Deutsche und Juden vor 1939 - Wolfgang Effenberger - E-Book

Deutsche und Juden vor 1939 E-Book

Wolfgang Effenberger

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Beschreibung

Die meisten Publikationen, die sich dem Schicksal der Juden in Deutschland annehmen, haben primär den Zeitraum zwischen 1939 und 1945 im Blick. Dieses Buch ist anders: Es setzt weit früher an und widmet sich vornehmlich der Frage nach der Entstehung des deutsch-jüdischen Dilemmas. Die beiden Autoren, ein Deutscher und ein Jude, begaben sich dazu auf Spurensuche und legten frühe gemeinsame Wurzeln frei. Sie entdeckten über die Jahrhunderte viel Verbindendes, aber ebenso manches, das trennte. Alles in allem – das wird hier besonders deutlich – war es ein Weg der Symbiose, der wechselseitigen fruchtbaren Ergänzung, dokumentiert durch zahlreiche Errungenschaften und Auszeichnungen in Wissenschaft, Kunst und Politik. Um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert waren Juden in Deutschland weitestgehend assimiliert; sie fühlten sich voll und ganz als Deutsche, wie vielerlei Quellen und Zeugnisse belegen. Einzigartig wird die Zusammenstellung durch zeitgeschichtliche Kommentare jüdischer Zeitungen und Zeitschriften, herausgegeben von 1850 bis zu ihrem Verbot 1938, welche im Anhang einzeln porträtiert werden. Zugleich ist das vorliegende Werk eine Gesellschaftsstudie, die anhand historischer Entwicklungen aufzeigt, wie sich totalitäre Ideologien schleichend entfalten, warum Hass, Hetze und Radikalismus gleich welcher Couleur stets ins Verderben führen. Die gebundene Ausgabe des vorliegenden Werkes ist u. a. im Bestand der israelischen Nationalbibliothek Yad Vashem, der Oxford University, der Pariser Sorbonne, der Library of Congress und des Holocaust Memorial Museum in Washington sowie diverser US-Hochschulen, darunter Berkeley, Harvard, Princeton und Stanford.

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Klappentext Autorenkurzbiografie

Der aus Rumänien stammende und in Jerusalem sesshafte Historiker Reuven Moskovitz (geb. 1928, gest. 2017) ist Holocaustüberlebender. Seine Versöhnungsarbeit zwischen Juden und Palästinensern wurde mit mehreren Friedenspreisen gewürdigt.

Wolfgang Effenberger (geb. 1946) ist freier Publizist mit Schwerpunkt Geopolitik. Er lebt am Starnberger See. Mit ihrem ersten Gemeinschaftswerk möchten die beiden Autoren dazu beitragen, dass die Geschichte Europas nie wieder in repressive Gewässer mündet.

Umschlagtext

Die meisten Publikationen, die sich dem Schicksal der Juden in Deutschland annehmen, haben primär den Zeitraum zwischen 1939 und 1945 im Blick. Dieses Buch ist anders: Es setzt weit früher an und widmet sich vornehmlich der Frage nach der Entstehung des deutsch-jüdischen Dilemmas.

Die beiden Autoren, ein Deutscher und ein Jude, begaben sich dazu auf Spurensuche und legten frühe gemeinsame Wurzeln frei. Sie entdeckten über die Jahrhunderte viel Verbindendes, aber ebenso manches, das trennte. Alles in allem – das wird hier besonders deutlich – war es ein Weg der Symbiose, der wechselseitigen fruchtbaren Ergänzung, dokumentiert durch zahlreiche Errungenschaften und Auszeichnungen in Wissenschaft, Kunst und Politik. Um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert waren Juden in Deutschland weitestgehend assimiliert; sie fühlten sich voll und ganz als Deutsche, wie vielerlei Quellen und Zeugnisse belegen. Einzigartig wird die Zusammenstellung durch zeitgeschichtliche Kommentare jüdischer Zeitungen und Zeitschriften, herausgegeben von 1850 bis zu ihrem Verbot 1938, welche im Anhang einzeln porträtiert werden.

Zugleich ist das vorliegende Werk eine Gesellschaftsstudie, die anhand historischer Entwicklungen aufzeigt, wie sich totalitäre Ideologien schleichend entfalten, warum Hass, Hetze und Radikalismus gleich welcher Couleur stets ins Verderben führen.

Die gebundene Ausgabe des vorliegenden Werkes ist u. a. im Bestand der israelischen Nationalbibliothek Yad Vashem, der Oxford University, der Pariser Sorbonne, der Library of Congress und des Holocaust Memorial Museum in Washington sowie diverser US-Hochschulen, darunter Berkeley, Harvard, Princeton und Stanford.

Klappentext

Deutsche und Juden vor 1939: Der gemeinsame Gang durch die Jahrhunderte war keineswegs nur von Vorurteilen, von Ausgrenzung und Vernichtung gekennzeichnet, sondern auch – und das wird häufig vergessen – von gegenseitiger Bewunderung und Befruchtung großer Dichter und Denker, Nobelpreisträger und Staatsmänner. Das Buch dokumentiert diese tief greifende Symbiose samt Augenmerk auf „geschichtlichen Randnotizen“, welche nicht selten entscheidende Hinweise für das Gesamtverständnis liefern.

Weniger bekannt ist beispielsweise, dass …

•  viele deutsche Juden patriotisch dachten und es als ihre Pflicht ansahen, sich im Ersten Weltkrieg freiwillig zum Militärdienst zu melden.

•  die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Deutschland zugewanderten „Ostjuden“ skeptisch bis ablehnend gegenüberstand.

•  ein von den Briten gegründetes Hochkomitee bereits 1907 plante, einen „Fremdkörper“ in die arabischen Länder zu pflanzen, „um die Vereinigung ihrer Flügel zu verhindern“; stattdessen sollten sie sich „in niemals endenden Kriegen erschöpfen“.

•  nur ein winziger Prozentsatz der Juden in Deutschland sich für Sozialismus und Kommunismus begeistern konnte, gleichwohl Karl Marx wie auch Kurt Eisner Juden waren.

•  in Russland 1915 die jüdische sozialistische Republik Birobidschan entstand und bis heute autonom existiert.

