Deutsche Richterschaft 1919–1945 - Ralph Angermund - E-Book

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Ralph Angermund

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Beschreibung

Ralph Angermund liefert eine auf intensiven Archivrecherchen beruhende Darstellung der Richterschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Entschuldigende Mythen werden ebenso widerlegt wie vorschnelle Pauschalverurteilungen. Angermunds Arbeit wurde 1989 mit dem Preis der Ruhr-Universität Bochum ausgezeichnet. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Ralph Angermund

Deutsche Richterschaft 1919–1945

Krisenerfahrung, Illusion, politische Rechtsprechung

FISCHER E-Books

Inhalt

Die Zeit des Nationalsozialismus [...]EinleitungI. Richterschaft und Weimarer RepublikKrisenerfahrungPolitik und RechtsprechungRichter und NSDAPII. Die »Machtergreifung«Das BerufsbeamtengesetzDie Auflösung der RichtervereineDie »Parteirevolution von unten«III. Gleichgeschaltet und gelenkt?Die Mitsprache der Partei in PersonalangelegenheitenEinflußnahmen des ReichsjustizministeriumsIV. Richterliche »Berufsfreudigkeit« und NS-PresseV. Juden vor GerichtDie Umwertung des Bürgerlichen GesetzbuchesDie Rechtsprechung zum BlutschutzgesetzVI. Gegen »Heimtücke« und »Hochverrat«Entstehung und Besetzung der SondergerichteUngleiche MaßstäbeVII. Richterschaft und Staatspolizei – Konkurrenz und KooperationDer »Kampf gegen Verbrechertum und Staatsfeinde«Die Expansion der SS-Macht nach 1939VIII. Strafrechtsprechung im Krieg – eine SkizzeWille zur HärteGegen Defaitisten, Plünderer und »Fremdvölkische«IX. Totaler Krieg – totale Lenkung?Richterbriefe und Vor- und NachschauenX. »Justizkrise« und »Große Justizreform«Neue Zuversicht – alte HoffnungenAbkürzungenLiteraturverzeichnisUnveröffentlichte QuellenVeröffentlichte QuellenZeitgenössische Fachzeitschriften und AmtsblätterAusgewählte Sekundärliteratur

Die Zeit des Nationalsozialismus

Eine Buchreihe

Herausgegeben von Walter H. Pehle

Einleitung

1942 gab es im Großdeutschen Reich 14048 Richter[1]. Sie dienten einem Regime, das die Grundrechte aufgehoben und die Prinzipien des Rechtsstaates restlos beseitigt hatte. Die Willkürherrschaft dieses Regimes war mit dem Recht und einem unabhängigen Richtertum unvereinbar. Das Recht war für die Nationalsozialisten kaum mehr als ein Mittel für ihre politischen Zwecke, und dementsprechend war ihr Verständnis der Aufgaben des Richters. Nach den sogenannten Richter-Leitsätzen zum Beispiel, die der Reichsjuristenführer Hans Frank im Januar 1936 präsentierte, hatte sich der Richter widerspruchslos in den Dienst des NS-Staates zu stellen, die Rechtsquellen in dessen Sinne auszulegen und alle Entscheidungen und Äußerungen des »Führers«, gleich ob sie in einem Gesetz festgelegt seien oder nicht, ohne Prüfung als geltendes Recht zu akzeptieren. Auf dem Boden der NS-Weltanschauung stehend, habe der Richter »die konkrete völkische Gemeinschaftsordnung zu wahren, Schädlinge auszumerzen, gemeinschaftswidriges Verhalten zu ahnden und Streit unter Gemeinschaftsgliedern zu schlichten«[2]. Aufgabe der Richterschaft war damit also nicht zuletzt auch die Vernichtung politischer, rassischer und asozialer »Volksschädlinge«.

Es ist heute unstrittig, daß die deutsche Richterschaft diese Anforderungen weitestgehend erfüllt hat. Bis in die letzten Kriegstage hinein wandten deutsche Richter die Unrechtsgesetze des Dritten Reiches an und unterdrückten Gegner des Nationalsozialismus, »Defaitisten« und andere »Volksschädlinge« mit drakonischen Strafen. Bilanz ihrer Rechtsprechung sind weit über 16500 Todesurteile, von denen die meisten zwischen 1939 und 1945 gefällt wurden. Spuren des Widerstands oder der Verweigerung finden sich hingegen in den Akten der Justiz des Dritten Reichs nur in höchst seltenen Fällen. Der Wuppertaler Gerichtsassessor Martin Gauger, der 1934 als Christ den Eid auf Hitler verweigerte und schließlich, nachdem er sich 1940 dem Wehrdienst entzogen hatte, den Tod im KZ Buchenwald fand, oder der Brandenburger Amtsgerichtsrat Lothar Kreyßig, der – auch aus christlicher Überzeugung – gegen die Euthanasieaktionen protestierte, gehören zu den ganz wenigen Richtern, die in offenen Gegensatz zum NS-Regime traten[3]. Die übergroße Mehrheit ihrer Kollegen ließ keine Distanz oder Zweifel gegenüber dem Dritten Reich erkennen[4]. Sie verhielten sich gegenüber »Führer und Reich« absolut loyal oder trieben gar, wie u.a. Hans Robinsohn[5], Ernst Noam und Wolf-Arno Kropat[6] in ihren Studien über die Rechtsprechung gegen Juden deutlich gemacht haben, die Zerstörung des Rechtsstaates immer weiter voran.

Der Weg zu der Einsicht, daß die Richterschaft dem NS-Regime widerspruchlos und oft mit Übereifer gedient hat, war für die bundesdeutsche Justiz lang und schwierig. Die Frage nach den Vermengungen von Recht, richterlichem Handeln und Politik, die die Geschichte der NS-Justiz unweigerlich aufwirft, stellte man in den fünfziger Jahren nicht gern, zumal dabei das damals gepflegte Bild vom Richter als wissenschaftlich-wertfrei entscheidenden »Gesetzespriester« rasch ins Wanken geraten wäre. Vor allem aber berührte die Frage nach der Rolle der Justiz im Nationalsozialismus einen wunden Punkt des demokratischen Neubeginns nach 1945, nämlich die weitgehend ungebrochene personelle Kontinuität zwischen den Justizapparaten des Dritten Reiches und der Bundesrepublik.

Wie in anderen Bereichen von Staat und Gesellschaft fand nach 1945 auch in der Justiz der Westzonen keine wirkliche »Entnazifizierung« statt. Die meisten der Richter, die die Alliierten in den ersten Nachkriegsmonaten wegen ihrer NS-Vergangenheit zunächst vom Dienst suspendiert oder in Internierungslager eingewiesen hatten, kehrten oft schon nach wenigen Monaten zurück. Angesichts der Nachkriegswirren, die u.a. in einer außerordentlich hohen Kriminalitätsrate ihren Niederschlag fanden, glaubte man auf eine funktionierende Rechtspflege nicht verzichten zu können. Diese war jedoch aufgrund des drückenden Personalmangels, der nach der Suspendierung der »Parteigenossen« an den Gerichten entstanden war, nicht mehr gewährleistet. Versuche, die Rechtspflege durch den verstärkten Einsatz von Laienrichtern oder – wie in der sowjetischen Besatzungszone – durch in Schnellkursen ausgebildete »Volksrichter« aufrechtzuerhalten, machte man nicht. Nach sehr oberflächlichen »Entnazifizierungs«-Verfahren ließ man statt dessen das alte Personal zurückkehren. In der Britischen Zone zum Beispiel waren 1948 rund 90 Prozent aller Landgerichtsräte und Landgerichtsdirektoren ehemalige Mitglieder der NSDAP. Etliche dieser Richter waren vor der rigiden Entnazifizierungspolitik der Sowjets in den Westen geflohen und sorgten dort an einigen Gerichten für eine größere Zahl von »Parteigenossen«, als es sie dort vor dem Kriegsende gegeben hatte[7]. Hinter Forderungen, wie sie z.B. in der Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises zur »Wiederherstellung der Rechtsordnung« und zur »Bestrafung von Rechtsschändern« während der NS-Zeit formuliert worden waren, blieb man weit zurück[8].

1949 wurde schließlich die überwiegende Mehrzahl der Richter, die zuvor dem NS-Regime gedient hatten, in die Dienste der Bundesrepublik übernommen. Dabei war die »Demokratietauglichkeit« der deutschen Richter während der Beratungen des Grundgesetzes noch heiß umstritten gewesen, insbesondere da sich abzeichnete, daß die Justiz in der zweiten deutschen Republik durch den Aufbau einer Verfassungsgerichtsbarkeit eine Schiedsfunktion in rechtlichen und politischen Streitfragen erhalten würde. SPD und KPD bezweifelten entschieden, daß sich die deutsche Richterschaft in einem demokratischen Rechtsstaat bewähren würde. Die SPD versuchte im Parlamentarischen Rat, die Aufnahme von Laien in das Bundesverfassungsgericht festzuschreiben, um durch die Beteiligung des »Nichtfachrichterelements« (CH. Schmid) eine demokratische Rechtsprechung zu gewährleisten. Zudem plädierte sie dafür, die »demokratische Zuverlässigkeit« der Bewerber für das Bundesverfassungsgericht durch Richterwahlausschüsse prüfen zu lassen. Die Umsetzung derartiger Vorschläge scheiterte jedoch an der konservativ-liberalen Mehrheit im Parlamentarischen Rat, die die Vergangenheit der Richterschaft weit positiver sah, ja z.T. sogar die Meinung vertrat, daß sich ein großer Teil der Richter im Rahmen des Möglichen gegen die NS-Unrechtsgesetze zur Wehr gesetzt habe. Vor allem sahen CDU/CSU und FDP in der Einschaltung von Wahlausschüssen die Gefahr, daß die Ernennung der Richter nach politischen Gesichtspunkten erfolgen könnte, und hielten nachdrücklich am traditionellen Berufsrichtertum fest[9].

Parallel zur Rückkehr der Richter der NS-Zeit an die Gerichte begann in der Justiz der Westzonen die »Aufarbeitung« der Jahre zwischen 1933 und 1945. Anstoß hierfür war insbesondere das »Nürnberger Juristenurteil«, das der US-Militärgerichtshof Nr. III Anfang Dezember 1947 gegen 16 Repräsentanten der NS-Justiz verkündete[10]. Dieses Urteil stufte die Justiz als kriminelles Werkzeug des NS-Unrechtsstaats ein und erklärte sie zahlloser Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig. »Der Dolch des Mörders« sei »unter der Robe des Juristen verborgen« gewesen[11].

