Detektivgeschichten aus dem alten Wien - B. Groller - E-Book

Detektivgeschichten aus dem alten Wien E-Book

B. Groller

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Beschreibung

Skrinsky verlas das Protokoll, dessen wissenschaftliche Darstellung der tödlichen Verletzung sich im wesentlichen mit der schlichten Beschreibung des Wachmanns deckte. Als er zur ausführlichen Beschreibung der inneren Organe gelangte, fragte er, ob er auch diese verlesen solle. »Ist etwas Auffälliges dabei?« forschte Dagobert. »Nichts Besonderes; Herz normal, Leber etwas vergrößert, granuliert und leicht fettig degeneriert –« »Ein Student – wird im Alkohol ein bißchen exzediert haben.« »Sehr richtig, Herr von Dagobert. Dürfte in diesem Punkte erblich belastet sein. Ich habe bereits alle Familienverhältnisse telegraphisch bei der Villacher Polizei ermittelt. Sehr wohlhabendes Haus, Fabrikanten, Vater und noch zwei andere im Geschäft tätige erwachsene Söhne, alle drei ungemein kräftig, aber alle drei auch schwere Alkoholiker.«

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B. Groller                                         

Detektivgeschichten aus dem alten Wien 

idb

ISBN 9783961507177

 Ein sonderbarer Fall.

Man saß bei Tisch im Hause Grumbach, und zwar wieder einmal zu dritt, der Hausherr, seine liebenswürdige Gattin Frau Violet und der alte bewährte Hausfreund Dagobert Trostler.

Der weißbehandschuhte Diener servierte eben die Suppe, als im Nebengemach die telephonische Klingel ertönte. Auf einen Blick des Hausherrn begab sich der Diener zum Apparat und kam nach wenigen Sekunden schon mit der Meldung zurück: »Madame Meyer wird gebeten; es ist sehr dringlich!«

Die Hausfrau lächelte, machte aber gleich darauf ein erschrockenes Gesicht. Sie hatte gelächelt, weil sie den Sinn der sonderbaren Meldung sofort verstanden hatte. Sie wußte, daß Polizeirat Doktor Weinlich und Dagobert sich dieses eigentümlichen Decknamens bedienten, wenn sie miteinander telephonisch verkehrten. Und erschrocken war sie dann, weil sie sich gleich sagte, daß es mit dem geselligen Zusammensein bei Tische, auf das sie sich wie immer gefreut hatte, nun auch schon sein Ende habe. Das war sicher wieder irgend so eine Detektivsache, und wenn Dagobert von so etwas hörte, dann war er einfach nicht zu halten. Sein »Beruf«, sein »Geschäft« ging ihm über alles. Tatsächlich erhob er sich sofort und legte seine Serviette auf den Tisch.

»Aber, Dagobert,« flehte die Hausfrau, »essen muß doch der Mensch, und wenn die Geschäfte auch noch so pressieren mögen!«

»Allerdings, Frau Violet, essen muß der Mensch, aber es muß nicht gerade dann sein, wenn es Wichtigeres zu tun gibt.«

»Aber so nehmen Sie doch Vernunft an! Was wird es denn sein? Um einen Einbrecher wird es sich wieder handeln. Den hat man entweder schon, und dann wird er Ihnen nicht davonlaufen, oder man hat ihn nicht, nun, dann wird man ihn eben fünf Minuten später fangen. Darauf kann es doch nicht ankommen!«

»Bei meinem Geschäft, Gnädigste, kann man nie im vorhinein wissen, worauf es ankommt. Sicher ist, daß ich auch nicht einen Augenblick verlieren darf.«

Es war mit ihm nicht zu reden. Er versprach noch rasch auf Bitten der Hausfrau, ihr wie immer auch dieses Mal alles haarklein zu erzählen und dann stürmte er die Treppe hinunter, bestieg seinen Wagen und war fünf Minuten später in der Kanzlei Doktor Weinlichs, der ihn mit besonderer Liebenswürdigkeit empfing.

»Sie wissen, Dagobert,« begann er nach der herzlichen Begrüßung, »daß Sie immer mein letzter Notanker oder, wenn es Ihnen besser gefällt, mein letzter Pfeil im Köcher sind, wenn ich mir schon gar nicht mehr zu helfen weiß.«

»Keine Schmeicheleien, Doktor! Sie wissen sich immer zu helfen.«

»Zu gütig! Wenn ich nur überall dabei sein könnte! Wir haben wieder ein kleines Malheur.«

»Um was handelt es sich?«

»Um einen Mord.«

»Doch schon etwas! Ich sollte meinen, das sei schon ein beträchtliches Malheur.«

»Nicht so meine ich es. Sie wissen, mein ständiges Malheur –«

»Ach sooo! Schon wieder und noch immer der ehrenfeste Doktor Thaddäus Ritter von Skrinsky?«

»So ist es. Ich war in der letzten Nacht nicht in Wien – mußte einer Banknotenfälscherbande in St. Pölten nachspüren; sonst habe ich Auftrag gegeben, mich bei jeder Mordsache zu wecken. Ihnen brauche ich ja nicht zu sagen, wie sehr es auf die erste Tatbestandsaufnahme ankommt. Und so war es denn wieder der unglückliche Skrinsky, der da zum Handkuß gekommen ist.«

»Daß Sie den noch nicht angebracht haben!«

»Unmöglich. Er avanciert sogar flott mit mir. Als ich Polizeirat wurde, rückte er zum Oberkommissär auf. Die ganze Stadt wird morgen auf sein über den Sensationsfall – für die Abendblätter habe ich die Nachrichten noch zurückgehalten – man wird von nichts anderem reden, und Skrinsky soll die Ehre des Hauses retten! Wir werden schön ausschauen! Nun sagen Sie selbst – muß ich da nicht meine Zuflucht zu Ihnen nehmen?!«

»Ich stehe mit Vergnügen zur Verfügung. Lassen Sie hören, aber, bitte, bevor Sie anfangen, lassen Sie mir etwas zu essen holen, sonst verhungere ich da auf dem Fleck und an einem verhungerten Dagobert haben Sie ja doch nichts.«

