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Die unter 75jährigen Deutschen kennen Krieg und Kriegsende nicht mehr aus eigenem Erleben. Doch traumatische Kindheits- und Jugenderinnerungen werden viele über 75jährige "wohl bis ans Lebensende verfolgen". Als Zeitzeugen haben sie den jüngeren Generationen zu übermitteln, was Krieg und Hass zwischen den Völkern an zerstörerischen Kräften bis in das Einzelschicksal hinein bewirken. Die Enkelgeneration reist heute per Rucksack quer durch Europa und kann sich kaum noch vorstellen, was vor 60 Jahren in diesem Europa Schreckliches geschah. Die Zeitzeugen wollen diese Jugend mahnen: Im heutigen Europa darf sich ein solches Drama nicht wiederholen!
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Seitenzahl: 537
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Jürgen Ruszkowski
Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern
Wir zahlten für Hitlers Hybris
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Prolog zum Thema Kriegsende 1945
Panzergrabenbau im Herbst 1944 in Ostpommern
Die letzten Wochen in der Heimat
Flucht auf Fahrrädern von Hinterpommern gen Westen
Ragnit bei Tilsit 1944/45
Mit Pferd und Wagen von Ostpreußen bis Lübeck
Als Kind in Stettin im Bombenkrieg und Flucht aus Pommern
Flucht per Treck aus Zoldekow / Hinterpommern
Flucht aus Köslin über Kolberg und die Ostsee
Flucht der Familie Guth aus Lüttmannshagen / Pommern
Flucht aus Hammer/Hinterpommern in letzter Minute
Flucht aus Dischenhagen / Hinterpommern im März 1945
Flucht aus Rörchen / Hinterpommern
Flucht aus Gnesen
Zwölf Jahre Zwangsarbeit unter Russen und Polen
In der Falle in Hinterpommern
Ich war erst zehn – Erlebnisse in Ostpommern ab März 1945
Kriegsende in Groß-Tuchen / Hinterpommern
Einmarsch der Roten Armee und Vertreibung
Fluchtversuch – Vertreibung Pommern 1945
Ich war kaum fünf! – Vertreibung aus Großtuchen
Flucht und Vertreibung aus Christinenberg (Pommern)
Nach Kriegsende zurück in Rörchen
Heimkehr nach Christinenberg/Pommern
Lübzin am Dammschen See (Pommern) Ab März 1945
Mit 16 Volkssturm und in die Gefangenschaft
Keinen Augenblick vor Gewalttaten sicher
Kriegsende 1945 in Bremen
Kriegsende 1945 in Schwerin (Mecklenburg)
Kriegsende 1945 in Graal-Müritz (Meckl)
Endstation Sedanplatz in Grevesmühlen
Flucht aus Elbing nach Mecklenburg:
Bombenangriff auf Dresden am 13./14.Februar 1945
Kindheitserinnerungen an das Kriegsende in Schlesien
Erinnerungen an die Vertreibung aus Schlesien
Vertreibung aus Weigelsdorf / Schlesien 1946
Amerikanische Kriegsgefangenschaft 1945
Kriegsende 1945 und Gefangenschaft
Kriegsende als Seemann an Bord
Zeittafel – Ende des 2. Weltkrieges – Ostfront
Weitere Informationen
Maritime gelbe Buchreihe „Zeitzeugen des Alltags“
Impressum
Vorwort
des Herausgebers zu diesem Buch
1945 – ein schicksalschweres Jahr in ganz Europa und weiten Teilen der übrigen Welt, das Millionen von Menschen über Jahre oder Jahrzehnte ihres weiteren Lebens stark beeinflusste, soweit sie es überhaupt überlebten, und das bei vielen Menschen traumatische Prägungen für ihr ganzes Leben hinterließ. Nur die über 75jährigen Menschen können sich noch persönlich an den 2. Weltkrieg, sein Ende und die unmittelbaren Nachkriegsmonate erinnern. Für die Nachfolgegenerationen sind jene Ereignisse bereits Geschichte.
Viele kluge Bücher sind über diese Zeit schon erschienen und füllen ganze Regale. Ein Standardwerk ist z. B. Jürgen Thorwalds „Die große Flucht / Es begann an der Weichsel“. Auch Peter Bamm hat uns auf den letzten Seiten seines Bestsellers „Die unsichtbare Flagge“ oder am Schluss seiner Autobiographie „Eines Menschen Zeit“ treffende Einblicke in jene Zeit hinterlassen. In der Reflexion seiner sowjetischen Kriegsgefangenschaft „...und führen, wohin du nicht willst“ hat Professor Helmut Gollwitzer die Schrecknisse der Niederlage Deutschlands für die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion analysiert, von denen mindestens 1,3 Millionen nicht überlebten. Noch 1998 veröffentlichte Heinz Schön viele Zeitzeugenberichte in „Im Heimatland in Feindeshand“. Nun noch ein Buch?
Die Zeitzeugen sterben nach und nach aus. „Mutter, wenn du es nicht aufschreibst, wie es damals war, hat schon die nächste Generation unserer Familie keine Ahnung mehr von dem schrecklichen Geschehen!“ Marianne Pletzer nahm sich die Mahnung ihrer Tochter zu Herzen und schrieb sich die belastenden Erinnerungen von der Seele. Inzwischen lebt sie nicht mehr, aber ihre Aufzeichnungen können uns mahnen. Der Herausgeber dieses Bandes war damals gerade 10 Jahre alt. Heute, fast sieben Jahrzehnte später, tauchen die dramatischen Bilder aus jenen Kindheitstagen immer noch vor seinen Augen und denen anderer Zeitzeugen auf. Daher möchte er nach der durch die Deutschen selbst verschuldeten Katastrophe dieses schrecklichen Krieges einige bisher in Buchform noch nicht veröffentlichte Texte einreihen in die bereits vorhandenen Zeugnisse über diese noch unvergessene Zeit, die für unzählige Menschen im Herzen Europas von weichenstellender Bedeutung war.
Die Jahrzehnte sind inzwischen ins Land gegangen. Viele Wunden sind verheilt, mindestens vernarbt. Seit Willy Brandts Kniefall hat sich das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen langsam wieder normalisiert. Kein ernstzunehmender Deutscher will die Grenzen an Oder und Neiße heute ändern. Die Vertriebenen und ihre Nachkommen haben sich in der heutigen Bundesrepublik Deutschland in harter Arbeit eine neue Existenz aufgebaut und denken nicht daran, nach Ostpreußen, Schlesien oder Hinterpommern zurückzukehren – allenfalls als Touristen, um die Stätten ihrer Kindheit noch einmal wehmütig zu sehen.
Soll man alte, inzwischen vernarbte, Wunden heute wieder aufreißen? Sollten wir nicht lieber die Lippen zusammenpressen und schweigen, über das, was da Furchtbares geschah? Liefern die in diesem Buch vorgestellten Zeitzeugenberichte nicht den ewig Gestrigen und unbelehrbaren Kahlköpfen Argumentationsmaterial? 67 Jahre danach können die, die die Zeche bezahlen mussten, die Hitler ihnen eingebrockt hatte, die Erlebnisse nicht verdrängen. „...da ich’s wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine durch mein tägliches Heulen.“ (Psalm 32,3) Es hat keinen Zweck, das Geschehene unter den Teppich zu kehren. Nur nach einer ehrlichen Aufarbeitung ist ein gemeinsamer Weg in einem neuen Europa möglich.
Dieses Buch wird sicher überwiegend von älteren Menschen gelesen werden, erfreulich wäre es jedoch, wenn auch die Enkel sich für das Thema interessieren würden. Mögen diese Zeitzeugenberichte heutige und künftige Generationen immer wieder ermahnen, durch Umsicht und Vernunft Aggression und Krieg zu meiden und ein friedliches Miteinander im Umgang der Menschen und Völker zu fördern.
Allen, die an der Erstellung dieser Zeitzeugensammlung mitgewirkt haben, die von ihren Erlebnissen berichteten, die Texte ins Internet gestellt und somit zugänglich gemacht hatten, die sich mit der Veröffentlichung in diesem Buch einverstanden erklärten, sei herzlich gedankt, ebenso Herrn Jochen Esdohr (†) für das Korrekturlesen, das er trotz großer Bedenken zur Veröffentlichung einiger der Texte übernahm.
Prolog zum Thema Kriegsende 1945
von Jürgen Ruszkowski
Im Frühjahr 1945 kam der von Hitler angezettelte böse Krieg an sein bitteres Ende und brachte das Elend, das man vorher anderen Völkern bereitet hatte, mit aller Gewalt über die Deutschen. Die Rache der Sieger war schrecklich.
Nicht nur bei den Russen hatte die beim deutschen Rückzug betriebene Taktik „Verbrannte Erde“ Wut und Rache den Deutschen gegenüber ausgelöst. Die Deutschen hatten ab 1941 die russischen Kriegsgefangenen als „Untermenschen” zu Zehntausenden verrecken lassen. Von Stalingrad bis an den Bug waren die Rotarmisten über die Leichen ihrer russischen Brüder hinweggeschritten. – Auch die Polen rächten sich in den ihnen 1945 als Ersatz für die im Osten nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 von der Sowjetunion einverleibten Landesteile nun zugeteilten deutschen Ostgebieten an den Deutschen, was ihnen die Deutschen seit 1939 angetan hatten. Himmler am 22. August 1939: „Polen wird von der Landkarte der Nationen verschwinden. Was im rückwärtigen Heeresgebiet passiert, wird vermutlich nicht die Zustimmung der Generalität finden. Deshalb soll die Armee nicht an der Liquidierung der polnischen Berufssoldaten und der Juden beteiligt werden. Dies wird Aufgabe der SS sein...” Die SS habe „grundsätzliche Aufgaben zu erfüllen: Sie hat sicherzustellen, dass Polen niemals wieder aufersteht. Deshalb muss der polnische Adel, die polnische Intelligenz vom Lehrer bis zum Wissenschaftler ausgerottet werden. Zugleich sollten die Polen auf den Stand von Heloten, von Untermenschen zurückgeführt werden. Sie hat sofort Vorausmaßnahmen gegen die drei Millionen polnischen Juden zu ergreifen.” (André Brissaud: „Canaris“) „Nach Himmlers, Bormanns und Greisers Plänen sollten nur diejenigen Polen im Warthegau und polnischen Generalgouvernement bleiben dürfen, die untergeordnete Arbeit verrichteten. Sie sollten ohne Schulbildung bleiben und als Menschen zweiter Klasse beachtet und behandelt werden. Und so war es geschehen... Die Austreibung der Polen war in der ersten Zeit brutal gewesen, rücksichtslos, überstürzt, ohne Bedacht auf Menschlichkeit und Menschenleben; durchgeführt oder geleitet von landesfremden SS-Kommandos...“ (Jürgen Thorwald: „Die große Flucht”). Kein Wunder, dass in Russen, Polen und Tschechen bei Kriegsende ein ungehemmter Revanchismus den Deutschen gegenüber wütete. Verbrechen wurden also auf beiden Seiten verübt. – Aber nicht nur die Schuldigen zahlten!