Auf dieses Diktum reagierten die eben noch mit Entnazifizierungsverfahren bedrohten deutschen Juristen mit energischem Widerspruch. Dem »Nürnberger Juristenurteil« hielt man entgegen, daß die Richter sich keinesfalls willentlich oder wissentlich an Verbrechen des Dritten Reiches beteiligt hätten. Vielmehr seien nationalsozialistischer Terror und die Tradition des Rechtspositivismus, der zufolge der Richter an das staatliche Gesetz gebunden sei und dieses mit dem Recht gleichzusetzen habe, für die Instrumentalisierung der Justiz nach 1933 verantwortlich gewesen[12]. Insofern sei von den Richtern in der NS-Zeit auch keine Rechtsbeugung begangen worden, und zudem könne das, »was damals Recht war«, »heute doch nicht Unrecht« sein. Diese Auffassung bestimmte auch die Rechtsprechung der bundesdeutschen Gerichte gegen die ehemaligen Spitzen der NS-Justiz. Selbst Joachim Rehse, einem berüchtigten Richter des Volksgerichtshofs, wurde 1956 vom Bundesgerichtshof bestätigt, daß die Todesurteile, die er gegen Gegner des NS-Regimes verhängt hatte, im Rahmen des Vertretbaren gelegen und keine Verletzung des Rechts dargestellt hätten[13]. Im übrigen plädierte man in der bundesdeutschen Justiz dafür, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. »Wer von euch ohne Sünde ist« – so der Präsident des Bundesgerichtshofes Hermann Weinkauff 1954 –, »der werfe den ersten Stein.«[14]

Wenn man sich mit der NS-Zeit beschäftigte, dann im wesentlichen nur, um Beispiele richterlichen Widerstands ausfindig zu machen. Das nordrhein-westfälische Justizministerium beispielsweise tat dies von 1948 an bis in die Mitte der fünfziger Jahre. Aufgrund einer Anfrage des VVN suchte man zunächst nach Richtern und Staatsanwälten, die »im Kampf gegen das NS-Unrechtsregime« ums Leben gekommen waren. Als durchweg »Fehlanzeigen« gemeldet wurden, erweiterte man die Suche auf Mitglieder der Justiz, die in »irgendeiner Form« mit dem Nationalsozialismus »in Konflikt« geraten waren[15] – worauf eine Reihe von Richtern und Staatsanwälten namhaft gemacht werden konnte, die behaupteten, im Dritten Reich aus politischen Gründen nicht befördert worden zu sein, und nun auf »Wiedergutmachung« drängten. Inwieweit die Richter in Rheinland und Westfalen mit dem NS-Regime kooperiert hatten, war nicht Gegenstand der Untersuchungen.

An dieser Art der Vergangenheitsbewältigung hielt man um so entschiedener fest, als die DDR im Zuge des Kalten Krieges die Verstrickung bundesdeutscher Juristen in die NS-Geschichte zu Attacken gegen die Bundesrepublik nutzte. Sie bot den Bonner Justizbehörden umfangreiches Aktenmaterial über die NS-Vergangenheit westdeutscher Richter, Staatsanwälte und Verwaltungsjuristen an[16]. 1962 wurde zudem der Kanzleramtschef Adenauers Hans Globke, der als Referent im Reichsinnenministerium zu den Verfassern eines Kommentars zu den antijüdischen Nürnberger Gesetzen gehört hatte, vom Obersten Gericht der DDR wegen »nationalsozialistischer Verbrechen« in Abwesenheit zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Die Folge war, daß man hinter der Forderung, die NS-Vergangenheit der Justiz aufzuklären, nicht nur einen Versuch zur Diskreditierung der Justiz, sondern – schlimmer noch – vor allem kommunistische Subversion vermutete. Unwille zur Aufarbeitung der Vergangenheit mischte sich mit krudem Antikommunismus. Bezeichnenderweise wurde im Hessischen Landtag der Vorschlag, die Personalakten der Richter und Staatsanwälte freizugeben, im Sommer 1960 selbst von dem sicherlich nicht zu den Konservativen zählenden FDP-Abgeordneten Heinz-Herbert Karry mit der Behauptung zurückgewiesen, daß ein solches Vorhaben den »Zonenpropagandisten« in »verfassungswidriger Weise« in die Hände spiele[17].

 

Auch in der Forschung wurde zunächst keine kritische Aufarbeitung der NS-Justiz geleistet. Sie war vielmehr vor allem durch die Studie »Der Richter im Dritten Reich« des Bonner Landgerichtsrats Hubert Schorn geprägt, die in der Hauptsache aus einer Sammlung von Beispielen tatsächlichen oder angeblichen richterlichen Widerstands gegen das NS-Regime bestand[18].

Ursprünglich hatte diese Dokumentation den Titel »Der Kampf der Richter und Staatsanwälte gegen das NS-Unrechtsregime« tragen sollen, was wohl auch erklärt, warum die Justizbehörden Schorn bereitwillig unterstützten und ihm Personalakten und anderes Material zur Verfügung stellten, das nach der Veröffentlichung seiner Arbeit der Forschung zumeist verschlossen blieb.

Schorns die Richterschaft exkulpierende Studie blieb lange unumstritten, obwohl Friedrich Karl Kübler 1963 auf antidemokratische Tendenzen in der Richterschaft vor 1933 verwies[19] und 1964 Ilse Staff durch eine Sammlung von Urteilen aus der NS-Zeit dokumentierte, daß die Gerichte die ihnen nach 1933 verbliebenen Freiräume vielfach durchaus nicht dazu genutzt hatten, Unrecht zu verhindern oder zu mildern[20]. Das Bild von der »leidenden« Justiz im Nationalsozialismus wurde vielmehr in der Untersuchung, die 1968 Hermann Weinkauff – der sich 1954 noch entschieden gegen eine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Justiz ausgesprochen hatte – im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte vorlegte, im wesentlichen bestätigt[21]. Laut Weinkauff war die Richterschaft durch permanenten Druck von seiten der NSDAP und der SS, eine straffe Lenkung durch das Reichsjustizministerium sowie eine konsequente Aushöhlung der richterlichen Unabhängigkeit zum Instrument des NS-Regimes gepreßt worden. Gegenüber den NS-Unrechtsgesetzen seien die Richter wehrlos gewesen, weil sie nach der rechtspositivistischen Lehre von der Identität des staatlichen Gesetzes mit dem Recht und der strikten Gesetzesbindung des Richters erzogen worden seien.

Daß diese Thesen der historischen Wirklichkeit nicht entsprachen, machte die ebenfalls 1968 erschienene Untersuchung von Bernd Rüthers zum »Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus«[22] deutlich, die anhand zahlreicher Fallbeispiele zeigte, daß die Zivilgerichte nicht nur die NS-Gesetze angewandt, sondern auch Gesetze aus vornationalsozialistischer Zeit der »Rechtsauffassung« des Dritten Reiches angepaßt hatten. Gleichwohl meinte aber auch Rüthers, in der »strengen Gesetzesbindung des Richters […] eine Rechtfertigung erheblicher Teile zweifelhafter oder auch anstößiger Gerichtsentscheidungen im Nationalsozialismus«[23] erkennen zu können, und sah die Verformung vornationalsozialistischer Gesetze in der »Ausstrahlung (Fernwirkung)« der »formell gültig« erlassenen »Vorschriften des nationalsozialistischen Gesetzgebers« begründet[24]. Die eigentliche Ursache für die von ihm analysierte Pervertierung der Rechtsordnung durch die Gerichte sei die Veränderung der »Wertgrundlage des Gesamtsystems« nach 1933 gewesen. Die richterliche Gesetzesauslegung habe auch im Nationalsozialismus »primär eine dienende Funktion« gehabt und »vorgegebene Wertmaßstäbe […] auf die sich wandelnden realen Verhältnisse« fortgebildet[25]. Damit war die Richterschaft zumindest zum Teil erneut entlastet.

Die Literatur zur NS-Justiz orientierte sich lange an diesen die »dienende« Rolle des Richters betonenden Erklärungsmustern sowie an der von einer holzschnittartigen Totalitarismus-Theorie geprägten Vorstellung, unter der straffen Führung Hitlers habe das NS-Regime der deutschen Gesellschaft mit brutalem Terror seinen Willen und seine Wertvorstellungen aufgezwungen. Erst in den siebziger Jahren setzten sich allmählich andere, kritischere Positionen durch, was sich – außer durch die allgemeinen Veränderungen im politischen Klima – auch dadurch erklärt, daß die Generation der »Dabeigewesenen« allmählich aus dem Justizdienst ausschied und eine neue, politisch und sozial mehr heterogene Juristengeneration nachrückte. Vor allem jüngere Juristen orientierten sich an Ernst Fraenkel[26], Otto Kirchheimer[27] und Franz Neumann[28], die in ihren im Exil verfaßten Schriften schon in den dreißiger und vierziger Jahren den durchaus nicht nur passiv-»dienenden« Beitrag der Justiz zur Sicherung der NS-Herrschaft betont hatten. Anhand von Fallstudien aus der Rechtsphilosophie, der juristischen Methodik und der Rechtsprechung wurde nun die Funktion des Rechts und der Justiz im Nationalsozialismus kritisch untersucht[29], wobei u.a. eine gewichtige Studie von Diemut Majer über die rechtliche Behandlung der »Fremdvölkischen« in den eingegliederten Ostgebieten entstand, die eindrucksvoll nachwies, daß die Justiz wesentlich zur Realisierung der NS-Rassenideologie beigetragen hatte[30]. Allerdings rückten auch die meisten Autoren dieser jüngeren Juristengeneration nicht davon ab, daß die Rechtsprechung des Dritten Reiches wesentlich mit Hilfe einer langfristig geplanten und stringent durchgeführten Steuerung von Reichsjustizministerium, NSDAP und SS bestimmt worden sei. Die Unterwerfung unter das »Führerprinzip«, eine gezielte Personalpolitik »und sonstige Lenkungsmaßnahmen« – so Majer – hätten den Ermessens- und Entscheidungsspielraum der Richter bei der Auslegung der zumeist recht unscharf gefaßten NS-Gesetze letztlich sehr begrenzt[31].

Um so größere Aufmerksamkeit erregte 1983 Udo Reifner, als er eben diese These vehement bestritt[32]. Reifner lehnte es nicht nur ab, den Rechtspositivismus für die Instrumentalisierung der Justiz nach 1933 verantwortlich zu machen, sondern behauptete auch, »daß Richter und Staatsanwälte, Verwaltungsjuristen und Rechtsprofessoren und (in geringerem Maße) auch die Anwaltschaft aus eigener Überzeugung und mit professioneller Selbstverständlichkeit am Aufbau des ›Dritten Reiches‹ teilnahmen und hierfür die Institutionen des Rechtssystems […] mißbrauchten«[33].