•  der moderne Antisemitismus hierzulande erst nach der gescheiterten Revolution im Freistaat Bayern 1919/20 seinen Anfang nahm.

•  ab Sommer 1938 Zionisten und Nationalsozialisten heimlich hinsichtlich einer illegalen Einwanderung nach Palästina kooperierten.

•  viele bedeutende Literaten – darunter auch jüdische – noch 1933 meinten, Hitler sei ein vorübergehendes Phänomen.

Deutsche und Judenvor 1939

Stationen und Zeugnisse einer schwierigen Beziehung

Von WOLFGANG EFFENBERGERund REUVEN MOSKOVITZ

Zum Titelbild:Felix Mendelssohn-Bartholdy spielt im Jahr 1830 vor Johann Wolfgang von Goethe in dessen Haus in Weimar. Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim.

1. elektronische Ausgabe: Juni 2021

© Verlag zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2013

© Wolfgang Effenberger/Reuven Moskovitz 2013

Alle Rechte vorbehalten

Dieses E-Book ist für den persönlichen Gebrauch des Käufers bestimmt, jede anderweitige Nutzung bedarf der vorherigen schriftlichen Genehmigung des Verlags oder Autors. Jegliche Form der Vervielfältigung oder Weitergabe, auch auszugsweise, verstößt gegen das Urheberrecht und ist untersagt.

Bei Übernahme von Originalzitaten: Rechtschreibung, Zeichensetzung sowie Grammatik zum besseren Verständnis korrigiert, historische Schreibweisen wurden beibehalten.

Redaktionsschluss: April 2013

Satz: Hoos Mediendienstleistung, Landau

Cover: Grafikfee GmbH, Bingen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book-Ausgabe: 978-3-943007-30-5

ISBN gedruckte Ausgabe: 978-3-943007-14-5

www.deutsche-und-juden-vor-1939.de

www.zeitgeist-online.de

»Die Abneigung der Juden gegen die Germanen war in der Zeitder materiellen Bedrückung lebhaft, ja leidenschaftlich.Seit zwei bis drei Menschenaltern stirbt sie abund weicht bei den jüngeren Geschlechterneiner rückhaltlosen Anerkennung der Nation,der sie den wertvollsten Teil ihrer Geistesgüter verdankt.«

Walther Rathenau (1867–1922)

Walter Rathenau als Vizefeldwebel im Gardekürassierregiment 1890/91

»Ich kämpfe nicht für den jüdischen Reserveleutnant. Ich bedaure auch nicht den Juden, der sich staatliche Verantwortung wünscht und sie nicht erhält ... Wer Einlaß erbittend sich an Stellen begibt, wo man ihn nicht haben will, tut mir leid; ich kann ihm nicht helfen. Ich kämpfe gegen das Unrecht, das in Deutschland geschieht, denn ich sehe Schatten aufsteigen, wohin ich mich wende. Ich sehe sie, wenn ich abends durch die lebenden Straßen von Berlin gehe; wenn ich die Insolenz unseres wahnsinnig gewordenen Reichtums erblicke; wenn ich die Nichtigkeit kraftstrotzender Worte vernehme oder von pseudogermanischer Exklusivität berichten höre, die vor Zeitungsartikeln und Hofdamenaperçus zusammenzuckt. Eine Zeit ist nicht deshalb sorgenlos, weil der Leutnant strahlt und der Attaché voll Hoffnung ist. Seit Jahrzehnten hat Deutschland keine ernstere Periode durchlebt als diese; das stärkste aber, was in solchen Zeiten geschehen kann, ist: das Unrecht abzutun.

Das Unrecht, das gegen das deutsche Judentum und teilweise gegen das deutsche Bürgertum geschieht, ist nicht das größte, aber es ist auch eines. Deshalb mußte es ausgesprochen werden. Das Beste aber wird sein, wenn jeder von uns in sein menschliches, soziales und bürgerliches Gewissen hinabsteigt und Unrecht abtut, wo er es findet.«1

»Das israelitische Volk ... besitzt die meisten Fehler anderer Völker:Aber an Selbständigkeit, Festigkeit, Tapferkeit und,wenn alles das nicht mehr gilt, an Zähigkeit sucht es seinesgleichen.Es ist das beharrlichste Volk der Erde. Es ist, es war, es wird sein,um den Namen Jehova durch alle Zeiten zu verherrlichen.«

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832),»Wilhelm Meisters Wanderjahre«

»Juden und Deutsche haben viel gemeinsam.Sie sind strebsam, tüchtig, fleißig undgründlich verhaßt bei den anderen.Juden und Deutsche sind Ausgestoßene.«2

Franz Kafka (1883–1924)

»Wenn man das Judentum der Propheten und das Christentum,wie es Jesus Christus gelehrt hat, von allen Zutatender Späteren, insbesondere der Priester, loslöst,so bleibt eine Lehre übrig, die die Menschen von allen sozialenKrankheiten zu heilen imstande wäre.«3

Albert Einstein (1879–1955),»Mein Weltbild«

Inhaltsübersicht

Verzeichnis der Abkürzungen

Einige Worte vorab

Standpunktbestimmung

Das Jubiläumsjahr 1913 – die Welt schaut auf Berlin

I.  Von der Frühzeit bis Anfang des 20. Jahrhunderts: Ambivalenz und Symbiose

Gemeinsames Ferment reicht weit zurück

Großsteingräber und Pyramiden

Die Bibel – ein erstes gemeinsames Band

Entstehungsmythos der Germanen

Judentum als Wegbereiter von Christentum und Islam

Aufstände im Römischen Reich

Jesus: Prophet – Messias – Gottes Sohn

Das Christentum wird Staatsreligion

Karl der Große (768–814) im Spiegel seiner Zeit

Missionierungsfeldzüge gegen die Sachsen

Eroberungspolitik

Kaiserkrönung

Karl und seine jüdischen Untertanen

Karls historische Einordnung

Die leidvolle Zeit der Kreuzzüge

Reformation, Emanzipation, Soziale Frage

Veränderte Welt durch Luther

Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648)

Juden im großen europäischen Krieg

Entwicklung in Brandenburg-Preußen

Hofjuden

Aufklärung und Emanzipation

Zeitströmungen und Französische Revolution

Einfluss der Romantik

Bauernbefreiung und Selbstbestimmung der Juden

Spätromantik und Vormärz (1815–1847)

Auswirkungen der Industriellen Revolution

Revolution 1848 – Frühling der Nationen

Hoffnungen werden geweckt

Karl Marx – Begründer des »wissenschaftlichen Sozialismus«

Ferdinand Lassalle: Sozialist und Bonvivant

Einigungskriege

Deutsch-Französischer Krieg 1870/1871

Deutsche Einigung 1871 – trügerischer Hoffnungsschimmer?

