Deutsch-sowjetischer Kulturtransfer unter totalitären Bedingungen - Astrid Shchekina-Greipel - E-Book

Deutsch-sowjetischer Kulturtransfer unter totalitären Bedingungen E-Book

Astrid Shchekina-Greipel

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Beschreibung

Als „geistige Nahrung“ beschrieb die Literaturkritikerin Raissa Orlova die Bedeutung der westlichen Literatur für die sowjetische Bevölkerung, die während des ganzen Bestehens der Sowjetunion nicht an Popularität verlor. Es wurden jedoch nicht alle bekannten Werke deutscher Literatur auch in der UdSSR publiziert. Was westdeutsche Autorinnen und Autoren betraf, war Heinrich Böll ab Beginn der Tauwetterperiode bis zu Beginn der 70er-Jahre in der Sowjetunion der meistübersetzte und beliebteste Autor der deutschen Nachkriegsliteratur. Danach brach die Publikation seiner Werke abrupt ab und Böll wurde bis zu seinem Tod in der offiziellen Literaturkritik kaum noch erwähnt. Hingegen wurde dem in der Bundesrepublik nicht minder bekannten Günter Grass während des gesamten Zeitraums von 1953 bis 1985, der hier betrachtet wurde, kaum positive Beachtung geschenkt. Astrid Shchekina-Greipel untersucht in ihrem vorliegenden Buch anhand der beiden Nobelpreisträger Grass und Böll, welche Faktoren es genau waren, die unter den ideologisch-totalitären Bedingungen der Sowjetunion die Publikation westlicher Literatur möglich machten oder verhinderten. Die Untersuchungsebenen der Studie ergeben sich aus der Kulturtransfertheorie: Der Rezeptionskontext und die Trägergruppen wurden mit Hilfe des literarischen Feldes nach Bourdieu betrachtet, anhand des Diskurses über ausgewählte Werke wurden die Rezeptionsmechanismen nachgezeichnet. Ferner analysiert Shchekina-Greipel zwei Übersetzungen und arbeitet dabei heraus, wie dabei die Texte verändert und ideologisch angepasst wurden, und zeichnet den Austausch zwischen DDR und Sowjetunion in Bezug auf westdeutsche Literatur nach. In digitaler Form wird eine detaillierte Bibliographie aller im Untersuchungszeitraum publizierten westdeutschen Werke bereitgestellt, die eine gezielte Recherche zu konkreten Publikationen auf dem Gebiet der RSFSR ermöglicht und so auch als Grundlage für weitere Forschungen in diesem Bereich dienen kann. Die Bibliographie steht auch zum Download bereit. Die Autorin: Astrid Maria Ottilie Shchekina-Greipel studierte an der MGU Moskau, der RGGU Moskau und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, an welcher sie im Internationalen Graduiertenkolleg "Kulturtransfer und kulturelle Identität" im Fachbereich Slavistik promovierte.

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

DANKSAGUNG

I EINLEITUNG

1. Theoretischer Rahmen

2. Textkorpus, Untersuchungszeitraum und -gebiet

3. Methode

4. Forschungsstand

II DAS LITERARISCHE FELD UNTER TOTALITÄREM VORZEICHEN

1. Bedingungen des literarischen Feldes im totalitären Staat

2. Aufbau und Funktionsweise des literarischen Feldes

3. Spannungsverhältnis von Planung und Realität

4. Das ‚Kapital‘ der Akteur*innen

5. Zwischenfazit

III DIE DDR UND IHRE ROLLE IM LITERARISCHEN FELD DER UDSSR

1. Bilaterale Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Organisationen der DDR und UdSSR

1.1. Zusammenarbeit des MfS und KGBs in Bezug auf Akteure des literarischen Feldes der BRD, der DDR und der UdSSR

1.2. Zusammenarbeit der Literaturapparate der DDR und der UdSSR

2. Die Einschätzung Heinrich Bölls durch die Organe der DDR

2.1. Heinrich Böll und der Staatssicherheitsdienst

2.2. Publikationen von Heinrich Böll

3. Die Einschätzung Günter Grass’ durch die Organe der DDR

3.1. Günter Grass und der Staatssicherheitsdienst

3.2. Publikationen von Günter Grass in der DDR

4. Zwischenfazit

IV ÜBERSETZTE BRD-LITERATUR IN DER RSFSR

1. Auswertung nach allen Ausgaben und Auflagen

2. Auswertung nach Erstausgaben

3. Auswertung nach Auflagenstärke

4. Politische Faktoren und ihr Einfluss auf die Anzahl von Publikationen

5. Zwischenfazit

V ZUR REZEPTION HEINRICH BÖLLS (AUSGEWÄHLTE BEISPIELE)

1. Und sagte kein einziges Wort (1953) – Beginn einer breiten Rezeption

1.1. Publikationsgeschichte der russischen Übersetzung

1.2. Inoffizielle Diskurse um Heinrich Böll

1.3. Die russische Literaturkritik von Und sagte kein einziges Wort

1.4. Zwischenfazit

2. Ansichten eines Clowns (1963) – Befürwortende offizielle Rezeption

2.1. Innen-/Außen(kultur)politischer Rahmen

2.2. Lev Kopelev als Vermittlungsfigur

2.3. Der literaturkritische Diskurs

2.4. EXKURS: Billard um halb zehn (1959): Auseinandersetzung mit der Form

2.5. Zensorische Eingriffe bei Ansichten eines Clowns

2.6. Zwischenfazit

3. Gruppenbild mit Dame (1971) – Ende der sowjetischen Rezeption

3.1. Innen-/Außen(kultur)politischer Rahmen

3.2. Bölls sowjetischer Freundeskreis und die Folgen für die Publikation seiner Werke

3.3. Der literaturkritische Diskurs

3.4. Zwischenfazit

VI DIE REZEPTION VON GÜNTER GRASS (KATZ UND MAUS)

1. Publikationsgeschichte in der Sowjetunion

2. Die Auseinandersetzung mit der Person Günter Grass

3. Günter Grass in der sowjetischen Literaturkritik

4. EXKURS: Nicht publiziert – doch rezensiert: Die Blechtrommel (1959)

5. Der literaturkritische Diskurs zu Katz und Maus

6. Zensorische Eingriffe bei Katz und Maus

7. Versuch einer Erklärung

VII ZUSAMMENFASSUNG WESTDEUTSCHE LITERATUR IN DER SOWJETUNION – POLITIK UND STRATEGIEN

VIII BIBLIOGRAPHIE

Bibliographie der Übersetzungen der BRD-Literatur von 1953 bis 1985 in der RSFSR

IX LITERATURVERZEICHNIS

1. QUELLEN

2. Bibliographien deutschsprachiger Literatur in Übersetzungen in der RSFSR

3. Darstellungen

X ABBILDUNGSVERZEICHNIS

DANKSAGUNG

Mein Dank gilt meiner Erstbetreuerin Prof. Dr. Elisabeth Cheauré, meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Weertje Willms und meinem Betreuer auf russischer Seite des Graduiertenkollegs, Prof. Dr. Dirk Kemper, die mir zahlreiche Anregungen lieferten und engagiert zur Seite standen, sowie Herrn Prof. Dr. Alexey Zherebin und Herrn Dr. Alexandr Belobratow für Ihre Unterstützung.

Mein besonderer Dank gilt dem Übersetzer und Literaturkritiker Herrn Boris Chlebnikov, der mit seiner Expertise maßgeblich zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen hat, sowie dem Literaturkritiker und Übersetzer Herrn Michail Rudnickij, der wertvolle Hinweise lieferte.

Des Weiteren möchte ich den Mitarbeiter*innen folgender Bibliotheken und Archive für ihre Fachkompetenz und Unterstützung meinen Dank aussprechen: der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig; des Heinrich-Böll-Archivs in Köln; des Archivs der Stasi-Unterlagen Behörde (BStU), des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, des Medienarchivs Günter Grass in Bremen, des Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI) in Moskau, der Bibliothek für Ausländische Literatur in Moskau, der Russischen Staatsbibliothek in Moskau und der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg.

Denjenigen, die mich während der langjährigen Arbeit auf unterschiedlichste Weise unterstützt und ermutigt haben, möchte ich hiermit ebenfalls danken. Mein Dank gilt außerdem Elena Schick für ihre Unterstützung beim Korrekturlesen.

Die Arbeit entstand im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs 1956 „Kulturtransfer und ‚kulturelle Identität‘ – Deutsch-russische Kontakte im europäischen Kontext“. Das Kolleg bot mit seinen zahlreichen Veranstaltungen wertvolle Gelegenheiten zum Austausch, ermöglichte mir Auslandsaufenthalte in Russland und förderte auch die Drucklegung dieses Bandes.

 

Freiburg, im September 2021

I EINLEITUNG

Im Gespräch mit Menschen aus anderen Kultur- oder Sprachräumen über deutschsprachige Literatur fällt immer wieder auf, dass ganz andere Werke oder Autor*innen bekannt sind, in der Schule gelesen werden oder als generell populär wahrgenommen werden, als von Mitgliedern des eigenen Kultur- bzw. Sprachraums. So war beispielsweise Günter Grass in der Sowjetunion ein vergleichsweiser unbekannter Autor,1während seine Popularität in Deutschland außer Frage steht. Aleksandr Puškin dagegen wird in Russland immer noch als der führende klassische Autor gesehen, während er in Deutschland wesentlich weniger bekannt ist als Lev Tolstoj oder Fëdor Dostoevskij. So schätzt Jacob Puškins Bedeutung in Deutschland beim breiten Publikum eher als gering ein:

In Deutschland ist Puschkin dem breiten Publikum im besten Falle bekannt als Librettist Tschaikowskys und Mussorgskis, oder im Zusammenhang mit den Kinofilmen „Die Hauptmannstochter“ und „Der Postmeister“ (Dtl. 1940, mit Heinrich George und Hilde Krahl), im schlimmsten Fall denkt man bei Puschkin an die gleichnamige Wodkamarke.2

Wie lassen sich solche unterschiedlichen Rezeptionsgeschichten erklären? Gerade die Aufnahme westdeutscher Autor*innen in der UdSSR ist besonders interessant, da es sich dabei nicht nur um einen anderen Sprach- und Kulturraum handelte, sondern neben höchst problematischen historischen Verflechtungen, etwa im 2. Weltkrieg, auch fundamental unterschiedliche politische Systeme zu beschreiben sind. So stellt sich die Frage, welche Auswahl an (ausländischer) Literatur der Leserschaft überhaupt zur Verfügung stand. Der Literaturbetrieb der UdSSR unterlag einer strengen staatlichen Kontrolle, die bestimmte, welche (ausländischen) Werke der potenziellen Leserschaft überhaupt zugänglich waren und fallweise die Texte durch Zensureingriffe veränderte. Auf diesen Annahmen basiert das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit:

Welche westdeutschen Autor*innen wurden in der UdSSR trotz der Problematik eines Kulturtransfers zwischen zwei ideologisch völlig unterschiedlichen und politisch verfeindeten Kulturen publiziert und unter welchen Voraussetzungen waren solche Publikationen möglich?

