Deutsche Lebenslügen - Philipp Peyman Engel - E-Book

Deutsche Lebenslügen E-Book

Philipp Peyman Engel

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Beschreibung

Der neue Antisemitismus und das alte Schweigen Der brutale Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober ist zu einer Nagelprobe politischer und moralischer Haltung weltweit geworden. Das Schweigen der deutschen Linken und der Jubel muslimischer Einwanderer, die Unterstützung der Palästinenser durch die Klima-Aktivistin Greta Thunberg, die abgerissenen Plakate der Entführten in London, das Entsetzen der Politiker, die die Aufnahmen der Täter gesehen haben - viele Gewissheiten hat der 7. Oktober erledigt. In Deutschland - selbst in Deutschland – zeigt sich der Antisemitismus wieder so offen, dass man vermuten könnte, er wäre nie weg gewesen.   Der deutsche Jude Philipp Peyman Engel ist schockiert, dass die Empörung in Deutschland so zögerlich zum Ausdruck kommt - aber nicht überrascht. Seit Jahren verfolgt der Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen die Anbiederung der deutschen Politik an die Feinde Israels und den alltäglichen Antisemitismus aus allen Ecken der Gesellschaft - von Rechten, von Linken, von muslimischen Migranten. Der 7. Oktober hat endgültig gezeigt, sagt Engel, dass es in Deutschland so nicht weitergehen kann.  Philipp Peyman Engel begibt sich auf die Straßen von Neukölln und er begleitet Außenminister Steinmeier nach Israel, er schreibt über die Verlogenheit der deutschen Debatte und erzählt von seiner Jugend als Sohn einer persischen Jüdin in Nordrhein-Westfalen. Sein Buch ist auf der einen Seite eine Abrechnung mit denen, die zum Terror schweigen und eine Aufforderung, Haltung zu zeigen. Auf der anderen Seite ist es die schonungslose Beschreibung der moralischen Krise dieses Landes. 

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Über das Buch

Der brutale Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist zu einer Nagelprobe politischer und moralischer Haltung in Deutschland geworden. Das Schweigen der Linken und der Jubel muslimischer Einwanderer, das Entsetzen der Politiker, die die Aufnahmen der Täter gesehen haben – viele Gewissheiten hat der 7. Oktober erledigt. In Deutschland zeigt sich der Antisemitismus so offen wie noch nie.

Der deutsche Jude Philipp Peyman Engel ist schockiert, dass die Empörung in Deutschland so zögerlich zum Ausdruck kommt – aber nicht überrascht. Seit Jahren verfolgt der Journalist die Anbiederung der deutschen Politik an die Feinde Israels und den alltäglichen Antisemitismus aus allen Ecken der Gesellschaft – von Rechten, von Linken, von muslimischen Migranten.

Philipp Peyman Engel begibt sich auf die Straßen von Neukölln und er begleitet Bundespräsident Steinmeier nach Israel, er schreibt über die Verlogenheit der deutschen Debatte und erzählt von seiner Jugend in Nordrhein-Westfalen. Sein Buch ist auf der einen Seite eine Abrechnung mit denen, die zum Terror schweigen, und eine Aufforderung, Haltung zu zeigen. Auf der anderen Seite ist es die schonungslose Beschreibung der moralischen Krise dieses Landes.

Philipp Peyman Engel / Helmut Kuhn

Deutsche Lebenslügen

Der Antisemitismus, wieder und immer noch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1: Ja, stimmt. Hier waren wir sicher

Kapitel 2: Die postkoloniale Endlösung

Kapitel 3: Der Judenknax

Kapitel 4: »Hab’ ich doch gesagt, Elke!«

Kapitel 5: Wedding ist überall

Kapitel 6: Ring frei

Kapitel 7: Der Judenhasser vom Bosporus

Kapitel 8: Mein amerikanischer Cousin

Kapitel 9: Kurze Welle mit langen Folgen

Kapitel 10: »Alternative für Europa« – ein Blick in die Glaskugel

Vorwort

Sie kamen am frühen Morgen und hatten nur ein Ziel: möglichst viele Juden zu töten. Mit Tausenden Raketen überzogen die Terroristen der Hamas am 7. Oktober 2023 Israel, sie infiltrierten den jüdischen Staat zu Land, zu See und zur Luft, schlachteten erbarmungslos Zivilisten ab, vergewaltigten und verschleppten Frauen und schnitten in mehreren Kibbuzim – beim Schreiben dieser Wörter überfällt mich grenzenlose Trauer und unbändige Wut – Kindern die Kehle durch.