Doktor Weinlich gab die entsprechenden Befehle. Dagobert setzte sich zurecht und seinen Petruskopf neigend hörte er aufmerksam zu, als Weinlich begann:

»Sie kennen die Sensengasse. Sie mündet förmlich in den brausenden Weltverkehr hinein und ist doch vielleicht die stillste und verkehrsärmste Gasse von Wien, zumal bei Nacht. Nur am Anfang bei der Währingerstraße, einer Hauptverkehrsader der Stadt, einige Häuser, sonst in der ganzen Ausdehnung zu beiden Seiten sehr hohe, feste Gartenmauern. Die Gasse zieht sich hin zwischen weitläufigen Parkanlagen. Auf der einen Seite das Offiziersspital, auf der andern der historische ›Narrenturm‹ und die Totenkammer des allgemeinen Krankenhauses. Die Gebäude stehen weit drin in den Anlagen und sind von der Straße aus kaum sichtbar. Da geht in der Nacht niemand durch, der nicht gerade muß.«

»Ich kenne die Strecke; sie gehört zu jenen, von denen es heißt, daß man auf ihnen auch bei hellichtem Tage erschlagen werden kann.«

»Tatsächlich ist dort einer erschlagen worden. Nicht bei Tage, sondern um zwei Uhr nachts. Berücksichtigen Sie, daß bei uns um Mitternacht jede zweite Straßenlaterne abgedreht wird, und Sie werden sich vorstellen können, wie es zu jener Stunde in der Sensengasse aussehen mag.«

»Das kann ich mir denken. Weiter.«

»Nun denn, dort ward auf der Seite des Offiziersspitals nahe zur Mauer, aber doch noch auf dem Fahrdamm, die Leiche eines Erschlagenen aufgefunden.«

Dagobert blickte auf.

»Ist niemand sonst auf dem Tatorte gesehen, nichts von einem vorhergehenden Raufexzeß wahrgenommen worden?«

»Nichts von alledem. Ringsherum Totenstille.«

»Sonderbar!«

»Ja, leider sehr sonderbar und für uns wahrscheinlich eine Katastrophe. Denken Sie nur, die kolossale Sensation, die es geben wird. Fast mitten in der Stadt wird auf offener Straße ein Mensch ermordet, und die Polizei bringt wieder nichts heraus!«

»Erzählen Sie Näheres, Weinlich!«

»Ich werde mich hüten. Einem Kriminalisten Ihres Ranges – Sie brauchen nicht abzuwehren; ich weiß, was ich sage – soll man womöglich überhaupt nichts erzählen. Muß ich Sie erst auf die Psychologie der Zeugenaussagen verweisen? Ich selbst weiß alles nur aus zweiter und dritter Hand. Es ist nicht ausgeschlossen, daß schon mir irgendeine Einzelheit ungenau berichtet oder von mir falsch aufgefaßt wurde. Es ist weiters nicht ausgeschlossen, daß ich, wenn auch unabsichtlich, irgendeine subjektive und vielleicht falsche Meinung durch meine Darstellung suggerieren könnte. Vor derlei müssen wir uns hüten. Sie müssen den trockenen Tatbestand kennen lernen, wie er bisher in den Akten festgelegt ist.«

»Sehr gut. Möchten Sie uns nicht den Doktor Skrinsky mit seinem Material herüberzitieren?«

»Das war meine Absicht. Ich glaube aber, Sie verfolgen auf eigene Faust die Angelegenheit. Eine Kollision mit ihm befürchte ich nicht; denn er kommt bestimmt nicht auf die richtige Spur.«

Als Doktor Skrinsky mit seinen Akten eintrat, wurde eben auch das bestellte Mahl für Dagobert gebracht. Dieser entschuldigte sich bei dem Ankömmling und erbat sich von ihm die Erlaubnis, in seiner Gegenwart seinen Hunger zu stillen.

»Sie wissen, Herr Oberkommissär,« fuhr er dann schon essend fort, »daß ich eine kleine Schwäche für interessante Kriminalfälle habe, und da habe ich denn von meinem speziellen und sehr verehrten Freund, dem Polizeirat, die Erlaubnis erbeten, auch meine Nase ein wenig hineinzustecken.«

»Aber Herr von Dagobert,« erwiderte der Oberkommissär mit äußerster Höflichkeit, »ich weiß ja, daß Sie zu unseren getreuesten Hausfreunden zählen und daß wir Ihnen schon manchen wertvollen Dienst zu danken haben.«

»Ich werde Sie auch ganz gewiß in Ihren Untersuchungen nicht stören. Ich will nur ein wenig trainieren. Sie wissen, daß es bei unserem Geschäft wesentlich darauf ankommt, immer im Training zu bleiben.«

»Gewiß, ich weiß, Herr von Dagobert.«

»Der Erfolg soll Ihnen auch ungeschmälert bleiben, Herr Oberkommissär. Er wird bei Ihrem bewährten genialen Scharfblick sicher nicht ausbleiben.«

»Ich denke selbst, es wird ein schöner Erfolg werden,« entgegnete der Oberkommissär sich bescheiden verneigend. »Der Fall ist ja nicht einfach, aber ich habe es bisher schon nicht an den nötigen Vorkehrungen fehlen lassen und ich glaube nicht zuviel zu sagen, wenn ich behaupte, daß ich jetzt schon auf der richtigen Spur bin.«

»Desto besser! Und nun, Herr Oberkommissär, ad rem!«

Der Oberkommissär verlas das erste in dieser Sache aufgenommene Protokoll, dessen wesentlicher Inhalt dahin lautete:

»Am 23. Februar kurz vor zwei Uhr nachts wurde vom Rayonposten Sicherheitswachmann Kajetan Wendtlehner, Nr. 1478 in der Sensengasse, IX. Bezirk, ein Mann auf der Straße liegend und anscheinend tief bewußtlos aufgefunden. Der Wachmann versuchte, den Mann durch Anrufen und Rütteln zum Bewußtsein zu bringen, was ihm jedoch nicht gelang. Er gab darauf das Signal um Sukkurs und veranlaßte die sofortige telephonische Verständigung der Rettungsgesellschaft. Nach Verlauf von acht Minuten war das Automobil der Rettungsgesellschaft zur Stelle. Der Inspektionsarzt konnte schon nach kurzer Untersuchung den bereits eingetretenen Tod feststellen und lehnte daher jede weitere Intervention ab. Hierauf wurde das Kommissariat Schottenring verständigt, das sofort eine Kommission entsandte. Der Lokal-Augenschein ergab: Der Kleidung nach gehörte der Tote den besseren Ständen an. Nach verschiedenen Karten, insbesondere nach der studentischen Legitimationskarte und sonstigen Schriftstücken, welche man bei ihm vorfand, schien die Identität mit dem Studenten der Medizin im achten Semester Erich Puchta, geboren zu Villach in Kärnten, wohnhaft IX. Lazarettgasse 17, festgestellt. Der Polizei-Bezirksarzt Dr. Robitschek konnte, nachdem er den anscheinend durch einen Schlag, dessen Spuren deutlich sichtbar waren, fest angetriebenen Hut, der am Hinterhaupt infolge gestockten Blutes angeklebt oder angefroren war, mit aller Vorsicht entfernt hatte, außer einer Schwellung am Scheitel und verhältnismäßig geringem Blutaustritt keine andere äußere Verletzung nachweisen. Jedenfalls ist es jetzt schon als sicher anzunehmen, daß der Tod als die Folge eines mit großer Gewalt geführten Streiches mit einem stumpfen Instrument herbeigeführt worden ist. Sohin wurde die Überführung der Leiche in das gerichtlich-medizinische Institut behufs Sicherstellung der Todesursache veranlaßt.«

»Schön. Ist die Obduktion bereits vorgenommen worden?« fragte Dagobert.

»Ja,« entgegnete der Oberkommissär, »ich habe auch das Obduktions-Protokoll hier.«

»Ich bitte, es zu verlesen.«

»Ich fürchte nur, Herr von Dagobert, daß es Sie vielleicht beim Essen –«

»Keine Idee – lesen Sie nur!«

Skrinsky verlas das Protokoll, dessen wissenschaftliche Darstellung der tödlichen Verletzung sich im wesentlichen mit der schlichten Beschreibung des Wachmanns deckte. Als er zur ausführlichen Beschreibung der inneren Organe gelangte, fragte er, ob er auch diese verlesen solle.

»Ist etwas Auffälliges dabei?« forschte Dagobert.

»Nichts Besonderes; Herz normal, Leber etwas vergrößert, granuliert und leicht fettig degeneriert –«

»Ein Student – wird im Alkohol ein bißchen exzediert haben.«

»Sehr richtig, Herr von Dagobert. Dürfte in diesem Punkte erblich belastet sein. Ich habe bereits alle Familienverhältnisse telegraphisch bei der Villacher Polizei ermittelt. Sehr wohlhabendes Haus, Fabrikanten, Vater und noch zwei andere im Geschäft tätige erwachsene Söhne, alle drei ungemein kräftig, aber alle drei auch schwere Alkoholiker.«

»Mein Kompliment, Herr Oberkommissär! Ich beglückwünsche Sie zu der Genialität, mit der Sie das so rasch herausgebracht haben. Ich wußte, daß man sich auf Sie verlassen kann. Ich zweifle nicht, daß ich Ihnen in kurzem zu einem vollen Erfolg werde gratulieren können.«

»Wäre nicht so unmöglich. Ich habe eine Spur –!«

»Desto besser – nur nicht locker lassen!«

»Ich lasse nicht locker und glaube, daß ich – kurz, ich halte die Hand über den Täter!«

»Ausgezeichnet! Ich frage gar nicht erst.«

»Es ist auch besser, noch nichts davon zu reden. Herr von Dagobert wissen selbst am besten, daß das Geheimnis nur allzuoft die Bürgschaft des Erfolges ist, und schließlich gibt es Amtsgeheimnisse, die selbst für –«

»Natürlich weiß ich das. Nur nichts ausplaudern, Herr Oberkommissär. Möchten Sie aber nun nicht uns die Kleider und sonstigen Habseligkeiten des Opfers ansehen lassen?«

Doktor Skrinsky ging und brachte einen großen Karton mit den gewünschten Gegenständen herbei. Dagobert prüfte alles genau und machte dabei kurze Bemerkungen: »Die Kleider sind von einem guten, also teuren Schneider. Das Hemd gleich mit Kragen und Manschetten, nicht erst angeknöpfelt. Der Mann hat bei der Wäscherin nicht gespart. Der Hut – richtig, ein Habig, also ein Zehnguldenhut, und die prachtvolle Spur des Schlages. Ich erkenne es mit besonderer Befriedigung an, Herr Oberkommissär, daß diese Spur so schonend behandelt worden ist. Sie allein wird uns ja noch eine ganze Geschichte zu erzählen haben. In der Brieftasche unter anderem der Betrag von einhundertvierzig Kronen. Ein Student, der am dreiundzwanzigsten noch einhundertundvierzig Kronen in der Tasche hat – alle Achtung! Da ist ja auch ein buntes studentisches Band – der junge Mann war also ›Vandale‹. Haben Sie nach dieser Richtung schon recherchiert, Herr Oberkommissär?«

»Unnötig, Herr von Dagobert. Ich darf mich nicht verzetteln. Ich habe meine sichere Spur, und wenn ich die einmal habe, lasse ich mich grundsätzlich durch keine Versuchung ablenken.«

»Das ist ganz vortrefflich! Nur so fort, Herr Oberkommissär, und Sie werden noch glänzenden Ruhm erringen. – Was ist denn nun das?!« fuhr Dagobert in der Musterung fort. »Das paßt mir aber doch gar nicht da herein. Ein langstieliges goldenes Lorgnon, eine wundervolle, graziöse Arbeit, aber es ist doch ein – Damenlorgnon? Wie kommt denn das da her?«