Die Reichsgründung hatte viele Väter

Linke und rechte Antisemiten

Kulturkampf und Sozialistengesetze

Verfolgungen und Antisemitismus

Berliner Antisemitismusstreit (1879–1881)

Nietzsches Zarathustra zwischen rechter Propaganda und jüdischer Konzilianz

Jüdische Betrachtungen über die Weltlage 1885

Dreikaiserjahr 1888

Antisemitische Abwehrvereine

Emanzipationsdefizite und deren Ursachen

Die Dreyfus-Affäre

Herzls Vision vom Judenstaat

Orientreise des Kaisers 1898 – das politische Umfeld

Der Pilger Wilhelm II. als Gast des Sultans

Kaiser und Kalif

Der Orient in den Augen von Bebel, Marx und Clark

Im Banne imperialer Strategien

Innenpolitische Situation vor dem Ersten Weltkrieg

II.  1914 bis 1933: Gemeinsam in die nationale Katastrophe

Krieg in Europa

Ein symbolträchtiger Terroranschlag

Keine Parteien – nur noch Deutsche

US-Präsident Wilson betont die Neutralität

General Pascha Liman von Sanders und der Krieg in der Türkei

Der Burgfriede wird brüchig

»Judenzählung« vom 1. November 1916

1917 – ein Jahr verändert die Welt

Umsturz in Russland: Lenin und Trotzki auf dem Weg nach Petrograd

Missbrauchte deutsche und französische sozialistische Pazifisten

Papst Benedikt XV. und der Frieden

Die Balfour-Deklaration und die Folgen

Oktoberrevolution 1917

Wilsons Reaktion auf Lenins Separatfrieden

Weimar im Würgegriff von Bolschewismus und Nationalsozialismus

Kurt Eisner und die Wirren der Revolution

Erster Widerstand formiert sich

Die Münchener Räterepublik

Frieden in Versailles?

Gründung des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten

Programm der NSDAP: antisemitisch und antimarxistisch

Kapp-Lüttwitz-Putsch

Generalstreik und Aufstände

Abstimmungskampf in Oberschlesien

Trügerische Emanzipation

Gründung des Verbandes nationaldeutscher Juden

Ostjuden polarisieren die Gesellschaft

Hoffnungsträger Rathenau

Die antisemitische Gefahr

Gründung des Instituts für Sozialforschung

Wirtschaftskrise und Aufstieg der Nationalsozialisten

Hoffnungsvolle Jahre: 1924–1929

1925 – ein Schlüsseljahr?

Denkmäler haben Konjunktur

Ende der hoffnungsvollen Jahre

Krisenjahre

Börsenkrach und Schwarzer Freitag 1929

Reichstagswahlen von 1930 verändern die politische Landschaft

Gründe für den unbegreiflichen Wahlerfolg der NSDAP

Die Krise weitet sich aus

Treffen der nationalen Opposition in Harzburg

Politische Radikalisierung

Literarische Streiflichter

Wahlmarathon 1932

III.  1933 bis 1939: Unterm Hakenkreuz in die Apokalypse

Entrechtung und Schikane der jüdischen Mitbürger

Legal an die Macht

Jüdische Stimmen zum 30. Januar 1933

Reichstagsbrand und Kommunistenverfolgung

Die letzte demokratische Wahl vom 5. März 1933

Tag von Potsdam und Ermächtigungsgesetz

»Kriegserklärung« und Boykott

Die antijüdischen Teile des Parteiprogramms werden umgesetzt

Gleichschaltung von Verbänden und Parteien

Die besondere Lage der Zionisten

Das Ha’avara-Abkommen und die »Palästina Treuhandstelle«

Die »Reichsvertretung der deutschen Juden«

Das Plebiszit vom 12. November 1933 – Goebbels größte »Barnumiade«

»Wir Juden« (Prinz) versus »Wir deutschen Juden« (Schoeps)

Wilhelm Reich – von Verfolgten verfolgt

1934 – das Jahr der endgültigen Machtergreifung

Die letzte Stufe der Machterlangung

Einführung der Wehrpflicht und Aufkündigung des Versailler Vertrags

Vom Gesellschafts- zum Zivilisationsbruch

Nürnberger Gesetze und der drohende Olympiaboykott

Georg Kareski – Leiter des Reichsverbandes jüdischer Kulturbünde

Die Illusion der Schonzeit

Olympische Spiele 1936 – jüdische Sportler als Politikum

Vierjahresplan und Aufrüstung

Stalin – von deutschen Linksintellektuellen bewundert

Feuchtwanger und Birobidschan – Stalins vergessenes Zion

Arthur Koestler und die Chasaren

Nach den »Friedensspielen« geht die Drangsalierung der Juden weiter

Die Enzyklika »Mit brennender Sorge«

Das Schicksalsjahr 1938

Kriegsvorbereitungen und Ausrottung

Der »Anschluss« Österreichs

Deutsche und polnische Umsiedlungspläne

Weitere Unterdrückungsmaßnahmen – Aktionen gegen »Arbeitsscheue«

Die Flüchtlingskonferenz von Evian-les-Bains

Reichsparteitag Großdeutschland

»Reichskristallnacht« – Reichspogromnacht

Enteignung – Konzentration – Ausrottung

Die Irrfahrt der St. Louis im Frühjahr 1939

Der Hitler-Stalin-Pakt: Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg

»Euthanasie-Aktion T4« – Vorstufe zur Shoah

Bischof von Galen protestiert

Wichtige Ereignisse nach 1939: Frauenprotest in der Rosenstraße

Nachbetrachtung

Juden und Deutsche – Symbiose zwischen Aufklärung und Verklärung

Recherche am Ursprungsort des nationalsozialistischen Massenmordes

Danksagung

Die Autoren

IV.  Anhang

Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1869

Aus politischen Motiven veränderte Texte

a)  »Emser Depesche« vom 13. Juli 1870 (redigiert von Bismarck)

b)  Bericht an den Bayerischen Ministerpräsidenten vom 18. Juli 1914 (verkürzt von Eisner)