Die Reaktion auf diese Thesen war oft schrill und vermischte die Ablehnung der betont linken politischen Überzeugung Reifners mit der Kritik seiner wissenschaftlichen Position. So meinte Günter Bertam, Vorsitzender Richter am Landgericht Hamburg, Reifner propagiere »eine Faschismusvorstellung neo-marxistischer Prägung«[34]. Schließlich habe Hitler die Juristen gehaßt, und die Justiz habe »christlich-abendländische Traditionen« gegen die NS-Willkür verteidigt. Reifner versuche, den »wirklichen Geschichtsverlauf« auf den Kopf zu stellen, um nur noch den »Kommunismus« als »wirklichen Gegenbegriff« zum »Faschismus« zuzulassen. Noch vor der großen Kontroverse zwischen Nolte, Hillgruber, Habermas, Mommsen u.a. hatte die Justiz ihren »Historikerstreit« im Kleinen[35].

 

Die Entwicklung der Diskussion über die NS-Justiz dokumentiert offensichtlich Etappen der Entwicklung des politisch-gesellschaftlichen Selbstverständnisses der Bundesrepublik und ihrer Juristen. Schon angesichts der Komplexität dieses Hintergrunds zielt diese Arbeit nicht darauf, die Streitpunkte dieser Diskussion wiederzubeleben. Bei dem Versuch, die Geschichte der Richterschaft in den Jahren 1933 bis 1945 zu beleuchten, werden aber viele der seit den fünfziger Jahren strittigen Fragen, insbesondere die, wie stark Lenkungsmaßnahmen und Pressionen den Entscheidungsfreiraum der Richter beschnitten und ihnen bestimmte Urteile aufzwangen, weiten Raum einnehmen müssen. Es gilt, die Geschichte der NS-Justiz im wohlverstandenen Sinne zu »historisieren«, also gestützt auf intensive Quellenarbeit, die Rechtsprechung und die Entscheidungsfreiräume der Richter des Dritten Reiches detaillierter als bisher zu erfassen und in die Entwicklungen des richterlichen Berufsstandes vor und nach 1933 einzudringen. Insbesondere stellt sich die Frage, was die Richterschaft veranlaßte, dem NS-Regime zu dienen, und wie groß ihr Anteil an der Verfolgung Andersdenkender und politisch und rassisch Verfolgter war. Dabei muß es auch um die subjektiven Hoffnungen und Wünsche gehen, mit denen die Richter ins Dritte Reich eintraten und mit denen sie die Entwicklung der NS-Herrschaft beobachteten. Beabsichtigt ist also keine juristische Studie, sondern eine sozialhistorisch geprägte Untersuchung der Rolle und des Eigenverständnisses der Richter im Dritten Reich.

Dabei wird allerdings vieles lückenhaft bleiben müssen. Der kundige Leser wird zum Beispiel die Schilderung der »Nacht-und-Nebel«-Verfahren der Sondergerichte[36], in denen Hunderte von Widerstandskämpfern aus den von der Wehrmacht besetzten Ländern in Scheinprozessen zum Tode verurteilt wurden, ebenso vermissen wie eine Analyse der Rechtsprechung in den Ostgebieten oder der Tätigkeit der Erbgesundheitsgerichte, in denen Richter und Ärzte die Sterilisierung von schätzungsweise 200000 bis 350000 »fortpflanzungsunwürdigen« Menschen beschlossen[37].

Für diese Lücken gibt es eine Vielzahl von Gründen, von denen nur zwei genannt seien. Zum einen zwingt die Beschäftigung mit einem so komplexen Thema wie der Geschichte der Richterschaft zwischen 1933 und 1945 notwendigerweise zu Eingrenzungen und Beschränkungen. Ohnehin ist es nicht möglich, jedem einzelnen Richter gerecht zu werden, da die Arbeit in den verschiedenen Gerichtszweigen von der NS-Machtübernahme höchst unterschiedlich betroffen war und sich in den Gerichtsbezirken aufgrund der jeweiligen lokalen Beziehungen zwischen Justiz, Polizei und Partei zum Teil recht verschiedene Bedingungen für die Rechtsprechung entwickelten. Zum anderen ist die Quellenlage häufig alles andere als befriedigend. Zwar konnte für diese Arbeit ein breites Quellensample genutzt werden, das u.a. Akten des Reichsjustizministeriums, der Reichskanzlei, der Gestapo sowie Rechtsprechungsakten insbesondere der Gerichte im Raum Köln und Düsseldorf umfaßt. Aber der Zugang zu den Akten ist oft noch von Zufällen und der Hilfe wohlmeinender Mitarbeiter der Justizbehörden abhängig; insbesondere Personalakten von Richtern konnten kaum eingesehen werden. Um die Geschichte der NS-Justiz besser und umfassender analysieren zu können, wird es nötig sein, daß in Zukunft Restriktionen bei der Akteneinsicht fallen, die noch in den Kellern der Gerichte lagernden Akten zugänglich gemacht werden und das verstreute Material zentral erfaßt und katalogisiert wird.

Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete Fassung der Dissertation, die ich 1988 an der Ruhr-Universität Bochum vorgelegt habe. Viele haben dazu beigetragen, daß sie fertiggestellt werden konnte: die Friedrich-Ebert-Stiftung mit einem Stipendium, mein Doktorvater Prof. Dr. Hans Mommsen mit anspornender Kritik, Prof. Dr. Wilhelm Bleek mit wissenschaftlichem und menschlichem Rat, Prof. Dr. Bernd Weisbrod, Dr. Ulrich Heinemann, Burkhard Dietz und viele andere Bochumer Freunde mit Zeit zum Zuhören und Zusprechen, Klaus Bästlein, Gerhard Fieberg und Dr. Stefan König mit kritischen Anregungen sowie die Mitarbeiter verschiedener Archive, insbesondere des Bundesarchivs und des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf (hier vor allem Herr Reuter und Dr. Faust), Harald Kirchner (†) sowie Dr. Adolf Klein und Herr Boos vom Oberlandesgericht Köln mit Unterstützung bei der Quellensuche. Meinen Eltern danke ich für ihre Geduld und ihr Verständnis. Die wichtigste Hilfe aber habe ich von meiner Frau Christiane erhalten.

I. Richterschaft und Weimarer Republik

Der Sturz der Monarchie im November 1918 bedeutete einen grundsätzlichen Wandel des politischen Systems, der auch die Stellung der Richter wesentlich veränderte und eine deutliche »politische Machterweiterung des Richteramts« nach sich zog[38]. Vor 1918 hatte sich die politische Rolle der Gerichte – auch wenn sich 1848 und gelegentlich auch danach »oppositionelle Strömungen im Justizapparat« zeigten[39] – in der Hauptsache darauf beschränkt, die Sozialistengesetze beflissen umzusetzen und auch nach deren Wegfall die Bekämpfung der Sozialdemokratie nach Kräften zu unterstützen[40]. In der Republik gewann die Justiz hingegen als unabhängige »dritte Gewalt« eine zentrale Schiedsfunktion in Fragen der Politik und des Rechts.

Dies wurde u.a. im September 1930 deutlich, als in einem Hochverratsprozeß gegen drei nationalsozialistische Reichswehroffiziere das Reichsgericht Hitler ohne Widerspruch die Möglichkeit gab, die Verfassungstreue der NSDAP zu beschwören[41], obwohl man im Preußischen Justizministerium umfangreiches Material gesammelt hatte, das das Gegenteil bewies[42]. Für die Haltung der Behörden und der bürgerlichen Kreise gegenüber der NSDAP hatte die höchstrichterliche Anerkennung des Legalitätseides Hitlers nicht unerhebliche Bedeutung[43].

Einfluß auf die Geschichte der Republik nahmen die Gerichte auch, indem sie zu Beginn der zwanziger Jahre de facto ein richterliches Prüfungsrecht gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber durchsetzten. 1923, als es um die Frage der Aufwertung der durch die Inflation entwerteten Hypotheken und Darlehen ging, griffen das Reichsgericht und verschiedene Oberlandesgerichte der Reichsregierung und dem Reichstag vor: Sie erklärten die Anpassung der Schuldverhältnisse an den durch die Inflation bedingten Geldwertverlust für Rechtens und hoben den Grundsatz »Mark gleich Mark« auf. Anderslautende Gesetzgebungspläne der Regierung wurden verworfen, weil diese angeblich gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstießen[44]. Obwohl die Verfassung keine allgemeine richterliche Normenkontrolle, geschweige denn eine richterliche Prüfung der politischen Zweckmäßigkeit von Gesetzen vorsah, wurde eben dies von den Gerichten in den folgenden Jahren in zunehmendem Maße praktiziert[45].

Die Justiz übte somit maßgeblichen politischen Einfluß aus; sie war aber auch Gegenstand der Politik, da ihre Entscheidungen Mittelpunkt heftiger justizpolitischer Debatten und die Besetzung von Richter- und Staatsanwaltstellen Grund erbitterter Machtkämpfe zwischen den Parteien waren[46]. Für die Richterschaft waren dies neue, sehr ambivalente Erlebnisse: Ihre Position war mächtiger und zugleich umstrittener geworden. Hinzu kamen ebenso ungewohnte wirtschaftliche und soziale Erfahrungen. Beides prägte das Verhalten gegenüber der Republik.

Krisenerfahrung

Im Jahre 1921 veröffentlichte die »Deutsche Richterzeitung«, das Organ des Deutschen Richterbunds, einen Artikel des Amtsgerichtsrats Krahé, in dem die Lage der Richterschaft in den düstersten Farben geschildert wurde. Krahé sah die Richter »wie den altgewordenen Faust« umringt von »vier grauen Weiber[n] […]: Der Mangel, die Schuld, die Sorge, die Not«[47]. Ihre vollkommene Verelendung sei nur noch eine Frage der Zeit.

Die pessimistischen Ahnungen Krahés waren bezeichnend für die sozialen Ängste der Richter und auch anderer akademischer Schichten[48]. In den Zeitschriften der Richtervereine wurden bis in die beginnenden dreißiger Jahre hinein immer wieder verbitterte Schilderungen der drückenden »Notlage«[49] der Richter veröffentlicht, in denen man sich in dunklen Visionen von einer baldigen Pauperisierung und Proletarisierung der Richterschaft erging[50]. Insbesondere wurde beklagt, daß die Einkünfte aufgrund der Inflation im Vergleich zu »Friedenszeiten« um zwei Drittel gesunken seien und die Richter ihre Existenz nur noch durch Nebenarbeiten oder »unter Zubuße seitens der Eltern oder von eigenem Kapital«[51] aufrechterhalten könnten. Angesichts ihrer katastrophalen Lage könnten die Richter nicht mehr in genügendem Maße am öffentlichen Leben teilnehmen und würden mehr und mehr »weltfremd«. Die Situation wurde als so bedrohlich empfunden, daß man sich vielerorts in »Arbeitsgemeinschaften« formierte und an die Landtage appellierte, um eine sofortige drastische Aufstockung der Bezüge zu fordern[52].