Mehr als 1200 Israelis ermordete die palästinensische Hamas im Süden Israels. Unter den Toten waren Babys, Jugendliche, Frauen, Eltern, Behinderte, Greise und Holocaust-Überlebende. Die Terroristen filmten ihre Taten. Sie machten sich einen Spaß daraus, Kinder zu quälen, sie misshandelten deren Mütter, trennten Familienvätern vor den Augen ihrer Familie Gliedmaßen ab und schossen ihnen anschließend in den Kopf.

Es ist der dunkelste Moment in der Geschichte Israels und der dunkelste Tag in der Geschichte des jüdischen Volkes nach 1945. An keinem anderen Tag nach der Schoah wurden mehr Juden ermordet als am 7. Okto-ber des vergangenen Jahres. Seitdem befindet sich die jüdische Gemeinschaft weltweit im Schockzustand. Das Entsetzen und die Fassungslosigkeit sind auch fünf Monate nach diesem Massaker unermesslich. Der 7. Oktober war für jeden Juden eine Zäsur, seitdem ist nichts mehr, wie es war.

Doch nicht nur in Israel, auch in Deutschland ist die jüdische Gemeinschaft in höchstem Maße gefährdet. Die Bedrohung war seit der Gründung der Bundesrepublik wohl noch nie so akut wie jetzt. Seitdem der Judenstaat sich gegen den Terror der Hamas und ihrer Verbündeten in Teheran und Beirut wehrt, erleben wir auch hierzulande eine beispiellose Welle an judenfeindlichen Bedrohungen und Ausschreitungen.

Der 7. Oktober war noch nicht einmal vorüber, da sahen sich die deutschen Sicherheitsbehörden gezwungen, den ohnehin schon sehr intensiven Schutz vor jüdischen Einrichtungen noch einmal zu erhöhen. Die Maßnahmen waren keineswegs überzogen. Nach dem 7. Oktober rief die Hamas an drei Freitagen hintereinander zu einem weltweiten »Tag des Zorns« auf, was nichts anderes als ein Aufruf war, Juden zu ermorden.

Am ersten dieser Freitage blieben meine Kinder – wie so viele andere jüdische Kinder auch – zu Hause und besuchten nicht ihre jüdische Kita. Bei allem Mut und aller Entschlossenheit, uns nicht von einem judenfeindlichen Mob tyrannisieren lassen zu wollen – an diesem Tag siegte die Angst. Wer verstehen will, was es bedeutet, im Jahr 2024 in Deutschland Jude zu sein, fast 80 Jahre nach der Schoah, der muss nur die Nachrichten der vergangenen Monate zur Kenntnis nehmen: Ein jüdischer Student wird krankenhausreif geprügelt und erleidet drei Knochenbrüche im Gesicht. Weil er Jude ist und pro Israel. Ein libyscher Asylbewerber verübt einen Brandanschlag auf die Synagoge in Erfurt, in Berlin schlägt ein Imbissbesitzer auf einen israelischen Filmemacher ein, drei arabische junge Männer schlagen und treten auf einen Israeli ein, bloß weil dieser Hebräisch spricht, und in Frankfurt wird ein Rabbiner vor seinem Hotel antisemitisch beleidigt – die Liste dieser Vorfälle wird immer länger, und zwar jeden Tag.

Bei Kundgebungen in Berlin, Essen, Duisburg und Frankfurt bejubelten propalästinensische Demonstranten den Tod von Juden, skandierten massenhaft antisemitische Slogans und forderten ein judenreines Palästina »from the river to the sea«. Die Polizei ist guten Willens, doch angesichts der Masse aufgebrachter und oftmals auch gewaltbereiter, überwiegend arabisch- und türkischstämmiger Demonstranten heillos überfordert. Es ist ein Stück Kontrollverlust des Staates, die zeitweise Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols.

Hätte jemand es bis vor Kurzem für möglich gehalten, dass das Holocaust-Mahnmal in Berlin von Polizisten beschützt werden muss, damit es nicht von einem aufgebrachten israelfeindlichen Mob gestürmt wird? Dass arabische Jugendliche im Gespräch mit Journalisten sagen, sie wünschten sich Adolf Hitler zurück, um kurz darauf »Vergast die Juden« zu rufen? Dass linke, vorgeblich progressive und postkolonial bewegte Studenten eine Art Schlussstrich fordern? Den Holocaust relativieren? Jüdische Kommilitonen niederbrüllen und anfeinden? Dass Juden sich fragen müssen, ob sie noch eine Zukunft im eigenen Land haben?