1. Theoretischer Rahmen

„Zur geistigen Nahrung, zum täglichen Brot für viele wurden bei uns in den Jahren 1955-1956 die Bücher von Remarque und Hemingway, von Böll und Salinger. Sie und andere Schriftsteller begannen, das geistige Vakuum zu füllen.“3

Dieses Zitat der Literaturwissenschaftlerin Raissa Orlova illustriert, welchen Stellenwert ausländische Literatur in der UdSSR hatte. Dass Literatur in der Sowjetunion generell sehr hochgeschätzt wurde, ist auch daran ersichtlich, dass die UdSSR 1983 von der UNESCO als „‚lesefreudigstes Land‘ der Welt“4 betitelt wurde. Dabei wurden die Gesamtanzahl und die Gesamtauflagen der seit der offiziellen Gründung der UdSSR 1922 publizierten Werke berücksichtigt. TASS erklärte in diesem Zusammenhang das Interesse am Buch mit der Tradition der Privatbibliotheken, da 95% der Bevölkerung eine solche führten.5 Diese traditionelle Liebe zur Literatur und ihre außerordentliche Bedeutung lässt sich bis zum Igor-Lied und der Nestor-Chronik zurückverfolgen, besonders im 19. Jahrhundert nahm die Literatur sogar die Funktion eines „Parlaments“ ein.6 Auch Klaus Mehnert beschreibt die Literaturkenntnisse der Sowjetbürger*innnen als außerordentlich:

Die Russen – bis hin nach Ostsibirien – kennen Thomas Mann, Heinrich Böll fast so gut wie die Schwarzwälder oder Hamburger, sie lesen Jack London und Ernest Hemingway wie die Amerikaner, Alexandre Dumas und Jules Verne wie die Franzosen, und zwar nicht, weil dies von ihnen verlangt wird, sondern aus Interesse.7

Nach Stalins Tod am 05. März 1953 konnten sich die Sowjetbürger*innen wieder vermehrt mit ausländischer Literatur befassen, da sich die Sowjetunion erneut für westliche Literatur öffnete. Davon zeugt z.B. die Gründung der Zeitschrift Inostrannaja literatura 1955.

Ausländische Literatur eröffnet die Möglichkeit, sich mit anderen Kulturen zu befassen, andere Lebensweisen kennenzulernen und sich mit fremdem Gedankengut auseinanderzusetzen. Jedoch hatten die Sowjetbürger*innen meist keine Möglichkeit, das Original mit der Übersetzung zu vergleichen. Zwar gab es Ausgaben in der Originalsprache, diese wurden jedoch in der Sowjetunion herausgegeben und ebenfalls von der sowjetischen Literaturpolitik beeinflusst.8 Zudem war es kaum möglich, westliche Bücher bzw. Zeitschriften unkontrolliert in die Sowjetunion zu bringen.9 Übersetzungen spielten somit eine herausragende Rolle für die Auseinandersetzung mit der westlichen Kultur.

Im Rahmen dieser Arbeit wird von einem breiten Übersetzungsbegriff ausgegangen, der von Übersetzung „als Medium der Modellierung anderer Kulturen über die Literatur“10 ausgeht. Übersetzungen nehmen in dieser Funktion traditionell eine wichtige Rolle in Russland bzw. der Sowjetunion ein.11 Deshalb können Übersetzungen von Literatur als wichtiger Teil eines Kulturtransfers zwischen Ausgangskultur und Zielkultur gesehen werden. Dieser Transfer geschieht jedoch nicht zufällig, sondern wird bewusst von dem daran teilhabenden Akteur*innen durchgeführt: Der Verlag entscheidet sich, ein Werk zu publizieren, die Übersetzer*innen, dieses zu übersetzen (wobei die Reihenfolge auch umgekehrt sein kann), die Leser*innen, es zu lesen. Unter Kulturtransfer versteht man

die Aufnahme eines Kulturguts aus einem Ausgangskontext in einen neuen Zusammenhang. Diese Kontextänderung impliziert eine semantische Umdeutung, wobei der neue Sinn weder als Substanzverlust noch als Mißverständnis verstanden werden darf, sondern als ebenbürtiger Gegenstand.12

Das Modell des Kulturtransfers wurde zunächst von M. Espagne und M. Werner ausgearbeitet. Vor allem seit den 1990er Jahren erfuhr dieser Ansatz eine vieldimensionale Weiterentwicklung und wurde sowohl auf tri- als auch multilaterale Transferbeziehungen angewandt. Dabei spielten auch Übersetzungen eine zunehmend wichtige Rolle.13

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Art und Weise des Kulturtransfers in Form von übersetzter westdeutscher Literatur in der UdSSR für den Zeitraum von 1953 bis 1985 zu untersuchen. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Transfer von einem Kulturraum in einen anderen, sondern auch um einen Transfer von einem demokratisch-kapitalistischen System in ein totalitär-sozialistisches – also von zwei ideologisch konträren Systemen, die die Weltanschauung des jeweils anderen Systems als Bedrohung des eigenen ansahen.

Die Fragestellungen und die Vorgehensweise sollen im Weiteren exemplarisch anhand der Kurzgeschichte Abenteuer eines Brotbeutels von Heinrich Böll illustriert werden.

Diese Kurzgeschichte erschien zunächst 1953 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel Der Brotbeutel des Gemeinen Stobski14 und wurde 1961 in der Sammlung von Böll Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze im Verlag Kiepenheuer & Witsch unter dem Titel Abenteuer eines Brotbeutels15 veröffentlicht. 1957 erschien der Text unter dem Titel zusammen mit anderen Kurzgeschichten als Rasskazy [Erzählungen] in der Zeitschrift Inostrannaja literatura als Istorija odnogo soldatskogo meška16 [Die Geschichte eines Soldatenbeutels], verbunden mit einer Illustration von O. Verejskij.

Die russischen Übersetzungen entstanden nicht auf Initiative westdeutscher Verlage, sondern wurden aufgrund von Entscheidungen der sowjetischen Akteur*innen angefertigt und publiziert. Deshalb stehen die Beweggründe, Motivation, Vorgehensweise eben dieser als Vermittler*innen tätigen Personen und Institutionen im Mittelpunkt dieser Arbeit. Um diese Aspekte zu beschreiben, wird auf Espagne/Werner sowie auf Weiterentwicklungen der theoretischen Ansätze von D. Bachmann-Medick17 und H.-J. Lüsebrink18 zurückgegriffen. Auch Verflechtungen, die im Mittelpunkt der von M. Werner/B. Zimmermann entwickelten ‚histoire croisée‘19 stehen, sind mitzudenken.

Im Kontext der Publikation dieser Kurzgeschichte ergeben sich folgende Fragen:

Welche Auswahlkriterien sind zu beschreiben?

Wer waren die Entscheidungsträger*innen für bzw. gegen eine Publikation?

Welche Hintergründe spielten bei der Entscheidungsfindung eine Rolle?

Die Publikation der Rasskazy im Mai 1957 fällt in die Tauwetterperiode, eine Zeit, in der nach der Geheimrede Chruščëvs auf dem XX. Parteitag 1956 Hoffnung auf Reformen, Entstalinisierung und Liberalisierung herrschte. In diesem Zeitraum waren die diplomatischen Beziehungen zwischen der UdSSR und der BRD bereits wieder aufgenommen und die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau erneut geöffnet worden. Zudem hatte man das Staatskomittee für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland beim Ministerrat der UdSSR gegründet, welches Kulturabkommen mit verschiedenen Ländern aushandeln sollte. Zu diesem Zeitpunkt fanden jedoch auch der Aufstand in Ungarn und der Posener Aufstand in Polen statt, die internationale Proteste hervorriefen.

Vor diesem geschichtlichen Hintergrund ist also erstens zu fragen, inwieweit sich diese (kulturpolitischen) Ereignisse und ihr historischer Hintergrund auf die Publikation dieser Kurzgeschichte ausgewirkt haben, und zweitens, wie die Entscheidung für eine Publikation von BRD-Literatur mit den (kultur-)politischen Entwicklungen in der UdSSR bzw. den bilateralen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der BRD zu korrelieren ist.

Dazu muss zunächst geklärt werden, welche Texte aus der westdeutschen Literatur in der RSFSR20 überhaupt veröffentlicht wurden und welcher Stellenwert diesen Publikationen zukam. Ausgehend von der Annahme, dass ein Kanon westdeutscher übersetzter Literatur, der sich nach einem eigenen Deutungskanon21formiert hatte, in der RSFSR existierte, muss zugleich konstatiert werden, dass es bislang keine vollständige Darstellung eines solchen materialen Kanons22 innerhalb dieses Zeitraums gibt.23 Daher ist dieser im Rahmen der vorliegenden Arbeit nach bestimmten Kriterien – Gesamterscheinungen, Neuauflagen und Auflagenstärke – zu erstellen.24

Damit müssen auch Fragen der Kanonforschung einbezogen werden, etwa die Arbeiten von Renate von Heydebrand und Simone Winko. Der Kanonbegriff ist bis jetzt in der Wissenschaft noch nicht eindeutig festgelegt.25 In dieser Arbeit wird von einem ‚sozialen‘ Kanonbegriff ausgegangen, da in den untersuchten Kanon nur Texte eingingen, die für eine soziale Gruppe oder Institution als wertvoll angesehenen wurden. Nach F. Worthmann ist ein Kanon

eine Gruppe (oder auch ‚Klasse‘) literarischer Texte, zu deren ‚klassifizierenden Merkmalen‘ eine wertvolle Eigenschaft (eine Qualität) zählt. Bedingung der Aufnahme in einen Kanon ist eine positive Bewertung des jeweiligen ‚Anwärters’.26

Somit kann ein Kanon als Ergebnis unterschiedlicher Deutungs- und Selektionsprozesse gesehen werden, welche literaturinterne und soziale Bestandteile beinhalten und sich im Laufe der Zeit verändern können.27 Bei neuzeitlichen Kanontypen ist eine Binnengliederung in eine ‚Kernzone‘ mit den höchst bewerteten Werken, welche von Texten mit schwächerem Kanonisierungsgrad umgeben ist, ersichtlich. Diese ‚Kernzone‘ herauszuarbeiten, ist Ziel der Untersuchung.