»Sehen Sie, Herr von Dagobert,« erwiderte Doktor Ritter von Skrinsky mit einem nur halb geglückten Versuch, ein überlegenes Lächeln diskret zu unterdrücken, »gerade was Ihnen so gar nicht da hereinpaßt, ist als sein Eigentum beglaubigt. Belieben nur näher hinzusehen. Oben in der Mitte der kleinen kreisförmigen Ausbuchtung, die bestimmt ist die zusammengeklappten Gläser aufzunehmen, finden Sie seine Initialen E. P. eingraviert. Weiter: daß er das Lorgnon beständig im Gebrauch hatte, das beweist der Umstand, daß er bei seiner Auffindung noch als Leiche das Lorgnon in der Hand hielt.«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß er seinen Mörder anlorgnettiert hat, während dieser den tödlichen Streich führte?!«

»Ich will immer nur das sagen, was durch Tatbestand und Lokalaugenschein beglaubigt ist. Als er aufgefunden wurde, war die feine, jetzt allerdings gerissene venezianische Kette des Lorgnons um seine rechte Hand geschlungen.«

»Ich bekenne mich für geschlagen, Herr Oberkommissär, und gebe willig zu, daß ich Ihnen gegenüber niemals aufkommen werde.«

Skrinsky verneigte sich lächelnd und fragte, ob er sich nun wieder zurückziehen und die Sachen mitnehmen dürfe.

»Alles dürfen Sie mitnehmen, nur den Hut und das Lorgnon lassen Sie uns noch da, vorausgesetzt, daß Sie dadurch nicht in der Arbeit behindert werden.«

»Durchaus nicht, Herr von Dagobert. Es trifft sich sogar sehr gut. Gerade diese beiden Stücke brauche ich nicht mehr.« –

»Nun, was sagen Sie?« fragte Doktor Weinlich, als Skrinsky wieder draußen war.

»Ich meine, daß der Fall sehr schwierig ist. Halten Sie sich nur die Situation vor Augen. Ein Mensch wird in tiefer Dunkelheit tot aufgefunden. Weit und breit keine lebende Seele. Am Tatort selbst gibt man sich gar nicht erst die Mühe, nach Spuren zu suchen. Es vergeht ein ganzer Tag, und man legt uns ein Obduktionsprotokoll vor.«

»Es ist wahr, Dagobert, Sie hätten die Leiche früher sehen sollen. Sie wissen, ich bin unschuldig; ich war verreist. Wollen Sie sie jetzt noch besichtigen?«

»Jetzt? Das hätte, nachdem das Messer des Anatomen dort gewütet hat, gar keinen Zweck. Ich fürchte sehr, daß wir da an eine sehr harte Nuß geraten sind.«

»Ich wundere mich, Dagobert, Sie ausnahmsweise gleich so entmutigt zu finden.«

»Sie irren, verehrter Freund, ich bin nicht entmutigt, ich sehe die Dinge nur wie sie sind. Urteilen Sie selbst. Wir haben die Habseligkeiten des Getöteten durchforscht. Das ist doch schon etwas. Sie erzählen ihre Geschichte und gestatten gewisse Schlüsse. Und dann auf einmal die plötzliche Schwierigkeit und verwirrende Ablenkung! Das haben Sie doch sofort selbst bemerkt, nicht wahr?«

»Ich habe gar nichts bemerkt, Verehrtester, weil ich in dieser Sache nichts bemerken will. Ich halte sie mir sogar geflissentlich fern. Denn ich stecke zu tief drin in anderen wichtigen Affären. Darum halte ich mir also absichtlich alles fern, um mir nicht unnötigerweise den Kopf noch mehr zu beschweren. Das taugt nichts. Ich will mich nicht vertiefen, und darum können Sie mich in diesem Falle als vollständigen Laien, als Wickelkind oder als Kapazität vom Range Skrinskys betrachten. Gar nichts habe ich also bemerkt.«

»Gut. Das wichtigste Stück mußte für mich der Hut sein.«

»Natürlich. Da ist doch wenigstens eine Spur von prachtvoller Deutlichkeit!«

»Jawohl, und gerade der Hut gibt mir ganz unerwartete Rätsel auf, und dazu dann noch das merkwürdige Lorgnon – es ist rein um verrückt zu werden!«

»Ich verstehe Sie nicht, Dagobert. Wie bereits erwähnt, bin ich – in diesem Falle – vollständig Wickelkind.«

»Der Hut – doch ich darf nicht voreilig sein! Können Sie mir den Wachmann Kajetan Wendtlehner stellig machen?«

Der Polizeirat läutete und gab Befehl, den Wachmann sofort zur Stelle zu schaffen. Sein Aufenthalt sei telephonisch zu erheben. Sollte er im Dienst sein, so sei er sofort abzulösen. Er solle sich einen Fiaker nehmen; unter allen Umständen habe er in einer halben Stunde gestellt zu sein. Es traf sich glücklich, daß der gesuchte Wachmann gerade. im Hause war. Zwei Minuten später trat er an. Er erhielt vom Polizeirat den Befehl, sich Herrn Dagobert zur unbeschränkten Verfügung zu stellen.

»Was wollen Sie nun beginnen, Dagobert?« fragte er weiter.

»Beginnen – und zwar dort, wo begonnen werden muß. Der Herr Wachmann wird die Freundlichkeit haben, nun mit mir in meinem Wagen zum Tatort zu fahren.« – –

Am nächsten Vormittag wollte Dagobert wieder beim Polizeirat vorsprechen, er traf ihn aber nicht an. Er war wieder um die Wege in Sachen der Banknotenfälscherbande, die nachgerade beträchtliche Beunruhigung verbreitete. Erst am übernächsten Tage, es war ein Sonntag, gelang es Dagobert seiner habhaft zu werden.