Die Kassandrarufe, die insbesondere in den frühen zwanziger Jahren aus der Richterschaft an die Öffentlichkeit drangen, waren – gemessen an der Lebenssituation der Gesamtbevölkerung – sicherlich übertrieben. Zweifellos waren die Richter wie auch andere Berufsgruppen von einem durch den Weltkrieg ausgelösten drastischen Kaufkraftverlust betroffen[53]. Da seit 1917 »Gehaltserhöhungen nach sozialen Gesichtspunkten gestaffelt wurden« und die höheren Beamten »relativ sehr viel deutlicher« verarmten als der untere und mittlere Dienst, konnte der Eindruck entstehen, in besonderer Weise benachteiligt zu werden[54]. Allerdings bezogen die Richter ein regelmäßiges, weit über dem Durchschnitt liegendes Gehalt und konnten als höhere Beamte ihrer Arbeitsplätze sicher sein – ganz im Gegensatz zu den Arbeitern und Angestellten der inflationsgeschüttelten freien Wirtschaft und den Angehörigen des unteren und mittleren Justizdienstes, von denen z.B. in Preußen 1924 rund 15 Prozent ihren Arbeitsplatz im Zuge eines durch die leeren Staatskassen bedingten »Personalabbaus« verloren[55]. Von einer wirklichen »Proletarisierung« war die Richterschaft weit entfernt. Subjektiv erfuhr man jedoch in der Tat eine äußerst tiefe, mit der Erfahrungswelt des Kaiserreiches nicht zu vereinbarende Krise[56].

Diese Krisenerfahrung resultierte zum einen aus allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklungen, die bereits im Weltkrieg begonnen und sich nach 1918 verschärft hatten, und zum anderen aus der sozialen Rekrutierung der Mehrzahl der Richter. Die Richterschaft der Weimarer Republik war weitestgehend mit der des Kaiserreiches identisch und entstammte in ihrer überwiegenden Mehrheit der gehobenen bürgerlichen Mittelschicht[57]. Dieses Sozialprofil erklärt sich daraus, daß der Weg zum Richterberuf erhebliche finanzielle Mittel erforderte[58]. Wer Richter werden wollte, mußte nicht nur ein langjähriges Studium, sondern auch eine unbesoldete Referendarzeit finanzieren. In Preußen wurden nach einem Regulativ vom 1. Mai 1883 zudem nur diejenigen Kandidaten zum Referendarexamen zugelassen, die den Nachweis erbrachten, daß sie des Dienstes in der Justiz »würdig« waren und sich, ohne ein Gehalt zu beziehen, fünf Jahre »standesgemäß« unterhalten konnten[59]. Die soziale und letztlich auch die politische Homogenität der Richterschaft war damit garantiert[60].

Wer die vierjährige Referendarzeit erfolgreich hinter sich gebracht hatte, erhielt in der Regel eine unter- oder gar unbesoldete Beschäftigung als Assessor[61] und wurde auf Probe als Hilfsrichter eingesetzt. Bis zu einer festen Anstellung mußten um 1900 aufgrund der Knappheit an Planstellen im Durchschnitt sechs bis sieben Jahre überbrückt werden[62]. Während dieser Zeit waren die Assessoren der ständigen Beurteilung durch ihre Vorgesetzten unterworfen. Deren Eintragungen in die Personalakten einzusehen, war – zumindest in Preußen – nicht gestattet, so daß die Assessoren sich ihrer Übernahme in den Justizdienst nie sicher sein konnten. Bei »Pflichtvergessenheit« oder »unbotmäßigem Verhalten« drohte sofortige Entlassung. Unbedingte, die Meinung der Vorgesetzten sensibel erfassende Konformität und Opportunismus waren eine unabweisliche Folge dieser Situation[63].

In finanzieller Hinsicht lohnten sich die rund 15 Jahre dauernden Belastungen und Entbehrungen kaum. Die richterlichen Gehälter erlaubten zwar einen gehobenen Lebensstandard, eine repräsentative Wohnung und zumeist auch das dazugehörige Dienstpersonal[64], lagen aber deutlich unter den Bezügen vergleichbarer akademischer Berufe. In der Richterschaft wurde dies mit wachsendem Unwillen registriert, wobei man insbesondere die weitaus höheren Gehälter der Verwaltungsjuristen monierte[65], zu denen man erst am Ende des Kaiserreichs aufschließen konnte[66]. Der starke Reiz, den der Richterberuf auf die Söhne der gehobenen Mittelschicht ausübte, lag denn auch wohl nicht im Pekuniären, sondern eher darin, daß das Richteramt im kaiserlichen Deutschland eine der wenigen Laufbahnen war, in der Bürgerliche an der staatlichen Macht partizipieren konnten. Sicherlich konnten sich die Richter nicht mit dem in seinen Spitzen zumeist adeligen Offizierskorps messen, obgleich es unter ihnen eine große Zahl von Reserveoffizieren gab[67]. Dennoch genossen sie hohes gesellschaftliches Ansehen und besaßen trotz mancher Unzufriedenheit ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl[68]. Mit Hinweis auf die besondere Stellung des Richters grenzte man sich scharf von der Beamtenschaft ab und betrachtete sich als die eigentliche, weil für Staat und Gesellschaft unentbehrliche Elite unter den Staatsdienern.

Um so unbefriedigender erschien das vergleichsweise magere richterliche Gehalt[69]. Zwar erlaubte es familiäres Vermögen vielfach durchaus, die relativen finanziellen Nachteile des Richterberufs zu kompensieren, aber dennoch fühlte man sich vom Staat vernachlässigt[70]. Daß man trotz betonter Staatstreue auch bei der Verleihung von Orden allem Anschein nach hinter den Beamten des höheren Dienstes zurückstehen mußte[71], schlug dem Standesbewußtsein weitere Wunden. Letztlich war das richterliche Selbstwertgefühl im Kaiserreich merkwürdig zwiespältig: Einerseits rechnete man sich zur Elite der Nation und andererseits zu den Zukurzgekommenen der kaiserlichen Gesellschaft.

Die Inflation der frühen Zwanziger sollte nun das gerade in materiellen Fragen höchst empfindsame richterliche Selbstwertgefühl schwer erschüttern. Finanzielle Reserven lösten sich ebenso wie die Kriegsanleihen, die man häufig gezeichnet hatte, in nichts auf[72], und die Gehälter, die die Republik zahlen konnte, reichten bei weitem nicht, um das gewohnte Lebensniveau zu halten. Das bürgerliche Milieu geriet – wie ein Richter 1921 verbittert feststellte – in einen »seltsamen Gegensatz« zu den »proletarischen Einkünften« nach der »Revolution«[73]. Einschneidende Kürzungen, z.B. der Verzicht auf Dienstpersonal, waren unvermeidlich. Selbst das allmorgendliche Frühstücksei – im Kaiserreich eine Selbstverständlichkeit – wurde für manchen Richter auf dem Höhepunkt der Inflation zu einem unerschwinglichen Luxus[74].

Nach zeitgenössischen Darstellungen entsprach der richterliche Lebensstandard in den ersten Jahren der Republik in etwa dem, was sich ein Gerichtsschreiber vor 1914 hatte leisten können[75]. Daß die richterlichen Bezüge in der kurzen Phase der wirtschaftlichen Konsolidierung der Republik angehoben wurden – so in Preußen 1927 um 15 Prozent –, machte den Vermögens- und Kaufkraftverlust nicht wett, zumal die Regierung Brüning trotz des Widerstands der Richterschaft gegen die Verletzung ihrer »wohlerworbenen Rechte«[76] im Zuge ihrer Sparpolitik die Gehälter der Beamten 1930/31 insgesamt um ca. 21 Prozent kürzte[77]. Angesichts dessen verklärte sich die Erinnerung an das Kaiserreich um so mehr. Der kaiserliche Staat hatte den Richtern »gewiß keine Glücksgüter in den Schoß« gelegt, ihnen aber doch – so ein Richter 1921 – »ein wenigstens zur Not auskömmliches Gehalt und als Entschädigung für die großen Kosten des Studiums und der Wartezeit eine geachtete Stellung, Orden und Titel« gegeben[78].

Der Verlust an Vermögen und Kaufkraft wurde als um so ungerechter empfunden, als die richterliche Arbeitsbelastung, bedingt durch steigende Prozeßzahlen und die – angesichts der leeren öffentlichen Kassen unvermeidlichen – Einstellungsstopps im höheren Justizdienst, spürbar wuchs. In Preußen zum Beispiel hatten die Landgerichte 1931 trotz einer Notverordnung des Reichspräsidenten vom 1. Dezember 1930, durch die die Zuständigkeitsgrenze der Amtsgerichte ausgeweitet worden war, rund 305000 Zivilsachen zu bearbeiten. 1913 waren es ca. 235000 gewesen. Der Personalbestand an den Gerichten entsprach dieser erhöhten Belastung keineswegs. Notwendige Neueinstellungen blieben vielmehr ebenso aus wie lang erhoffte Beförderungen. Die Zahl der etatmäßigen Richter- und Staatsanwaltsstellen an den preußischen Gerichten sank von 7044 im Jahre 1915 auf 6044 Mitte der zwanziger Jahre und stieg erst Anfang der dreißiger Jahre wieder leicht an. Hinzu kam, daß durch eine Verordnung des Preußischen Justizministeriums vom 16. Februar 1924 15 Prozent des unteren und mittleren Justizpersonals »abgebaut« wurden und den Richtern deshalb z.B. Schreibkräfte kaum in genügendem Maße zur Verfügung standen[79]. Die Justizverwaltung bemühte sich, den Personalmangel wett zu machen, indem sie die Arbeitskraft der Richter intensiv zu nutzen suchte. So wurden u.a. Amtsgerichtsräte als »Doppelrichter« gleichzeitig an einem Land- und einem Amtsgericht beschäftigt[80]. Auch im Berufsleben bekamen die Richter also die Finanzmisere des Weimarer Staates empfindlich zu spüren.