Vor genau drei Jahren hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in New York zur Verleihung der Leo-Baeck-Medaille eine bemerkenswerte Rede. Darin würdigte er das »Wunder der Versöhnung« zwischen Deutschen und Juden – und konstatierte: »Nur wenn Juden sich vollkommen sicher fühlen, ist Deutschland ganz bei sich.«

Es ist eine bittere Erkenntnis aus den zurückliegenden Monaten: Deutschland ist außer sich. Noch nie war die Bundesrepublik so weit von sich und ihren Werten entfernt wie jetzt.

Während die Neonazipartei AfD, getragen von Rekordumfrageergebnissen, in einer gediegenen Villa in Potsdam Deportationspläne für Millionen von Migranten schmiedet, geht die politische Linke eine unheilige Allianz mit muslimischen und islamistischen Migranten ein. Das Ziel ihres antisemitischen Furors: die Juden und ihr Judenstaat. Und die demokratische Mitte? Verurteilt den Terror der Hamas – schweigt aber weitgehend ebenso konsequent wie überlaut zu den antisemitischen Exzessen gegen ihre »jüdischen Mitbürger«.

All das hinterlässt tiefe Spuren. Ich bin im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen. Ich habe bisher einundvierzig Jahre als deutscher Jude in Deutschland gelebt. Wenn der ICE am Essener Hauptbahnhof hält, bin ich aufgeregter, als wenn ich mit dem Flugzeug in New York lande. Wenn im Radio Herbert Grönemeyers »Bochum« gespielt wird, bin ich den Tränen nahe. Jedes Mal aufs Neue. Ich bin tief verwurzelt in diesem Land. Doch die Erfahrungen, die ich als Kind, als Student und als Journalist gemacht habe und von denen ich in diesem Buch berichte, haben mir eines vor Augen geführt: Es ist eine Lebenslüge, dass dieses Land, das wie kein anderes Schuld auf sich geladen hat, dem Antisemitismus ein für alle Mal abgeschworen hat. Die viel zitierte Wiedergutwerdung: Die Reaktionen auf den 7. Oktober haben endgültig gezeigt, dass dies eine deutsche Lebenslüge ist. Wer in Sonntagsreden »Nie wieder!« und »Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz« fordert, politische Konsequenzen aber meidet, der hat in Wahrheit zum Antisemitismus in Deutschland geschwiegen. Doch über diesen Antisemitismus in Deutschland muss endlich offen gesprochen werden.

»Nicht alle gesellschaftlichen Konflikte, die durch Migration erzeugt werden, haben etwas mit Diskriminierung oder Rassismus zu tun. Sie zu verleugnen, wäre der wahre Affront auch gegenüber dem Großteil der friedlichen in Deutschland lebenden Muslime«, stellte Zentralratspräsident Josef Schuster unlängst fest. Es ist richtig: Aus Angst vor einem Schub für den Rechtsextremismus, der ebenfalls eine Kampfansage an unsere liberale Demokratie richtet, darf man sich der Realität nicht verweigern. Doch noch immer ist es in Deutschland ein Tabu, den enthemmten Hass auf Juden unter muslimischen Migranten anzusprechen. Der Antisemitismus indes kommt eben nicht nur von rechts und aus der Mitte der Gesellschaft, sondern auch und besonders aggressiv aus der muslimischen und der vermeintlich links-progressiven Community. Davon handelt dieses Buch.

Kapitel 1:Ja, stimmt. Hier waren wir sicher

Völlig klar.

Raus, alle.

1967, im Frühjahr. Kurz nach dem Sechstagekrieg zwischen Israel, Ägypten, Jordanien und Syrien fassten die Eltern meiner Mutter nach langen Diskussionen und dem Abwägen der Gefahren einen folgenreichen Entschluss. Sie packten ihre Koffer und flüchteten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Wie ihre Vorfahren rund 500 Jahre zuvor, die während der Reconquista von den Christen aus Spanien vertrieben worden waren und in Persien eine neue Heimat gefunden hatten. Für Juden war der Iran kein sicherer Ort mehr.