»Nun?« fragte Doktor Weinlich gespannt. »Bringen Sie uns gute Nachrichten? Wir bedürfen ihrer gar sehr.«

»Das glaube ich. Es ist, wie ich es vorausgesehen habe. Die Erregung in der Bevölkerung ist eine maßlose. Die Zeitungen haben sich der Sensation bemächtigt und schroten sie nicht nur in spaltenlangen Originalberichten, sondern sogar in Leitartikeln aus.«

»Leider! Wir kennen das. Die Leitartikel müssen geschrieben werden, weil der Fall das Tagesgespräch bildet und dieses Thema gegenwärtig die öffentliche Meinung ausschließlich beherrscht. Im Gegensatz zu den Lokalberichten muß der Leitartikel zu einer ›Pointe‹, zu dem sogenannten ›großen Gesichtspunkt‹ gelangen, und das ist: ›Es muß anders werden. Unsere Polizei taugt nichts. Nötig ist sofortige Reform an Haupt und Gliedern.‹ Kurz alle Maßnahmen, welche geeignet erscheinen könnten usw. usw. Bei uns im Hause ist auch glücklich alles schon nervös geworden und alles hat den Kopf verloren.«

»Ich bin selbst der Meinung, verehrter Doktor, daß etwas geschehen müßte, um die Bewegung ein wenig abflauen zu lassen, sonst kann sie uns noch sehr unbequem werden.«

»Wie soll das aber geschehen? Wir können doch nicht verkünden lassen, daß wir den Täter schon haben, wenn es nicht wahr ist. Das würde die Sache nur schlimmer machen.«

»So meinte ich es auch nicht. Ich wollte einen andern Vorschlag machen. Doch lassen Sie erst hören, ob Skrinsky nicht vielleicht etwas herausgebracht hat?«

»Ach Gott, Skrinsky ist der einzige, der den Kopf nicht verloren hat.«

»Er kann nicht leicht in die Lage kommen.«

»Ich verstehe. Er ist ein Fels im Meere und steht mit siegesgewissem Lächeln da. Er hat sogar auch schon den Täter ermittelt und verhaften lassen.«

»Was Sie nicht sagen?!«

»Den Täter und das Mordwerkzeug.«

»Das Mordwerkzeug interessiert mich noch mehr als der Täter!«

»Sie wissen, was ich von seinen Kombinationen halte!«

»Aber es könnte doch einmal auch eine blinde Henne – uns wäre jedenfalls eine kolossale Arbeit erspart. Vielleicht gibt es doch Wunder. Also der Täter sitzt?«

»Vor einer Stunde haben sie ihn eingebracht. Wollen Sie, daß ich ihn Ihnen vorführen lasse?«

»Vorläufig trage ich kein Verlangen danach. Bitte, erzählen Sie, Herr Polizeirat.«

»Das ist bald getan. Skrinsky hat sein Augenmerk auf den Hausbesorger in dem Hause gerichtet, das Erich Puchta bewohnt hatte.«

»Wiener Hausmeister sind sonst selten Mörder. Gewöhnlich sind sie Vertrauensmänner der Polizei.«

»Er hat dort Hausdurchsuchung vorgenommen und hat dort zwei Keulen gefunden.«

»Gleich zwei Keulen! Das ist mir ein bißchen zuviel. Für solche Zwecke genügt gewöhnlich eine Keule. Welcher Luxus! Und das Motiv? Es wurde doch nichts geraubt. Selbst wenn er verscheucht worden wäre, hätte er immer noch zurückkommen können, um sich die Brieftasche zu holen. Und Haß oder Rache? Ein ›Vandale‹, der zudem – eigentlich Pleonasmus – Alkoholiker ist, ist mit seinen Sperrgeldern eine liebe und gute Kundschaft für den Hausmeister. Übersehen Sie nicht, daß er ihn oft genug die Treppe hinaufgelootst haben mag. Derlei Liebesdienste müssen anständig honoriert werden und werden es.«

»Es ist nicht nur das. Der Hausmeister ist in der Lage, wie er versichert, sein Alibi zu beweisen, und ich glaube ihm. Er beruft sich darauf, daß er die ganze Nacht Dienst getan habe und macht Hausbewohner namhaft, welchen er um die kritische Zeit das Tor geöffnet habe. Noch sind diese Parteien nicht vernommen, aber ich zweifle nicht im mindesten, daß sie die Angaben des Hausmeisters im vollen Umfang bestätigen werden. Gehen wir weiter – die Keulen!«

»Jawohl – die Keulen! Ich bin sehr gespannt.«

»Hier sind sie.«

Doktor Weinlich wickelte aus einer reinlichen Papierumhüllung, die in großem Aufdruck die Firma eines bekannten Sportgeschäftes aufwies, zwei handliche Keulen heraus, wie sie sehr häufig bei sportlichen Übungen von Jung und Alt in Verwendung genommen werden. Er berichtete, daß der Hausmeister, nach seiner Angabe, sie am Vorabend des Mordes auf Geheiß Puchtas aus jenem Sportgeschäft abgeholt habe. Er sei allerdings nicht mehr dazugekommen, sie seinem Auftraggeber abzuliefern. Doktor Skrinsky nun ist der Meinung, daß mit einer dieser Keulen der tödliche Schlag geführt worden sei.

Dagobert unterzog die Keulen einer flüchtigen Untersuchung und lächelte vergnügt dazu.

»Ich behaupte,« begann er, »daß dieser Hausmeister nicht der Mörder ist, und wenn Sie mir nun schmeicheln wollen, Doktor, dann verfügen Sie schon auf meine Behauptung hin und ohne erst meine Beweisführung abzuwarten seine sofortige Freilassung. Trauen Sie mir aber nicht, dann hören Sie mich ruhig an.«

»Einen Augenblick, Dagobert! Der Entlassungsbefehl liegt bereits ausgestellt und von mir unterfertigt hier auf meinem Tische. Skrinsky habe ich bereits davon Mitteilung gemacht und ihm eingeredet, daß es besser für die Untersuchung sein werde, den Mann frei gehen und dann unauffällig, aber sorgfältig beobachten zu lassen. Dann könnte es wohl eher gelingen, auch etwaiger Komplizen habhaft zu werden. Vorher müssen allerdings die für den Alibibeweis vorgeschlagenen Zeugen einvernommen werden. Das wird im Laufe des heutigen Tages geschehen. Und nun zu Ihrer Beweisführung!«