In der vorliegenden Arbeit liegt zudem ein Sonderfall der Kanonbildung vor: Es handelt sich dabei nicht um einen Kanon der Literatur des Ursprungslandes, sondern um den Kanon einer ausländischen Literatur in Übersetzungen. Es kann trotzdem von einem Kanon im Sinne F. Worthmanns und S. Winkos gesprochen werden, da auch dieser als Resultat von Deutungs- und Selektionsprozessen entstanden ist. Weder diese Prozesse noch der Kanon müssen jedoch, wenn auch theoretisch möglich, mit dem Kanon der betreffenden Literatur im Entstehungsraum übereinstimmen. Analysiert man diesen materialen Kanon vom Standpunkt einer inneren Werteskala der deutschen Literatur aus, ist die Auswahl von Autor*innen und Werken oft unverständlich. Erst die Rekonstruktion der Aufnahmebedingungen und -kriterien kann diese erklären.28 Die Normen, die die Auswahl der Werke bestimmen, können als Kriterien- und Deutungskanon gesehen werden.29 Die Entstehung eines Kanons ist somit eng verbunden mit der Wertung von literarischen Werken.30 Nach Worthmann ist eine literarische Wertung

die Einschätzungen des Wertes eines literarischen Textes oder einer literarischen Handlung; Kern einer Wertung ist dabei ein Akt des Messens: das Messen des Textes bzw. der Handlung an einem Wertmaßstab.31

Dabei wird unter dem literarischen Wert eines Textes „ein positives oder negatives Prädikat verstanden, das einem literarischen Text oder einer literarischen Handlung als Resultat der Wertung zugeschrieben wird.“32

In einem Kulturraum spiegelt die Selektion in erster Linie gewisse Entwicklungen oder Trends, die innerhalb der Empfängergesellschaft von Bedeutung sind. Wichtig ist in diesem Zusammenhang allerdings zu betonen, dass für die Sowjetunion ‚Leserschaft‘ und ‚Entscheidungsträger‘ nicht automatisch gleichgesetzt werden dürfen. Denn in der Planwirtschaft der Sowjetunion wurde auch der Buchmarkt nicht von dem Zusammenspiel zwischen Angebot und Nachfrage bestimmt, sondern die Wahl der zu publizierenden Werke wurde durch die entsprechenden Entscheidungsträger im literarischen Feld vorgenommen. Die Auswirkungen dieses Systems beschreibt Klaus Mehnert sehr treffend:

Bestseller-Listen sind in der Sowjetunion nicht zu haben, sie wären auch nur von geringem Nutzen, weil dort das Problem nicht im Buchverkauf liegt, sondern in der Buchbeschaffung […]. Aber während bei uns die Besteller-Listen den Geschmack des Publikums widerspiegeln, kann man die Popularität der mehr als 10 000 Mitglieder des sowjetischen Schriftstellerverbandes nicht von den Auflagehöhen ihrer Bücher ablesen, weil bei diesen nicht nur der Markt entscheidet; zwischen der Zahl der verkauften und denen der begehrten Bücher besteht kein eindeutig erkennbares Verhältnis; machen Autoren sind eben aus diesem oder jenem Grunde ‚näher am Papier‘ als andere.“33

Dabei erlaubt eine ideologiekritische Herangehensweise, historische und politische Konstellationen und deren Bedingungen aufzudecken.34 Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wird im Rahmen dieser Arbeit nicht nur exemplarisch untersucht, inwieweit politische und historische Konstellationen Einfluss auf die Publikation konkreter Werke hatten, sondern auch der Versuch unternommen, die Übersetzungsfrequenzen der BRD-Literatur insgesamt in einen Zusammenhang zu politischen Ereignissen des Zeitraums zu setzen. Dies soll im Folgenden exemplarisch gezeigt werden.

Vor der Publikation der Rasskazy 1957 waren bereits vereinzelt Erzählungen Bölls in der UdSSR veröffentlicht worden.35 Neben Böll wurden zwischen 1953 und 1957 noch Wolfgang Koeppen, Siegfried Sommer, Karlludwig Opitz und Leonhard Frank publiziert, am häufigsten aber Böll und Opitz.

Dies lässt nach den Auswahlkriterien für Werk und Autor sowie nach den Entscheidungsträgern und ihrer Entscheidungsbefugnis fragen.

Die Kurzgeschichte Abenteuer eines Brotbeutels erschien – wie erwähnt – 1953 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die meisten anderen Kurzgeschichten der Rasskazy36 stammen aus dem Sammelband Wanderer, kommst du nach Spa…37Es ist davon auszugehen, dass dieser Band die Quelle für die übersetzten Kurzgeschichten war, da Lohengrins Tod, Geschäft ist Geschäft und Mein trauriges Gesicht dort erstmalig veröffentlicht wurden.38 Die anderen Kurzgeschichten, Der Zwerg und die Puppe39 und Der Lacher40, stammen aus anderen Quellen. Einige Kurzgeschichten41 aus Wanderer kommst du nach Spa… wurden bis 1985 nicht übersetzt, andere wurden erst 1965 bzw. 1969 herausgegeben.42Für die Übersetzungen zeichnete I. Gorkina verantwortlich. Sie übersetzte alle in den Rasskazy publizierten Erzählungen bis auf Geschäft ist Geschäft43 (übersetzt von P. Pečalnina) und Der Lacher44 (übersetzt von M. Podljašuk).

Warum aber entschied man sich gegen eine Publikation des gesamten Sammelbandes Wanderer, kommst du nach Spa… und kombinierte in Rasskazy vielmehr unterschiedliche Originalquellen? Diese Entscheidung könnte anhand persönlicher Vorlieben der beteiligten Literaturakteure, aber auch durch Vorgaben staatlicher Instanzen getroffen worden sein. Daher werden in vorliegender Arbeit in Kapitel II das literarische Feld der UdSSR, dessen Akteur*innen – sowohl Personen als auch Institutionen – beschrieben; in Kapitel V und VI wird ausgeführt, welche Rolle ausgewählte Akteur*innen bei der Entscheidung für oder wider eine Publikation gespielt haben. Kapitel III nimmt die Rolle die DDR bei diesem Kulturtransfer in den Blick: Wurde diese nur als ‚kleiner Bruder‘ gesehen, der die Entscheidungen der UdSSR unreflektiert zu übernehmen hatte oder fungierte sie in Bezug auf westdeutsche Literatur als Autorität, auf die man in der UdSSR hörte?

Um den Aufnahmekontext, in welchem die Vermittler*innen tätig waren, zu skizzieren und die Vermittlerfiguren bzw. Mittlerinstitiutionen/-instanzen darin zu positionieren, stützt sich die vorliegende Arbeit auf die Überlegungen zum literarischen Feld von Pierre Bourdieu.45 Doch im Gegensatz zu seinen Ausführungen stehen bei vorliegender Arbeit nicht die Autor*innen und ihr ‚literarisches Feld im Mittelpunkt, sondern das literarische Feld der Zielkultur des Kulturtransfers und dessen Wirkungsweise in Bezug auf westdeutsche Literatur. In diesem Feld trafen unterschiedliche Akteur*innen aufeinander, die in einem dynamischen Prozess nach eigenen Regeln in einem totalitären System funktionierten und über die Herausgabe der Werke ausländischer Autor*innen entschieden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird untersucht, ob das von Bourdieu entwickelte Feldkonzept bzw. eine Adaption desselben hier – bei einer anders formierten Feldstruktur unter ganz anderen Voraussetzungen – tragfähig sein kann.

Unter einem Feld (champ) versteht Bourdieu „ein Netz objektiver Beziehungen (Herrschaft oder Unterordnung, Entsprechung oder Antagonismus usw.) zwischen Positionen.“46 Als „ein autonomer Mikrokosmos innerhalb des sozialen Makrokosmos“47 ist jede einzelne Position durch ihre objektive Beziehung zur anderen festgelegt und hängt von ihrer aktuellen und ihrer möglichen Situation in der Struktur des Feldes ab.48 Es existieren verschiedenste Felder, mit eigener Logik, eigenen Spielregeln und Zielen.49 Mit Hilfe des Feldbegriffs lassen sich die Strukturen der Macht- und Einflussbeziehungen, die sich durch unterschiedliche Kapitalverteilungen ergeben, nachvollziehen.50 Eine besondere Rolle nimmt das Feld der Macht (champ de pouvoir) ein. Es besitzt eine Art Metastatus:

Das Feld der Macht ist der Raum der Kräftebeziehungen zwischen Akteuren oder Institutionen, deren gemeinsame Eigenschaft darin besteht, über das Kapital zu verfügen, das dazu erforderlich ist, dominierende Positionen in den unterschiedlichen Feldern (insbesondere dem ökonomischen und dem kulturellen) zu besetzen. Es ist der Ort, an dem die Auseinandersetzungen zwischen Inhabern unterschiedlicher Machttitel (oder Kapitalsorten) ausgetragen werden […].51

Es handelt sich um eine Art übergeordneten Bereich, ein Wettbewerbsfeld,

in dem die Akteure bzw. Institutionen, die in ihren jeweiligen Feldern eine dominante Position innehaben, einander konfrontieren, um die Kräfteverhältnisse zwischen sich und ‚ihren‘ Feldern zu erhalten oder zu verändern.52

Bourdieu verwendet den Begriff des Feldes der Macht vor allem zur polaren Gegenüberstellung von ‚ökonomischem‘ und ‚kulturellem Kapital‘. Dabei geht er von einem erweiterten Kapitalbegriff aus, welcher sich nicht auf ‚ökonomisches Kapital‘ beschränkt, sondern alle gesellschaftlich relevanten Ressourcen unterschiedlichen Kapitalarten zuordnet.53 „Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form“54. Nach Bourdieu widerspiegelt die Verteilungsstruktur der verschiedenen Kapitalarten zu einem bestimmten Moment die Struktur der gesellschaftlichen Welt, also „der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird.“55 Problematisch bei der Nutzung des Begriffs Feld der Macht ist, dass Bourdieu sich zwar vielfach verstreut dazu äußerte, jedoch keine genauere Definition oder Beschreibung lieferte. In dieser Arbeit wird das Feld der Macht daher als übergeordnete, abstrakte Kategorie zwischen den Feldern betrachtet.

Felder entstehen durch Kämpfe, wodurch sie sich ständig verändern. Aus diesem Grund sind historische und politische Konstellationen und Bedingungen zu beachten, um Entwicklungen innerhalb der Empfängergesellschaft, also des zu untersuchenden literarischen Feldes, nachzuvollziehen.56 Deshalb muss geprüft werden, welche innen- und außenpolitischen, kulturellen und ideologischen Gegebenheiten eine konkrete Rolle bei der Publikation von Übersetzungen spielten.

Bereits vor der Publikation des Sammelbandes Rasskazy hatte sich die sowjetische Literaturkritik mit Böll befasst und sich mit ihm und einigen seiner Werke auseinandergesetzt.57 Böll wurde dabei z.B. als einer der beliebtesten und interessantesten westdeutschen Autor*innen, als Kritiker der westdeutschen Gesellschaft und der in ihr herrschenden Ungerechtigkeit sowie als Antimilitarist charakterisiert.58 Im Folgenden soll geprüft werden, welche Rolle diese und andere Charakteristika bei der Auswahl eines Autors oder einer Autorin für eine Publikation spielten und welche Kriterien zu ihrer Beurteilung angewandt wurden.

Konkret stellt sich also die Frage nach den Auswahlkriterien für die Kurzgeschichten, die für Rasskazy aus verschiedenen Originalquellen gewählt wurden:

Nach welchen Vorlagen wurde die Auswahl getroffen?

Gab es staatlich reglementierte Vorlagen oder Vorschriften, die bei der Auswahl von ausländischer Literatur eine Rolle spielten, und inwieweit wurde der für die sowjetische Literatur gültige Regelkatalog des Sozialistischen Realismus dabei modifiziert?