Das Drama hatte bereits 1914 mit der Entfesselung eines industrialisierten Krieges im romantisch-pubertären Rausch eines halbstarken Männlichkeitswahns begonnen. Der Zweite Weltkrieg wird von vielen Historikern als Fortsetzung des Krieges von 1914/18 angesehen. Das „Friedensdiktat“ von Versailles legte den Keim zum zweiten Teil des Weltkrieges mit seinen noch weitaus dramatischeren Folgen für Deutschland. Das aus Versailles resultierende wirtschaftliche und parteipolitische Chaos im Deutschland von Weimar führte dazu, dass die Partei des Adolf Hitler an die Macht kam, die diese durch demokratische Wahl errungene Macht dann skrupellos missbrauchte und das deutsche Volk nach anfänglichem Siegesglanz in große moralische Schuld und in die bitterste Not seit dem 30jährigen Krieg führte.
Der von Sozialisten und Liberalen als Erzreaktionär gesehne Reichsgründer Otto von Bismarck war durchaus kein Friedensengel und auch kein Freund der Polen. Er scheute vor Kriegen nicht zurück, war jedoch zu einem klugen und vorsichtigen Außenpolitiker geworden, der immer vor Zweifrontenkriegen gewarnt und Deutschlands empfindliche Lage zwischen den anderen europäischen Großmächten realistisch einkalkuliert und ausbalanciert hatte. Das Deutsche Reich hatte unter seiner Kanzlerschaft die größte Ausdehnung erreicht, die große Landesteile mit polnisch-deutscher, französisch-deutscher und dänisch-deutscher Mischbevölkerung umfasste. Alle diese Gebiete verlor das Deutsche Reich nach dem missglückten Abenteuer des Ersten Weltkrieges. Die Verluste an Menschen, die Kriegszerstörungen, die deutschen Gebietsverluste und die Nachkriegsnot nach 1918 waren bitter, jedoch gegenüber denen nach 1945 von weitaus geringerem Umfang.
Christian Graf von Krockow zitiert in seiner Bismarck-Biographie den französischen Publizisten Ernest Friedrich Strauß. Bereits bei der Annexion des ursprünglich deutschvölkischen Elsass-Lothringen nach dem Sieg der Deutschen über Frankreich von 1871 habe dieser die Deutschen gewarnt: „...diese Politik wird euch zum Verhängnis werden. Die vergleichende Philosophie, die ihr geschaffen und zu Unrecht auf das Feld der Politik übertragen habt, wird euch übel mitspielen. Die Slawen werden sich dafür begeistern; ... wie könnt ihr glauben, die Slawen würden euch nicht zufügen, was ihr andern antut? ... Wenn eines Tages die Slawen Anspruch auf das eigentliche Preußen, auf Pommern, Schlesien und Berlin erheben werden, und zwar deswegen, weil alle diese Namen slawischen Ursprungs sind, wenn sie an Elbe und Oder das tun, was ihr an der Mosel getan habt, wenn sie auf der Karte den Finger auf die wendischen und obotritischen Dörfer legen, was werdet ihr dann zu sagen haben? Nation ist nicht gleich Rasse.“
Die Nationalsozialisten waren nicht zufrieden mit ihren Erfolgen bei der Korrektur der schlimmsten Auswirkungen des Friedensdiktats von Versailles. Hitlers Gier nach „Lebensraum“ im Osten, sein Rassenwahn und seine Herrenmenschenideologie führten das deutsche Volk ins Verderben. Wie schnell waren seine Ängste vom „Volk ohne Raum“ nach wenigen Jahrzehnten überlebt. Heute ist das viel kleinere Deutschland eher ein Raum ohne Volk, in dem die durch eine Hormonpille hervorgerufene ungesunde Bevölkerungsstruktur nur durch Einwanderung von außen zu lösen zu sein scheint.
Viele waren dem Rattenfänger aus Braunau auf den Leim gegangen und seinen teuflischen Parolen blind gefolgt, waren zu seinen „willigen Vollstreckern“ geworden. Doch Gottes Mühlen mahlten – langsam, aber sicher. Wie heißt es doch schon im 73. Psalm des alten Buches der Juden und Christen, das unsere europäische Kultur so wesentlich prägte?: „...ihr Herz quillt über von bösen Plänen, ihre Reden sind voll Spott und Verleumdung, sie machen große Worte, um die Leute einzuschüchtern, ihr aufgerissenes Maul reicht an den Himmel, ihre böse Zunge schleift über die Erde. Darum laufen ihnen die Leute nach und können nicht genug bekommen von ihrem Geschwätz... Über Gottes Gebote setzen sie sich hinweg. Sie häufen Macht und Reichtum, und keiner hindert sie... Ich mühte mich ab, das alles zu verstehen, aber es war mir zu schwer... Da erkannte ich, wie es mit ihnen ausgeht: Du stellst sie auf schlüpfrigen Boden; Du verblendest sie, damit sie stürzen. Ganz plötzlich ist es mit ihnen aus. Sie nehmen ein Ende mit Schrecken.“
Von Anfang der Nazi-Diktatur an gab es aber auch in Deutschland weitsichtige kritische Geister, die das chaotische Ende der Abenteuer eines Adolf Hitler voraussahen. General Beck war deren einer. Er meinte 1937 gegenüber Admiral Canaris: „Der Bann, den Hitler auf das deutsche Volk ausübt, müsste gebrochen werden.“ Canaris entgegnete: „Das ist leichter gesagt als getan... Die öffentliche Meinung ist mit überwältigender Mehrheit auf der Seite Hitlers. Wie kann man dem deutschen Volk, das vom Frieden beseelt ist, klarmachen, dass die Pläne Hitlers das deutsche Volk auf die Schlachtbank führen? ... Da bleibt also, so werden Sie mir sagen, noch die Wehrmacht. Ich bin skeptisch.“ 1938 äußerte General Beck: „Es stehen hier letzte Entscheidungen über den Bestand der Nation auf dem Spiel. Die Geschichte wird diese Führer [der Wehrmacht] mit einer Blutschuld belasten, wenn sie nicht nach ihrem fachlichen und staatspolitischen Wissen und Gewissen handeln. Ihr soldatischer Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihr Wissen, ihr Gewissen und ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbietet. Finden die militärischen Führer aber kein Gehör für ihre Warnungen und Ratschläge, dann haben sie vor dem Volk und vor der Geschichte das Recht und die Pflicht, von ihren Ämtern zurückzutreten. Tun sie das geschlossen, so ist ein Krieg unmöglich, und das Vaterland ist vor dem Untergang bewahrt...“ Hans Oster 1938 über die militärischen Führer: „Sie sind unbelehrbar! Nur um „Emil“ (Hitler) gegenüber nicht ungehorsam zu sein, lassen sie sich auf die Schlachtbank führen und sind, soweit notwendig, bereit, Millionen junger Deutscher, das ganze deutsche Volk, mit in dieses Blutbad hineinzuziehen.“ (André Brissaud: „Canaris“) – Wer sich offen gegen die Nazis äußerte, wurde sofort kaltgestellt. „In einer Diktatur ist ein aktiver Widerstand nur durch solche Leute möglich, die den Anschein erwecken, Anhänger dieses Systems zu sein.“ (Heisenberg) Es gab auch immer wieder konkrete Bemühungen bestimmter militärischer Kreise, diesen Hitler zu beseitigen, bevor er Deutschland in das von ihnen schon früh befürchtete Chaos stürzen würde. Männer, wie der Major und spätere General Hans Oster, Hans von Dohnanyi, Dietrich Bonhoeffer, die unter dem Schutz des Admirals Wilhelm Canaris in der von ihm befehligten militärischen Abwehrzentrale gegen Hitler arbeiteten, hatten längst vor dem 20. Juli 1944 versucht, Hitler durch ein Attentat zu entmachten, dem zermalmenden „Rad in die Speichen zu fallen“, aber alle ihre Bemühungen scheiterten immer wieder. So sollte dieser verbrecherische Diktator und sein Gefolge das teuflische Werk der Zerstörung über ganz Europa bis zum bitteren Ende fortführen, bis – wie man immer wieder gesungen hatte - „alles in Scherben“ fiel.