Zudem fanden die Richter in der Öffentlichkeit zu ihrer Enttäuschung nicht die erwartete Anerkennung. Vielmehr sahen sie sich, nachdem mit dem Sturz der Monarchie autoritärstaatliche Beschränkungen von Presse und Literatur gefallen waren, mit einer kritischen, zuweilen auch reißerischen Gerichtsberichterstattung konfrontiert. In der Literatur der Zeit war die Justiz Fokus einer allgemeinen Zivilisations- und Gesellschaftskritik, worauf die Gerichte ihrerseits häufig mit dem Verbot vermeintlich subversiver Romane und Theaterstücke reagierten. Republikanisch gesinnte Journalisten und Literaten äußerten sich darüber z.T. mit großer Schärfe[81] und wandten sich energisch gegen die Vielzahl eindeutig republikfeindlicher Entscheidungen in politischen Verfahren, wobei sie ihre Kritik gelegentlich mit Spottversen über die Richter, deren Gewohnheiten und Habitus würzten[82]. Der Richterschaft wurde – u.a. von Carl von Ossietzky, Arnold Zweig, Erich Mühsam und Kurt Tucholsky[83] – vorgeworfen, einer reaktionären Klassenjustiz Vorschub zu leisten. Die Richter – so Tucholsky 1921 wohl unter dem Eindruck der auffälligen Nachsicht mit den Mördern Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts – seien »zum Hakenkreuz erzogen« und fällten den »Rechtsspruch nach Stand und Rang«[84].

Auf diese Vorwürfe reagierte man in der Richterschaft mit großer, selbstgerechter Empfindlichkeit. Kritik an Gerichtsurteilen wurde in der Regel als schwere Schädigung des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Justiz und damit als Gefährdung der staatlichen Autorität verstanden[85]. Kritische Stimmen über die Justiz hatte es zweifellos auch schon im Kaiserreich gegeben, nun aber fühlte man sich, insbesondere angesichts der »Not« der Richter, einer systematischen Diffamierungskampagne der »linken« Presse und der »Revolverblätter« ausgesetzt. Da der Staat nicht bereit schien, Hilfe zu leisten, glaubte man sich entgegen dem Gebot richterlicher Zurückhaltung in politischen und gesellschaftlichen Fragen zur Gegenwehr genötigt. In den juristischen Fachzeitschriften[86] oder auf den Deutschen Richtertagen wie 1925 in Augsburg[87] wurden leidenschaftliche Vorwürfe gegen die Zeitungen und ihre vom »Parteigeist« getrübte Berichterstattung erhoben. Um der Presse Einhalt zu gebieten, verlangte man vor allem Maßnahmen zur Förderung einer »sachlichen« Presse, d.h. einer Presse, die die Autorität der Richter im allgemeinen Interesse des Staates respektieren und stützen sollte. 1927 wurde sogar ein »Richterschutzgesetz« gefordert, das »Beleidigungen und Herabsetzungen« der Richterschaft, mithin jede Kritik an richterlichen Entscheidungen unter empfindliche Strafe stellen sollte[88].

Mit steigender Arbeitsbelastung, sinkendem Lebensniveau und mit der Neigung von Teilen der Öffentlichkeit, richterliche Entscheidungen nicht mehr als sakrosankt zu akzeptieren, zeigte man in der Richterschaft zunehmend die Tendenz, die Schläge gegen das richterliche Standesbewußtsein durch eine gewisse Selbstmystifizierung zu kompensieren. So wurde die »Notlage« der Richter zu einer Schicksalsfrage der gesamten Nation erklärt, da »ein weiteres Dulden« nicht nur ein Verbrechen an der Richterschaft, »in erhöhtem Maße aber [ein] Verbrechen am Volke«[89] sei. Richter schilderten ihren Beruf als Ausdruck von »Würde, Ernst und Wichtigkeit«, als Teil des »großen Streben[s] nach Gerechtigkeit«[90], und die Mitglieder des Reichsgerichts feierten sich gar als »Ritterschaft« des »heil’gen Grals« des Rechts[91].

Es ist bezeichnend, daß die »Vossische Zeitung« im Deutschen Richterbund naiv-begeisterte Zustimmung fand, als sie im April 1924 folgende – zweifellos satirisch gemeinte – »Gerichtsreportage« veröffentlichte: »Der Große Richter […] gibt dem Gericht nicht nur Ernst und Würde, sondern auch Schönheit. Der schwarze Talar, das silbergestickte Barett verstärken diesen Eindruck, der durch keinen falschen Ton gestört wird. Denn seine Würde ist ohne Pathos, sein Ebenmaß ohne Gefallsucht. Es ist, als habe die Natur ihm alles gegeben, um Richter zu sein. Deshalb haben ihn sein Erfolg, sein weitverbreiteter Ruf nicht eitel, rechthaberisch oder unbelehrbar gemacht. Sein Amt bringt ihm das Elend der Herzen immer allzu nahe. Er kann kein glücklicher Mensch mehr werden; man fühlt: Sein Herz ist milde, milde geworden. Aber seine Überzeugungen sind streng. Er ist ein Strafrichter, und er straft die Missetat nach den Richtlinien des Gesetzes […] Nicht so sehr Jurist oder Beamter, wohl aber jeder Zoll ein Richter.«[92]

Der Beifall für dieses »Richterporträt« läßt nicht nur erkennen, daß man in Richterkreisen angesichts der vielfachen Kritik der Presse für Lob und Respektbekundungen außerordentlich empfänglich war. Vielmehr wird auch offensichtlich, daß man einem Richterleitbild anhing, dem außer einer pathetisch-mystischen Verklärung des Richtertums vor allem autoritär-patriarchalische Züge zu eigen waren[93].

Die Schuld für die krasse Diskrepanz zwischen Realität und Wunschbild lastete man der »Revolution« bzw. dem »System« an. Gelegentlich ließ man sich sogar, enttäuscht durch die wirtschaftliche Lage und die Erfolglosigkeit von Petitionen und Protesten, zu unverhohlenen Drohungen gegen die Republik hinreißen. So wurde in der »Deutschen Richterzeitung« 1921 angekündigt, daß der Staat »böse Enttäuschungen erleben« könne, »wenn seinen Richtern der Atem ganz« ausgehe[94]. Die Mehrheit der Richter fand zwar nicht zu solchen drastischen Worten, glaubte aber zweifellos auch an die dringende staatspolitische Notwendigkeit rascher Maßnahmen zur Linderung der richterlichen »Not«, da »justitia fundamentum regnorum« sei. Diesen Grundsatz hatte das Kaiserreich, auch wenn es viele Wünsche nicht erfüllt hatte, offenbar beachtet. Von der Republik hingegen fühlte man sich unverstanden und schmählich im Stich gelassen[95].

Anders als die Richter hatte der Nachwuchs der Justiz tatsächlich Grund zu Existenzängsten. Bereits während des Kaiserreiches hatten die Assessoren und Referendare der Justiz – wie die Nachwuchskräfte in anderen akademischen Berufen auch – unter einer »Überfüllungskrise« gelitten, die sich nicht nur in langen Wartezeiten für Planstellen, sondern insbesondere in den Großstädten auch in einer Übersättigung des Arbeitsmarktes für Rechtsanwälte und Notare geäußert hatte[96]. Die Misere verschärfte sich nach 1918 durch einen drastischen Anstieg der Zahl der Jurastudenten sowie der Anwärter für Stellen in der Justiz und in den freien juristischen Berufen. Während um 1914 rund 10000 Studenten das Fach Jura belegt hatten, waren es Mitte der zwanziger Jahre über 20000[97].

Auch wenn die Justizverwaltungen der Weimarer Republik aufgrund der Finanzkrise nicht zu Einstellungsstopps und Personalabbau gezwungen gewesen wären, hätten sie dieser Zahl von Nachwuchskräften kaum genügend Stellen bieten können, zumal man allein in Preußen rund 4300 außeretatmäßige Gerichtsassessoren aus dem Kaiserreich übernommen hatte. Die preußische Justizverwaltung versuchte sich nach dem Krieg damit zu helfen, daß sie die Provinzialbehörden befugte, Gerichtsreferendare kommissarisch im mittleren Dienst zu verwenden[98]. Damit wurden zwar Beschäftigungsmöglichkeiten für Berufseinsteiger geschaffen, die Situation der Gerichtsassessoren blieb aber fatal. Sie mußten 1921 rund acht Jahre auf eine Anstellung als Richter warten. 1927, zur Zeit der kurzen wirtschaftlichen Blüte der Republik, betrug die Wartezeit für die Anstellung als Richter immerhin noch sechs Jahre und zehn Monate und für die als Staatsanwalt sogar zehn Jahre und einen Monat[99]. Das Ausweichen in den Beruf des Rechtsanwalts war dabei längst keine Alternative mehr. Insbesondere Ende der zwanziger Jahre verschlechtern sich hier die – ohnehin nur begrenzten – Erfolgsaussichten für Berufsanfänger vielmehr noch, da immer mehr Assessoren versuchten, sich als Rechtsanwalt eine Existenz aufzubauen[100]. »Hilfsarbeiter«-Stellen konnten die Justizverwaltungen nur in begrenztem Umfang bieten: In Preußen hatten zum Beispiel 1931 von 3055 Assessoren lediglich 1588 als »Hilfsarbeiter« eine bezahlte Beschäftigung im Justizdienst. 575 arbeiteten unentgeltlich, 892 waren ohne irgendwelche Bezüge beurlaubt. Nur 218 erhielten 1931 eine planmäßige Anstellung in der Justiz. 604 ergriffen den Beruf des Rechtsanwalts, 49 fanden Beschäftigung in der Verwaltung, 90 in der freien Wirtschaft. 1932/33 sank die Zahl der Assessoren, denen eine Stelle in der Justiz zugewiesen werden konnte, dann noch weiter, während die der unentgeltlich arbeitenden bzw. ohne Bezüge beurlaubten Assessoren deutlich stieg[101].

Angesichts dieser Situation dürften die Auswirkungen der Hyperinflation, d.h. der rapide Verfall der Ersparnisse und Vermögen der Mittel- und Oberschichten, für die zumeist bürgerlichen Referendare und Assessoren besonders schmerzlich gewesen sein. Die Söhne der unteren und mittleren Angestellten und Beamten, die nach der Aufhebung des Regulativs vom 1. Mai 1883 und des Vermögensnachweises für den Referendardienst in bescheidenem Umfang in den höheren Justizdienst drängten[102], verfügten ohnehin nicht über genügend finanzielle Reserven, um die langen Wartezeiten bis zu einer Anstellung ohne schmerzliche Entbehrungen zu überstehen.