Wurden diese Vorgaben konsequent befolgt oder wurden sie von den im Literaturbetrieb Tätigen kreativ „manipuliert“, um eine Publikation durchzusetzen bzw. zu verhindern?

Dabei muss auch die Frage nach dem Zweck einer Publikation beachtet werden: Wollte man den Leser*innen ein besonderes Lesevergnügen gönnen, sie mit fremden Kulturen bekannt machen oder sollten sie ideologisch beeinflusst und Text und Autor somit instrumentalisiert werden?

Diese Fragen sollen am Beispiel zweier westdeutscher Autoren, Heinrich Böll und Günter Grass, geprüft werden. Die beiden Schriftsteller, beide Mitglieder der Gruppe 47 und Nobelpreisträger, erfuhren in der Sowjetunion eine äußerst unterschiedliche Aufnahme: Von Heinrich Böll wurde bis in die Mitte der 1970er Jahre fast jedes Werk übersetzt, er ist mit Abstand der meistübersetzte Nachkriegsautor im Untersuchungszeitraum. Günter Grass dagegen wurde bis zum Beginn der 1980er Jahre weitgehend ignoriert.

Damit kann als erste These formuliert werden, dass die (Nicht-)Publikation eines Werks nicht nur im Zusammenhang mit dessen literarischen Wert stand. Die Entscheidung hing sowohl von (kultur-)politischen Faktoren des Entscheidungszeitraums, von den Autor*innen und ihrem Umfeld, von ihrem politischen Engagement, ihren Ämtern usw. sowie von der literaturkritischen/-wissenschaftlichen Beurteilung des Werks ab. Diese These wird in Kapitel V und VI geprüft.

Für die Rezeption von Heinrich Böll wurden drei Romane ausgewählt, die den Beginn, den Höhepunkt und das vorläufige Ende der breiteren Auseinandersetzung mit Heinrich Böll in der Sowjetunion im Untersuchungszeitraum markieren. Zudem wird beschrieben, inwieweit sich das tatsächliche Leserinteresse an Böll und seine wirkliche Popularität bei der russischen Bevölkerung von der offiziellen Haltung zu seinen Werken unterschied.

Zu Günter Grass wird auf die sowjetische Auseinandersetzung mit Katz und Maus und Die Blechtrommel – letztere wurde im Untersuchungszeitraum nicht publiziert – eingegangen.

Die politischen Rahmenbedingungen des Entscheidungszeitraums für oder wider eine Publikation interessieren dabei ebenso wie die Beziehung zwischen den Autoren und den wichtigsten Akteur*innen des Literaturbetriebs und der literaturkritische Diskurs59 zu den einzelnen Werken. Der hier verwendete Ansatz der Kritischen Diskursanalyse (KDA) von Siegfried Jäger basiert auf den Analysen von Michel Foucault sowie den Arbeiten von Jürgen Link und Ulrike Link-Herr.60 Link versteht unter dem Diskurs

eine institutionell verfestigte redeweise [sic!], insofern eine solche redeweise [sic!] schon handeln [sic!] bestimmt und verfestigt und also auch schonmacht [sic!] ausübt und verfestigt.61

Jäger erweitert diesen Diskursbegriff und erklärt für die KDA: „‘Der Diskurs sei der Fluss von Wissen bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit‘ [...].“62 Diskurse sind nicht nur Spiegel der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern sie weisen sozusagen ein Eigenleben gegenüber dieser auf, sie besitzen eine eigene Materialität und können andere Diskurse in sich aufnehmen. Für Siegfried Jäger erfasst die Diskursanalyse

das jeweils Sagbare in seiner qualitativen Bandbreite und in seinen Häufungen bzw. allen Aussagen, die in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit geäußert werden (können), aber auch die Strategien, mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeengt wird, etwa Verleugnungsstrategien, Relativierungsstrategien, Enttabuisierungsstrategien etc. Der Aufweis der Begrenzung oder Entgrenzung des Sagbaren stellt demnach einen weiteren kritischen Aspekt von Diskursanalyse dar.63

Der Bereich des Sagbaren ist somit durch bestimmte Sanktionen eingeschränkt. Dies kann durch direkte Verbote, Tabuisierungen, Bewusstseinsregulierungen usw. geschehen.64 Bei einer Diskursanalyse geht es nicht nur um das bereits Gesagte/Geschriebene,

nicht (nur) um die Analyse einer Bedeutungszuweisung post festum, sondern um die Analyse der Produktion von Wirklichkeit, die durch die Diskurse – vermittelt über die tätigen Menschen – geleistet wird.65

Damit ist zu analysieren, wie westdeutsche Literatur in der sowjetrussischen Literaturkritik dargestellt wurde, um Publikationschancen zu beeinflussen, Autor*innen zu popularisieren oder eine Veröffentlichung ihrer Arbeiten zu erschweren.

Von wem aber werden Diskurse gestaltet? Siegfried Jäger geht davon aus, dass Diskurse überindividuell entstehen und das Ergebnis historischer Produkte sind, welche sich verselbstständigt haben.66

Ein wichtiger Aspekt bei Foucaults Ausführungen zum Diskurs ist das Verhältnis zwischen Diskurs und Macht, die Machtwirkung der Diskurse. Für Jäger ist die Beziehung zwischen Macht und Diskurs nicht eindeutig festgelegt: Diskurse können sowohl der Macht dienen, sie transportieren und durchsetzen, aber auch den Widerstandspunkt bzw. Beginn einer Gegenstrategie darstellen.67

Dies trifft auch auf den Untersuchungsgegenstand zu: Der Diskurs zu den ausgewählten Schriftstellern Heinrich Böll und Günter Grass wird unter dem Blickwinkel untersucht, welche rhetorische Mittel benutzt wurden, um eine Publikation der Übersetzungen dieser Autoren zu ermöglichen bzw. zu verhindern, bzw. inwieweit diese Texte für unterschiedliche Ziele instrumentalisiert wurden.

Die von den sowjetischen Akteur*innen des literarischen Feldes (z.B. Literaturkritiker*innen, Übersetzer*innen, aber auch Verlage oder Redaktionen) zur Publikation ausgewählten Texte könnten in ihrem Inhalt während des Übersetzungsvorgangs verändert und an die Kriterien des Deutungskanons angepasst bzw. für den Zweck der Instrumentalisierung geeigneter gemacht werden. Aus diesem Verdacht heraus ist eine Übersetzungsanalyse der publizierten Texte unverzichtbar, wobei nicht Übersetzungsungenauigkeiten, die durch Unwissenheit/Fehler des Übersetzenden entstanden sind, im Vordergrund stehen, sondern bewusste Textmanipulationen, um Zensurauflagen68 zu erfüllen. Beim Vergleich der Übersetzung Istorija odnogo soldatskogo meška mit dem Original lassen sich zunächst Ungenauigkeiten im Ausdruck feststellen:

Im September 1914 wurde in eine der roten Bromberger Backsteinkasernen ein Mann namens Joseph Stobski einzogen,[…].69

В сентябре 1914 года в одну из красных кирпичных казарм города Бромберга явился молодой человек по имени Иосиф Стобский.70

(Im September 1914 erschien ein junger Mann namens Josef Stobski in einer der roten Backsteinkasernen.)

Zudem sind Veränderungen festzustellen, die den Stil und die Ausdrucksweise des Autors so verändern, dass das Geschriebene abgedämpft, weniger emotional, grob oder unflätig klingt: Im Original kommt Stobskij aus „einem verschlafenen polnischen Nest“, in der Übersetzung wird daraus „iz sonnogo pol’skogo mestečka“71 (aus einem verschlafenen polnischen Örtchen). Somit wird die deutsche Bedeutung des Wortes „Nest“, umgangssprachlich abwertend für einen kleinen, abgelegenen Ort,72 durch das zwar ebenfalls umgangssprachliche Diminutiv „mestečko“ ersetzt, das durch seinen Suffix -k- einen verniedlichenden und verkleinernden Aspekt zu „mesto“ (Ort) hinzufügt73 und somit die Färbung des Originals stark verändert.

Eine bemerkenswerte Veränderung liegt auch bei folgender Textstelle vor:

[…] und 1930 gebar ihm seine Frau einen Knaben, […].74

[…] в 1930 жена его разрешилась от бремени младенцем, […].75

(1930 wurde seine Frau von einem Knaben entbunden.)

Das stilistisch neutrale Verb „gebären” wird durch einen schriftsprachlich gehobenen Ausdruck76 ersetzt, der den Vorgang der Geburt umschreibend wiedergibt, anstatt ihn direkt anzusprechen.

Auffällig ist auch, dass die Behandlung des jungen Walter Habke durch russische Soldaten, von Böll in einem knappen Satz dargestellt, abgeschwächt wiedergegeben wird: Aus „Sie schubsten ihn in eine Kolonne“77 wird in der Übersetzung „Oni postavili ego v kolonnu“78 (sie stellten ihn in eine Kolonne).

Als letztes Beispiel für Textveränderungen soll die „Tucheler Heide“ dienen. Dieses real existierende Gelände79 wird bei Böll zwei Mal genannt: „Er schluckte den Sand der Tucheler Heide“80 und „Er hatte genug Handgranaten in den Sand der Tucheler Heide geworfen, [...].“81 In der Übersetzung wird die Ortsbezeichnung das eine Mal komplett weggelassen „Стобский глотал пыль учебного поля“82 (Stobskij schluckte den Staub des Übungsfeldes) und das andere Mal ersetzt durch „песок бромбергского полигона“83 (Sand des Bromberger Übungsplatzes). Die Entscheidung für diese Vorgehensweise könnte in der bewussten Verschleierung von Kriegsschauplätzen liegen, vor allem da die Wehrmacht die Schlacht in der Tucheler Heide (01. – 05.09.1939) gegen die polnische Armee gewonnen hatte.84

Diese Textmanipulationen werfen Fragen auf: Nach welchen Kriterien wurden diese Eingriffe vorgenommen? Gab es spezielle Instanzen des sowjetischen Literaturapparates, die übersetzte Texte bewusst veränderten und welche Gründe gab es dafür? Inwieweit spielten die sowjetischen Literaturnormen, wie zum Beispiel die Vorgaben des Sozialistischen Realismus, eine Rolle bei der Übersetzung eines Textes?

Um diese Fragen beantworten zu können, wird in vorliegender Arbeit für je ein Werk beider Autoren eine Übersetzungsanalyse in Bezug auf zensorische Eingriffe am Text durchgeführt. Dabei soll gezeigt werden, nach welchen Kriterien diese vorgenommen wurden und welche Rückschlüsse auf die Rolle der Übersetzer*innen und Redakteur*innen bei diesen Eingriffen zu ziehen sind. Somit geht diese Arbeit von den generellen Strukturen aus und endet bei den konkreten Zensureingriffen am Untersuchungstext.

2. Textkorpus, Untersuchungszeitraum und -gebiet

Zur Einordnung der BRD-Literatur in Übersetzungen gilt es, zunächst den Kanon dieser übersetzten Literatur zu erstellen.