»Urteilen Sie, Herr Polizeirat. Hier zunächst die Papierhülle. Wie reinlich und verhältnismäßig wenig zerknüllt ist sie auch jetzt noch nach mehrmaliger Enthüllung und Wiederverpackung der Keulen. Ich glaube nicht, daß das Paket von der Hand eines Mörders aufgemacht und dann wieder geschlossen worden ist, bevor Doktor Skrinsky es in die Hand bekam. Dann, wie bereits erwähnt, zwei Keulen! Ein Mörder kauft sich überhaupt keine Keule, und nun gar in einem eleganten Geschäfte in der Kärntnerstraße, er weiß sich anders zu behelfen. Schon gar nicht diese feinen modernen Trainingskeulen, von deren Existenz überhaupt nur Freunde der leichten Athletik, also Sportsleute, Kenntnis haben. Warum auch zwei Keulen? Oder trauen Sie ihm so große Absichten zu, daß er so viele Morde begehen wollte, daß eine Keule doch bald zu sehr abgenützt sein werde?!«

»Das klingt ja überzeugend,« erwiderte Doktor Weinlich lächelnd, »aber immerhin wäre es denkbar, daß wenn er schon im zufälligen Besitze der Keulen war – Puchta hatte sie, wie bereits erhoben ist, wirklich bestellt – so wäre es doch immer möglich, daß er seine Zeit benützt und von einer wenigstens einen verbrecherischen Gebrauch gemacht hätte.«

»Gut. Ich habe das Bisherige auch nur nebenbei erwähnt. Wir kommen nun zur Hauptsache, zu dem Punkte, der für mich allerdings auch die Hauptschwierigkeit bildet. Lassen Sie mich systematisch vorgehen. Als ich mit dem Wachmann Wendtlehner von Ihnen ging, ließ ich mich von ihm an den Tatort führen. Sie meinen – ein bißchen spät, wenn man noch Spuren finden wollte. Ich hatte mich keinen Illusionen hingegeben, und habe tatsächlich auch nicht gefunden, was ich doch zu finden gehofft hatte. Davon später. Ich begnügte mich also damit, an der kritischen Stelle ein Erdklümpchen herauszustechen. Der Boden war zur Zeit der Tat gefroren und er war es noch, als ich zur Stelle war. Hier in diesem Säckchen habe ich den kleinen Klumpen mitgebracht. Ich zerreibe ihn mit meinen Fingern. Ich streue die Teilchen auf meinen Hut, damit wir ebenfalls eine schwarze Unterlage haben. Hier mein Taschenmikroskop. Es gibt nur sechzigfache Vergrößerung, aber es zeigt gut und scharf.«

Beide Herren untersuchten nun erst die Spur an dem Hut des Erschlagenen und dann die auf Dagoberts Hut. Dann fuhr Dagobert fort: »Sie sehen, verehrter Freund, die Merkmale sind identisch. Erde, Sand, Staub, winzige Quarzkristalle vollkommen gleich. Ich hoffe, Sie trauen mir nicht zu, daß ich mich damit aufhalte, etwas beweisen zu wollen, was keines Beweises bedarf, daß nämlich die Katastrophe wirklich an jener Stelle erfolgt ist, wo man den Toten gefunden hat. Das war die günstigste Stelle für das Unternehmen, und man wird doch eine Leiche nicht in der Stadt verschleppen. Hätte der Täter das überhaupt können, dann hätte er doch wohl lieber die günstige Gelegenheit benützt, sofort spurlos zu verschwinden.«

»Das ist klar.«

»Mir kommt es auf etwas anderes an. Die Spur auf Puchtas Hut ist ganz auffällig reichlich mit Erde, Sand usw. bedacht.«

»Das stimmt.«

»Die Keule hätte also sehr mit Schmutz, mit Erde, Sand usw. bedeckt sein müssen, um eine solche Spur zurückzulassen. Sehen Sie sich nun die Keulen an. Sie sind vollständig neu. Nicht der geringste Schmutzfleck daran. Vielleicht hat man ihn nachträglich abgewaschen? Ausgeschlossen. Die Keulen sind mit einem feinen Lack überzogen. Der Glanz ist ein tadelloser, und er hätte doch stellenweise wenigstens blind werden müssen bei einer Behandlung mit Wasser. Und dann das Entscheidende: Sie finden an dem ganzen feinen Lacküberzug nicht den geringsten Ritzer oder Kratzer. Die Keulen sind also vollständig neu und können zu einem Totschlag, der solche Spuren hinterlassen hat, nicht verwendet worden sein.«

»Der Beweis ist Ihnen vollständig gelungen, Dagobert, allerdings haben wir damit noch nicht viel erreicht.«

»Ich bin auch noch nicht fertig. Ich wollte nur erst den Hausmeister und die Keulen aus dem Wege schaffen. Die Sache wird immer schwieriger. Ich lade Sie zu einem weiteren Experiment ein. Sehen Sie sich meinen steifen Filzhut an, den ich eigens für das Experiment mitgebracht habe. Er ist genau von derselben Sorte, wie der Puchtas. Ich lege ihn auf den Tisch und schlage nun mit der Keule drauf. So! Jetzt sehen Sie sich die Spur an. Eine ovale Spur. Kann gar nicht anders sein. Nun betrachten Sie gefälligst die Spur auf dem andern Hute. Sie ist viel größer und kreisrund. Nicht daß ich noch gegen die Keule polemisieren wollte. Die ist abgetan. Sie sehen aber nun die Schwierigkeit, sich das ›stumpfe Instrument‹ vorzustellen, mit dem der tödliche Streich geführt worden sein soll.«

»Sie haben recht, Dagobert. Hätte ich mir nicht geflissentlich vorgenommen, in dieser Sache überhaupt nicht zu forschen und nachzudenken, so hätte ich wohl selbst schon auf diese Schwierigkeit kommen müssen.«

»Ein Knüttel kann es nicht gewesen sein, eine Keule auch nicht, ebensowenig die stumpfe Seite eines Beiles, die gewöhnlich viereckig ist. Aber auch wenn sie rund gewesen wäre – ich habe noch nie ein Beil mit so einer großen Rundfläche gesehen. Dasselbe würde nur noch in erhöhtem Maße gegen einen Hammer sprechen. Allerdings wäre ein Holzhammer von solchen Dimensionen denkbar, vielleicht noch andere ›stumpfe Instrumente‹ mit so großer runder Fläche, nur würde dann der Zweifel auftauchen, ob damit auf einen Schlag der sofortige Tod eines kräftigen Mannes mit starken Schädelknochen herbeigeführt werden könne.«