Wie bedrückend die Lage vieler Assessoren war, wird in einem anonymen Bericht von 1924 deutlich: »Viele hundert preußische Assessoren sind brotlos, weil der bedrängte Staat sie nicht beschäftigt und unterhält. Sie wissen heute nicht, wovon sie morgen leben sollen, und dabei haben nicht wenige von ihnen für eine Familie zu sorgen.«[103] Am Ende der Republik war die Situation dann fast noch schlechter: Rund 2000 der 4000 preußischen Gerichtsassessoren waren im Winter 1932/33 ohne jedes Einkommen. Allein in Berlin lebten ca. 200 von ihnen von der Wohlfahrt[104].

Das Gespenst der Proletarisierung, von der sich die Richterschaft bedroht fühlte, war für den richterlichen Nachwuchs durchaus bedrückende Realität. Der Rechtsstaat von Weimar vermochte den jungen Juristen keine Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Er konnte kaum auf ihre Sympathien hoffen, um so weniger als die Ursache der Misere allein im Versagen der Republik zu liegen schien.

Überfüllungskrise und Konkurrenzdruck waren zudem wesentliche Ursachen dafür, daß auch unter den jungen Akademikern seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend völkisch-nationale Ideen an Boden gewonnen hatten[105]. Damit verbunden war ein wachsender Antisemitismus, der nicht zuletzt daraus resultierte, daß jüdische Studenten vor allem an den großstädtischen Universitäten relativ stark vertreten waren. So waren 1887/88 rund 7,7 Prozent aller preußischen Studenten Juden. 1911/12 stellten sie in Berlin im Fach Jura 20,24 Prozent und im Fach Medizin sogar 37 Prozent aller Studierenden[106]. Ihren Kommilitonen galten sie in zunehmendem Maße als unerwünschte Konkurrenten um die gerade im Justizdienst so knappen Arbeitsplätze. Auch in dieser Hinsicht war der NS-Ideologie der Weg geebnet.

Politik und Rechtsprechung

Die Entwicklung ihrer wirtschaftlichen Lage und der Verlust an Autorität bestärkte die Richter in der Auffassung, die die meisten von ihnen bereits 1918/19 gehabt hatten, nämlich daß die Herrschaft des Parlaments und der Parteien nichts Gutes sei und dem Volk und dem »Staat« schade. Die »November-Revolution« galt der Mehrheit der Richter als glatter Rechtsbruch, als »Meineid« und »Hochverrat«[107]. 1921 gab Johannes Leeb, der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, dem unzweideutig Ausdruck, indem er den »neuen Geist« der Republik als »Lügengeist« brandmarkte. In der Republik sei »jede Majestät«, »auch die Majestät des Gesetzes«, gefallen, weil die Parlamentsherrschaft nur »Kompromißgesetze« und »Parteien-, Klassen- und Bastardrecht« hervorbringe[108]. Selbst ein der Richterschaft durchaus wohlwollender Beobachter wie der Berliner Rechtsanwalt Erich Eyck konnte nicht leugnen, daß der größte Teil der Justiz trotz formaler Verfassungstreue der Republik »innerlich« ablehnend gegenüberstand[109].

Insbesondere in politischen Strafverfahren wurde der Standort der Richterschaft immer wieder deutlich[110]. Rechtsradikale Straftäter konnten in der Regel auf Milde rechnen, während »Zersetzungsversuche« von Kommunisten oder Sozialdemokraten mit großer Schärfe verfolgt wurden. In einer durch das Reichsjustizministerium bestätigten Erhebung[111] kam Emil Julius Gumbel 1921 zu dem Ergebnis, daß rund 90 Prozent der Morde, die in den Wirren von 1918/19 vor allem Mitglieder der Freikorps begangen hatten, von den Gerichten nicht geahndet worden waren. Bei 314 abgeurteilten von »rechts« begangenen Morden lag das Strafmaß durchschnittlich bei zwei Monaten Haft. Von 15 – zumeist von Kommunisten – verübten politischen Morden wurden hingegen acht mit dem Tode und sieben mit durchschnittlich 14 Jahren Haft bestraft[112].

Bezeichnend ist auch, daß Reichspräsident Friedrich Ebert, die personifizierte Autorität der Republik, 1924 in einem Beleidigungsprozeß vor dem Schöffengericht München unversehens in die Rolle des Angeklagten geriet, obwohl er diesen Prozeß eigentlich angestrengt hatte, um einen Republikgegner zur Rechenschaft zu ziehen, der ihn öffentlich des Landesverrats bezichtigt hatte. Das Gericht erklärte den Angeklagten zwar für schuldig, entschied aber nur auf eine symbolische Geldstrafe von zehn Reichsmark. Zu einer härteren Strafe vermochten sich die Richter nicht durchzuringen, da die Bezeichnung Eberts als »Landesverräter« durchaus ihre Berechtigung habe. Schließlich habe er aufgrund von Kontakten zu den streikenden Berliner Munitionsarbeitern im Jahre 1918 den Tatbestand des Landesverrats erfüllt[113]. Ein Schöffengericht in Magdeburg fällte Ende 1924 eine ähnliche Entscheidung. Im Kollegenkreis fanden die Magdeburger Richter noch deutlichere Worte: Sie bezeichneten den ehemaligen sozialdemokratischen Reichskanzler Scheidemann als »Schwein« und forderten unverhohlen, daß Ebert, der »Sattlergeselle da oben«, verschwinden müsse[114]. Ebert führte insgesamt 173 Prozesse wegen politischer Beleidigungen und Unterstellungen, ohne von den Gerichten Ehrenschutz zu erhalten[115].

Antirepublikanische und zudem deutlich antisemitische Töne durchzogen auch die Rechtsprechung zu den Republikschutz-Gesetzen, mit deren Hilfe der radikalen Agitation gegen die Republik ein Riegel vorgeschoben werden sollte[116]. Bezeichnend war ein Urteil des Ersten Strafsenats des Reichsgerichts vom 23. Juni 1923[117]. In dieser Entscheidung gelangten die Richter zu dem Schluß, daß die Sätze »Wir brauchen keine Judenrepublik, pfui Judenrepublik«, die Mitglieder des Jungdeutschen Ordens während einer Versammlung in Gotha skandiert hatten, keine Beleidigung der »verfassungsmäßig festgestellten Staatsform« darstellten. Sie beinhalteten lediglich – und hier kam die grundsätzlich ablehnende Haltung der Richter des Reichsgerichts gegenüber der Republik zum Ausdruck[118] – eine Beleidigung der »gegenwärtigen Staatsform«.

Den Ausdruck »Judenrepublik« erklärte sich das Reichsgericht im übrigen als eine Anspielung auf die »gewaltsam« etablierte »neue Rechts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland, die unter hervorragender Beteiligung deutscher und ausländischer Juden aufgerichtet« worden sei. Der Begriff könne aber auch auf die »übermäßige Macht« anspielen, die die jüdische Bevölkerung »nach Ansicht weiter Bevölkerungskreise in Deutschland tatsächlich ausübt«. Aufgrund dieser Überlegung hob das Reichsgericht die Strafen auf, auf die die Vorinstanz entschieden hatte, und ordnete die Neuverhandlung des Falles an. Dabei versäumte es nicht, die Überlegung zu empfehlen, ob nicht, da die Äußerungen der Angeklagten auf einer nichtöffentlichen Veranstaltung gefallen seien, ein öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung ausgeschlossen werden könne.

In seiner antisemitischen Ausprägung war dieses Urteil durchaus typisch für das Verhalten der Gerichte der Weimarer Republik gegenüber jüdischen Bürgern. Schutz vor rassistischen Beleidigungen wurde ihnen vielfach verweigert, zudem wurden ihnen antideutsche, hochverräterische Bestrebungen unterstellt, und einige Richter behaupteten sogar, daß den Juden »Ehre und Anstand […] unbekannte Begriffe« seien, da sie als »semitische Rasse« zur »dauernden Minderwertigkeit verurteilt«[119] seien.

Das Urteil des Reichsgerichts vom 23. Juni 1923 war von großer politischer Tragweite. An die Überlegungen der höchsten deutschen Richter zur strafrechtlichen Tragweite des Begriffs »Judenrepublik« lehnten sich die Gerichte noch Anfang der dreißiger Jahre an[120]. Die Bemühungen des parlamentarischen Gesetzgebers, die Republik mit Hilfe der Republikschutz-Gesetze gegen ihre Gegner zu schützen, wurden so – zumindest hinsichtlich rechter Republikfeinde – unterminiert.

Die Rechtslastigkeit der politischen Urteile provozierte nicht nur die KPD-Fraktion des Reichstags zu Anfragen, Interpellationen, Gesetzentwürfen und Attacken gegen die »Klassenrichter«. Auch für Politiker der DDP und der SPD war sie Grund, auf Distanz zur Justiz zu gehen und energisch deren »Demokratisierung« zu fordern. Das Zentrum stimmte gelegentlich in die Kritik mit ein, hielt aber die Justizkritik der »Linken« für eine unzulässige Generalisierung von im großen und ganzen unsymptomatischen Einzelfällen. DVP und DNVP wiesen hingegen jeden Vorwurf gegen die Justiz zurück. Der justizpolitische Sprecher der DNVP-Fraktion im Reichstag, selbst Richter im Zivilberuf, bestärkte die Richterschaft vielmehr in dem Anspruch, über Politik und Gesellschaft zu stehen und die wahren Interessen von Volk und Staat zu wahren[121].

Auf seiten der SPD, in der man die Rolle der kaiserlichen Gerichte bei der Sozialistenverfolgung nicht vergessen hatte und sich nun auch von der Justiz der Republik verfolgt fühlte, sah man in der personellen Kontinuität im Justizapparat nach 1918 eine ernste Gefahr. Vor allem in der Phase der Bürgerblock-Kabinette forderten führende Sozialdemokraten mit Nachdruck, die Justiz personell zu »reorganisieren«, und versuchten, Spitzenpositionen im Justizapparat mit überzeugten Republikanern zu besetzen, um dessen soziale Zusammensetzung und damit die Linie der politischen Rechtsprechung zu verändern[122]. Otto Wels, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Reichstag, verlangte 1922 sogar, die richterliche Unabsetzbarkeit zeitweise außer Kraft zu setzen und alle erklärten Feinde der Republik aus dem Amt zu entfernen[123]. Noch drastischer formulierte diese Forderung der SPD-Landtagsabgeordnete und Vorwärts-Redakteur Erich Kuttner 1925: Es sei an der Zeit, »diesem Richtertum […] endlich einmal die Flötentöne« beizubringen und ihm die »Schwarzrotgoldscheu« nachhaltig auszutreiben[124]. Die Auffassung, daß die Richterschaft bewußt »Rechtsbeugung« gegen die Republik betreibe, und die Forderung nach einem »großen Reinemachen« in der Justiz prägten die sozialdemokratische Rechtspolitik bis zum Ende der Republik[125].