Der sowjetische Literaturbetrieb hat von Beginn an zwischen Autor*innen der einzelnen deutschsprachigen Länder differenziert. Die erste Entscheidung, die bei der Erstellung des Textkanons im Rahmen dieser Arbeit getroffen werden musste, war die Frage nach den Ursprungsländern der deutschsprachigen Texte: Wolfgang Kasack etwa entschied sich in seiner Bibliographie85 für eine Zusammenführung der Autoren aus der BRD, der Schweiz und Österreich. Im Gegensatz zu dieser Betrachtung nach dem Prinzip der Kultur- und Sprachräume war in der Sowjetunion eine teilweise willkürlich anmutende Aufteilung der deutschsprachigen Literatur in sechs Kategorien üblich: Deutschland vor 1945, BRD, DDR, Österreich, die Schweiz und Westberlin.86 Folgt man der sowjetischen Variante, ergibt sich ein grundlegendes Problem: die Trennung BRD - Westberlin. Diese Arbeit richtet sich nach dem sowjetischen System, da die sowjetische Literaturpolitik nachvollzogen werden soll, rechnet jedoch Autor*innen der Rubrik Westberlin zur BRD. Dies scheint berechtigt, da auch die Autor*innen, die in der Sovremennaja chudožestvennaja literatura za rubežom als West-Berliner Autor*innen gezeichnet wurden, im Ežegodnik SSSR87 als BRD-Autor*innen aufgeführt sind, was von der Willkürlichkeit dieser Einteilung zeugt.

Für die Erstellung des Kanons flossen alle Übersetzungen schöngeistiger Literatur aller nach dem sowjetischen System als BRD-Autor*innen eingestuften Schriftsteller*innen auf dem Gebiet der Russischen Sowjetrepublik ein. Dabei wurden sowohl die Buchform als auch Zeitschriften- bzw. Zeitungsbeiträge berücksichtigt.

Nicht untersucht werden auf Grund des sowjetischen Kategorisierungssystems deutsche Autor*innen und Werke vor 1949 – diese wurden logischerweise nicht als BRD-Literatur eingeordnet, sondern liefen unter einer eigenen Kategorie.88

Keinen Eingang fanden Publikationen deutschsprachiger Schriftsteller*innen in der Originalsprache sowie Briefe, literaturwissenschaftliche Arbeiten, Reportagen und Feuilletons, Interviews und Kommentare. Im Zentrum stehen somit die Übersetzungen schöngeistiger Literatur. Die Behandlung westdeutscher Autor*innen in Schulbüchern u.ä. wird im Rahmen der Analyse des Diskurses um Heinrich Böll und Günter Grass exemplarisch behandelt.

Der Untersuchungszeitraum beginnt 1953 mit Stalins Tod, durch welchen weitreichende Änderungen in jedem Bereich der Sowjetunion eintraten, und endet mit dem Machtantritt Michail Gorbačёvs 1985, der eine neue politische Ära einläutete. Publikationen in Buchform aus dem Jahr 1986 werden aufgrund der längeren Vorbereitungszeit für Bücher ebenfalls berücksichtigt.

Das Untersuchungsgebiet ist auf die RSFSR begrenzt, da dort das politische Zentrum des Staates (Moskau) lag und man davon ausgehen kann, dass der größte kulturelle Einfluss dort konzentriert war. Ein weiterer Grund für die Begrenzung auf die RSFSR liegt in der Sprachbarriere: Übersetzungen in den anderen Republiken wurden z.T. in den Republiksprachen angefertigt. Zudem existierten in den Teilrepubliken eigene Literaturapparate (z.B. mit eigenen Schriftstellerverbänden) mit eigenen Zielsetzungen. Eine Analyse dieser Aspekte kann im vorliegenden Rahmen nicht geleistet werden. Es wird stellenweise von ‚UdSSR‘ wie auch ‚RSFSR‘ gesprochen, da politische Direktive und Stellungsnahmen für die ganze UdSSR galten, jedoch nur die in der RSFSR getroffenen Entscheidungen und Ereignisse und die dort publizierten Übersetzungen und Rezensionen/literaturwissenschaftlichen Werke untersucht werden.

3. Methode

Die westdeutsche Literatur in Übersetzungen in der RSFSR wurde aus unterschiedlichen Quellen und mit Hilfe diverser Findbücher rekonstruiert, wie dem Ukazatel’ soderžanija žurnala89 (Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift) der Zeitschrift Inostrannaja literatura, dem Gesamtverzeichnis der Übersetzungen deutschsprachiger Werke,90 dem Katalog der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig sowie der Karteikartensammlung der Bibliothek für Fremdsprachen, Moskau, Rubrik perevody (Übersetzungen).91

Um die Auseinandersetzung mit den Autor*innen und ihren Werken nachzuvollziehen, wurden die in der RSFSR publizierten literaturwissenschaftlichen/-kritischen Arbeiten (Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Lexika, wissenschaftliche Abhandlungen, Paratexte) zu den jeweiligen Werken untersucht und Archivmaterialien analysiert.92 Die Archivmaterialien stammen sowohl aus deutschen als auch russischen Archiven (Archiv der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU), Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), Bundesarchiv (BArch), Heinrich-Böll-Archiv Köln, Medienarchiv Günter Grass), Rossijskij gosudarsvennyj archiv literatury i iskusstva (Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst, RGALI), Rossijskaja nacional’naja biblioteka (Russische Nationalbibliotek, RNB).93

Bei der Auseinandersetzung mit den ostdeutschen und den russischen Archivarien war problematisch, dass ein Teil der gesuchten Dokumente als wohl zerstört gelten muss, wie dies bei vielen Akten aus dem BStU der Fall war. Andere Materialien sind aus unterschiedlichen Gründen (noch) nicht zugänglich. Eine weitere Schwierigkeit lag in der Genehmigung von Einsichten privater Nachlässe: Kontaktpersonen, die die nötige Erlaubnis geben könnten, waren oft schwer zu ermitteln.

Des Weiteren wurden Experten-Interviews mit Akteur*innen des Literaturbetriebs geführt, um Einblick in die internen Abläufe innerhalb der einzelnen Institutionen zu erhalten und sich eine Vorstellung der privaten Netzwerke machen zu können. Zu nennen sind hier vor allem: Michail Rudnickij (Literaturkritiker, Übersetzer), Boris Chlebnikov (Redakteur der Zeitschrift Inostrannaja literatura, Literaturkritiker und Übersetzer), Ludmila Černaja (Übersetzerin, Literaturkritikerin), Aleksej Slovesnyj (Mitarbeiter der Inostrannaja literatura von 1955 bis 2005, von 1993 bis 2005 Chefredakteur).

Die Interviewpartner*innen wurden nach ihrer Zugehörigkeit zum Literaturbetrieb ausgewählt. Dabei wurden jene, die im Bereich der westdeutschen Literatur tätig waren, vorrangig interviewt. Einschränkende Faktoren waren die Bereitschaft zum Gespräch bzw. der Gesundheitszustand der potentiellen Interviewpartner.

Bei der Vor- und Nachbereitung dieser Interviews mussten die Erkenntnisse der ‚Oral History‘94 berücksichtigt werden. Die Problematik im Umgang mit diesen Zeitzeugnissen in Form von Interviews besteht darin, dass diese

'Fakten' bzw. 'Informationen' zur Verfügung stellen, die – als Puzzle zusammengesetzt – einen direkten Zugang zur vergangenen Wirklichkeit vermitteln, […] sich nicht nur als Illusion [erwiesen], sondern [...] auch zum Problem der Bewertung von 'Zeugenaussagen' [führten]95.

Die in den Interviews gemachten Aussagen dürfen nicht a priori als Abbild der Vergangenheit gesehen werden, sondern müssen als subjektives Konstrukt aus eigenen und vermeintlich eigenen Erinnerungen bewertet werden. Um den Interviewpartnern nicht auf ihrem Erinnerungspfad zu stören und zu vermeiden, dass die Antworten mehr oder weniger auf die Fragen passend gegeben und nicht aus der Erinnerung stammen, wurde die Methode des autobiographisch- narrativen Interviews96 angewandt, denn:

Setzten sich [..] die Interviewpartner mit ihrem Bedürfnis durch, ihre Erinnerungen darzustellen, erfährt man neue Aspekte, die nicht schon in den Fragen vorformuliert sind und lediglich nach Bestätigung suchen.97

Die Interviews wurden leitfadengestützt entweder auf Russisch oder auf Deutsch durchgeführt und aufgezeichnet, so dass Unklarheiten zu einem späteren Zeitpunkt nochmals besprochen werden konnten. Die Sprachauswahl wurde dabei von den Interviewpartner*innen getroffen. Dabei wurde diesen im ersten Teil des Interviews nur das Thema des Interviews vorgegeben – z.B. “Ihre Arbeit im Verlag Inostrannaja literatura“ und dann der Redefluss nicht mehr unterbrochen, auch wenn die Erinnerungen vom Thema abschweiften (z.B. viel Persönliches mitgeteilt wurde), um nicht den Eindruck zu erwecken, sie würden nicht das „Passende“ oder gar „Falsches“ erzählen.98 Kritisch betrachtet werden muss trotzdem der Inhalt der Erinnerungen selbst – oft werden die wirklich eigenen Erinnerungen mit dem, was man gehört, gesehen oder gelesen hat, so vermischt, dass der Sich-Erinnernde diese Fremd-Erinnerungen als die eigenen ansieht und auch tatsächlich daran glaubt, dass es sich um seine eigenen Erlebnisse handelt, an die er sich erinnert.99 Da sich das Forschungsinteresse jedoch weniger auf persönliche Ereignisse bezog, sondern auf sich wiederholende Arbeitsabläufe, Praktiken und Umsetzung von staatlichen Vorgaben, musste der Interviewinhalt zwar trotzdem kritisch betrachtet werden, jedoch spielte das Vermischen von Erinnerungen keine so herausragende Rolle, als es bei der Beschreibung von persönlichen Erlebnissen in der Kindheit der Fall sein dürfte. Wichtig war jedoch, bei den Interviews darauf zu achten, Erzählungen über Arbeitsabläufe usw. von Versuchen, das eigene Verhalten schönzureden bzw. zu rechtfertigen, zu trennen.

4. Forschungsstand

Zur Rezeption von Böll und Grass in der UdSSR existiert bislang keine thematisch einschlägige Arbeit, wohl aber gibt es viele wichtige Studien, die sich mit einzelnen Aspekten des Themas auseinandersetzen. Die folgende Darstellung des aktuellen Forschungsstandes orientiert sich an der Abfolge der Kapitel in dieser Arbeit und der in ihnen behandelten Themen.