»Sehr richtig, Dagobert. Es fehlt uns noch immer die ›taugliche‹ Waffe, von der auch das Gesetz spricht.«

»Noch ein Umstand ist zu beachten. Die Spur auf dem Hut beweist, daß die runde Fläche über und über mit Erde und Sand bedeckt gewesen sein muß. Da haben Sie das größte Rätsel. Die Erde war gefroren und in diesem Zustande hat sie nicht die Klebrigkeit wie im nassen. Und wenn man das Instrument noch so eifrig auf der Erde herumgewälzt hätte, es hätte nicht so reichliche Spuren zurücklassen können.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht, aber es ist vollkommen einleuchtend.«

»Begreifen Sie nun, daß einem da der Verstand stehen bleiben kann? Ich habe ja schon einiges erhoben, aber damit habe ich doch nur den zweiten Schritt vor dem ersten getan und in Wahrheit bin ich über den ersten Schritt nicht hinausgekommen. Das ist das Beschämende bei der Sache.«

»Der erste Schritt ist aber auch der wichtigste. Was hätten Sie davon, wenn Sie schon zehn Schritte gemacht hätten – in falscher Richtung?«

»Wie Freund Skrinsky. Ich kenne nur ein Instrument, auf das die vorhandene Spur passen würde, und das ist bestimmt nicht verwendet worden.«

»Was könnte das für ein Instrument sein, Dagobert?«

»Die ›Jungfer‹, mein lieber Polizeirat.«

»Kenn' ich nicht.«

»Das ist der große, zweihenkelige Stößel, den die Pflasterer benützen, um die schweren Granitwürfel einzurammen. Die runde Fläche würde stimmen, und da würde auch das reichliche Vorhandensein von Sand und Erde auf der Spur hinlänglich erklärt sein. Ihre Miene drückt Zweifel aus, Herr Polizeirat. Ich sagte ja selbst, daß ich an diese Möglichkeit nicht glaube. Stellen Sie sich nur die Situation vor, die dazu nötig gewesen wäre. Der Schlag ist senkrecht von oben geführt worden. Der Mörder müßte eine Doppelleiter zur Verfügung gehabt haben, wie sie bei Zimmermalern gebräuchlich ist. Die hätte er in der Sensengasse aufgestellt und mit der ›Jungfer‹ bewehrt bestiegen, dann sein Opfer ersucht, sich richtig aufzustellen und schön ruhig zu halten, und dann auf seinen Schädel losgetrommelt. Ein bißchen umständlich die Methode und ein bißchen unwahrscheinlich.«

»Wir stehen also dort, wo wir standen. Was aber sollen wir tun, Dagobert? Etwas muß geschehen; die Bevölkerung ist zu erregt!«

»Ich komme nun auf meinen Vorschlag. Wir wissen noch gar nichts und werden vielleicht noch lange nichts wissen. Denn wenn ich auch die Hoffnung noch lange nicht aufgegeben habe, so sehe ich doch, daß der Fall ein schwieriger ist und daß es daher eine langwierige Geschichte werden kann. Wir wissen nicht, ob ein Mord oder ein Totschlag vorliegt. Ich persönlich bin geneigt, einen Totschlag anzunehmen. Es gibt aber noch andere Möglichkeiten. Puchta kann verunglückt sein; er kann aber auch Selbstmord begangen haben.«

»Die beiden letzteren Möglichkeiten scheinen mir aber ausgeschlossen zu sein, Dagobert.«

»Mir auch, Doktor. Wir müssen aber doch alles in Erwägung ziehen. Eine Möglichkeit der Verunglückung wäre, daß ihm vom dritten oder vierten Stock eines Hauses ein Blumentopf auf den Kopf gefallen wäre. Damit wäre auch die Spur zur Genüge erklärt. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Es gibt dort keine Häuser, und mit einer Fraktur der Schädelknochen geht man nicht gemütlich weiter, sondern bleibt hübsch auf dem Flecke tot liegen. Auch ward nirgends etwas von einem zertrümmerten Blumenstock oder eine Spur von Gartenerde entdeckt.«

»Sogar auf dem Hut oder an den Kleidern hätte man etwas von dieser Erde finden müssen!«

»Natürlich. Ich lasse diese Annahme auch vollständig fallen. Es gibt weitere Möglichkeiten der Verunglückung. Der Mann war, wie ich jetzt schon weiß, betrunken. Er könnte gefallen, auf den Kopf gefallen sein und sich dabei tödlich verletzt haben. Ich kenne Ihre Einwendung; sie ist unanfechtbar. Kein Mensch, es sei denn ein Akrobat, kann senkrecht auf den Kopf fallen. Lassen wir also auch diese Kombination fallen. Nun gibt es noch zwei Möglichkeiten. Eine für das Verunglücken, eine für den Selbstmord. Er könnte es irgendwie möglich gemacht haben, die hohe Gartenmauer des Offiziersspitals zu erklettern, und da ist er entweder heruntergefallen – das wäre die Verunglückung – oder er hat in seinem Dusel durch einen Kopfsprung in die Tiefe Selbstmord begangen.«

»Das wären wenigstens halbwegs plausible Möglichkeiten.«

»Ich glaube nicht an sie, aber ich meine, daß sich hier ein Anhaltspunkt ergibt, die maßlos aufgeregte öffentliche Meinung zu beruhigen. Mein Vorschlag geht dahin: Sie lassen offiziös verlautbaren, daß nach dem bisherigen Gang der Untersuchung es sehr unwahrscheinlich geworden sei, daß überhaupt ein Verbrechen vorliege, es deute vielmehr alles daraufhin, daß der Unglückliche das Opfer eines Unfalles geworden sei. Mein Gott, es fällt einer unglücklich auf den Kopf und bleibt tot liegen – das ist schon dagewesen. Ich verbürge mich dafür, daß das Publikum sich dabei sofort beruhigt.«

»Ihre Idee hat viel für sich, Dagobert. Bei dieser allgemeinen Nervosität und der Hetze von allen Seiten läßt sich tatsächlich nicht ruhig weiterarbeiten.«