Wortlaut der Friedensresolution des Reichstags vom 19. Juli 1917

Auszüge aus zwei Predigten des Bischofs Clemens August von Galen

Die Juden betreffende Gesetze 1933 bis 1944

Weitere Erlasse und Verordnungen gegen Juden

Verzeichnis zitierter jüdischer Zeitungen und Zeitschriften

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Bildquellenverzeichnis

Verzeichnis der Abkürzungen

AdG

Archiv der Gegenwart

ADAP

Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik

ADAV

Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein

AfK

Arbeitsrat für Kunst

AZJ

Allgemeine Zeitung des Judentums

BBB

Bayerischer Bauernbund

BIG

Bayerische Israelitische Gemeindezeitung

BIZ

Bank für Internationalen Zahlungsausgleich

BMP

Bayerische Mittelpartei

BVP

Bayerische Volkspartei

CSVd

Christlich-Sozialer Volksdienst

C.V.-Zeitung

Central-Vereins-Zeitung

DAF

Deutsche Arbeitsfront

DBP

Deutsche Bauernpartei

DDP

Deutsche Demokratische Partei

DDSG

Erste Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft

DFG

Deutsche Forschungsgemeinschaft

DIZ

Deutsche Israelitische Zeitung

DNB

Deutsches Nachrichtenbüro

DNVP

Deutschnationale Volkspartei

DStP

Deutsche Staatspartei

DtSP

Deutschsoziale Partei

DVO

Duchführungsverordnung

DVP

Deutsche Volkspartei

EK 1

Eisernes Kreuz 1. Klasse

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FIF

Frankfurter Israelitisches Familienblatt

GeKrat

Gemeinnützige Kranken-Transport G.m.b.H.

Gestapo

Geheime Staatspolizei

GIGF

Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a. M.

GstA

Preußisches Geheimes Staatsarchiv, Berlin

HaMossad

Mossad le Alija Bet

HGB

Handelsgesetzbuch

HRR

Heiliges Römisches Reich

IdR

Im deutschen Reich

IF

Israelitisches Familienblatt

IfS

Institut für Sozialforschung

IOC

Internationales Olympisches Komitee

JjGL

Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur

JNbl

Jüdisches Nachrichtenblatt

JR

Jüdische Rundschau

Komintern

Kommunistische Internationale

KP

Kommunistische Partei

KPD

Kommunistische Partei Deutschlands

KPdSU

Kommunistische Partei der Sowjetunion

KSA

Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe

LBI

Leo Baeck Institute

Lenin AW

W. L. Lenin: Ausgewählte Werke, Berlin 1955sowie W. L. Lenin: Werke, Berlin 1966–1973

MB

Mitteilungsblatt

MBI

Mitteilungsblatt des Reichministers des Inneren

MEW

Marx-Engels-Werke

MSPD

Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands

NS

Nationalsozialismus

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

OHL

Oberste Heeresleitung

RFB

Roter Frontkämpferbund, kurz auch: Rotfront

RGBl.

Reichsgesetzblatt

RjF

Reichsbund jüdischer Frontsoldaten

RM

Reichsmark

RSA

Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen

RSHA

Reichssicherheitshauptamt

RVJD

Reichsvereinigung der Juden in Deutschland

SA

Sturmabteilung

SDAP

Sozialdemokratische Arbeiterpartei (in Deutschland und in Österreich)

SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SD

Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SS

Schutzstaffel

StatZBay              

Zeitschrift des Statistischen Landesamt Bayern (1919–1921)

USPD

Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands

UuF

Michaelis, Herbert/Schraepler, Ernst: Ursachen und Folgen

VB

Völkischer Beobachter

Vjh.f.Ztg

Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte

VnJ

Verband nationaldeutscher Juden

VO

Verordnung

WP

Wirtschaftspartei

ZVfD

Zionistische Vereinigung für Deutschland

Einige Worte vorab

von Reuven Moskovitz

Geprägt von meinen Kindheitserlebnissen als verfolgter rumänischer Jude während des Zweiten Weltkrieges und anschließend im frühen Israel geformt, ist mir Versöhnung nicht nur ein Herzensbedürfnis, sondern zugleich politische Überlebensnotwendigkeit. So bin ich der Bitte um Mitarbeit am vorliegenden Buch ohne Zögern nachgekommen.Während Wolfgang Effenberger das riesige Material zusammengetragen und strukturiert hat, bestand mein Part vor allem in sachgerechter Moderation und Ausgestaltung – immer bemüht, die Sachverhalte korrekt darzustellen. Dabei weiß zumindest jeder Historiker, dass dieser Versuch aus vielerlei Gründen nie ganz gelingen kann.

Eine friedliche Gestaltung der Zukunft erfordert neben dem Verständnis der gegenwärtigen Situation auch die Offenlegung zurückliegender Entwicklungsstränge und deren verantwortungsvolle Interpretation. So ist die mit der verbrecherischen NS-Ära verbundene Tragik nicht allein in der Vergangenheit zu verorten, sondern zeigt sich bis heute in Versäumnissen, Nachwirkungen und verantwortungslosem Schweigen angesichts gegenwärtiger Untaten, speziell im Nahen Osten. Es reicht nicht aus, Vorurteile zu überwinden – der Blickwinkel muss geweitet, ja teilweise grundsätzlich verändert werden. Das vorliegende Buch will diesbezüglich dazu beitragen, die Geschichte von Mythen und verankerten Bildern zu befreien. Die tief sitzende Schuldidentität der Deutschen, welche der Opferidentität der meisten Juden gegenübersteht, führte etwa zu vielen Missverständnissen sowie zu einer geradezu krankhaften Verlegenheit und willigen politischen Blindheit gegenüber der israelischen Politik. Dieses Thema habe in meinem Essay »Juden und Deutsche – Symbiose zwischen Aufklärung und Verklärung« vertieft. Sie finden ihn als Epilog am Ende des Buchs.