Zuerst überlegte die Familie, nach Uganda zu emigrieren. »Dort wollte sie eine Hühnerfarm aufmachen, also ganz verrückt«, erzählt mir meine Mutter. Dann kam die Überlegung auf, zu den Verwandten in Deutschland zu gehen, die Teppichhändler sind. »Ja, Deutschland. Die Deutschen haben aus dem Holocaust gelernt. Da sind wir sicher«, sagte mein Onkel.

Es klingt abenteuerlich, wenn meine Mutter heute, sie war damals 15 Jahre alt, die Ereignisse schildert. »Die Moslem-Brüder begingen Attentate auf den Schah und einige Minister. Wir hatten Angst, die Situation war aufgeladen. Unser Pech war, dass wir in einer schlechten Gegend im Süden Teherans wohnten. Wo keine anderen Juden lebten. Als mein Vater und meine Brüder schon weg waren, klingelte es einmal an der Tür. Wir hatten Angst, dass wir massakriert werden, im heiligen Monat Ramadan. Zwei Frauen allein.«

Meine Großmutter war in Keschan geboren worden, in einer großen jüdischen Gemeinde. »Dort war ein Verwandter von uns, ein sogenannter Barfußarzt, der in die entlegensten Dörfer ging, Dr. Berjis, bestialisch ermordet worden. Die Mörder, die Mullahs, gingen zum Radio und sagten: ›Wir haben es getan!‹ Wir lebten nur noch versteckt. Und der feige Schah, der traute sich nicht, sie vor Gericht zu stellen. Ab da war uns klar: Wir sind vogelfrei. Es ist gut, dass wir gingen. Die hätten uns alle fertig gemacht.«

 

Zwölf Jahre später, 1979, kehrt der geistliche Führer Ayatollah Khomeini in einer Sondermaschine aus seinem französischen Exil in Paris zurück nach Teheran. Mit an Bord sind seine Vertrauten und einige Journalisten, darunter der deutsche Korrespondent Peter Scholl-Latour. Er beschreibt die Szene so:

»Auf dem Rollfeld selbst empfingen uns ein paar strammstehende Luftwaffenoffiziere und eine Menge Mullahs. Die großen Menschenmengen warteten am Rande der Landebahn und in der Vorhalle des Flughafens. Dort skandierten laute Chöre: ›Gott ist groß, Khomeini ist unser Führer.‹ Die ganze Innenstadt war voller Menschen, die Mullahs feierten ihre Revanche, die tanzten vor Begeisterung und die Menge machte mit.«[1]

Von nun an herrschten die Mullahs über das Land, Khomeini gründete die Islamische Republik Iran. Persien sollte fortan ein muslimischer Gottesstaat sein. Eine islamistische Diktatur. Für die Juden im Land war es das Ende aller Illusionen. Es gab tödliche, judenfeindliche Pogrome. Die Mullahs konfiszierten das Vermögen von Juden. Die jüdische Gemeinschaft war zum Abschuss freigegeben. Islamisten zogen durch die Straßen von Teheran und skandierten: »Erinnert euch an Chaibar, Chaibar, Juden! Mohammeds Armee kehrt zurück!«

 

Chaibar war der islamischen Überlieferung nach eine vor allem von Juden besiedelte Oase auf dem Gebiet des heutigen Saudi-Arabien, rund 150 Kilometer nördlich von Medina auf einem hoch gelegenen Plateau. Dort bauten sie Gemüse, Getreide und Wein an und beteiligten sich am Karawanenhandel. Als im Jahr 625 der Prophet Mohammed den jüdischen Stamm der Banu Nadir aus Medina vertrieb, zogen sie sich in die Festungen der Oase zurück. 628 eroberte Mohammed Chaibar und tötete die Anführer der Banu Nadir. Mit den verbliebenen jüdischen Bewohnern schlossen die Muslime einen Vertrag. Als Schutzgeld mussten sie die Hälfte ihrer Erträge abgeben.