Hitlers Größenwahn und Hybris bezahlten die Völker Europas, insbesondere die Angehörigen des deutschen Volkes selber, mit persönlichen, teils verheerenden Schicksalsschlägen, die bei nicht wenigen für Jahre und Jahrzehnte traumatische Schäden in ihrer Seele hinterließen. Die Schrecken, die die Deutschen über andere Völker gebracht hatten, kamen mit alttestamentarischer Rache auf sie zurück: „Siehe, sie halten des Herren Wort für einen Spott und wollen es nicht... Siehe, ich will ein Unglück über dies Volk bringen, ihren verdienten Lohn, darum, dass sie auf meine Worte nicht achten und mein Gesetz verwerfen... Ihre Häuser sollen den Fremden zuteil werden, samt den Äckern und Weibern... Siehe, es wird ein Volk kommen von Mitternacht und ein großes Volk wird sich erregen vom Ende der Erde, die Bogen und Lanze führen. Es ist grausam und ohne Barmherzigkeit; sie brausen daher, wie ein ungestümes Meer und reiten auf Rossen, gerüstet wie Kriegsleute, wider dich. Wenn wir von ihnen hören werden, so werden uns die Fäuste sinken, es wird uns angst und weh werden.“ (Jeremia 6) „Gott lässt keinen Spott mit sich treiben. Jeder wird ernten, was er gesät hat.“ (Galater 6,7) „Ihr werdet mit demselben Maß gemessen werden, das ihr bei anderen anlegt.“ (Lukas 6,38) - Die Hybris, der Übermut gegenüber dem Schicksal, galt bei den alten Griechen als strafwürdig. Wer im Übermut und Maßlosigkeit die Grenzen für Maß und Harmonie überschritt, zog sich den Zorn der olympischen Götter zu.
Hitlers aggressiver verbrecherischer Rassen- und Größenwahn mit seiner Annexion der Tschechoslowakei und den Überfällen 1939 auf Polen und 1941 auf die Sowjetunion, führte endlich zum Verlust großer, seit etwa dem 11. Jahrhundert von Deutschen besiedelter, kultivierter und kulturell geprägter Gebiete östlich von Oder und Neiße und zur brutalen Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus jenen Gebieten. Die deutsche Zivilbevölkerung in den zerbombten Großstädten und den östlichen Provinzen musste die Suppe auslöffeln, die die nationalsozialistische Führung dem deutschen Volk eingebrockt hatte.
In den letzten Kriegsmonaten flüchteten mehr als 16 Millionen Menschen allein aus Ostpreußen, aus Danzig, Memel- und Sudetenland, Schlesien, Pommern sowie anderen Gegenden, in denen seit Generationen Deutsche gelebt hatten.
Durch die Flucht, durch Misshandlungen, Hunger, Kälte und Erschöpfung oder Erschießen kamen geschätzt 2,5 Mio. Deutsche ums Leben. 3 Mio. Frauen wurden vergewaltigt. Nicht nur Soldaten kamen in Kriegsgefangenschaft, auch Zivilisten wurden zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert, so, wie die Nazis zuvor die polnischen, ukrainischen und russischen „Ostarbeiter“ nach Deutschland geholt hatten: „Die seit geraumer Zeit geplante Verschleppung der deutschen Zivilpersonen begann im Monat Februar 1945; in geringerem Umfang jedoch auch schon Ende Januar. Im März 1945 erreichte die Verschleppung ihren Höhepunkt. In der Regel wurden alle Männer bis zu 60 Jahren erfasst. Dort, wo es nur wenig Menschen gab, wurden auch Frauen verschleppt. Die Verschleppungslager, die von den einzelnen sowjetischen Heeresgruppen eingerichtet wurden, waren Stätten furchtbaren Grauens. Ohne Verpflegung, auf tagelangen Fußmärschen bei bitterer Kälte, wurden die Kolonnen der Zwangsarbeiter zusammengetrieben. Infolge Hunger und Krankheit starben in den Lagern Tausende. In regelmäßigen Abständen fuhren die Verschleppungszüge ab, die durchschnittlich je 2.000 Menschen, zusammengepfercht in wenigen Waggons, auf drei- bis sechswöchigen Fahrten bis an das Eismeer, in den Kaukasus, nach Turkmenien, vorwiegend in den Ural und das Donez- und Dongebiet führten. Die Sterblichkeitsziffern auf den Transporten lagen vielfach bei 10 %. Es wurden insgesamt 350.000 Ostdeutsche verschleppt, von denen bis 125.000 bereits in den Lagern und schließlich auf den Transporten verstarben.“ (Dr. H. E. Jahn: „Pommersche Passion“, Ernst Gerdes Verlag 1964)
Vom Deutschen Reich wurden nach dem zweiten Weltkrieg mehr als 114.000 Quadratkilometer Land annektiert und in polnische und sowjetische Verwaltung übergeben, die deutsche Bevölkerung nach Westen vertrieben, soweit sie nicht hatte flüchten können. Jahrhundertelange deutsche Siedlungsgebiete auf tschechischem oder urpolnischem Gebiet wurden ethnisch gesäubert.
Die sowjetischen Truppen gingen in den frisch eroberten Gebieten brutal und ohne Rücksicht auf die deutsche Zivilbevölkerung vor. Mag. Rolf-Josef Eibicht: „Es zeigte sich auch bald, dass sich hier nicht die Mordgesinnung einzelner Truppenteile ausgetobt hatte, sondern dass hier grausame Verbrechen mit Wissen und Willen der sowjetischen politischen und militärischen Führung begangen worden waren. Bei den in den Kämpfen gefallenen sowjetischen Soldaten fand man blassbläuliche Handzettel in der Größe etwa eines Briefumschlags, die einen Aufruf des kommunistischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg mit folgendem Text enthielten: »Tötet, tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht! Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft für immer das faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen. Nehmt sie als rechtmäßige Beute. Tötet, ihr tapferen, vorwärtsstürmenden Rotarmisten!«“
„Viele Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen haben sich durch die relativ friedlichen Verhältnisse, die in Danzig und Pommern noch während des Februar 1945 herrschten, verleiten lassen, in diesen Gebieten zu bleiben. Noch mehr gilt das für die einheimische Bevölkerung, von der nur sehr geringe Teile die noch bestehenden Verbindungen nach dem Westen benutzten, um mit der Bahn, zu Schiff oder im Treck in die Gebiete westlich der Oder zu gelangen. Erschwerend wirkte in dieser Beziehung, dass für ganz Pommern und das nördliche Westpreußen die Flucht der Bevölkerung von den Parteibehörden ausdrücklich verboten und teilweise sogar den aus dem Osten kommenden Trecks die Weiterfahrt in Pommern untersagt wurde. Infolgedessen hatte Anfang März, als der russische Großangriff auf Ostpommern und Danzig begann, die Bevölkerung dieser Gebiete keineswegs abgenommen, sondern war durch den Zuzug von Flüchtlingen noch um einige Hunderttausende vermehrt worden. Noch mindestens 2.5 Millionen Deutsche, davon über 25 Prozent Flüchtlinge, befanden sich im nördlichen Teil Westpreußens, im Raum um Danzig und in Ostpommern, und nur ein geringer Teil von ihnen vermochte nach Beginn des russischen Angriffs in den ersten Märztagen nach Westen über die Oder zu gelangen. Insgesamt lebten in Ostpommern und im Reichsgau Danzig-Westpreußen über 3 Millionen Deutsche, davon rund 900.000 in den Gebieten, die bis Ende Januar 1945 von russischen Truppen besetzt waren. Rechnet man, dass ca. 2-300.000 Flüchtlinge aus Ostpreußen, dem östlichen und südlichen Teil Westpreußens, dem Warthegau und den südlichen Kreisen Pommerns sich in dem während des Monats Februar noch unbesetzten Gebiet um Danzig und in Ostpommern aufhielten, so ergibt sich die Zahl von 2,5 Millionen als Mindestzahl für die Anfang März im unbesetzten Teil Pommerns und Danzig-Westpreußens befindlichen Deutschen.“
Hier einige Zitate aus dem lesenswerten Buch von Helmut Lindenblatt: Pommern 1945 – Eines der letzten Kapitel in der Geschichte vom Untergang des Dritten Reiches, – ISBN 3-7921-0286-2 - 1984/1993 im Verlag Gerhard Rautenberg, Leer:
„Die sowjetischen Verbände waren aus ihren Brückenköpfen an der Weichsel am 12. Januar auch zum Vormarsch Richtung Oder angetreten und hatten den Strom am 31. Januar bei Frankfurt und Küstrin erreicht, wobei sie etwa 600 Kilometer vorgestoßen waren. Die bereits an der Weichsel schwer angeschlagenen deutschen Truppen konnten diesen Angriff nur wenig verzögern. Dementsprechend fielen in diesem Gebiet besonders viele Deutsche in sowjetische Hand, somit war die Zahl der im Warthegau und im östlich der Oder gelegenen Teil der Mark Brandenburg ermordeten Deutschen besonders hoch. In Ostbrandenburg wurden 35 Prozent der Bevölkerung umgebracht. Jeder vierte Pommer musste sterben.
Der sowjetische Vormarsch endete zunächst an der Oder, weil die Führung der Roten Armee ihre Kräfte für den Angriff auf Berlin neu gruppieren, Reserven heranfahren und die nördlichen und südlichen Flanken in Pommern und Schlesien sichern wollte. Sie richtete ihre Operationen von da ab verstärkt nach Norden, wo ganz Ostpommern zunächst fast völlig unverteidigt war. Es gelang nur mit großer Mühe, diese Frontlücke notdürftig zu schließen. Zu einer der beiden deutschen Armeen, die eine von der Oder bis zur Weichsel reichende Verteidigungslinie bildeten, gehörten nur fünf reguläre deutsche Divisionen. In der Mehrzahl bestand sie aus nichtdeutschen Freiwilligen-Divisionen der Waffen-SS: Skandinaviern der Panzer-Grenadier-Division Nordland, Walloniern der Panzer-Grenadier-Division Wallonie, Holländern der Panzer-Grenadier-Division-Nederland. Im östlichen Teil Pommern wurde die französische SS-Freiwilligen-Division Charlemagne eingesetzt.