Unzählige, in Büchern, Artikeln und Abhandlungen festgehaltene Meinungen gibt es zum Thema deutsch-jüdische Symbiose. Man vergisst dabei – oder bemüht sich zu vergessen –, dass die jüdische Geschichte seit Jahrtausenden von erfolgreichen Symbiosen begleitet wurde, die dann häufig in tragischer Weise endeten. Ben-Gurion prägt die inzwischen zum Mythos verfestigte Ansicht, dass sich die jüdische Geschichte außerhalb des Landes Israel/Palästina von einem Pogrom zum nächsten bzw. von einer Vertreibung zur nächsten bewegt habe. Auch wenn es teilweise stimmt, ist es als absolute Aussage so historisch nicht haltbar, wie Shlomo Sand in seinem Buch »Wie das jüdische Volk erfunden wurde« nachgewiesen hat. Die Verfälschung der Geschichte fand sogar in der von Ben-Gurion mitverfassten israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948 Eingang, die voller historischer Halbwahrheiten und zu »Wahrheit« gewordener theologischer Mythen steckt. So wird etwa an erster Stelle festgehalten: »Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig, Hier schuf es eine nationale und universelle Kultur und schenkte der Welt das Ewige Buch der Bücher.«

Die jüdisch-israelische Kultur entstand jedoch keineswegs nur im Land Israel. Nach der Bibel liegen die Wurzeln meines Volkes am Berg Sinai (Horeb). Einiges aus dem Kulturreichtum, wie der Talmud, Midraschim sowie die großen Bände von Fragen und Antworten, die Exegese und deren Ergänzungen und die blühende theologische und philosophische Literatur, wurde in Babylonien, dem heutigen Irak, geschaffen. In Spanien und Italien entwickelte sich die goldene Ära von Dichtung, Literatur, Philosophie und Wissenschaft. Die Entstehung der Ladinosprache und deren Literatur fand im spanischosmanischen Reich statt, während sich die jiddische Sprache in Zentral- und Osteuropa formte: in Deutschland, Polen oder Russland. Seit letztem Jahrhundert blühen zudem Literatur, Dichtung, Musik und Theater in den Vereinigten Staaten auf.

Man könnte zwar behaupten, dass das alles nichts ist im Verhältnis zur Bibel, zu literarischen Werken wie den Psalmen, dem Buch Hiob oder dem Hohen Lied der Liebe. Das ändert aber nicht die manipulative Geschichtsschreibung von Ben-Gurion, der systematisch die Beiträge zur jüdischen Kultur aus der sogenannten »Diaspora«, also außerhalb von »Eretz Israel«, zu unterdrücken versuchte. Doch empfanden die meisten Juden ihre dortigen Lebensräume trotz der schrecklichen Ereignisse in der jüdischen Geschichte keineswegs als fern der Heimat und Glaubensgemeinschaft, sondern es war ihr Zuhause. Das gilt ohne Zweifel für die deutschen Juden im 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, zudem für viele Juden in Polen, Rumänien, Frankreich und England, ja sogar für einen Teil in der vorstalinistischen Sowjetunion.

Das vorliegende Werk will die Leser in die verschiedenen Epochen der gemeinsamen deutsch-jüdischen Geschichte vor 1939 einführen. Einfühlsam wird das Spannungsfeld zwischen Utopie und Wirklichkeit, Glauben und Staatsgewalt, Integration und Isolation aufgezeigt, in dem sich die jüdische Minderheit befand. Denn trotz der glaubensbedingten Verinselung gab es immer auch den Wunsch nach Zugehörigkeit sowie die Tendenz, kulturelle Elemente aus den Gastgesellschaften in die eigene Kultur zu übernehmen.

Leider wissen nur wenige davon, dass die Entwicklung der kleinen jüdischen Minderheit mit der deutschen Gesamtgeschichte eng verbunden ist und wie sehr sich die beiden Gruppen gegenseitig befruchtet haben. Zudem gilt die jüdische Geschichte in Deutschland für viele als abgeschlossen, die Emanzipation als gescheitert. Auch heute noch wird sie im Unterricht, wenn überhaupt, isoliert behandelt.4 Doch wer sich einmal näher mit ihr beschäftigt hat, weiß, wie stark die Lage der jüdischen Minderheit die Widersprüche und Mängel der Gesamtgesellschaft widerspiegelt und erhellt. Wo immer die Juden in Deutschland zum Grund allen Übels erklärt und zum Ventil für Unzufriedenheit und Erbitterung gemacht wurden, müsste es auch möglich sein, umgekehrt, also ausgehend von der Situation der Verfolgten, die den Judenhetzen jeweils zugrundeliegenden allgemeinen Missstände zu untersuchen. Unter dem Gesichtspunkt dieser Wechselwirkung könnte das Studium der Geschichte von Juden und Deutschen auch zur Entwicklung eines wirklich freien und menschlichen Deutschland beitragen.

Gerade als verfolgter Jude, der in Israel eine neue Heimat gefunden hat, mache ich es mir zur Aufgabe, in Israel auf den Frieden hin zu arbeiten, »wo zwei tief verletzte und verzweifelte Völker« leben: »das eine als Opfer des Antisemitismus und Nationalismus, das zweite, weil von ihm gefordert wurde, den Preis dafür zu bezahlen«5. Die Vision eines friedlichen Miteinanders von Israelis und Palästinensern ist keine Utopie, wie das von mir mitbegründete jüdisch-palästinensische Friedensdorf Neve Shalom heute beweist.6 Zudem liegt mir die Versöhnung von Juden und Deutschen besonders am Herzen.7 Seit über 30 Jahren besuche ich Deutschland, um in politischen Kreisen, in Akademien und Gemeinden Vorträge zu halten und an Schulen als Zeitzeuge, Mahner und kritischer Beobachter sowohl Israels als auch Deutschlands aufzutreten. Im Gegensatz zu vielen meiner israelischen Mitbürger bemühe ich mich, das in der Vergangenheit wurzelnde Schuldempfinden umzuwandeln in hoffnungsvolle Verantwortung.

Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass sich die Welt an den Holocaust erinnert. Was mich stört und verärgert, ist die Gewissheit, dass das Gedenken in Dienst genommen werden, um zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist: dass wir unser Nachbarvolk seines Selbstbestimmungsrechts, seiner Freiheit, seines Besitzes und seiner Menschenwürde berauben. Idith Zertal, im Kibbuz geborene und zionistisch-sozialistisch erzogene Historikerin, schreibt: »Mit Hilfe von Auschwitz, Israels ultimativer Trumpfkarte bei seinen Beziehungen zu einer Welt, die immer wieder auf neue als antisemitisch und auf ewig feindselig definiert wurde – immunisierte sich Israel selbst gegen jedwede Kritik und genehmigte sich einen quasi sakrosankten Status, verschloss sich einem kritischen, rationalen Dialog mit seiner Umwelt.«8 Die Auschwitz-Trumpfkarte funktioniert als moralische Erpressung ausgezeichnet: Jegliche Kritik an der Politik Israels kann als Antisemitismus abgewiesen werden. Statt Feinde zu Freunden zu machen, bezeichnet man damit Freunde als Feinde – und braucht nicht auf sie zu hören.

Nationalsozialismus und Holocaust haben die Judenheit um Jahrhunderte zurückgeworfen. Ich denke mit fester Gewissheit, dass der deutsche Faschismus nicht nur die Ausrottung von einem Drittel des jüdischen Volkes und der blühenden europäischen Kultur verschuldet hat, die Folge war auch, dass in einer gleichsam pervertierten Umkehr der jüdische Glaube um Jahrhunderte regredierte, zurückkehrte zu einer fundamentalistisch-klerikalen Theologie und zu von Gott nicht gewollter Rachsucht. Die aus ständigen Verfolgungen entstandene Angst vor Repressalien – welche in der Diaspora ihre Berechtigung hatte – wurde aber als Paranoia in den neuen Staat »importiert«, das hat zur Folge, dass auch Israel sich als isoliert ansieht, als »gefährdetes Schaf«, von siebzig Wölfen (den Nationen der Welt) umgeben, wie ein in Mischna, Talmud und den Midraschim dargestelltes Bild zeigt.

Zweifellos kann man einen Staat nicht nur mit den Visionen des Propheten Jesaja regieren – völlig gewaltlos hätte Israel im Nahen Osten nicht einen Tag überleben können. Es ist aber eine Frage des Ermessens. Gefahr ist nicht allein bei unseren Nachbarn zu suchen, sie droht auch vonseiten der eigenen Maßlosigkeit sowie einer falschen Einschätzung der Mittel, die wir einsetzen. Wir müssen den Weg finden, als friedfertige Nachbarn im Nahen Osten zu leben, und wir müssen den Palästinensern – so wie Jordaniern und Ägyptern – die Chance geben zu beweisen, dass sie ein normales Leben an unserer Seite leben können.

Wir Israelis müssen uns auf unsere Wurzeln zurückbesinnen: Als Kinder Abrahams müssen wir dessen Botschaft und Auftrag neu annehmen. Abraham wird in der Bibel als friedfertiger, barmherziger, kompromissbereiter, weiser und gesetzestreuer Mensch dargestellt. Im 1. Buch Mose erfahren wir, dass er nach seiner Ankunft im Lande Kanaan ein Fremdling bleibt, der versucht, durch Sanftmut, aber auch durch Bestechung und listige Täuschung zu überleben. Im 14. Kapitel des Buches begegnen wir Abraham als siegreichem, nichtsdestotrotz bescheidenem Feldherrn. Es ist ihm wichtig, gerecht zu handeln. Seither bewegt sich die jüdische Geschichte in einem Spannungsfeld zwischen dem Auftrag Gottes, gehorsam und gerecht zu sein, und den realpolitischen Gegebenheiten, welche die Juden daran scheitern lassen.

Gott verheißt Abraham und seinen Nachkommen das Gelobte Land, prüft aber immer wieder, ob sie der Verheißung würdig sind. Die Juden sind auserwählt, nicht weil sie besser, gerechter oder klüger sind, sondern weil sie für andere Völker in Sachen Gerechtigkeit und Moral beispielgebend sein sollten. Als Kind und Erwachsener – in meinem Schtetl in Rumänien, während der Vertreibung in Transnistrien oder in meiner Zeit als Mitbegründer eines Kibbuz und leidenschaftlicher Kämpfer für den Frieden in Israel – habe ich festgestellt, dass Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg bedeutet, sondern auch eine grundsätzliche Haltung dem Nächsten gegenüber zur Voraussetzung hat. Die einfache und doch so schwer zu verwirklichende Vorgabe Hillels9 lautet: »Was du selbst hassest, das tue nicht deinem Nächsten.« Auch Jesus wiederholte dies ähnlich,10 und später wurden, positiv gewendet, von Immanuel Kant folgende Worte formuliert: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«

Leider beeinflussten nur allzu oft Intoleranz bzw. die Unfähigkeit der Menschen, Verständnis füreinander aufzubringen, den Gang der Geschichte. Auch bei mir selbst stellte ich fest, dass sich das Bild von den Deutschen als ein Volk gehorsamer Täter allmählich dahingehend wandelte, sodass ich sie auch als verführte Opfer ansehen konnte. Die Begegnung mit dem Leid von Millionen von Menschen setzte bei mir einen Prozess der Hassüberwindung in Gang. Der Gedanke, dass letztlich ein ganzes Volk zu Unmenschlichkeit manipuliert wurde, ließ mich nicht mehr los.

Seit fast 60 Jahren ergreife ich jede sich mir bietende Gelegenheit, für eine israelische Friedenspolitik zu werben. Auch die Einladung nach Berlin nahm ich dankend an, um am 25. Juli 2009 auf dem Friedensfestival meine Stimme zu erheben. Dem sich anschließenden Beitrag von Wolfgang Effenberger konnte ich leider nicht meine volle Aufmerksamkeit schenken, denn ein eifriger Berliner Journalist versuchte mich unablässig zu überzeugen, dass meine Feststellung von fehlender israelischer Friedenspolitik seit Staatsgründung nur dem Antisemitismus diene. Anschließend habe ich die beeindruckende und weitblickende Rede »Quo vadis Deutschland – neue Kriege um Rohstoffe?« gelesen und Wolfgang Effenberger gebeten, mit mir in Verbindung zu bleiben. Daraufhin erhielt ich sein umfangreiches, hervorragend recherchiertes Rohmanuskript zur Begutachtung.