Die Bemühungen der SPD, die Justiz zu »republikanisieren«, hatten nur wenig Erfolg. Republikanische, geschweige denn sozialdemokratische Juristen, die die Qualifikationen besaßen, maßgebliche Positionen zu besetzen, waren äußerst rar. Zudem stieß die »Republikanisierung« der Justiz auf den Widerstand der Ministerialbürokratie[126]. Nicht einmal in Preußen, wo die Sozialdemokraten mit Otto Braun – abgesehen von kleineren Unterbrechungen – von 1920 bis 1932 den Ministerpräsidenten stellten, wurden nennenswerte personelle Veränderungen erreicht. Der Preußische Justizminister Hugo am Zehnhoff, ein Mitglied des Zentrums, mit dem die SPD in Preußen eine Koalition bildete, konnte »geradezu stolz« darauf verweisen, daß es ihm gelungen sei, alle Versuche zu einer personellen Reform abzuwehren. Erst als 1927 der Kammergerichtsrat Dr. Hermann Schmidt, der zum linken Flügel des Zentrums gehörte, die Leitung des Justizressorts übernahm, wurde in der preußischen Justiz eine »gezielte Personalpolitik im demokratischen Sinne« eingeleitet[127].

Neben Wels und Kuttner gehörte auch Gustav Radbruch, Rechtsgelehrter und Reichsjustizminister 1921/22 und 1923, zu den SPD-Politikern, die sich für eine »Republikanisierung« der Justiz engagierten. Radbruch ist nach 1945 – u.a. paradoxerweise gerade von Carl Schmitt[128] – der Vorwurf gemacht worden, er habe durch sein Eintreten für einen strikten Rechtspositivismus, durch seine Forderung an die Richter, dem Gesetz ohne Prüfung des Rechtsgehalts Folge zu leisten, den blinden richterlichen Gehorsam gegenüber den NS-Gesetzen mit zu verantworten. Die Rechtspolitik Radbruchs rechtfertigt diesen Vorwurf indes in keiner Weise[129]. Radbruch forderte die Richter zwar 1921 auf dem Görlitzer Parteitag der SPD zur absoluten Gesetzestreue auf, aber dies war keinesfalls ein naives Plädoyer für einen apolitischen, von den Grundsätzen der Weimarer Reichsverfassung losgelösten Rechtspositivismus[130]. Radbruch ermahnte die Richterschaft vielmehr ausdrücklich zum Gehorsam gegenüber den Gesetzen des parlamentarischen Gesetzgebers, zur Verfassungstreue und zur Rechtsanwendung »im demokratischen Geiste«[131].

In scharfem Widerspruch zu den Erklärungen des Bamberger Juristentages, auf dem kurz zuvor die Verfassungstreue der Richter beschworen worden war, charakterisierte Radbruch die Justiz in Görlitz darüber hinaus als einen reaktionären »obrigkeitswidrigen Fremdkörper im sozialen Volksstaat« und schlug umfassende Reformen vor, um die Rechtsprechung und den Justizapparat den politischen und sozialen Entwicklungen nach 1918 anzupassen. So plädierte er dafür, den richterlichen Nachwuchs einer »sehr strengen Auslese«[132] zu unterziehen, um ein Nachströmen antirepublikanischer Kräfte zu verhindern. Zur »Republikanisierung« der Rechtsprechung forderte er zudem, den Strafrichtern nach dem Verhältniswahlrecht gewählte Laienrichter zur Seite zu stellen. Insgesamt lief das Reformprogramm, das Radbruch dem Görlitzer Parteitag unterbreitete, auf eine grundlegende Umgestaltung des Rechtssystems hinaus. Insbesondere sollten das Strafrecht und der Strafvollzug nicht mehr vornehmlich der Abschreckung und der Vergeltung, sondern der Resozialisierung dienen, Vorstellungen, die zum Beispiel 1923 durch neue Reichsgrundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen zumindest zum Teil in die Tat umgesetzt wurden[133]. Die Straf-, Zivil- und Arbeitsgerichtsverfahren sollten zudem »nach sozialen Gesichtspunkten«[134] umgestaltet werden.

Das Reformprogramm Radbruchs stieß in der Richterschaft auf scharfen Widerspruch[135], zumal man sich angesichts der verhältnismäßig geringen Zahl politischer Strafverfahren – in Preußen kamen 1929 rund 9000 politische auf schätzungsweise 450000 nichtpolitische Strafprozesse[136] – dem Vorwurf der »politischen« Rechtsprechung gänzlich zu Unrecht ausgesetzt fühlte. Vor allem die Forderung der SPD nach einer zeitweisen Aufhebung der richterlichen Unabsetzbarkeit und einem personellen Revirement in der Justiz bestärkte die Richterschaft in der Auffassung, daß die richterliche Unabhängigkeit ernsthaft gefährdet sei[137], nicht zuletzt weil die Weimarer Verfassung einer SPD-Regierung genügend Möglichkeiten zu bieten schien, Veränderungen in ihrem Sinne vorzunehmen: Laut Artikel 104 konnte der Gesetzgeber Richter in gewissen Grenzen »wider ihren Willen […] dauernd oder zeitweise ihres Amtes« entheben, und die Landesjustizverwaltungen waren befugt, bei Veränderungen der Gerichte oder Gerichtsbezirke Richter zu versetzen[138]. Der DRB verfolgte deshalb die Taktik, die SPD rechtspolitisch zu diskreditieren und sich zugleich der Unterstützung des Reichsjustizministeriums und konservativer Rechtspolitiker zu versichern. Im Oktober 1921, also unmittelbar nach dem für die Richterschaft so unerfreulichen SPD-Parteitag in Görlitz, protestierte der DRB scharf beim Reichsjustizministerium dagegen, daß das Preußische Justizministerium – in Preußen war der Sozialdemokrat Otto Braun Regierungschef – die richterliche Unabhängigkeit mißachte und »massenhaft« Urteile in politischen Strafsachen aufgehoben habe[139]. Streitigkeiten zwischen den Richtervereinen und der SPD traten in den zwanziger Jahren immer wieder auf, da die SPD ihre Kritik an der Justiz unverändert aufrechterhielt[140].

Die richterlichen Bedrohungsängste erhielten Mitte der zwanziger Jahre durch eine unter Pseudonym verfaßte »Dokumentation« neue Nahrung, die Beispiele angeblicher Nötigung der Justiz durch die Sozialdemokratie auflistete. Die »Gefesselte Justiz« – so der Titel dieser Untersuchung – stieß trotz der Zweifelhaftigkeit der ihr zugrunde liegenden Recherchen auf außerordentliche Resonanz. Sie erschien bis 1930 in elf Auflagen, wurde 1932 aufgrund des großen Publikumserfolgs durch einen zweiten Band ergänzt und war nicht zuletzt auch Gegenstand von parlamentarischen Debatten. Im Preußischen Landtag griffen DVP und DNVP1926/28 auf sie zurück, um die sozialdemokratischen Vorwürfe gegen die Justiz zurückzuweisen und die SPD in der Justizpolitik in die Defensive zu drängen[141].

Auch als die politische Macht der SPD durch den verfassungswidrigen »Preußenschlag« Franz von Papens, die Absetzung der preußischen Landesregierung unter Otto Braun, am 20. Juli 1932 endgültig gebrochen wurde, blieb die Furcht in der Richterschaft vor den Parteien von »links« lebendig. Noch 1933 erschien in der Deutschen Juristen-Zeitung ein leidenschaftlicher Protest gegen eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit, die sich das – von dem Zentrumspolitiker Dr. Hermann Schmidt geleitete – Justizministerium in Preußen durch die Mißbilligung eines Gerichtsurteils angeblich hatte zuschulden kommen lassen[142]. Der Sturz der Regierung Otto Brauns wurde hier dann auch als Rettung des unabhängigen Richtertums, ja als Rettung im Kampf »um Sein oder Nichtsein des Rechts« begrüßt.

In der Richterschaft beschränkte man sich indessen nicht auf Proteste gegen angebliche Verletzungen der richterlichen Unabhängigkeit durch die SPD und die Parlamente. Vielmehr bemühte man sich, den Vorwurf der politischen Parteilichkeit auch dadurch zu entkräften, daß man die besondere gesellschafts- und rechtspolitische Rolle des Richters hervorzuheben suchte.

Dies lief in der Regel auf einen einseitigen, Unverständnis für den Weimarer Parlamentarismus verratenden Vergleich zwischen dem Richter, seiner hohen Qualifikation, seinem Weitblick, seiner »unpolitischen« Sachlichkeit und Unbestechlichkeit und dem »von Leidenschaften und Parteiengezänk geprägten Treiben« in den Parlamenten hinaus[143]. Im Hinblick auf die Tagespolitik konnten so die Proteste legitimiert und untermauert werden, die der DRB in den zwanziger Jahren dagegen erhob, daß verschiedentlich parlamentarische Untersuchungsausschüsse in die Kompetenzen der Justiz eingriffen und Straffälle, in die Abgeordnete verwickelt waren, an sich zogen[144].

Zugleich enthielt der Vergleich zwischen richterlicher »Sachlichkeit« und parlamentarischem »Parteigeist« die Antwort auf die Frage, ob der Richter befugt sei, Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu verwerfen. Insbesondere nachdem das Reichsgericht und verschiedene Oberlandesgerichte 1923 die Pläne der Reichsregierung zur Aufwertung der Mark als »sittenwidrig« zurückgewiesen hatten, war dieses Problem zwischen dem Gesetzgeber und den Gerichten höchst umstritten: Reichsregierung und Reichsjustizministerium lehnten ein richterliches Prüfungsrecht strikt ab, während das Reichsgericht betonte, daß die Rechtsprechung »angesichts des völligen Versagens des Gesetzgebers […] außergewöhnliche Maßnahmen« ergreifen müsse[145].