In den letzten Februartagen begannen die sowjetischen Armeen - unterstützt von der 1. polnischen Armee - gleichzeitig in Westpreußen und in Ostpommern ihre entscheidenden Angriffe zur Gewinnung der Ostseeküste und zur Besetzung des Landes zwischen dem Unterlauf der Weichsel und dem Unterlauf der Oder. Von Süden nach Norden wurde innerhalb von knapp 14 Tagen ganz Ostpommern in Besitz genommen. Die zwei Hauptstöße der sowjetischen Truppen im Raum Ostpommerns führten einerseits aus dem Raum Friedeberg - Arnswalde nach der Odermündung bei Stettin und weiter nordwärts zur Ostseeküste bei Cammin und andererseits aus dem Raum Schneidemühl - Deutsch-Krone über Neustettin, Bublitz nach der Ostseeküste östlich Köslin. Beide Ziele wurden in kürzester Zeit erreicht, und damit entstand eine für die flüchtende Bevölkerung Pommerns fast aussichtslose Lage. Schon am 1. März standen russische Truppen östlich Köslin an der Ostseeküste, wodurch Ostpommern in zwei Teile gespalten und für alle östlich der Linie Neustettin - Köslin liegenden Kreise die Landverbindung nach Westen abgeschnitten war...
In Kolberg befanden sich etwa 70.000 Zivilisten. Die Stadt wurde von polnischen und sowjetischen Verbänden ununterbrochen angegriffen und ihr Verteidigungsraum immer mehr zusammengedrängt. Er lag unter unaufhörlichem Beschuss der feindlichen Artillerie. Aber trotz hoher Ausfälle verteidigte die schwache deutsche Besatzung Kolberg, um den Abtransport der Flüchtlinge zu ermöglichen, für den Schiffsraum zunächst noch nicht zur Verfügung stand. Erst in der Nacht vom 17. zum 18. März war die Evakuierung der letzten Zivilisten und Soldaten über See möglich. Als die Polen und Sowjets am 18. März in die Ruinen der Stadt eindrangen, waren alle Zivilisten, Verwundeten und noch kampffähigen Soldaten, insgesamt etwa 75.000 Menschen, eingeschifft worden.“
Dr. H. E. Jahn: „Pommersche Passion“, Ernst Gerdes Verlag 1964: „Von der Gesamtzahl der pommerschen Bevölkerung fielen beim Einmarsch der Roten Armee etwa 50 % in die Hände der Sowjets. Es ist festgestellt worden, dass von allen deutschen Ostprovinzen jenseits von Oder und Neiße die planmäßig von den Sowjets angelegten Brände, Zerstörungen usw. in Pommern den größten Schaden hervorgerufen haben... Polen und Russen entluden ihren angestauten Hass in Racheakten über die ihnen ausgelieferten Deutschen in Vergeltungsmaßnahmen, wie sie kaum wiederzugeben sind. Sie alle, ob Mann, Frau oder Kind jeglichen Alters und Standes waren ‚Kapitalisti’ und ‚Faschisti’, die ausgelöscht werden müssten. Wehe dem, der in ihre Hände fiel und sich nicht rechtzeitig hatte davon machen können. Besonders schlimm erging es den alten Leuten, die die Strapazen nicht durchstehen konnten und am Wege liegen blieben. Die letzten Habseligkeiten wurden ihnen genommen, mancher rettete nur sein nacktes Leben. Viele machten ihrem Leben ein Ende, weil sie keinen Ausweg mehr sahen oder ihnen die Kräfte versagten angesichts der Ausweglosigkeit, ein Letztes zu wagen. Nicht zu reden von den Vergewaltigungen, denen sich Frauen und Mädchen unausgesetzt ausgeliefert sahen.“
Die Niederlage Deutschlands 1945 wurde von vielen Deutschen als Gottesgericht angesehen und das Wort des Propheten Jesaja für sich selbst verstanden: „Weh euch, ihr verbrecherisches und schuldbeladnes Volk! ... Euer Land ist verwüstet, eure Städte sind verbrannt; Fremde verzehren vor euren Augen die Ernte von euren Feldern.“
Weil sich kaum ein heutiger Deutscher unter 75 noch an das Kriegsende oder die ehemaligen deutschen Ostprovinzen persönlich erinnern kann, sollte dieser grauenvolle Teil deutscher Zeitgeschichte nicht in Vergessenheit geraten oder tabuisiert werden, sondern uns für die Zukunft mahnen.
Mehr noch als alle objektiven Fakten spiegeln die in diesem Buch vorgestellten persönlichen Erlebnisberichte betroffener Menscen das ganze Ausmaß der Katastrophe von 1945 wider. Bringen wir uns immer wieder in Erinnerung, was die Zeitzeugen uns mahnend mit ihren Berichten vermitteln: Keine Macht den Radikalen! Keine Macht den Kriegstreibern! Kein Revanchismus! Wehret den Anfängen! Die von den Nazis angeprangerte „Dekadenz“ der Demokratien ist in aller menschelnden Politik allemal die bessere Alternative gegenüber Gewaltherrschaft und Diktatur. Nur ein tolerantes Miteinander der Völker in einem gemeinsamen Europa kann uns vor Wiederholungen solcher Verbrechen bewahren.
Panzergrabenbau im Herbst 1944 in Ostpommern
Tausende halbwüchsige Schüler, junge Mädchen und Frauen (auch Mütter von Kindern) wurden im Spätsommer und Herbst 1944 zu monatelangen Schanzarbeiten dienstverpflichtet, um Schützen- und Panzergräben auszuheben, deren Mühen und Strapazen sich letztlich beim Versuch der Abwehr der mit einer Übermacht von 7:1 bei Panzern und 20:1 bei der Artillerie, insgesamt im Verhältnis 11:1 angreifenden sowjetischen Armeen als militärisch völlig sinnlos erweisen sollten. (Siehe Jürgen Thorwald: „Die große Flucht / Es begann an der Weichsel“)
Gerd Brehm (* 1929) berichtet:
Der Einsatz begann gleich in unseren ersten Sommerferientagen 1944, nachdem wir gerade die Prüfungen zur Mittleren Reife hinter uns hatten. Für die Organisation im Bereich Gollnow war der Parteiortsgruppenleiter Fraude verantwortlich. Zusammen mit meinen besten Kameraden, Karlheinz Köhler und Horst Schwarz, Geburtsjahrgänge 1928, beide leben heute in Kanada, bestiegen wir mit unseren von daheim mitgebrachten Spaten und Marschgepäck den in Gollnow eingesetzten Eisenbahnzug in Richtung Osten. Das Ziel war uns noch unbekannt.
Nachdem wir etwa neun Stunden unterwegs waren, stiegen wir auf dem Bahnhof Schönau aus, um dann zum 4 km entfernten Gut Schönau zu marschieren, wo eine riesige Scheune als Lager für uns dienen sollte. Hier trafen wir weitere Schulfreunde, wie die Zwillingsbrüder Götz, Hermann Goetsch aus Röhrchen und Karl Herrmann, den Sohn unseres Direktors und Lateinlehrers, sowie viele andere Bekannte aus der Hitlerjugend von Christinenberg. Wir bezogen die mit Stroh ausgelegte Scheune. Jeder baute sich mit Hilfe seines Gepäcks sein eigenes Strohnest auf dem Erdboden mit Gängen dazwischen. Zuerst waren wir in der Scheune 170 Mann, später sogar ca. 500. Geführt wurde unser Lager durch einen HJ-Bannführer.
Etwa die Hälfte von uns wurde damit beschäftigt, die Bäume, die den künftig auszuhebenden Gräben im Wege standen, zu fällen und die Stubben zu roden. Dann folgten jeweils 500 Mädchen und Frauen, die die Gräben ausschaufelten. Die andere Hälfte der Jungen hatte anschließend die Grabenbefestigungen durch Faschinenbau zu erledigen. Die Faschinen dienten dazu, dass die Gräben nicht wieder zusammenfielen. In dieser Truppe hatten Horst Schwarz, Karlheinz Köhler und ich als 3-Mann-Gruppe einen solchen Ausbau-Auftrag. Die Arbeiten wurden generell durch Soldaten und Forstschutzkommandos geleitet und beaufsichtigt. Unsere Tätigkeit wurde durch uniformierte SA-Leute überwacht. Alles erfolgte von Anfang bis zum Ende in Handarbeit. Es gab keine Maschinen. Die Schützengräben waren gut mannstief und -breit und verliefen im 10-m-Zickzack mit runden Maschinengewehrnestern in kurzen Abständen. Eine bereits vorhandene Bunkerlinie wurde durch die von uns ausgehobenen Gräben miteinander verbunden. Die Wehrmacht versah diese Bunker inzwischen mit Waffen verschiedenster Art. Von einem Teil der Dienstverpflichteten wurden Panzergräben ausgehoben. Diese mussten wegen der Tiefe von etwa 4,5 m und 1 m Sohlenbreite von den Frauen in mehreren Etappen ausgeschaufelt werden, weil es nicht möglich war, die Erde aus solcher Tiefe mit einem Spatenhieb hinauszuwerfen.
Der übliche Tagesablauf: 5 Uhr Wecken, Aufstehen, Waschen, Kaffeeempfang, Morgenappell nach Antreten vor der Hakenkreuzfahne mit Ausgabe der jeweiligen Tagesparole, die sich jeder genau für den ganzen Tag zu merken hatte. 7 Uhr Abmarsch zur Arbeit an den Gräben. Weil die von uns geschaffenen Gräben immer länger wurden, verlängerte sich unsere Anmarschzeit von anfänglich eine auf anderthalb und schließlich zwei Stunden. Die tägliche Arbeitszeit verlängerte sich ohne Wegzeit ebenfalls von anfangs 6 auf später 7 Stunden. Eine Zeitlang wurden wir auch auf Leiterwagen zur Arbeit und wieder zurück gefahren, weil viele von uns fußkrank wurden. Schuhe gab es nur gegen Bezugschein, wenn überhaupt. Mein Vater hatte mir sein Paar mir um einige Nummern zu große Pirschstiefel gegeben, die ich in den Spitzen mit Papier ausgestopft hatte. Oft schwamm abends bei der Rückkehr ins Lager das Blut in diesen wasserdichten Schuhen, so kaputt gescheuert waren die Füße. Man wagte nicht, sich zu beklagen, denn nach den Worten unseres Führers Adolf Hitler mussten Hitlerjungen ja „hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie Windhunde“ sein. Die Wagen mussten ringsum wohnende Landwirte mitsamt Pferden stellen. In den ersten Wochen wurden wir auf den täglichen Rückwegen mit einem Umweg zu einem in Schönau gelegenen kleinen See zum Baden und Waschen befohlen. Später jedoch, als in unserem Lager wegen mangelhafter hygienischer Verhältnisse und schlechter Verpflegung Ruhr-, Diphtherie- und Scharlacherkrankungen auftraten, wurde der See für uns zum Baden wegen der erhöhten Infektionsgefahr verboten.