Es gibt viele Gesamtdarstellungen zur deutsch-jüdischen Geschichte, viele Veröffentlichungen zur Geschichte des Judentums, zum Antisemitismus und zur Verfolgung der Juden während des Dritten Reiches. So greift etwa die Darstellung von Arno Herzig auf 2000 Jahre zurück,11 aber er konzentriert sich so gut wie ausschließlich auf die Lage der Juden in den einzelnen Perioden der Geschichte. Dabei beleuchtet er einander abwechselnde Phasen der kulturellen und ökonomischen Blüte, der Bedrohung und Verfolgung bis hin zur Vernichtung. Leo Trepp befasst sich mit der Frühgeschichte des Christentums aus jüdischer Sicht und dem Verhältnis von Christen und Juden vom Mittelalter bis in unsere Zeit, dabei lässt er die Lage der Nichtjuden weitestgehend unberücksichtigt.12 Leo Sievers zeigt die bewegte Geschichte von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen auf, die sich vom ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung an über viele Kulturen verteilten.13 Deutschland sieht er als »Schicksalsland« der Juden an. Bis heute wird in aller Welt Jiddisch gesprochen, ein Idiom, das zu mehr als der Hälfte aus mittelhochdeutschen Wörtern besteht, noch heute tragen Juden in aller Welt deutsche Namen.

In »Kleine jüdische Geschichte« erzählt Michael Brenner die wechselvolle Geschichte der Juden, die sich über 3000 Jahre und fünf Kontinente erstreckt.14 Beschreibt Brenner die facettenreiche Geschichte einer Nation und einer Religion vom Vorderen Orient über die griechische und römische Welt, das maurische Spanien und Mitteleuropa bis nach Osteuropa, Israel und Amerika, konzentriert sich das vorliegende Buch auf die spezifischen Bedingungen, unter denen Deutsche und Juden zu verschiedenen Zeiten lebten, und stellt sie in größere Zusammenhänge. Von der Zeit Karls des Großen ausgehend, werden die Verwerfungen durch die Reformation sowie vor allem die Zeit des Humanismus im 18. Jahrhundert und die Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert beleuchtet und die Wege in die Symbiose erläutert. Indem Facetten verschiedener historischer Epochen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden, lässt sich das Buch schwer in ein hergebrachtes Schema pressen. Es versucht wahrhaftig die relevanten Zeitströmungen einer gemeinsamen Geschichte verständlich zu machen, einer Geschichte, die nicht nur die Diskriminierung und Verfolgung der Juden, sondern parallel dazu auch die politischen Strömungen zur Unterdrückung anderer Minderheiten wie Katholiken und Sozialdemokraten aufzeigt. Insofern scheint mir das Manuskript eine unverwechselbare Stellung innerhalb der Literatur über die jüdische Geschichte in Deutschland einzunehmen.

Der Reporter, Schriftsteller und Forscher Amos Elon postuliert in »Zu einer anderen Zeit« ebenfalls eine symbiotische Periode in der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte. Doch für ihn beginnt diese 1743 mit der Übersiedlung Moses Mendelssohns nach Berlin und endet mit Hannah Arendts Flucht im Jahr 1933.15 Für mich hingegen gibt es auch ein Davor und Danach: vor Mendelssohn und nach Arendt. Und dieser unbekanntere Teil der Geschichte wird hier gleichfalls behandelt, etwa die schwer nachweisbare Präsenz von Juden in ehemals römischen Gebieten in der Spätantike und im frühen Mittelalter. Die Aufklärung stellte schließlich eine entscheidende Wende in der jüdischen Geschichte dar, bedeutete sie doch endlich Hoffnung auf Integration. In Deutschland als wichtigem Zentrum machte sich – mehr als anderswo in Westeuropa – die fruchtbare Verbindung zwischen deutscher und jüdischer Kultur bemerkbar. Seit der Zerstörung des zweiten Tempels hatte es zwar viele unterschiedliche Strömungen im Judentum gegeben, aber alle waren sich in dem Glauben an eine messianische Erlösung einig, die uns Juden zurück ins Gelobte Land führen würde.

Demgegenüber sah der jüdische Aufklärer Moses Mendelssohn in der Aufklärung den Sieg des prophetischen Geistes. Ihre ethischen Postulate stellten einen Weg zur Erlösung dar, und zwar auch für die Juden, denn eine durch universale und jüdische Werte bestimmte Welt kennt keine Diaspora mehr, folglich müssen sie nicht mehr unbedingt ins Land der Väter zurückkehren, der Sieg der Aufklärung ist bereits die Erlösung. Eine Welle der Hoffnung auf Emanzipation durchströmte das europäische Judentum.

Nicht aber der Geist der Aufklärung siegte, sondern der Nationalismus: der gewaltorientierte Zionismus sowie der Antisemitismus mit seinem Hass auf reich gewordene Juden oder erfolgreiche jüdische Nobelpreisträger. Eine dunkle Wolke legte sich über Europa, und statt Judenemanzipation, Gleichberechtigung, Toleranz, Nachsicht und Bewunderung für den jüdischen Willen, sich in die europäischen Gesellschaften zu integrieren, gab es Pogrome, Vertreibungen und als Gipfel der menschlichen Verderbtheit schließlich den Faschismus und Nationalsozialismus. Diese Entwicklungen bilden den Hintergrund für die Entstehung des Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts als Gegenbewegung zu integrativen und aufklärerischen Intentionen. Die meisten zionistischen Denker und Führer wie Leon Pinsker und Theodor Herzl waren zwar durch aufklärerische Ideen geprägt worden, doch sie bekämpften das aufklärerische Judentum heftig und sahen die Aufklärung fast als eine Katastrophe in der jüdischen Geschichte an. So wurde die Emanzipation der Juden im Zeitalter der bürgerlichen Revolution als zweischneidiges Schwert begriffen: Dem Juden als Individuum alles, dem Judentum in seiner Gesamtheit nichts.