Und nun, 1351 Jahre später, sangen sie »Chaibar, Chaibar, Juden!« in den Straßen von Teheran. Schon während der Nazizeit hatten sie meinen Groß- und Urgroßeltern wie vielen anderen jüdischen Iranern vor der Synagoge gedroht: »Wartet nur ab, bis Hitler es auch zu uns schafft. Dann knüpfen wir euch Juden auf!«

Unter diesen Umständen im Land zu bleiben, wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Jetzt flohen fast alle Juden – nach 2500 Jahren. Auch der restliche Teil unserer Familie. Sie verkauften ihr Hab und Gut, und versuchten, sich zu retten. »Eine Tante fälschte ihre Papiere, eine Cousine entkam mit fünf kleinen Kindern über Pakistan nach Sydney, der Mann erlitt einen Herzinfarkt«, erinnert sich meine Mutter. Seither leben wir in alle Himmelsrichtungen verstreut: in Israel, den USA, Australien und eben auch in Deutschland. »Alman! Alman!«, hatte mein Onkel vor der Flucht geschwärmt, als wäre es das Gelobte Land. »Die Deutschen sind heute anders. Sie tun den Juden nichts. Dort sind wir in Sicherheit.«

Ja, hier waren wir sicher. Mein Onkel sollte lange recht behalten.

 

Meine Mutter lebte zunächst in Schwäbisch-Hall, dann lernte sie meinen Vater kennen – ein großer blonder deutscher Mann hatte sie nach dem Weg gefragt … – und ging später mit ihm nach Witten ins Ruhrgebiet. Dort wurde ich geboren, dort wuchs ich auf. Mein Vater ist Biodeutscher und nichtjüdisch, meine Mutter orientalische Jüdin. Eine ungewöhnliche Mischung. Der Vater meines Vaters war in der Wehrmacht, und er, der Sohn eines feigen Nazimitläufers, heiratet eine persische Jüdin, ausgerechnet. Mein Vater wurde ultralinks, Anhänger der KPD, er schämte sich für seinen Vater und dessen Schweigen.

Ich besuchte einen städtischen Kindergarten und das Ruhr-Gymnasium. Später wechselte ich auf die Hardenstein-Gesamtschule, eine Schule mit hohem Migrantenanteil. Dass ich jüdisch war, wusste niemand. Ich sah nur anders aus, etwas dunkler vielleicht, ich unterschied mich wenig von den meisten anderen Migrantenkindern.

In dieser Stadt im Südosten des Ruhrgebiets zählten wir zu den Ausländern. Und so erging es uns in diesen düsteren Zeiten, in denen es in Rostock und Hoyerswerda zu Ausschreitungen gegen Asylbewerber kam und der ehemalige SS-Offizier und rechtsextreme Politiker Franz Schönhuber seine Partei »Die Republikaner« von einem Wahlerfolg zum anderen trieb, wie vielen anderen Ausländern.

In unserem Briefkasten landeten anonyme Zettel von Nachbarn und anderen »besorgten« Bürgern. Sie waren an meine Mutter adressiert. »Ausländerschlampe, ihr habt hier nichts zu suchen, zieht aus!« Wir waren anders als alle Nachbarn: Unsere Haare waren schwarz, wir hatten zum Teil ausländische Namen, meine Mutter war alleinerziehend, das passte nicht ins Bild. Für die Wittener waren wir »Kanaken«.

Dass wir jüdisch waren, wussten sie ja nicht.

Meine Mutter brachte mir und meinen beiden Geschwistern ganz bewusst nicht die persische Sprache bei. Sie wollte immer, dass wir perfekt Deutsch sprechen, dass wir integriert sind. Anders als viele Deutsch-Iraner, die sie kannte. Es war ihr wichtig, dass wir gut integriert sind. Gleichzeitig war die persische Sprache uns Kindern von Anfang an vertraut. Meine Mutter telefonierte viel mit iranischen Freunden und Verwandten in der ganzen Welt, in Australien und Israel, in New York und Los Angeles. Farsi war omnipräsent bei uns zu Hause. Ohne, dass wir es verstanden.

Es gab immer persische Kultur, Musik, Jazz und Abdullah Ibrahim. Alles war Iran. So stark, dass ich mir als Kind nichts mehr gewünscht habe, als dass wir auch »normal« seien und nicht iranisch. Heute denke ich mit großer Sehnsucht an diese Zeiten: an das Fesendschan meiner Mutter, ein süßlich-herbes Schmorgericht mit Granatapfelsirup, Nüssen und der persischen Gewürzmischung Advieh; Ghormeh Sabzi, einen Eintopf mit Spinat und Kräutern wie Bockshornklee und Ackerlauch, Bohnen, Rind, Lamm oder Huhn. Besonders mochten meine Geschwister und ich persischen Reis mit Tahdig, einer Kartoffelkruste und Safran.

