Stadttrubel und in Kürze am Strand, wenn ich mit meinem Wagen fuhr. Besser könnte es nicht laufen – und doch gab es einen Haken. Denk jetzt nicht daran.

Ich drückte meine Zigarette mit meinem Schuh aus und beschloss, mich zurück auf den Weg in meine Wohnung zu machen, als mein Smartphone vibrierte und eine Nachricht ankündigte.

Sei morgen pünktlich.

Lorenzo. Genervt verdrehte ich meine Augen. Morgen musste ich zum Strand und die ersten Stunden meiner Strafe absitzen. Was das mit gemeinnütziger Arbeit zu tun hatte, wusste ich nicht, aber es sah natürlich nicht gut aus, wenn ein Luca Amingo in der Suppenküche aushelfen würde – das könnte dem Ruf meiner Familie schaden. Mein Vater hatte es also eingefädelt, dass ich meine Stunden abarbeiten konnte, indem ich an einem Strandbereich für die Entsorgung von Müll und das Servieren von Essen und Getränken zuständig war. Vermutlich hatte er den Richter dafür geschmiert, aber das konnte mir egal sein. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob der Strand wirklich besser war als die Suppenküche. Meine Lust darauf hielt sich in Grenzen, erst recht mit Lorenzo an meiner Seite. Es war absolut untypisch, dass der Therapeut seinen Schützling beim Absitzen seiner Strafe begleitete, doch mein Vater hatte darauf bestanden und eine Abmachung mit ihm getroffen. Wahrscheinlich, dass jemand da war, der auf mich aufpasste.

Ich blickte in den dunklen Himmel, ehe ich aufstand und mit einem der Nachtbusse zurück in mein Viertel fuhr. Nachdem ich an der Haltestelle ausgestiegen war, marschierte ich die letzten Meter durch die Gassen zu meiner Wohnung.

Plötzlich packte mich jemand von hinten und drückte mich gegen die Hauswand.

Ich wich dem Schlag des Fremden aus und drehte mich geschickt aus seinem Griff, ehe ich ihn am Hals packte und zu Boden schmiss. »Was willst du?«, zischte ich und verengte meine Augen. Adrenalin schoss durch meinen Körper und machte mich hellwach, mein Puls rauschte in meinen Ohren. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und stellte mich breitbeinig hin.

»Alessandro schickt mich. Du weißt, was das zu bedeuten hat«, sagte er, stand auf und spuckte mir vor die Füße.

Bevor er ausholen konnte, trat ich vor, holte mit meiner rechten Faust aus und schlug ihm gegen seinen Kiefer.

Er strauchelte und fiel zurück auf den Boden.

»Du kannst ihm sagen, dass ich mit ihm fertig bin.«

Der Fremde lachte nur und stemmte seine Fäuste gegen den Asphalt. »Wir beide wissen, dass du das noch lange nicht bist. Es wird Zeit, dass du deinen Platz in dieser Welt akzeptierst.«

Er stieß sich vom Boden ab, ballte seine Fäuste.

Erst jetzt bemerkte ich seine beachtliche Größe und den breiten Oberkörper, doch das beeindruckte mich nicht. Ich hob meine Fäuste und stellte mich in Kampfposition, wich seinem ersten Hieb aus und schlug mit meiner Faust gezielt gegen seinen Kehlkopf. Röchelnd taumelte er zurück, bevor er mit meinem zweiten Schlag wieder auf dem Boden landete und ich über ihm ragte. »Du hast wohl vergessen, wer ich bin und für was ich zuständig war«, sagte ich bedrohlich und holte immer wieder aus.

Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust, als ich das Knacken seines Nasenknochens hörte und sein Blut meine Fäuste befleckte, doch ich hörte nicht auf. Immer und immer wieder schlug ich zu und grinste. Ich genoss den Adrenalinrausch, das Blut an meinen Händen und den schmerzerfüllten Ausdruck in seiner Visage. Ich liebte die rohe, brutale Gewalt.

Erst als er sich nicht mehr wehrte und ich in zwei dicke, blutunterlaufene Augen blickte, durchflutete meinen Körper eine Befriedigung. Ein Gefühl von Freiheit, das mich von innen heraus wärmte.

Grinsend thronte ich über ihm. »Sag ein Wort und das nächste Mal bist du tot, verstanden?«

Zitternd nickte er und kroch rückwärts von mir weg.

Zufrieden steckte ich meine Hände in die Hosentasche und ging pfeifend zurück in meine Wohnung.

KAPITEL 3

LIANA

Gedankenverloren lag ich in meinem Bett. Von meiner Arbeit hatte ich gestern nicht mehr viel geschafft. Trotz meiner Vorsätze, dass ich heute produktiver sein wollte, hatte ich den Vormittag damit verbracht, Löcher in die Decke zu starren und alte Fotos von Nico und mir anzusehen. Scheiße, das ist alles andere als produktiv. Mein Blick glitt zu meinem Schreibtisch, auf dem zahlreiche Unterlagen neuer Immobilien lagen, die ich sortieren und bewerten musste – aber ich schaffte es nicht. Selbst das Duschen heute morgen war eine Hürde gewesen und hatte sich unfassbar schwer angefühlt.