Wir mussten täglich arbeiten und hatten nur jeden 3. Sonntag frei. Nach der Rückkehr ins Lager am Nachmittag mussten wir nach dem Waschen bei der Austeilung der warmen Mahlzeit anstehen. Oft mussten wir dann noch zu neuen Appellen antreten und in einzelnen Gruppen eine Thingstätte mit halbrunden geschaufelten Sitzgräben, einer Findlingsgruppe mit Fahnenstange und HJ-Emblemen herrichten. Auch einen Kleinkaliber- und Pistolenschießstand für tägliche Schießübungen hatten wir in der Freizeit zu bauen. Ferner gab es in den Abendstunden Musterungen und Werbeveranstaltungen durch Wehrmachts- und SS-Angehörige. Selten war es uns mal vergönnt, einige Stunden in dem schönen Park des Guts auszuruhen. Von Tag zu Tag wurde das Stroh in unserem Scheunenlager immer mehr zu Staub zertreten. Dieser Staub löste bei mir immer mehr Atembeschwerden aus, so dass ich, sofern es die Witterung erlaubte, nachts unter freiem Himmel in einem nahen Wäldchen hinter unserer Thingstätte schlief. Karlheinz Köhler resignierte: „Hier in diesem Lager wasche ich mir nie die Füße!“
In den ersten drei Wochen durfte niemand nach Hause schreiben. Wir sollten Feldpostnummern bekommen, damit die neu entstehenden Stellungen nicht durch Angabe des Aufenthaltsortes bekannt werden konnten. Wir bekamen jedoch keine Feldpostnummern und durften jetzt unter folgender Absenderadresse an die Eltern schreiben: HJ-Inspektion D, Platz 16 (VIII), Baldenburg in Pommern. Weil aber gerade in den ersten Wochen die Verpflegung sehr schlecht und mangelhaft war, griffen wir unterwegs zu rohen Zuckerrüben und Kartoffeln, die wir an den Schützengräben rösteten. Zur Nacht-Lagerwache, die alle zwei Stunden abgelöst wurde, meldeten wir uns gerne, weil wir dann im Garten des Gutes Obst klauen konnten. Nach der Briefflut trudelte etwa 10 Tage später eine Paketflut von den Eltern im Lager ein. Obwohl jeder von uns von den Eltern beim zuständigen Bürgermeister mit dem Tage der Einberufung vom Lebensmittelkartenbezug abgemeldet werden musste, hatten sich unsere Familienangehörigen Kuchen, Brot, Wurst und Obst von ihren nicht gerade üppig bemessenen Rationen abgespart. Ganze Leiterwagen voller Pakete trafen dann jeden Tag ein. Fast jeder überfraß sich erst einmal, wie auch ich: In der einen Hand den Kuchen, in der anderen die Wurst, zwischendurch einen Apfel. So hockte jeder über seinem Paket, dabei auch noch den beiliegenden Brief lesend. Ich habe mich anschließend so übergeben müssen, dass ich mir geschworen habe, mich nie wieder zu überfressen. Die Kartons schickten wir dann mit schmutziger Kleidung wieder zurück.
Die extreme Hitlerdiktatur verlangte von uns die rücksichtslose Preisgabe aller unserer körperlichen Kräfte und unseres persönlichen Eigentums: „Einer für alle!“ Niemand konnte sich dagegen auflehnen. Eine Entlohnung für den Einsatz gab es nicht. Selbst für Brief- und Paketporto mussten uns unsere Eltern Geld schicken. Unsere selbst finanzierten und auf Kleiderkarte beschaffte HJ-Uniformen, die wir wegen der Kälte oft nachts nicht auszogen und darin schliefen, trugen wir bei der Schinderei in den Schützengräben auf. Kaufläden gab es weit und breit nicht. Später kam ein fahrender Bäcker dreimal wöchentlich in das 2 km entfernte Dorf Schönau, bei dem wir mit den von den Eltern geschickten Markenabschnitten etwas zusätzlich zur schmalen Kost kaufen konnten. In dieser für uns monotonen und entbehrungsreichen Zeit drehte sich in unserer Post an die Eltern alles nur ums Essen. Nur wer einen stabilen Koffer hatte, konnte seine Lebensmittelportionen vor Mäusen schützen. Meine Eltern schrieben mir immer wieder Verhaltensmaßregeln, besonders im Hinblick auf die Erhaltung der Gesundheit. Aus ihren Briefen erfuhr ich auch von den verheerenden Bombenangriffen auf Stettin und die Folgen für unser Haus, in dem für aus Stettin evakuierte Landesforstamts- und Holzwirtschaftsamts-Dienststellen Räume requiriert wurden.
Bei den Schanzarbeiten traf ich auch unseren Erdkundelehrer Linemann und viele Mädchen aus Christinenberg.
Es gab immer wieder Gerüchte, der Einsatz dauere nur 14 Tage oder ginge wirklich bald zu Ende, oder wir würden durch andere Hitlerjungen abgelöst. Dann hieß es plötzlich, alle könnten vom 12. bis 17. Oktober nach Hause in Urlaub fahren, zwei Tage würden für An- und Abreise gerechnet und vier Tage als Urlaub! Ein Sonderzug wurde für uns eingesetzt. Weil ich meinen Spaten wegen gänzlich anderer Arbeiten nie gebraucht hatte, nahm ich ihn mit nach Hause. Zu Hause angekommen, musste ich mich mit den inzwischen veränderten Wohnverhältnissen erst vertraut machen. Vom Christinenberger Bürgermeister musste ich mir für die vier Tage Lebensmittelmarken aushändigen lassen. Darauf gab es 1390 g Brot, davon 850 g Roggenbrot, 150 g Fleisch, 85 g Butter, 40 g Margarine, 100 g Marmelade, 100 g Zucker, 75 g Nährmittel, 40 g Kaffeeersatz, 30 g Käse.
Nach dem Urlaub ging alles im alten Trott weiter. Jedoch bezogen wir wegen zunehmender Nachtkälte einen leer gemachten großen Speicher und teilten ihn mit Strohgarben in Buchten für je vier Mann ab. Jede Bucht bekam eine einfache Lampe. Von nun an konnte man bei länger werdender Abendzeit mal lesen oder schreiben. In der Mitte des Speichers wurde ein Kohleofen installiert. Wintersachen hatten wir uns von zu Hause mitgebracht.
Von den etwas Älteren unter uns wurden etliche zum Reichsarbeitsdienst einberufen und kehrten zunächst schnell erst nach Hause zurück. Es wurden auch immer mehr Bauernsöhne reklamiert, deren Väter zum Wehrdienst einberufen worden waren, und deren Mütter nicht alleine mit der Landwirtschaft fertig werden konnten. Es kam jetzt auch vor, dass einzelne Eltern ihre Söhne im Lager besuchten. Von meinen Eltern erfuhr ich, dass eine Klassenkameradin, deren Vater in Hornskrug Partei-Ortsgruppenleiter war, ein meinem Vater unterstellter Revierförster, sowohl vom Osteinsatz als auch vom Kartoffelernteeinsatz befreit war. Diese Leute nahmen sich meist rücksichtslos ihre Sonderrechte.
Einmal durften wir in Schönau geschlossen einen Film sehen: „Wunschkonzert“. Es wurde uns auch die Wochenschau gezeigt, in der über die „V1“-Raketen berichtet wurde, deren Flüge wir von unserem Lager aus verfolgen konnten. Auch über unseren Schanzeinsatz berichtete diese Wochenschau.
Mitte September hinderte uns der Frost bereits daran, Spaten und Schaufeln in die Erde zu treiben. Ein Sonderzug brachte uns am 22.11.1944 von unserem Osteinsatz heimwärts.
Die letzten Wochen in der Heimat
– auf dem Forstamt Pütt und in Christinenberg – 1945
Gerd Brehm (* 1929) berichtet:
Am 22.11.1944 kehrte ich vom Osteinsatz heim. Am nächsten Tag meldete ich mich in der Schule. Von unseren Jungen erschien keiner außer mir, nur die etwa 20 Mädchen meiner Klasse. Weil ich der jüngste war, hatte ich noch keinen Einberufungsbefehl zum Wehrertüchtigungslager oder als Flakhelfer oder Reichsarbeitsdienstmann oder als Soldat. Unser Direktor befahl uns zur Arbeit in der Druckerei der Pommerschen Zeitung in Gollnow, wo die Mädchen und ich zum Drucken von Lebensmittelmarken angelernt wurden: Arbeitszeit täglich 8 Stunden. Ca. 2 Wochen später befahl mich mein Schuldirektor zu sich und teilte mir mit, dass ich ab sofort zum Volkssturmdienst verpflichtet werde, nämlich als Ersatz für meinen Vater (* 1894, wegen einer Kriegsverletzung aus dem 1. Weltkrieg wehruntauglich), der angeblich für den Volkssturmdienst dienstlich unabkömmlich sei. Er sagte weiterhin, dass mit dem Heranrücken der Ostfront der Volkssturm aufgestellt werden müsste, und dass er der Bataillonsführer für Abteilung Gollnow-Stadt sei und mein Vater zum Bataillonsführer Gollnow-Land ernannt werden sollte.