Zum Literaturapparat der UdSSR

Um die Akteur*innen des Literaturbetriebs und die Prozesse zu beschreiben, die zur Publikation oder Absage eines Werks westdeutscher Autor*innen in der UdSSR geführt haben, wird in vorliegender Arbeit der Literaturapparat der UdSSR beschrieben. Im Zusammenhang mit diesem Ziel haben Autor*innen wie D. Beyrau,100I. Bock,101 B. Gorokhoff,102 A. Bljum,103 B. Menzel104 und G. Walker105 wichtige Vorarbeit geleistet. In ihren Arbeiten werden Teilbereiche des Literaturapparats ausführlich betrachtet. So zeigte beispielsweise Walker, sich auf die Vorarbeiten von Gorokhoff stützend, 1978 den Einfluss der kommunistischen Partei und der staatlichen Instanzen auf den Literaturapparat und skizzierte die Arbeit der Verlage und des Buchhandels. Dabei bezog sich der Autor vor allem auf Organisations- und Entscheidungsprozesse in Bezug auf inländische Literatur und deren Autor*innen in nichtperiodisch erscheinenden Medien und dies nur für einen Zeitraum bis Mitte der 1970er Jahre.

Andere Arbeiten106 beziehen sich nur auf Teilbereiche der Rahmenbedingungen des sowjetischen Systems, wie die Überlegungen M. Volenskys, der in seinem Buch Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion ausführlich auf die Entstehungsgeschichte dieser Gesellschaftsschicht und ihre Auswirkungen auf das sowjetische Gesellschaftssystem einging. Weitere Arbeiten,107 die eine Sammlung von Archivmaterialien darstellen, sind ebenfalls von großer Bedeutung für den Untersuchungsgegenstand, betrachten jedoch ebenfalls nur einen sehr enggefassten Bereich des literarischen Feldes in einem sehr begrenzten Zeitraum.

Private Einblicke in das sowjetische literarische Feld bietet der sowjetische Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Dissident E. Etkind.108 Er thematisiert neben dem Leseverhalten der sowjetischen Bevölkerung auch den Stellenwert des Schriftstellers in der Sowjetgesellschaft und zeigt dessen privilegierte Stellung auf. Zudem beschreibt er kurz verschiedene Instanzen des sowjetischen Literaturbetriebs und den Samizdat. Persönliche Erfahrungen mit der sowjetischen Realität teilt E. Kaceva in ihrer Autobiographie Moj ličnyj voennyj trofej,109aus welcher für die vorliegende Arbeit vor allem ihre Ausführungen zur Arbeit in verschiedenen Zeitschriften wichtig sind.

Zur sowjetischen Literaturpolitik und ihren Auswirkungen auf den Alltag

Einen wichtigen Einblick in die Entwicklung der sowjetischen Literaturpolitik im Inneren und deren Auswirkungen auf die Wirkungsweise von Akteur*innen im sowjetischen Literaturbetrieb und den Alltag der Intelligencija in der Sowjetunion gab Lev Kopelev in seinen autobiographischen Schriften und seinen mit seiner Frau Raissa Orlova verfassten Erinnerungen. Im Zusammenhang mit Böll sind sowohl einige Vorträge110als auch der Briefwechsel zwischen Böll und Kopelev111 wichtig, da durch diese gezeigt wird, wie sich das Verhältnis und die gegenseitige Einflussnahme zwischen den beiden Literaturakteuren gestaltete und welchen Stellenwert Böll bei der sowjetischen Intelligencija hatte.

Zum Sozialistischen Realismus

Bei der Analyse von Publikationen schöngeistiger Literatur in der Sowjetunion ist die Auseinandersetzung mit den Kriterien des Sozialistischen Realismus unumgänglich. Als Grundlagenwerk zum Sozialistischen Realismus darf The Soviet Novel112 von K. Clark gelten, die sich mit diesem Regelwerk des sowjetischen Literaturapparats und seiner Bedeutung für die sowjetische Kultur auseinandersetzte. Mit dem Sozialistischen Realismus befasste sich auch z.B. E. Mozejko, welcher sowohl die theoretischen Grundlagen als auch die Entwicklung dieser literarischen Herangehensweise darstellte. Beide Arbeiten befassen sich jedoch in diesem Zusammenhang nicht explizit mit ausländischer Literatur.113 Dies gilt auch für die Arbeiten anderer Autor*innen, die sich unter verschiedenen Blickwinkeln mit der Entstehung und Funktionsweise des Sozialistischen Realismus befassten.114

Zur Zensur

In Bezug auf den Umgang mit westdeutscher Literatur spielt die Auseinandersetzung mit der Zensur und ihren Vorgaben eine wichtige Rolle. Bei den russischen Autor*innen, die sich mit dem Thema Zensur befasst haben, ist zum Beispiel T. Gorjaeva zu nennen, die sich in mehreren Arbeiten mit der politischen Zensur in der UdSSR von 1917 bis 1991 auseinandersetzte, und dabei u.a. ausführlich auf die Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung dieses Themas einging.115 Außerdem publizierte und kommentierte sie Dokumente zu diesem Thema. Dabei liegt das Hauptaugenmerk der Auseinandersetzung mit dem Material auf der sowjetischen Literatur und den dafür zuständigen Akteur*innen.116 Weitere Dokumente117 zur sowjetischen Zensur für den gleichen Zeitraum wurden von A. Bljum publiziert, der sich auch mit den Zensurstrukturen in Leningrad befasste.118 Aus dem angloamerikanischen Raum sind neben Walkers Ausführungen auch die Arbeiten von M. Tax Choldin und M. Friedberg von großer Bedeutung. Die beiden Autoren*innen beschäftigen sich mit Fragen zur Zensur, westlicher Literatur in der UdSSR sowie mit Aspekten der sowjetischen Gesellschaft und Kultur. Dabei ist für die vorliegende Arbeit vor allem der von ihnen gemeinsam herausgegebene Sammelband The red pencil119wichtig. In diesem wird die sowjetische Zensur aus verschiedenen Blickwinkeln (von innen, von außen, in Bezug auf schöngeistige und wissenschaftliche Texte aus dem westlichen Ausland usw.) und in verschiedenen Bereichen (beim Film, Journalismus, in der Redaktion, im Theater usw.) betrachtet. Außerdem werden Erfahrungen sowjetischer Wissenschaftler*innen und Kulturschaffender in Bezug auf die Zensur dargestellt. Des Weiteren werden zu den einzelnen Themenbereichen Diskussionsbeiträge wiedergegeben, die 1983 auf der Konferenz Soviet Direction of Creative and Cultural Activity des Kennan Institute for Advanced Russian Studies in Washington DC entstanden sind. In die vorliegende Arbeit flossen vor allem die Erläuterungen zur Zensur von L. Vladimirov120 – vor allem bezüglich des Ablaufs und der Funktionsweise der Zensur und der Arbeitsweise des Zensors – und von Friedberg121 – zu den unterschiedlichen Arten von Zensur ausländischer Literatur und Zensureingriffen bei dieser – ein.

Wichtig zu erwähnen ist ein weiteres von Friedberg publiziertes Werk: A decade of euphoria. In diesem ging er auf den Umgang mit westlicher Literatur in der UdSSR von 1954 bis 1964 ein und somit auf einen wesentlich kürzeren Untersuchungszeitraum als die vorliegende Arbeit. Friedberg betrachtete vor allem Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen, Spanischen, Deutschen und Italienischen. Dabei ging der Autor auf staatliche Eingriffe in die Verbreitung westlicher Literatur in Übersetzungen als auch auf Zensureingriffe ein, untersuchte Reaktionen sowjetischer Leser*innen auf westliche Literatur sowie die offizielle Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Gattungen dieser. Des Weiteren zeigte der Autor die Instrumentalisierung von Literatur für didaktische Ziele auf – zum Beispiel die Publikation von Werken westlicher Kommunist*innen oder Sympathisant*innen der UdSSR oder Antifaschist*innen. Zudem ging er auf den Umgang mit unerwünschten oder „schwierigen“ Schriftsteller*innen wie F. Kafka oder G. Orwell ein. Friedberg gab somit wichtige Impulse zur Analyse des Umgangs mit ausländischer Literatur in der UdSSR. Durch die breite Spanne an untersuchter Literatur konzentrierte sich der Autor jedoch nicht auf einzelne Autor*innen und zeigte keine detaillierte Analyse im Umgang mit ihren Werken auf. Im Gegensatz zur vorliegenden Arbeit befassten sich die Autor*innen der aufgeführten Werke nicht spezifisch mit westdeutscher Literatur, so dass wichtige Aspekte der deutsch-sowjetischen Beziehungen (vor allem in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg) keine Betrachtung fanden.

Zur DDR

In dieser Arbeit wird die These aufgestellt, dass die DDR und die UdSSR im regen Austausch über die BRD-Literatur und ihre Autor*innen standen. Bei der Untersuchung dieses Aspekts wurde vor allem auf Archivmaterialien zurückgegriffen. Neben den eigenständig aufgefundenen Akten gab die mit Kommentaren versehene Dokumentensammlung von K. Schlüter122wertvolle Hilfestellung bezüglich Günter Grass und seiner Beziehung zum ostdeutschen Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Zum Verständnis der Funktionsweise des Literaturapparats der DDR und dessen Unterwanderung durch den Staatssicherheitsdienst leistete J. Walther123 mit seiner Auswertung von Archivmaterial des BStU einen wichtigen Beitrag. In dieser Arbeit wird die Entwicklung des MfS im Bereich der Literatur von 1950 bis 1989 sowie seine Vorgehensweise und Verbindungen zu anderen Geheimdiensten sowie Organen des Literaturapparats dargestellt und ausführlich auf die unterschiedlichen Mitarbeitergruppen eingegangen. Ebenfalls ausführlich mit dem Aufbau, der Arbeitsweise und der Auflösung des MfS beschäftigten sich D. Gill und U. Schröter.124 In diesem Zusammenhang ist auch der Sammelband Stasi, KGB und Literatur der Heinrich-Böll-Stiftung zu nennen, in welchem u.a. die Einflussnahme des MfS bzw. des KGB auf den Literaturbetrieb der DDR bzw. UdSSR dargestellt werden.125

Im Zusammenhang mit der Einschätzung des Autors Günter Grass in der DDR spielten seine Kontakte zu ostdeutschen Schriftsteller*innen eine wichtige Rolle. Einen Einblick in diesen deutsch-deutschen Austausch ermöglichte R. Berbig,126 der sowohl Briefe zwischen ost-/westdeutschen Autor*innen als auch Gespräche bzw. Aufsätze zu diesem Thema publizierte.

Zur Rolle der DDR bei der sowjetischen Auseinandersetzung mit BRD-Literatur

Zur Rolle der DDR in Bezug auf die Auseinandersetzung mit BRD-Literatur in der Sowjetunion geben die Arbeiten von H.-J. Bernhard127 und I. Streul128 wichtige Informationen und gehen dabei auch auf die Rezeption von Böll und Grass in der DDR ein. Zur Zusammenarbeit zwischen dem MfS und dem KGB geben Arbeiten von T. Auerbach u.a.,129 C. Domnitz,130 R. Engelmann/F. Joestel131 u.a. sowie W. Süß132 wichtige allgemeine Einblicke.