»Dieser Meinung bin ich auch. Verdorben wird durch meinen Vorschlag nichts. Kriegen wir nichts heraus, dann ist die Sache sanft eingeschlafen. Gelingt die Entdeckung, dann wird gleichwohl der Erfolg der Polizei um nichts geringer sein. Man hatte eben im Interesse der Untersuchung seine Gründe gehabt, die öffentliche Aufmerksamkeit von dem Falle abzulenken.«

»Da Sie die Hand im Spiele haben, Dagobert, hoffe ich auf einen Erfolg.«

»Man tut, was man kann.«

***

Acht Monate waren vergangen. Am 20. Oktober erhielt der Polizeirat Doktor Weinlich von Frau Violet Grumbach eine briefliche Einladung für den 23. Oktober, 6 Uhr abends auf einen Löffel Suppe in ihrem Hause. Dagobert hatte diese Einladung veranlaßt. Bei Tische saßen nur das gastgebende Ehepaar, Doktor Weinlich und Dagobert. Man wußte, daß Dagobert mit einer bestimmten Absicht diese Zusammenkunft herbeigeführt hatte, aber man kannte auch seine Gepflogenheit, bei Tische, schon der aufwartenden Dienerschaft halber, niemals etwas von seinen Absichten zu verraten. Man konzentrierte also die Aufmerksamkeit auf das vorzügliche Menü und führte im übrigen ziemlich gleichgültige Gespräche. Erst als man sich nach Tisch zum kleinen Schwarzen im Rauchzimmer eingerichtet hatte, wo man ungestört war, gab Frau Violet ihrer Neugierde und Ungeduld Ausdruck: »Also, Dagobert, erzählen Sie; Sie haben sicher etwas auf dem Herzen!«

»Allerdings, Gnädigste, ich habe ein Versprechen einzulösen, das Sie selbst vielleicht schon längst vergessen haben. Es sind nun auf den Tag acht Monate her, daß ich es Ihnen gegeben habe.«

»Ich erinnere mich wirklich nicht.«

»Ich wurde am 23. Februar aus Ihrer Gesellschaft plötzlich abberufen.«

»Was ich sicher sehr bedauert habe.«

»Damals forderten Sie das Versprechen, daß ich Ihnen erzählen würde –«

»Sie haben seither so Vieles und Interessantes erzählt, Dagobert, daß ich an dieses Versprechen gar nicht mehr gedacht habe.«

»Und doch glaube ich, Frau Violet, Sie werden bei meinem Bericht Augen machen!«

»Warum?«

»Wir werden ja sehen.«

»Ach ja, ich erinnere mich dunkel, jetzt sogar ganz genau. Damals ist ein junger Mediziner erschlagen worden. Später hieß es, er sei verunglückt. Da habe ich mich nicht weiter dafür interessiert.«

»Diesen Fall habe ich allerdings im Auge. Nun habe ich aber auch unserem gemeinschaftlichen Freunde Doktor Weinlich Bericht zu erstatten, und um nicht zweimal dieselbe Geschichte erzählen zu müssen, habe ich gebeten, auch ihn heranzuziehen. Ich berichte also und bemerke nur, daß meine Mitteilungen rein privater und persönlicher Natur sind, wodurch aber unser Herr Polizeirat nicht gehindert sein soll, amtlich vorzukehren, was er für seine Pflicht hält.«

»Sie haben den Fall wirklich aufgeklärt, Dagobert?« fragte der Polizeirat mit überraschter Miene.

»Vollständig. Der Anfang ist ja bekannt; bekannt, daß Erich Puchta mit zerschmetterter Hirnschale tot aufgefunden wurde, daß unser Freund Skrinsky die Untersuchung sofort in die falschen Wege leitete und daß sich der Bevölkerung eine ungeheure Erregung bemächtigte, die sich erst legte, als man annehmen konnte, daß nur ein Unglücksfall, nicht aber ein Verbrechen vorliege. Nun, es war kein Unglücksfall.«

»Also doch ein Mord!«

»Nur ein wenig Geduld, Gnädigste! Nach genauer Prüfung der bei dem Toten vorgefundenen Habseligkeiten beschloß ich, die Untersuchung auf Grund zweier Gegenstände zu beginnen. Ein studentisches Band ließ erkennen, daß Puchta dem Korps der ›Vandalen‹ affiliert war. Als alter Herr der ›Alemannen‹ fand ich leicht Anschluß an die ›Vandalen‹ und ward sogar zu dem Trauersalamander für den dahingeschiedenen Korpsbruder eingeladen. Ich erhob, daß in der kritischen Nacht eine solenne Kneipe abgehalten worden war, daß Puchta in Begleitung seines Konkneipanten Robert German, alias Moppi, den Heimweg angetreten hatte. Beide waren schwer bezecht. German erinnerte sich nur dunkel, daß sie sich in der Sensengasse getrennt hatten, weil Puchta aus irgendeinem Grunde, der seinem Begleiter inzwischen entfallen war, sich standhaft geweigert hatte weiterzugehen. Nach genauer Zeitberechnung mußte das Unglück wenige Minuten nach der Trennung erfolgt sein. Hier riß der Faden ab und war nicht weiter zu verfolgen.

Ich verließ also diese Spur, um eine andere aufzunehmen. Unter Puchtas Sachen wurde auch ein kostbares goldenes Lorgnon von merkwürdiger Form vorgefunden. Es wies zwar eingraviert die Anfangsbuchstaben seines Namen auf – E. P., aber ich konnte mich doch nicht mit dem Gedanken befreunden, daß das sein Lorgnon gewesen sei. Es war ein ausgesprochenes Damenlorgnon, langstielig, von zierlicher Rokoko-Ornamentik –«

»Dagobert!« fuhr Frau Violet erstaunt auf, »doch nicht etwa wie –?!«

»Genau so! Beruhigen Sie sich übrigens, Gnädigste, Sie werden noch Gelegenheit genug haben sich zu wundern. Mit einem solchen Instrument hätte ein Vandale nur komische Figur gemacht, und alle andern Sachen Puchtas waren durchaus korrekt. Zwei Umstände gaben mir zu denken. Das Lorgnon war nicht in einer der Taschen Puchtas gefunden worden. Es war vielmehr ihre dünne Goldkette um seine Hand geschlungen. Zweitens: während sonst alle Sachen