Ab sofort mussten wir unseren neu geschaffenen Spielkellerraum unter der Küche als Volkssturmwachlokalraum hergeben. Ein Wehrmachtsunteroffizier veranstaltete für etwa 70 Jahre alte mir bekannte Bauern aus Christinenberg und mich eine 30 Minuten-Ausbildung an einer Maschinenpistole und Panzerfaust mit Probeschuss hinter unserem Wohnhaus, wobei durch den Rückstoß der Panzerfaust unsere Badezimmerscheibe zerdrückt wurde, obwohl wir beim Abschuss mindestens 80 m entfernt vom Wohnhaus standen.
Die ersten 4 Wochen tat ich Dienst im 12stündigen Wechsel in einem 8 km entfernten Schrankenwärterhäuschen an der Straße Christinenberg - Gollnow. Inzwischen wurde in der Straßenkurve bei Pütt aus riesigen stählernen Schneepflügen, die ineinander verkeilt mit Stahlseilen an beiderseits der Straße stehenden dicken Kiefern verankert wurden, eine Panzersperre mit schmaler Slalomdurchfahrt gebaut, wobei beiderseits auch noch ein 4 m breiter Panzergraben parallel zur Straße ausgehoben wurde. Etwa am 20. Januar 1945 wurde ich zum Dienst vor Pütt an diese Panzersperre abkommandiert mit zwei alten Männern pro 12-Stunden-Schicht im Tag/Nacht-Wechsel. Wir hatten den gesamten Straßenverkehr, ob Wehrmacht, ob jetzt schon pausenlos aus Ostpreußen herkommende Flüchtlingstrecks auf Partisanen zu kontrollieren. Mit Koks aus unserem Heizungskeller (unsere Zentralheizung funktionierte nie in unserer Zeit) in einem großen durchlöcherten Blechfass wärmten wir uns zwischendurch immer wieder auf. Einen Teil der Scheune mussten wir für Reichsarbeitsdienstausrüstungslagerung abgeben, den anderen für SS-Einquartierung.
Die Trecks von Flüchtlingen aus Ost- und Westpreußen, Litauen und Estland rollten pausenlos bei Tag und Nacht an unserem Haus vorbei. Weil wir einen großen Stall und eine große Scheune auf dem großen Hofgelände hatten, gab es immer wieder große Anfragen wegen Nahrungsmitteln und Milch für Flüchtlingskinder, Unterkunft und Pferdefutter.
Die Front rückte von Osten immer näher heran. Jetzt begann auch Vater schon damit, mit uns zusammen darüber nachzudenken, was wir machen sollten: flüchten oder hier bleiben. Anfang Februar 1945 entschied sich Vater für einen Bunkerbau ca. 1,3 km von Pütt entfernt im Wald am Rand eines Hügels. Von nun an bauten unser Stellmacher Köpp, der französische Kriegsgefangene Capedeville, Harm und ich aus Kiefernstammhölzern einen großen Erdbunker in G-Form in den Hügel und tarnten ihn gut. In dieser Zeit machte ich darum nur Nachtdienst.
Vorsichtshalber ließ Vater aber doch unser Auto, das im Kriege dienstlich für Vater zugelassen war, aber über ein halbes Jahr zum Benzinmarkensparen (pro Monat gab es nur 20 Liter auf Marken zugeteilt) nicht benutzt wurde, von dem Waldarbeiter Drozd mit Hilfe seiner Pferde zur Autowerkstatt Schirmer in Christinenberg ziehen. Einige Tage später holte der Chauffeur C. den Wagen voll funktionsfähig bei hohem Schnee ab und stellte ihn in die Garage. Tank und einige Blechkannen waren mit Benzin gefüllt. Einige Stunden danach - die SS-Soldaten hatten das Auto kommen sehen - beschlagnahmte ein Offizier das Auto. Vater verweigerte aber die Herausgabe des Zünd- und Lenkungsschlüssels. Harm und ich wurden auf dem Hof immer wieder mit den Worten bedroht: "Sagt Eurem Vater, dass er den Schlüssel hergibt, oder wir werfen eine Handgranate in Euer Auto!" Einige Stunden beschäftigten sich zwei Soldaten damit, die Zündung kurzzuschließen und am Lenkungsschloss mit einem dicken Hammer herumzuschlagen, aber vergebens. Der Abmarschbefehl für diese kleine SS-Einheit kam in der nächsten Nacht so plötzlich, dass sie ihr Vorhaben in keiner Weise ausführen konnten. Nun war unser Auto aber wieder defekt und musste abermals in die Werkstatt gezogen werden. Sicherheitshalber holte Capedeville es bei Nacht wieder ab.
Die Flüchtlingswelle wurde immer stärker. In jeder Nacht nahmen wir eine Forstbeamtenfamilie auf. Diese Familien kamen in den meisten Fällen ohne Männer, die entweder Soldat waren oder auf der Flucht auseinandergerissen waren. Es sprach sich unter den Flüchtlingen herum, dass ein Zurückbleiben unter den Russen lebensgefährlich werden kann bei der Gefahr der Ermordung oder Verschleppung nach Sibirien. Auch Vater und Mutter bekamen jetzt Bedenken, die Kampfhandlungen und die Besetzung durch Russen in unserem fertiggestellten Bunker überdauern zu wollen. So etwa um den 20. Februar herum hörten wir das Herannahen des Geschützdonners der Front von Osten her zum ersten Mal. Es dröhnte von Tag zu Tag immer lauter. Tieffliegerangriffe der Russen, hauptsächlich auf die endlosen wehrlosen Flüchtlingstrecks auf unserer Straße gerichtet, wurden immer häufiger. Vater und Mutter sortierten jetzt schon allmählich das Wichtigste für die Flucht. Der Stellmacher Köpp, Harm und ich zimmerten zwei Holzkisten mit verschließbaren Deckeln zusammen. Jede Kiste versahen wir mit einer vollgummibereiften Achse unserer 4-rädrigen sog. "Holländer" und mit einer wie ein Sägebügel gespannten Deichsel aus Haselnussholz. So hatten wir dann zwei provisorische Fahrradanhänger.
Am 23.2.1945 erhielt ich als 15 ¾ jähriger die Einberufung zur Wehrmacht. Ich sollte mich am 1.3. in der Kaserne in Wiek auf der Insel Rügen einfinden. Erkundigungen beim Bahnhofsvorsteher Frömming in Christinenberg ergaben aber, dass ein pünktliches Erscheinen dort wegen der durch Luftangriffe unterbrochenen Eisenbahnstrecken überhaupt nicht gewährleistet war. Ich behielt den Bescheid bis zum 1.3. zurück und schickte ihn dann per Post nach Naugard, unserer Kreisstadt, 36 km nördlich von Pütt, zurück mit dieser Begründung. Weil die Russen um diese Zeit durchschnittlich 12 km pro Tag weiter nach Westen voranrückten, erledigten sich Zwangsmaßnahmen gegen meine Nichtbefolgung des Stellungsbefehls von alleine.
Harm und ich sahen unsere besten Fahrräder noch einmal durch und machten sie fahrtüchtig mit allerbesten Teilen auch von anderen Fahrrädern und stellten sie mit den Anhängern zu unserem Auto in die Garage. In der letzten Woche vor der Flucht hatte ich Nachtdienst an der Panzersperre, somit bei Tage auch Zeit, die Fahrradanhänger und das Auto zu beladen. Nachts schlief unser Chauffeur zur Bewachung auf einer Matratze neben unseren Fluchtfahrzeugen in der von innen verriegelten Garage, denn es musste stark mit Einbruch durch in Not geratene Flüchtlinge auf der Suche nach Lebensmitteln und Futter für Pferde gerechnet werden.
Am Montag, dem 5. März 1945 mittags, hatten wir das Gefühl, dass die Russen höchstens 10 km entfernt von Pütt waren. Das Telefon ging schon nicht mehr. Der elektrische Strom war für uns schon unterbrochen. Wir wohnten ca. 1 km vom Dorfrand entfernt ganz allein im Walde. Die Eltern beauftragten mich, mit dem Fahrrad noch im Dorf auf Lebensmittelmarken soviel wie möglich einzukaufen, Geld von der Sparkasse abzuheben und beim Bürgermeister eine schriftliche Genehmigung zu holen, damit der französische Kriegsgefangene Capedeville als Chauffeur ohne Bewachung unser Auto auf der Flucht in Richtung Westen fahren darf. Ich erschreckte mich im Dorf sehr darüber, dass ich keinen Zivilisten mehr antraf, sondern nur deutsche Soldaten, die sich in den verlassenen Lebensmittelgeschäften mit Essbarem versahen. Dieses tat ich auch und stopfte beim Bäcker, Fleischer und Kaufmann alle meine Einkaufstaschen voll. Geld erhielt ich auch nicht mehr, desgleichen auch nicht die Bescheinigung. Die Dorfbewohner waren schon alle auf der Flucht und schon längst an Pütt vorbeigezogen, nachdem sie sich in die endlosen Flüchtlingstrecks einreihen mussten. Als ich in die Hauptstraße zu uns einbog, kamen gerade russische Tiefflieger über der Straße entlang, dabei immer in die Trecks hineinschießend. Zuerst schmiss ich mich samt Fahrrad in den Straßengraben, und dann benutzte ich einen Schleichpfad durch eine Schonung nach Pütt zurück.
Vater traf sofort nach meinem Eintreffen mit der Nachricht, dass unser Dorf schon unterwegs sei, die letzten Vorbereitungen. Es war also seit mindestens 3 Wochen ausgehandelt, dass Vater, Harm und ich auf Fahrrädern und Mutter mit Jörg, Kuno und dem Chauffeur in unserem Auto auf die Flucht gehen werden, wenn auch getrennt voneinander. Unsere Devise war, soviel Gepäck wie möglich zu retten. Sieben Personen hätten ja auch ins Auto gepasst, aber die Mitnahme von Gepäck wäre fortgefallen. Vater hatte zwei Landkarten fertiggemacht, eine für uns, eine für Mutter, auf welchen er die für Übernachtungen in Frage kommenden Forsthäuser rot unterstrichen hatte, verteilt über Vorpommern, Mecklenburg und Schleswig-Hostein und Niedersachsen. Auch gab er den Auftrag, dass jeder sich selbst auf jedem zu passierendem Regierungsforstamt, z. B. in Schwerin, Schleswig, Lüneburg persönlich meldet und nach dem anderen dort nachfragt. Mit Verwandten in Oberelsungen bei Kassel, bei Frankfurt/M. und in Stuttgart wegen von dort heranrückender Westfront sobald wie möglich Kontakte aufzunehmen, lautete die Verabredung.