Persische Freunde meiner Mutter waren ständig bei uns zu Hause – und nur sehr wenige deutsche Freunde. Als wir älter wurden, bekamen diese Treffen eine politische Komponente. Schon als junge Frau war sie während der Studentenrevolten 1968 auf die Straße gegangen und hatte demonstriert, als es um die Notstandsgesetze ging. »Für mich war das eine Möglichkeit, einen Einstieg in die deutsche Gesellschaft zu finden«, sagt sie. Sie machte eine Ausbildung als systemische Familientherapeutin und wurde Sozialarbeiterin. Nebenbei hielt sie Vorträge über Juden im Iran. Ihr Geburtsdatum ist der 31. Dezember, wie bei vielen Einwanderern aus der muslimischen Welt. Weil die deutschen Behörden das so bestimmten, wenn die Geburtsurkunde fehlte. Auch das verband uns mit den »Gastarbeitern«.

Auf der einen Seite liebt sie ihre Heimat, auf der anderen Seite hasst sie ihr Land, genau wie 50 Prozent der iranischen Bevölkerung. Sie hasst die Mullahs und ihre Anhänger, die sie und ihre Familie aus ihrem Land vertrieben haben und die Menschenrechte mit Füßen treten.

Wir haben noch einen weit verzweigten Teil der Familie in Hamburg, wo es eine größere iranisch-jüdische Community gibt, aber im Ruhrgebiet waren wir die einzigen Juden unter den Exiliranern. Später, als meine Mutter auf Demos von Exiliranern sprach, in Interviews Stellung gegen das Regime bezog und sogar einmal in der »Jüdischen Allgemeinen« porträtiert wurde, brachen manche Freundschaften entzwei.

Wenn ich den Artikel heute aus dem Archiv aufrufe, wundere ich mich. »Mit 58 hat man es schwer, eine Anstellung zu finden. Die Gemeinden suchen Sozialarbeiter, die Russisch sprechen, die evangelischen Einrichtungen wollen, dass man evangelisch ist, die Katholiken wollen jemanden, der katholisch ist. Ich habe mich inzwischen damit abgefunden. Aber wenn ich mit meinen Verwandten in Amerika darüber spreche, können die das gar nicht verstehen.«[2]

Sie hatte es nicht leicht in Deutschland. Ich habe das damals gar nicht so wahrgenommen.

In den Iran, in das Land ihrer Eltern und ihrer Kindheit, kann meine Mutter heute nicht mehr reisen. 2002flog sie in Begleitung eines iranischen Akademikervereins, ausgerechnet zu Zeiten der Intifada in Israel, zum letzten Mal nach Teheran. Rückblickend ist sie heilfroh, dass ihr nichts passierte. Später kam dazu, dass sie nach 16 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft bekam – und die iranische zurückgab. Zurückgeben musste. »Ich bekam einen Anruf. Aus Teheran. Schick uns deinen Pass zurück, sonst kommen wir zu dir.« Sie kann nicht mehr zurück in dieses Land als Jüdin, die sich klar zu Israel bekennt und die Mullahs Massenmörder nennt.

Mein Bild vom Iran hat sich über meine Mutter vererbt. Auf der einen Seite bin ich fasziniert von diesem Land wie von keinem anderen. Teheran wurde einmal das Paris des Nahen Ostens genannt. Frauen mussten kein Kopftuch tragen. Und es klingt wie ein Treppenwitz der Geschichte: Das Land unterhielt sogar gute Beziehungen zu Israel, das dem Iran damals half, ein ziviles Atomprogramm aufzubauen.

An Pessach sagen wir Juden nach über fast 2000 Jahre der Diaspora traditionell: »Nächstes Jahr in Jerusalem!« Bei uns in der Familie heißt es gewissermaßen: »Nächstes Jahr in Teheran!«

Wir haben so viele Demonstrationen gegen das Regime miterlebt. Zweimal hofften wir bereits, es würde fallen. 2009 war es kurz davor. Und dann die sogenannten Frauenproteste der letzten Jahre. Aber auch sie wurden blutig niedergeschlagen.

Mein Verhältnis zum Iran ist so ambivalent wie das meiner Mutter. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als einmal dorthin fliegen zu können. Das Land mit meinen Geschwistern und meiner Mutter zu sehen, dass sie uns zeigt, wo sie aufgewachsen ist, in Keschan am Kaspischen Meer und in Teheran.