Die Mehrheit der Richterschaft stellte sich offenbar hinter die Argumentation des Reichsgerichts. Das Prüfungsrecht des Richters gegenüber den Gesetzen der Parlamente wurde in den Zeitschriften der Richterverbände durchweg bejaht. So vertrat der Berliner Amtsgerichtsrat Fränkel die Auffassung, daß der Richter eine »politische Entscheidung« stets darauf zu untersuchen habe, ob sie dem »Geist wahrer Wirklichkeit« entsprossen sei[146]. Erst dann könne er ihr den »Stempel des Rechts« aufdrücken. Die richterliche Neutralität und Sachlichkeit gebe ihm das Recht, ja mache es ihm zur Pflicht, die aus »Parteiengezänk« und »Leidenschaften« erwachsenen Parlamentsbeschlüsse auf ihre Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit zu prüfen. Noch deutlicher wurde die antiparlamentarische Stoßrichtung dieser Argumentation in einem 1924 in der Deutschen Richterzeitung anonym veröffentlichten Artikel, in dem zur Rettung des »Staates« zur richterlichen »Selbsthilfe gegen den Gesetzgeber von heute« aufgerufen wurde[147].

Diese Stellungnahmen zum richterlichen Prüfungsrecht zeigen ebenso wie die politische Rechtsprechung, daß es den unkritischen Gehorsam des Richters gegenüber dem Gesetz in der Weimarer Republik wenn überhaupt, dann nur in gebrochener Form gab[148]. Obwohl die Richtervereine des öfteren ihre »unerschütterliche Verfassungstreue« erklärten[149], gerierte sich die Richterschaft doch gegen den Willen der Regierung und gegen den Wortlaut der Verfassung als die eigentliche, der »gegenwärtigen Staatsform« nicht verpflichtete Verteidigerin des Allgemeinwohls und des »Staates an sich«. Gegen die »Fehlleistungen« des parlamentarischen Gesetzgebers stellte man das Prüfungsrecht und das Auslegungsmonopol der Richterschaft. In der Phase der Präsidialkabinette, die, gestützt auf den Reichspräsidenten und auf Notverordnungen, gegen das Parlament regierten, hielt man sich allerdings – abgesehen vom Protest gegen die Brüningschen Gehaltskürzungen – mit Kritik am Staat auffallend zurück.

Zwar präzisierten die Richter ihre Staatsvorstellungen weder in den politischen Gerichtsurteilen noch in der Fachpresse, aber es bestand doch Einmütigkeit darüber, daß der »eigentliche Staat« nicht die Republik von Weimar, nicht parlamentarisch verfaßt und nicht nach dem Modell der Parteiendemokratie geformt sein sollte[150]. An diesem autoritären Staatsverständnis hielt man mit großem Selbstbewußtsein fest und ließ sich hierin durch die Proteste von seiten der Liberalen und der Sozialdemokratie nicht beirren. Als liberale und sozialdemokratische Politiker 1926 angesichts der Rechtslastigkeit der Gerichte die »Vertrauenskrise« zwischen der Republik und der Justiz ausriefen[151], gab ihnen der Präsident des Reichsgerichts Walter Simons eine bezeichnende Antwort: Er erklärte seinerseits die »Vertrauenskrise« der Richter gegenüber der Republik[152]. Die Beziehungen zwischen der Republik von Weimar und ihrer Richterschaft lassen sich in der Tat als gegenseitige Vertrauenskrise umschreiben.

Richter und NSDAP

Trotz der antiparlamentarischen und oft antisemitischen Grundeinstellung der Weimarer Richter sind ihre parteipolitischen Präferenzen nur schwer zu bestimmen, zumal sie die Mitgliedschaft in politischen Parteien, die dem Anspruch auf Überparteilichkeit und der Abneigung gegen das »Parteiengezänk« allzu deutlich entgegengestanden hätte, zumeist vermieden. Dennoch spricht vieles dafür, daß die Richter, nachdem sie sich 1917/18 vielfach der nationalistischen Vaterlandspartei angeschlossen hatten[153], zu der rechtsliberalen DVP und der rechtskonservativen, später auch eindeutig antisemitisch orientierten DNVP tendierten. DVP und DNVP hatten während der heftigen justizpolitischen Debatten der Republik die Richterschaft gegen die Vorwürfe der KPD, der SPD und der DDP verteidigt[154]. Zudem hatten beide Parteien die Republik nicht begrüßt und vertraten – mit unterschiedlichen Gewichtungen – eine Politik, die zwischen dem aus Einsicht in die staatspolitischen Sachzwänge geborenen »Vernunftsrepublikanismus« und der strikten Ablehnung des »Systems« schwankte. Wie die Richterschaft waren DVP und DNVP großbürgerlich geprägt. Die von der SPD angestrebten rechtspolitischen Reformen lehnten sie wie die überwiegende Mehrheit der Richter ab.

Die SPD[155], das Zentrum und die DDP, die die Republik etabliert hatten und sie trugen, besaßen hingegen in der Richterschaft nur sehr wenige Anhänger[156]. Ein Berliner Senatspräsident zählte am Ende der Republik bezeichnenderweise nur fünf Prozent der preußischen Richterschaft zu den Parteigängern der Republik[157]. Richter und Assessoren betätigten sich wie selbstverständlich in republikfeindlichen Organisationen wie dem Kaiserlichen Yachtclub, den Nationalen Deutschen Offizieren, der Deutschen Adelsgenossenschaft oder dem Stahlhelm[158]. Der Republikanische Richterbund (RRB), der Berufsverband der prorepublikanischen, im wesentlichen der SPD, dem Zentrum oder der DDP nahestehenden Richter und Juristen, fristete hingegen ebenso wie die Vereinigung sozialdemokratischer Juristen ein unbedeutendes Schattendasein. Nur rund 300 der ca. 10000 Richter der Republik schlossen sich ihm an. Der Mehrzahl ihrer im DRB organisierten Kollegen blieb der RRB suspekt, weil er sich für die Republik engagierte und damit – so der Vorwurf des DRB – das Gebot der richterlichen Neutralität mißachtete[159].

Indessen war auch die NSDAP zweifellos nicht die favorisierte Partei der Richterschaft, obwohl die Gerichte für die Ziele der Nationalsozialisten zuweilen auffälliges Verständnis zeigten und oft auch dann keinen Grund für Strafen sahen, wenn NS-Politiker verkündeten, daß sie nicht nur die »Judenrepublik«, sondern auch deren Politiker »beseitigen« würden[160]. Dennoch war das Verhältnis zwischen der Justiz und der NSDAP gespannt, da die Gerichte durchaus nicht immer nationalsozialistischen Interessen entsprachen[161] und verschiedentlich gegen Nationalsozialisten hart durchgriffen, wenn diese die Strafgesetze verletzt hatten. Das Schwurgericht Beuthen sprach zum Beispiel gegen fünf SA-Leute, die im oberschlesischen Potempa einen Kommunisten brutal ermordet hatten, im August 1932 die – von Hitler dann 1933 in einer Amnestie wiederaufgehobene – Todesstrafe aus[162]. Die Richter galten aufgrund solcher Urteile wie auch aufgrund ihrer Provenienz aus der gehobenen Mittelschicht in der NSDAP als »bürgerlich« und »verjudet«. Wilhelm Kube, der spätere Gauleiter der Kurmark, verstieg sich in einer Sitzung des Preußischen Landtags am 8. Juli 1932 sogar zu wilden Drohungen gegen die Richterschaft: Der »lächerliche Preußische Richterverein« werde »verdammt schnell schweigen«, wenn die NSDAP »seine Mitglieder der berechtigten Wut der breiten Massen« preisgeben werde. »Im Teuteburger Wald haben die Germanen den römischen Richtern die Zunge herausgerissen und ihnen zugerufen: ›Jetzt zische, Natter, wenn du kannst!‹« Das Protokoll vermeldet daraufhin »stürmischen Beifall« der NSDAP-Fraktion[163]. Zumindest in Berlin legten NSDAP-Funktionäre für die Zeit nach der »Machtergreifung« Listen von politisch mißliebigen Richtern an.

Die Bemühungen Roland Freislers, einer der Köpfe der NSDAP im Preußischen Landtag, die Nationalsozialisten aus wahltaktischen Gründen als Anhänger des »Rechtsstaates« zu präsentieren, wirkten angesichts dessen wenig glaubhaft[164]. Für die Richter war die NSDAP zudem auch deshalb wenig attraktiv, weil sie kein rechts- und justizpolitisches Programm aufzuweisen hatte. Vielmehr vernachlässigte sie die programmatische Arbeit völlig und konzentrierte sich auf den »tagespolitischen Kampf«[165], und gerade hier kam es trotz gewisser Sympathien für die »nationalen« Ziele der NSDAP immer wieder zu Reibungen.

Dennoch gab es etliche Richter, die sich der NSDAP eng verbunden fühlten und in der Endphase der Republik trotz Verbots[166] in die Partei eintraten. Genaue Zahlen liegen allerdings nicht vor, zumal die Justizbehörden NSDAP-Mitglieder unter den Richtern zumeist deckten und Disziplinarverfahren gegen sie hemmten oder gar verhinderten[167]; zudem war die NSDAP – zumindest in den zwanziger Jahren – daran interessiert, ihre Gefolgsleute in der Justiz nicht bekannt werden zu lassen[168].

Folgt man Befragungen, die nach 1945 durchgeführt wurden, so war die Quote von NSDAP-Mitgliedern in der Weimarer Richterschaft verschwindend gering. Im Oberlandesgerichtsbezirk Hamm zum Beispiel wollten von 613 Richtern nur neun vor 1933 der NSDAP angehört haben[169]. Zeitgenössische Quellen revidieren indessen dieses Bild: So zählten nach dem Personalverzeichnis des Kölner Landgerichts von 1936 von 60 Richtern vier bereits vor 1933 zu den »Parteigenossen«. Zwei davon waren der NSDAP sogar beigetreten, als das Verbot der NSDAP-Mitgliedschaft für preußische Justizbeamte vom 9. Juli 1930 noch in Kraft war[170]. Angesichts zahlreicher »stiller« NSDAP-Mitglieder in der Justiz vor 1933 und der Tatsache, daß die Kölner Richter im Dritten Reich als weit weniger »zuverlässig« galten als ihre Hammer Kollegen, erscheinen die nach 1945 gewonnenen Zahlen doch korrekturbedürftig.

Auch die Mitgliederliste des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) vom 1. Januar 1931[171], obwohl sie vielen als sicherer Indikator für die Anfälligkeit bzw. Resistenz der Richter gegenüber der NSDAP gilt[172], löst das Problem nicht. Sie weist unter insgesamt 234 – zumeist zur Rechtsanwaltschaft gehörigen – BNSDJ-Mitgliedern drei Amtsgerichtsräte, sechs Landgerichtsräte, einen Landgerichtsdirektor sowie fünf Gerichtsassessoren und einen Richteramtsanwärter aus. Bei 29 der in der Liste aufgeführten Mitglieder fehlen die Berufs- und Namensangaben. Bekannte Mitglieder der NSDAP