Kurz bevor wir auf dem Pütter Hof startklar waren, erschien plötzlich der Revierförster Schröder von Unterkarlsbach, der auch im Walde wohnend, vergessen worden war, mit seinem vollbeladenen Pkw samt Ehefrau und Hund. Wir freuten uns sehr darüber, dass Mutter nun gute Gesellschaft hatte auf der Flucht, so wie er auch.
Inzwischen war es 17 Uhr geworden. Es lag ca. 10 cm Schnee, und wir hatten ca. minus 10 Grad Frost. Mit erschütterten Blicken verabschiedeten wir uns voneinander an der Grundstücksausfahrt nochmals, es war Montag, der 5. März 1945, 17 Uhr. Dieses Datum vergesse ich nie.
Auch ich ließ den Volkssturm sein wie er war. Es war mir alles egal. An der Panzersperre vor unserem Grundstück angekommen, war kein Bewacher mehr da. Vater, Harm und ich hielten noch mal eine kurze Gedenkpause darüber ab, ob wir noch etwas ganz Wichtiges nachholen müssten. Wir hatten also doch nichts vergessen, und wir reihten uns in den endlosen Flüchtlingstreck ein.
Flucht auf Fahrrädern von Hinterpommern gen Westen
Gerd Brehm (* 1929) berichtet:
Zusammen mit meinem Vater und meinem 1931 geborenen Bruder Harm ging ich also in unserer Männergruppe per Fahrrad auf die Flucht. Unsere Räder mit Anhänger waren hochbeladen und schwergängig. Vater hatte keinen Anhänger, dafür transportierte er außer vielen Gepäckstücken noch zwei Jagdwaffen. Insgesamt transportierten wir pro Rad in Kisten, Koffern, großen Taschen und Rucksäcken mehr als zwei Zentner Gepäck, so dass wir die Räder oft schieben mussten.
Unsere Mutter (*1907) und meine beiden jüngeren Brüder (* 1936, 1939) ging mit unserem kriegsgefangenen französischen Chauffeur in unserem während des Krieges dienstlich zugelassenen Personenkraftwagen in der zweiten Gruppe getrennt auf die Flucht. Das Auto war ebenfalls mit viel Gepäck beladen, zum Teil außen aufgebunden, und es war mit 80 Litern extra für die Flucht aufgesparten Benzins voll betankt und führte Reservekanister mit. Unterwegs, so war es abgesprochen, wollten sich beide Gruppen bei den Forstverwaltungen in Mecklenburg, Schleswig-Holstein, im Hannoverland oder in Hessen melden, um für die andere Gruppe Spuren über das Verbleiben zu hinterlassen. Wir sollten uns erst ein halbes Jahr später wiedersehen.
Unterwegs hatten wir oft Tiefflieger- und Bombenangriffe durch russische, später durch englische oder amerikanische Flugzeuge. Fast jede Nacht mussten wir uns ein anderes Quartier besorgen. Massenquartiere, die oft verlaust waren, mieden wir möglichst. Unsere Verpflegung – alles war seit Kriegsbeginn äußerst knapp und rationiert – musste förmlich erbettelt werden. Das Radeln mit großem Gepäck und den schweren Anhängern verursachte großen Hunger. Ständig musste ich befürchten, unterwegs noch aus dem Treck herausgeholt und zum Wehrdienst verpflichtet zu werden, weil mein Jahrgang jetzt auch schon einberufen wurde. Vater war als Schwerkriegsbeschädigter einigermaßen sicher.
Zur 52. Fluchtnacht bezogen wir am 25. April 1945 in Ahrensbök bei Lübeck zu dritt ein kleines Gaststättenzimmer, in dem wir bis zum 31. Juli 1945 “wohnen” durften, weil Vater dort auf Anweisung der Schleswiger Fortverwaltung einen schwerverwundeten Revierförster vertreten musste.
Kurz vor der Kapitulation rückten hier Anfang Mai die englischen Besatzungstruppen ein. Bei der letztmöglichen Amnestie für Jagdwaffen, die wir immer noch mit uns führten, bekam ich auf Grund meiner guten Englischkenntnisse, als ich meinen Vater zur Abgabe begleitete, vom Besatzungskommandanten ein Angebot, als Dolmetscher bei ihm zu arbeiten. Ich willigte sofort ein. Von nun an hatten wir vorerst immer genug zu essen und erhielten auch englische Zigaretten, die wir als Nichtraucher zum Tausch gegen neue Schuhsohlen oder Fahrradreifen gut gebrauchen konnten.
Ragnit bei Tilsit 1944/45
Jürgen Aschmotat (†) stammt aus einem alten ostpreußischen Bauerngeschlecht und wurde im August 1940 geboren. Sein Großvater hatte den Hof in dem Ort Ragnit bei Tilsit mit viel Fleiß und Engagement groß gemacht. Der Vater hatte Agrarwissenschaft studiert, den Hof übernommen und eine Rinder- und Trakenerzucht sowie eine riesige Schweinemast mit freiem Auslauf aufgebaut. Seine Mutter war bereits, als er zwei Jahre alt war, an Nierenversagen verstorben. Jürgen verfügt über sehr gute Erinnerungen an seine frühe Kindheit und die dramatischen Ereignisse der letzten Monate des Krieges und Zusammenbruches Deutschlands. „Mein Vater war Bauernführer der Faschisten, begeisterter Luftwaffensoldat und als Nachtjäger eingesetzt. Er war bis zuletzt stolz auf seine „Heldentaten“. Mein Großvater und ich haben ihm immer wieder klarzumachen versucht, dass seine Nazipolitik Schuld daran war, dass der Familie Hof und die Heimat verloren ging. Heute wird das elterliche Anwesen von Kirgisen bewirtschaftet, die, als ich sie vor einigen Jahren besuchte, nicht einmal wussten, dass dort früher Deutsche gelebt hatten. Als der Vater als Soldat in den Krieg zog, übernahm mein Großvater wieder den Hof. Er bereitete bereits 1944 die Flucht vor der immer näher heranrückenden Ostfront vor, rüstete vier große Planwagen für die Flucht her und stattete sie mit eingeweckten Wurst- und Fleischwaren und anderen Vorräten aus, von denen wir ein Jahr lang hätten leben können und brach auch schon rechtzeitig mit uns mit dem Pferdetreck auf, kam aber nur etwa 100 Kilometer voran, weil die SS uns an der Weiterfahrt hinderte. Man glaubte immer noch fanatisch an den Endsieg. Wir wurden unterwegs zweimal von der russischen Front überrollt. Die Bilder von den brennenden Scheunen, kokelnden Häusern, herumliegenden Leichen und roten Blutlachen im tiefen Schnee sehe ich wie gestern. Wir saßen im Keller, oben brannte der Pferdestall und ich höre heute noch die vor Todesangst schreienden Kreaturen. Für 1 ½ Tage ging die Front immer hin und her, bis wieder deutsche Soldaten auftauchten und uns zur Fortsetzung der Flucht ermunterten. Mein Großvater wurde verwundet und war fortan stark behindert, die weitere Flucht aktiv mitzugestalten. Zwei französischen Kriegsgefangenen, die mehr Angst vor den Russen hatten, als wir selber, haben wir zu verdanken, dass es uns doch noch gelang, über das Frische Haff westwärts zu entkommen. In Danzig mussten wir alles stehen und liegen lassen, kamen mit Mühe und Not noch in einen Eisenbahnzug. Mein Großvater schob uns Kinder durch ein Fenster in den völlig überfüllten Waggon und auf diesem Wege kamen wir zu Verwandten nach Berlin, wo ich die Bombenangriffe der letzten Kriegsmonate erlebte. Wir wurden zweimal ausgebombt. Mit meiner Zwillingsschwester zusammen wurde ich von den übrigen Verwandten getrennt. Später verschlug es uns nach Walsrode und Bergen-Hohne in der Südheide, wo mein Vater beim Aufbau der Bundeswehr und ihrer Einrichtungen beruflich engagiert war. Er hatte immer noch die Sehnsucht nach allem Militärischen und pflegte weiterhin Kontakte zu den "alten Kameraden". Mir sind noch die "blonden Siegfrieds" von Hitlers früherer Leibstandarte in Erinnerung, die im Hause meines Vaters verkehrten.“ – Jürgen wurde Pazifist und Weltbürger.
http://seemannsschicksale.klack.org/seite9.html
Mit Pferd und Wagen von Ostpreußen bis Lübeck
Stationen einer Flucht
Abdruck mit Genehmigung durch Helmut Ramm.
Nach Aufzeichnungen seiner Tante, Frau Helene Krause, geb. Liedtke, die er für eine Internetseite zusammengestellt hat.
Die Flucht aus Romitten im Kreis Preußisch Eylau in Ostpreußen
vom 26. Januar 1945 bis 29. März 1945
Frau Krause hatte diese Aufzeichnungen in einem kleinen Heft während der Flucht und kurz danach gemacht.
Mit meinem Mann, Otto Krause, besaß ich in Romitten einen Bauernhof von 28 ha. Wir hatten neben dem Vieh vier Arbeitspferde, denen wir mit verdanken, dass wir mit unseren Wagen bis Lübeck gekommen sind.