Zum Kanon/zu Übersetzungen deutschsprachiger Literatur

Einer der ersten Wissenschaftler*innen, die sich mit russischen Übersetzungen deutschsprachiger Literatur des 20. Jahrhunderts auseinandersetzten, war W. Kasack. Er veröffentlichte 1991 mit Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts in russischen Übersetzungen eine Übersicht aller übersetzten deutschsprachigen Titel ohne DDR-Literatur. Kasack nahm dabei den deutschsprachigen Verlagsraum ohne Unterscheidung nach Ländern als Ausgangspunkt, da diese seiner Ansicht nach für deutsche Verleger*innen, Buchhändler*innen und Leser*innen eine Einheit bildeten. Zudem sei eine Zuordnung der Autor*innen nach Ländern oft unmöglich, da der Geburts- und Wohnort nicht entscheidend sein dürfe. Letzterer sei bei deutschen Schriftsteller*innen oft emigrationsbedingt gewesen.133

Kasack führte nur Bücher und Zeitschriftenpublikationen ab 25 Seiten auf, während für die vorliegende Arbeit alle publizierten Übersetzungen in Buchform sowie als Beiträge in Zeitschriften und Zeitungen berücksichtigt werden.

Mit Übersetzungen deutschsprachiger Literatur beschäftigte sich auch A. Bočarova.134 Sie betrachtete den ganzen deutschsprachigen Verlagsraum – die DDR eingeschlossen – von 1950 bis 2008. Dabei fanden jedoch nur Kinder- und Jugendbücher Betrachtung, wogegen in die für diese Arbeit erstellte Bibliographie schöngeistige Literatur für Kinder, Jugendliche und Erwachsene aufgenommen wurde. Im Zusammenhang mit sowjetischen Verstößen gegen das Welturheberrecht von 1980 bis 1986 betrachteten H. Glade und D. Mayer russische Übersetzungen westdeutscher Belletristik. Sie wiesen nach, dass auch nach dem Beitritt der Sowjetunion zum internationalen Welturheberrecht der Genfer Konvention 1973 Texte in Übersetzungen meist ohne Anfrage bei den Autor*innen verändert wurden.135

Zur sowjetischen Kulturpolitik

Viele Autor*innen beschäftigen sich mit der Literaturpolitik in der Sowjetunion nach dem Tod Stalins, z.B. in den Arbeiten Vom ‚Tauwetter’ zur Perestroika. Russische Literatur zwischen den fünfziger und neunziger Jahren,136Die sowjetische Kulturpolitik 1970-1985. Von der verwalteten zur selbstverwalteten Literatur137 sowie Die sowjetische Literaturpolitik 1953-1970 zwischen Entdogmatisierung und Kontinuität.138 Die beiden Letztgenannten zeichnen sich vor allem durch die Wiedergabe zahlreicher literaturpolitisch wichtiger Dokumente in deutscher Übersetzung sowie deren Analyse und Kommentation aus. Es werden unterschiedliche machtpolitische Konstellationen aufgezeigt, wobei das gegenseitige Verhältnis von Kunst und Macht im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Wichtig ist zudem die Arbeit Vom Tauwetter zur Perestrojka. Kulturpolitik in der Sowjetunion. (1953-1991).139 Von K. Laß wird ein Überblick über die Entwicklung der Kulturpolitik seit Stalins Tod bis zur Perestroika geboten; sie geht ausführlich auf den Einfluss verschiedener innenkulturpolitischer Ereignisse wie Parteitage, Kongresse der unterschiedlichen Verbände und Ausstellungen sowie auf die Schriftstellerprozesse ein. Dabei berücksichtigt sie sowohl die offizielle Kunst als auch alternative Strömungen. Das Hauptaugenmerk liegt auf den Interaktionsmechanismen zwischen den offiziellen Strukturen und den Künstler*innen sowie auf der Entwicklung von Nischen für alternative Strömungen im kulturellen Bereich.

Zur deutsch-sowjetischen Kulturpolitik

Ein weiterer wichtiger Themenblock der vorliegenden Arbeit ist die deutsch-sowjetische Kulturpolitik.

Von besonderer Bedeutung für die Betrachtung dieses Themengebiets sind die Publikationen von B. Meissner. Er gab in verschiedenen Arbeiten einen Überblick über die Entwicklung der politischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der BRD während des gesamten Untersuchungszeitraums.140 Zudem wurden unter seiner Herausgeberschaft viele relevante Dokumente wie Noten, Denkschriften, Erklärungen, aber auch Presseinterviews, Regierungserklärungen und Stellungsnahmen der Opposition zu diesen Beziehungen in zwei Bänden für den Zeitraum von 1955 bis 1973 publiziert.141 Im Unterschied zur vorliegenden Arbeit geht keines dieser Werke auf den Zusammenhang zwischen politischen Beziehungen und Übersetzungen ein. Weitere wichtige Untersuchungen zu den (kultur-) politischen Beziehungen stammen von B. Lippert, K. Eimermacher und A. Volpert142.

W. Kasack betrachtet auch die sowjetische Kulturpolitik und analysiert die deutsche Kulturpolitik in Bezug auf die UdSSR, wie z.B. in Kulturelle Aussenpolitik.143 Dabei geht er auf den Kulturaustausch der UdSSR seit 1917 sowie auf den Inhalt und die Auswirkung der Kulturabkommen ein. In Kulturpolitik gegenüber der Sowjetunion144 beschreibt Kasack die westdeutsche Reaktion auf die sowjetische Politik.

Für die Auseinandersetzung mit der Sichtweise der UdSSR auf die BRD lieferte F. Oldenburg145 wichtige Einblicke, wobei er sich jedoch auf den Zeitraum zwischen Brežnev und Gorbačёv beschränkte. Einen detaillierten Einblick in die sowjetische Sichtweise findet man bei H. Richerdt,146 der sich 1967 mit dem offiziellen Deutschlandbild in der Sowjetunion auseinandersetzte. Auch die 1986 veröffentlichte ausführliche Analyse der sowjetischen Außenpolitik im Zusammenhang mit Ideologie von Egbert147 liefert in Bezug auf die sowjetische Außen- und Rüstungspolitik wichtige Hintergrundinformationen.

Für die Betrachtung der auswärtigen Kulturpolitik der BRD gegenüber der UdSSR von 1969 bis 1990 sind auch die Arbeiten von Lippert von Bedeutung, jedoch liegt dabei das Hauptaugenmerk auf einer systematischen Darstellung der westdeutschen auswärtigen Kulturpolitik und der Auseinandersetzung mit ihrer Bedeutung in Bezug auf die Ostpolitik und liefert deshalb für das zu betrachtende Themengebiet nur Hintergrundwissen.148

Zu Heinrich Böll

Die Arbeit P. Bruhns und H. Glades149 zeichnet sich durch eine ausführliche Bibliographie der in der UdSSR in russischer Sprache erschienenen Schriften von und über Heinrich Böll aus und ist eine wertvolle Vorarbeit. Die Autoren untersuchen Heinrich Bölls Rezeption in der UdSSR bis 1979 und beziehen auch die Theaterinszenierung von Ansichten eines Clowns sowie die Übersetzung von Gruppenbild mit Dame mit ein. Heinrich Böll in der Sowjetunion 1952-1979 unterscheidet sich von der vorliegenden Arbeit vor allem auch durch den Untersuchungsschwerpunkt. Wird im Rahmen dieser Arbeit Böll als Beispiel für die sowjetische Kulturpolitik betrachtet und die Rezensionen auf Hinweise für literaturpolitische Entscheidungen hin untersucht, so stehen bei Bruhns/Glades Werk vor allem literaturwissenschaftliche Einschätzungen sowjetischer Arbeiten im Vordergrund, literaturpolitische Themen werden nur gestreift.150 Dieselbe Einschätzung trifft auch auf Glades Aufsatz Gegen das Lukács’sche ‚Rezept‘. Anomalien der Rezeption von Heinrich Bölls Kurzgeschichten in der Sowjetunion151 zu.

Als weitere wichtige Arbeiten zur literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Heinrich Böll im Kontext des Kritischen Realismus dürfen die Magisterarbeit von P. Bukowski152 und die darauf aufbauende Monographie von Glade/Bukowski gelten,153 in welchen neben Böll und Grass noch vier weitere deutsche Autoren im Kontext der Frage nach Entwicklungstendenzen und Positionen der russischen Literaturkritik betrachtet werden. Einen wichtigen Beitrag zur Frage, warum Böll ab 1973 nicht mehr publiziert wurde, leistet M. Hüttels Artikel Böll in der Sowjetunion154 von 1981, in welchem sowohl literaturpolitische als auch literaturwissenschaftliche Faktoren berücksichtigt werden. Hüttel baut dabei auch auf die Arbeiten von Glade, Bruhn und Bukowski auf und stellt die Entwicklung im Umgang mit Böll bis zum Beginn der 1980er Jahre dar. Im Unterschied zu vorliegender Arbeit wird die Funktionsweise des literarischen Feldes und die Rolle, welche die Akteur*innen bei der Publikation der aufgeführten Werke spielten, nicht näher untersucht; die Rezeption von Bölls Werk und die Zensureingriffe v.a. an Gruppenbild mit Dame stehen im Mittelpunkt.

Glade veröffentlichte zudem zusammen mit Konstantin Bogatyrev eine ausführliche Analyse155 von Gruppenbild mit Dame, mit welcher sowohl auf Glade als auch auf C. Schmidts Die russischen Übersetzungen der Romane Heinrich Bölls156 zurückgegriffen wird. Schmidt untersucht alle russischen Übersetzungen der Romane auf der Basis des Übersetzungsmodells von K. Reiß, wobei er am Rande auch die Zensur thematisiert.

Einen knappen Überblick über die wechselhafte Beziehung zwischen der Sowjetunion und Heinrich Böll bietet E. Kazeva,157 wobei sie sowohl eine kurze Aufzählung über die publizierten Werke als auch über die Zensureingriffe gibt und auf die Beliebtheit des Autors bei der Bevölkerung eingeht. Besonders wichtig sind ihre Ausführungen zu den Gründen und Folgen des Publikationsverbots Bölls in der UdSSR nach 1974 sowie ihre Anmerkungen zu Böll und seinem Interesse für russische Literatur.

Auf die persönlichen Beziehungen zwischen Böll und den Akteur*innen im Literaturbetrieb der UdSSR gehen zudem neben Lev Kopelev und Raissa Orlova158 auch Konstantin Azadovskij159 und Nurija Fatychova160 ein. Die Erstgenannten stützen sich auf eigene persönliche Erfahrungen, die anderen befassen sich vor allem im Kontext der Dissident*innen mit diesem Thema.

Zu Günter Grass

Die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Rezeption von Günter Grass fiel bisher ungleich knapper aus als die von Heinrich Böll in der UdSSR.

Neben der bereits erwähnten Arbeit von Glade/Bukowski161 befasste sich G. Vassiliev ausführlich mit diesem Thema.162 Dabei ging dieser auf die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Grass in der UdSSR ab Mitte der 1960er Jahre bis zum Jahr 2000 ein. Die Arbeit stellt eine wichtige Basis für die weitere Auseinandersetzung mit diesem Thema dar, jedoch sind dem Autor einige gravierende Fehler bei Quellenangaben unterlaufen, so dass eine Überprüfung dieser bei der weiteren Forschung zu diesem Thema unerlässlich war.