Der Iran hat eine so reiche Kultur, und sie wird von antidemokratischen, diktatorischen Mullahs zerstört, die Frauen, Juden und Anhänger der Bahai-Religion unterdrücken und abschlachten. Wie schön wäre es, wenn die Menschen in Frieden, Freiheit und guten Beziehungen zu ihren Nachbarn leben könnten, inklusive Israel.

Ich lese viel über den Iran, verschlinge alles, was ich finden kann. Auf meine Anfrage hin warnt mich das Auswärtige Amt dringend davor, dorthin zu reisen. Ich möchte meinen Kindern nicht die Schlagzeile antun: »Chefredakteur der ›Jüdischen Allgemeinen‹ wegen angeblicher Spionage im Iran verhaftet.«

Es leben noch immer Juden im Iran. 1979 waren es rund 120 000 – von 30 Millionen Iranern. Sie lebten seit 2500 Jahren dort, seit Xerxes sie aus Babylon befreite und nach Persien brachte. Heute sind es noch etwa 15 000. Immerhin eine der größten Gemeinden im Nahen Osten.

Sie gelten vor dem Gesetz wie die Hälfte eines muslimischen Mannes. Sie dürfen etliche Berufe nicht ausüben – wie im deutschen Mittelalter. Nach 1979 wurden viele Juden in führenden Positionen ermordet. Es gibt Schauprozesse gegen Juden, und seit dem 7. Oktober 2023 hat sich ihre Lage noch weiter verschlechtert. Gemeindevorsteher wurden gezwungen, im iranischen Fernsehen aufzutreten. Meine Mutter bekam eine Nachricht von Verwandten aus Israel: Sie mussten, an einem Mittwoch – so rücksichtsvoll ist das Regime, denn am Schabbat wird gebetet –, in der Synagoge das »verbrecherische Israel« verurteilen und bezeugen, »unsere Herzen sind in Gaza«. So werden sie gedemütigt.

Das Regime wird fallen. Es ist nur unklar, ob meine Mutter das noch erleben wird.

 

Ich selbst war zwar Mitglied der Jüdischen Gemeinde Dortmund, von Religion aber wollte ich lange Zeit nichts wissen. Mein Bruder und meine Schwester waren ein paarmal da, und sie fanden es langweilig. Ich habe lieber meinen Sport gemacht, Triathlon, Mädchen getroffen oder war mit Freunden unterwegs, als in die Synagoge oder in die Gemeinde zu gehen.

Ich wuchs also nicht sehr jüdisch-religiös heran. Kulturell dagegen schon. Ich bin mit der »Jüdischen Allgemeinen« groß geworden. Mit den ganzen Klassikern der jüdischen Literatur, die ich verschlungen habe. Noch heute erinnere ich mich daran, wie meine Mutter bis tief in die Nacht die Zeitung gelesen hat. Ständig las sie moderne jüdische Autoren, Philip Roth und Louis Begley, und sie und ich gingen zu den Lesungen, wenn diese Schriftsteller ins Ruhrgebiet kamen. Jüdische Literatur, Israel, Iran: Das alles hat eine riesige Rolle gespielt.

Wie religiös wir auch hätten sein können, verstand ich erst, als wir zu unseren Verwandten in die USA nach Los Angeles reisten. Amerika war der maximale Kontrast zu unserem Leben im Ruhrgebiet. Alles war jüdisch, der gesamte Alltag, ihr ganzes Leben. Es wurde persisch gekocht, gesprochen, getanzt, geheiratet. In der Synagoge befanden sich am Schabbat mehr als tausend Menschen. Nur Leute, die aussahen wie wir. Und nicht wie die Menschen zu Hause in Witten.

Gleichzeitig haben sie es geschafft, Teil der amerikanischen Gesellschaft zu sein. Westwood ist in persischer Hand. In diesem Stadtteil von Los Angeles baute der Rabbiner, der einst meine Großmutter in der reichen jüdischen Gemeinde in Keschan unterrichtet hatte, die Gemeinde und die Nessah Synagoge eins zu eins wieder auf. Sehr zum Stolz meiner Mutter. Alle paar Jahre gönnte sie sich und uns den Luxus, unsere wunderbaren Verwandten in Westwood zu besuchen.

Dort gab es gleich mehrere sephardische Synagogen, die Beter allesamt persische Juden. Auf den Schulen und in den Universitäten war es völlig normal, Jude zu sein, und ich verstand, dass wir uns von unseren Verwandten deutlich unterschieden – weil wir in Witten und Umgebung weit und breit die einzigen Juden waren.