Das erste Mal habe ich im September 1944 an eine Flucht gedacht, weil abends in aller Stille der Geschützdonner der Artillerie in der Ferne zu hören war. Die Front war im Herbst 1944 schon z. T. an die ostpreußische Grenze herangekommen. Eine Flucht zu diesem frühen Zeitpunkt war jedoch verboten, weil laut Bestimmungen derjenige Bauer Haus und Hof verlöre, welcher ohne Genehmigung der Behörden fliehen würde.
Im Oktober 1944 habe ich als Vorbereitung auf eine bevorstehende Flucht 5 Betten in Säcke gesteckt, incl. Unterbetten. Mein Mann war zu diesem Zeitpunkt (ab 25.7.1944) als Soldat in Pommern. Im Oktober 1944 kamen bereits Flüchtlinge aus dem östlichen Ostpreußen gen Westen gezogen, weil sie dort schon die Front erreicht hatte. Diese Flüchtlinge mussten wir Bauern aufnehmen. Ich habe eine Bäuerin (Frau Tiney) zugeteilt bekommen mit 10jähriger Tochter und Schwiegervater. Die Verpflegung dieser drei Menschen ging über Lebensmittelkarten und durch mitgebrachte Lebensmittel. Sie kamen mit ihrem Pferdefuhrwerk. Im Oktober 1944 bekam jeder Bauer in Romitten (es waren ca. 10 Bauern in Romitten) ein Fuhrwerk mit Flüchtlingen zur Aufnahme und Gewährung von Unterkunft zugeteilt.
Der Geschützdonner war an manchen Tagen, je nach Windrichtung, gut zu hören und ließ uns nichts Gutes ahnen. Von Oktober 1944 an habe ich wegen des Geschützdonners keine innere Ruhe mehr gefunden, und die Angst wurde immer mehr. Ich habe mir zu diesem Zeitpunkt auch schon den möglichen Fluchtweg gen Westen aufgezeichnet, obwohl wir später wegen der Russen einen ganz anderen Fluchtweg nehmen mussten. Unsere Ernte an Kartoffeln und Rüben war eingefahren und die Herbstbestellung der Felder war auch schon beendet, d. h. Roggen und Weizen waren eingesät.
Und nun harrten wir der Dinge, die da kommen würden. Die Front kam immer näher, kam aber an der Grenze zu stehen. Im November konnten wir dann keinen Geschützdonner aus der Ferne hören. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Mit unseren 3 Flüchtlingen sind wir sehr gut ausgekommen. Es waren liebe Leute.
Im Dezember 1944 kam mein Mann von der Front zum Genesungsurlaub nach Hause. Er war im Herbst am Rücken verwundet worden und war vom 12.12. bis 27.12.1944 zu Hause. Weihnachten haben wir schon über die vermutlich bevorstehende Flucht gesprochen. Informationen darüber, wie weit der Russe vor Ostpreußen stand, haben wir von keiner Seite, auch nicht über Radio, erhalten.
Das Leben ging jetzt noch normal bis zum 13. Januar 1945 weiter. An diesem Tage brach die russische Offensive los. Jetzt stieg die Angst bei uns, fliehen zu müssen, und wir haben uns weiter auf eine bevorstehende Flucht vorbereitet.
Janek, unser 35 Jahre alter polnischer Kriegsgefangener, der bei uns arbeitete, machte zwei Kastenwagen, die sonst für Rüben- und Dungfahren genutzt wurden, fahrbereit. Der von der Partei eingesetzte Ortsgruppenführer teilte jetzt auf jedem Hof ein, wer auf der Flucht mit wem fahren sollte. Das bedeutete, dass jeder Bauer mit Fluchtwagen eine gewisse Anzahl von Dorfbewohnern ohne Fluchtwagen mitnehmen musste. Der Ortsgruppenführer hat jetzt alle Dorfbewohner aufgefordert, Vorbereitungen für eine bevorstehende Flucht zu treffen. Der Fluchttermin selbst stehe noch nicht fest; er würde noch mitgeteilt. Wer jetzt bereits ohne Erlaubnis auf eigene Faust fliehen würde, so wurde gedroht, dem würde der Hof enteignet.
Tante Lene schildert jetzt die eigentliche Flucht, die sie in einem kleinen Heft aufgezeichnet hatte:
Freitag, 26. Januar 1945:
Die letzten Tage hören wir den Kanonendonner. Die Front kommt immer näher. In der letzten Nacht ist der Feind in Uderwangen eingedrungen und stößt in Richtung Abschwangen vor. Noch 6 km von unserem Heimatdorf Romitten entfernt. Nachmittags um halb fünf Uhr (16:30 Uhr) verlassen wir in geschlossenem Treck unsere Heimat. Durch tiefen Schnee geht unser Weg in Richtung Westen. Wir haben beide Wagen mit unserer Habe und Futter für die Pferde beladen. Zwei Polen sind die Fahrer: Janek, unser polnischer Kriegsgefangener und ein weiterer jüngerer Pole, der bei uns arbeitete.
Es fällt mir sehr schwer, mit meinem Sohn Werner (geb. 31.12.1940) wegzufahren und alles zu verlassen, was uns lieb und wert war. Wir fahren auf die verstopften Straßen und sind dem Winter und dem Elend preisgegeben. Mein Mann ist Soldat und weit von uns weg.
Sonnabend, 27. Januar 1945:
Nach kalter, durchfahrener Nacht auf den verstopften Straßen, machen wir morgens in Kilgis vor Kreuzburg Rast. Die Pferde sind hungrig und müde. Wir sind durchgefroren und sehen, wo wir uns heißen Kaffee kochen können. Alles ist von Flüchtlingen und Soldaten überfüllt. Zur Nacht finden wir in einem kleinen Dachstübchen, auf dem Fußboden, ein Nachtlager.
Sonntag, 28. Januar 1945:
Bei klirrender Kälte von fast 30 Grad fahren wir morgens um 5 Uhr weiter in Richtung Kreuzburg, Zinten. Gegen Abend kommen wir in Klaussitten an. Alles ist überfüllt von Flüchtlingen und Soldaten. Unser Brot ist zu Stein gefroren. Werni weint vor Hunger und Kälte. Wir melken die Kühe und auf dem Futterdamm, bei den Kühen, richten wir uns ein Nachtlager her. Die Polen versorgen die Pferde, die in der Scheune ein Plätzchen gefunden haben. Wir bleiben die ganze Woche hier und sehen die verstopften Straßen. Es ist kein Platz, dass wir uns in den endlosen Treck wieder einreihen können. Es ist viel Schnee gefallen.
Am Donnerstag, dem 1. Februar 1945, setzt Tauwetter ein.
Sonnabend, 3. Februar 1945:
Wir haben bis heute früh in Klaussitten (Kreis Heiligenbeil) gerastet. Der Feind kommt näher. Die Bewohner von Klaussitten fuhren schon am Donnerstag fort. Bei Sturm und Regen fahren wir über Zinten nach Heiligenbeil. Die russischen Flieger beschießen die Straße. Wir haben viel Angst ausgestanden. Wir erreichen Heiligenbeil. Die Polizei zwingt uns, weitere Flüchtlinge mitzunehmen. Wir kommen zum Abend an Fischerkaten vorbei. Die Pferde stehen an einem Strohberg im Wasser. Wir schlafen auf einem Speicher. Werni und ich fallen die Stufen herunter, haben uns aber nichts gebrochen. Wir erkranken beide an einem ruhrähnlichen Durchfall.
Sonntag, 4. Februar 1945:
Wir fahren weiter zum Frischen Haff. Die Wege sind verstopft, es geht nur langsam weiter. Im Wald machen wir Rast, kochen etwas Warmes und übernachten. Wir schlafen auf dem Wagen. 150 m von uns fallen nachts Bomben.
Montag, 5. Februar 1945:
Wir sehen das Eis des Frischen Haffs bei Leißunen und die feindlichen Flieger beschießen die Treckwagen auf dem Eis im Tiefflug. Die Polizei leitet uns nach Alt-Passarge, 8 km südlich. Die Verstopfung der Straße ist zu groß.
Dienstag, 6. Februar 1945:
Wir fahren auf Moordämmen langsam dem Haff zu. Alle Wege sind verstopft. Alles strömt dem Haff zu. Die Pferde sind unruhig, sie frieren. Wir schlafen auf dem Wagen, wir haben keinen warmen Trunk mehr und leiden an schwerem Durchfall und Fieber. Das Wetter ist milde.
Mittwoch, 7. Februar 1945:
Morgens um 8 Uhr fahren wir auf das Eis des Haffs. Uns allen ist sehr bange. Wir sehen eingebrochene Wagen aus dem Eis ragen. Tote Pferde, von Beschuss und Bomben getroffen, liegen verstreut auf dem Eis. Weiter liegen tote Soldaten und Zivilisten auf dem Eis. Wagen waren getroffen, alles lag herum: Ein Bild des Elends und des Grauens. Es befinden sich lange breite Spalten im Eis, die wir überqueren müssen. Die Eisschollen senken sich vor den Wagenrädern, die Pferde treten in den entstehenden Spalt und springen wieder heraus. Über uns Tiefflieger und Beschuss. Wie durch ein Wunder kommen wir aus dieser Not bis zur Nehrung.
„In wie viel Not hat doch der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“
Unser Blick geht über das Haff zurück, da steht Frauenburg in Flammen. Der Russe schießt mit seiner Artillerie auf die Nehrung. Es gibt Tote und Verwundete. Bei strömendem Regen übernachten wir unter freiem Himmel. Menschen und Pferde leiden unsagbar.
Meine Tante erzählte mir ergänzend hierzu:
Diese Überfahrt auf dem Eis war grauenhaft. Links und rechts von der auf dem Eis abgesteckten Fahrtroute lagen weggeworfene Sachen, erschossene Pferde, ganze Wagen, die durch die Eisdecke gebrochen waren, wo nur noch die Köpfe der toten Pferde aus dem Eis ragten. Auch die durch die Angriffe der Tiefflieger erschossenen Flüchtlinge lagen neben der Fahrtroute - ein Grauen, das sich heute kein Mensch mehr vorstellen kann.