1 Vgl. dazu Kapitel VI.

2 Matthias Jacob: Puschkins Bedeutung in der Weltliteratur, in: Rolf-Dieter Kluge (Hrsg.): „Ein Denkmal schuf ich mir …“ Aleksander Puschkins literarische Bedeutung. Eine Ringvorlesung aus Anlaß seines 200. Geburtstages, Tübingen 2000, S. 338-369, hier: S. 358.

3 Raissa Orlowa-Kopelew: Eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Rückblicke aus fünf Jahrzehnten, München 1987, S. 270.

4 [-]: Sowjets am Lesefreudigsten, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe Nr. 63 (1983), S. 1669.

5 Vgl. ebd.

6 Vgl. Klaus Mehnert: Über die Russen heute. Was sie lesen, wie sie sind, Stuttgart 1993, S. 38. Ausführlicher zu diesem Thema: ebd. S. 38-42.

7 Ebd., S. 9.

8 Vgl. Maurice Friedberg: Soviet Censorship: A view from the Outside, in: Ders./Marianna Tax Choldin (Hrsg.): The Red Pencil. Artists, scholars and censors in the USSR, Boston/London/Sydney/u.a. 1989, S. 22.

9 Vgl. Marianna Tax Choldin: Censorship via translation: Soviet treatment of Western political writing, in: Maurice Friedberg/Dies. (Hrsg.): The Red Pencil. Artists, scholars and censors in the USSR, Boston/London/Sydney/u.a. 1989, S. 29.

10 Birgit Menzel: Die Zeitschrift Inostrannaja literatura als Medium kultureller Übersetzung, in: Christine Engel/Dies. (Hrsg.): Kultur und/als Übersetzung. Russisch-deutsche Beziehungen im 20. und 21. Jahrhundert (Ost-West-Express. Kultur und Übersetzung, Bd. 8), Berlin 2011, S. 146.

11 Vgl. ebd., S. 147.

12 Michel Espagne: Kulturtransfer im slavischen Sprachraum, in: Siegfried Ulbrecht/Helena Ulbrechtová (Hrsg.): Die Ost-West-Problematik in den europäischen Kulturen und Literaturen. Ausgewählte Aspekte, Prag/Dresden 2009, S. 77.

13 Einen Überblick über die Fortentwicklung der Theorie des Kulturtransfers bietet: Matthias Midell: Kulturtransfers, Transferts culturels, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte (28.01.2016), online unter: http://docupedia.de/zg/middell_kulturtransfer_v1_de_2016 (09.08.2018).

14 Vgl. Heinrich Böll: Der Brotbeutel des Gemeinen Stobski, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (07.03.1953), Nr. 56.

15 Vgl. Heinrich Böll: Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze, Köln/Berlin 1961, S. 21-29.

16 Vgl. Genrich Bël’: Rasskazy. Istorija odnogo soldatskogo meška, in: Inostrannaja literatura Nr. 5 (1957), S. 28-34.

17 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006; v.a. Translational Turn, S. 238-283 u. Doris Bachmann-Medick: The Translational Turn, in: Dies. (Hrsg.): Translation Studies, Special Issue. Vol. 2, Nr. 1, (2009), S. 2-16.

18 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar 2008.

19 Vgl. Michael Werner/Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28, Heft 4 (2002), S. 607-636.

20 Es werden nur Publikationen und Rezensionen, die im Untersuchungszeitraum in der RSFSR erschienen sind, berücksichtigt. Zu den Gründen siehe Punkt 2 dieser Einleitung.

21 Unter ‚Deutungskanon‘ wird „die jeweilig maßgeblichen Kriterien (Kriterienkanon) und Methoden (Methodenkanon) – ihrerseits oft in ‚kanonischen‘ Texten niedergelegt –, auf Grund deren das kanonisierte Textverständnis entsteht“ verstanden. Vgl. Renate von Heydebrand: Kanon Macht Kultur – Versuch einer Zusammenfassung, in: Dies. (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart 1998, S. 613.

22 Unter ‚materialer Kanon‘ wird die „Menge der Texte selbst in ihrer kruden Materialität“ verstanden. Vgl. Heydebrandt: Kanon, S. 613.

23 Wolfgang Kasack hat mit seiner Arbeit Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts in russischen Übersetzungen. Historischer Überblick. Bibliographie 1945-1990, Mainz 1991, bereits wertvolle Vorarbeit geleistet, jedoch ist dieser Überblick nicht vollständig, da dort nicht alle Publikationen in Zeitschriften und Zeitungen aufgeführt sind.

24 Dazu ausführlich siehe Kapitel IV.

25 Vgl. Thomas Anz: Einführung, in: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart 1998, S. 3-8; Gabriele Rippl/Simone Winko: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte, Weimar 2013, S. 1-5.

26 Friederike Worthmann: Literarische Kanones als Lektüremacht. Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Kanon(isierung) und Wert(ung), in: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart 1998, S. 14.

27 Vgl. Simone Winko: Literarische Wertung und Kanonbildung, in: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, 7. Aufl., München 2005, S. 596.

28 Vgl. Michel Espagne/Michael Werner: Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze, in: Dies. (Hrsg.): Transferts. Les relations interculturelles dans l´espace franco-allemand. (XVIIIe et XIXe siècle), Paris 1988, S. 26.

29 Vgl. Renate von Heydebrand: Plemunsvortrag. Probleme des ‚Kanons’ – Probleme der Kultur und Bildungspolitik, in: Johannes Jonata (Hrsg.): Germanistik, Deutschunterricht und Kulturpolitik (Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991, Bd. 4), Tübingen 1993, S. 5-6.

30 Ausführlich zum Begriff der Wertung und des Werts vgl. Renate von Heydebrand/Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik-Geschichte-Legitimation, Paderborn/München/Wien u.a. 1996, S. 33-48.

31 Friederike Worthmann: Wie analysiert man literarische Wertungen?, in: Gabriele Rippl/Simone Winko (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte, Weimar 2013, S. 398.

32 Worthmann: Wertungen, S. 398.

33 Mehnert: Russen, S. 10.

34 Vgl. Bernd Kortländer: Begrenzung – Entgrenzung. Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa, in: Lothar Jordan/Ders. (Hrsg.): Nationale Grenzen und internationaler Austausch (Communicatio, Bd. 10), Tübingen 1995, S. 9.

35 Vgl. Genrich Boll’: Ves’ma dorogaja noga. Rasskaz. [Ein wahrhaft teures Bein. Erzählung, im Original: Mein teures Bein], in: V zaščity mira Nr. 10 (1952), S. 48-50; Genrich Bell’: Dva rasskaza: Počtovaja otkrytka. – Vesy Balekov. [Zwei Erzählungen: Die Postkarte. – Die Waage der Baleks], in: Novyj mir Nr. 4 (1956), S. 175-184; Genrich Bell’: Molčanie doktora Murke. Rasskaz. [Das Schweigen von Doktor Murke. Erzählung, im Original: Dr. Murkes gesammeltes Schweigen], in: Inostrannaja literatura Nr. 7 (1956), S. 76-89; Genrich Bell’: Čelovek s nožami. Rasskaz. [Der Mann mit den Messern], in: Znamja Nr. 4 (1957), S. 141-147.

36 Vgl. Wanderer kommst du nach Spa…, Die Botschaft, Wir Besenbinder, Mein teures Bein, Lohengrins Tod, Geschäft ist Geschäft, Mein trauriges Gesicht.

37 Vgl. Heinrich Böll: Wanderer, kommst du nach Spa…, Opladen 1950. Bibliographische Angaben: Vgl. Viktor Böll/Markus Schäfer: Fortschreibung. Bibliographie zum Werk Heinrich Bölls, Köln 1997, S. 36.

38 Bibliographische Angaben: Vgl. Böll/Schäfer: Fortschreibung, S. 31.

39 Erstmalig publiziert: Vgl. Ernst Glaeser (Hrsg.): Mit offenen Augen. Ein Reisebuch deutscher Dichter, Stuttgart 1951, S. 195-211. Bibliographische Angaben vgl. Böll/Schäfer: Fortschreibung, S. 39.

40 Erstmalig publiziert: Vgl. Sonntagsblatt (30.01.1955), 8. Jg, Nr. 5, S. 4, unter dem Titel ‚Brauchen dringend Ihr Lachen...’. Bibliographische Angaben vgl.: Böll/Schäfer: Fortschreibung, S. 65.

41Steh auf, steh doch auf, Damals in Odessa, Unsere gute, alte Renée, Auch Kinder sind Zivilisten, So ein Rummel!, Wiedersehen mit Drüng, Die Essensholer, und An der Angel.

42Abschied an der Brücke, Aufenthalt in X, In der Finsternis, Kumpel mit dem langen Haar, Über die Brücke, Trunk in Petöcki. Diese Kurzgeschichten erschienen mit anderen im Sammelband Gorod privyčnych liz [Stadt der alten Gesichter], erschienen beim Verlag Molodaja Gvardija, Moskau 1965. Bibliographische Angaben: Vgl. Peter Bruhn/Henry Glade: Heinrich Böll in der Sowjetunion 1952-1979. Einführung in die sowjetische Rezeption und Bibliographie der in derUdSSR in russischer Sprache erschienenen Schriftenvon und über Heinrich Böll, Berlin 1980, S. 86. Der Sammelband wurdenach dem Essay Die Stadt der alten Gesichter benannt, die erstmalig in Du. Schweizerische Monatshefte für Kunst und Kultur Heft 226 (1959), S. 39 erschien und dann in die Sammlung Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze, Berlin 1961, S. 404-408 aufgenommen wurde. Bibliographische Angaben: Vgl. Böll/Schäfer: Fortschreibung, S. 89 u. S. 104. Wiedersehen in der Allee. erschien unter dem Titel Svidanie v allee [Rendezvous in der Allee] in Kemerowo, in: Ogni Kuzbassa Nr. 4 (1979), S. 44-47. Bibliographische Angaben: Vgl. Bruhn/Glade: Heinrich Böll, S. 93.

43 Übersetzt als Torgovlja est’ torgovlja. Vgl. Genrich Bël’: Rasskazy. Inostrannaja literatura Nr. 5 (1957), S. 62-65.

44 Übersetzt als Postavščik smecha. Vgl. Bël’: Rasskazy, S. 65-66.

45Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 1999.

46 Bourdieu: Regeln, S. 365. Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Feldes vgl. Boike Rehbein/Gernot Saalmann: Feld (champ), in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hrsg.): Bourdieu Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Weimar 2014, S. 99-103.

47 Pierre Bourdieu: Politik (Bourdieu, Pierre: Schriften, Bd.7. Schriften zur politischen Ökonomie 2), Konstanz 2010, S. 97.

48 Vgl. Bourdieu: Regeln, S. 365.

49 Vgl. Rehbein/Saalmann: Feld, S. 100. Vgl. auch: Pierre Bourdieu: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1998, S. 19.

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