Anlässlich der Vorstellung der vierbändigen »Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit«16 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität erinnerte Michael A. Meyer – Professor am Hebrew Union College in Cincinnati und zusammen mit Michael Brenner Herausgeber des Werks – an von Christen und Juden gemeinsam gefeierte Feste und gemeinschaftliche geschäftliche Unternehmungen im Mittelalter. Ohne Namen zu nennen, schoss er einen Pfeil ab gegen Daniel Goldhagen, der mit seinem Buch »Hitlers willige Vollstrecker« heftige Kontroversen ausgelöst hatte.17 Die Shoah mit einem »gewaltigen Berg« vergleichend, sagte er: »Von dort aus ist es nur allzu leicht, Antisemitismus überall, vom Mittelalter bis zur Gegenwart, verbreitet zu sehen und einen deutlich gekennzeichneten Weg auszumachen, der zur Vernichtung der deutschen Juden führte … In unserer historischen Darstellung waren wir bemüht, solche geschichtlichen Verallgemeinerungen, die an Mythologisierungen grenzen, zu vermeiden.«18 Dieselbe Zielsetzung liegt auch unserem Buch zugrunde.

In jüdischen Gebeten entlang Generationen heißt es: »Lieber Gott, erneue unsere Gegenwart genau wie in der Vergangenheit« (Chadesch ja menu ka kedem). Wie aber sah die Vergangenheit aus? Die Söhne des Priesters Eli etwa zeichneten sich nicht durch aufrichtigen Gottesdienst aus, sondern durch gewalttätigen Diebstahl von Opfergaben sowie durch Vergewaltigung. David verfasste nicht nur die Psalmen, sondern missbrauchte auch seinen zusammengewürfelten Heerhaufen, um Schutzgeld zu erpressen. Zudem schwängerte er die Ehefrau seines treu ergebenen und tapfer kämpfenden Offiziers Uria. Anschließend kommandierte er Uria an den gefährdetsten Frontabschnitt ab, wo dieser erwartungsgemäß den Tod fand. König Salomon, Ergebnis dieser Liaison und personifizierte Weisheit, richtete anlässlich seiner Thronbesteigung ein Blutbad an. Der über Generationen in seiner Größe und Schönheit bewunderte Tempel Salomons, bis heute inbrünstig ersehnt, entsprach nicht im Geringsten dem Gebot, Gott in einer bescheidenen, zeltähnlichen Stiftshütte zu verehren. Beide Tempel waren zudem riesige Schlachthöfe und florierende Wechselstuben. Heutzutage betreibt Israel die Politik der gewalttätigen Neubesiedlung: Die Siedler enteignen und vertreiben die palästinensischen Einwohner und beabsichtigen die Zerstörung der zwei Moscheen auf dem Tempelberg, wo der »Dritte Tempel« errichtet werden soll. – Wollen wir tatsächlich derart in der Vergangenheit verhaftet bleiben? Sei es der uralte Traum von einem neuen Tempel, sei es der ritualisierte Auschwitz-Kult, sei es die Rachsucht oder die Blut-und-Boden-Mentalität, welche den Nahen Osten seit über sechzig Jahren in einem Wirbel von Gewalt und Gegengewalt hält. Auf welche Zukunftsvision können wir setzen, wenn wir ausschließlich in den Traumata vergangener Zeiten gefangen gehalten werden? Der mystische Name Gottes bedeutet »Der Werdende« – wenn Israel in der atomaren Ära aus der Vergangenheitserfahrung heraus nur auf Kriegsoptionen setzt, was soll dann aus uns und der Welt werden?

Nach dem Zweiten Weltkrieg veranlasste das Entsetzen über die Gräueltaten der Nationalsozialisten viele Christen zu einer pauschalen Verurteilung der Kirche im Mittelalter:Man betrachtete den Nationalsozialismus als das Ergebnis des christlichen Antisemitismus. Es gab aber sowohl im Mittelalter als auch später nicht wenige Päpste, Bischöfe, Schriftgelehrte und Theologen, die Juden in Schutz nahmen und Judenverfolgungen als schwere Verletzungen des christlichen Glaubens brandmarkten. Bücherverbrennungen sind keine Erfindung der Nationalsozialisten. Es gab sie schon im Mittelalter, meist durch ignorante christliche Theologen oder übertrieben eifrige, zum Christentum konvertierte Juden, die versuchten, den jüdischen Talmud als ein das Christentum verleumdendes Buch darzustellen. Auf der anderen Seite gab es jüdische Fundamentalisten, welche die philosophischen Schriften von Maimonides und seinen Anhängern verbrannten und sich damit nicht wesentlich von den Christen unterschieden, die dasselbe mit jüdischen Schriften taten.

Während in den meisten Werken über jüdische Geschichte der Antisemitismus alleiniges Objekt der Kritik ist, werden im vorliegenden Buch auch Widerstände gegen Juden wiedergegeben, etwa die Tagebuchnotizen von Thomas Mann über den »jüdischen Intellektual-Radikalismus« und die russischen Juden als »Führer der Weltbewegung« zitiert, was von »korrekten« Autoren gerne vermieden wird, um die Leser nicht auf »falsche Gedanken« zu bringen. Hier haben wir jedoch mehr Vertrauen in das sichere Urteil unserer Leser. So nehmen wir – trotz der offenkundig positiven Grundeinstellung dem Judentum gegenüber – auch den Antisemitismus vom Gebot des »Verstehens« nicht aus und stellen ihn dem »Philosemitismus« gegenüber. Dies erscheint mir aus persönlicher Erfahrung sehr wichtig.

Meine Kritik an der israelischen Politik vor und nach dem Jom-Kippur-Krieg wurde in Deutschland mit Unbehagen aufgenommen. Die Verurteilung vonseiten linker Kreise wurde von denen, die vorgeben, proisraelisch zu denken, sogar als »antisemitische Hetze« bezeichnet. Ich empfand es einerseits als wohltuend, so begeisterten und ergebenen Freunden Israels zu begegnen, andererseits war ich sicher, dass es sich hierbei um eine Art Philosemitismus handelte, der, wie von Frank Stern19 befürchtet, in Krisensituationen in der Tat schnell in Antisemitismus umschlagen kann.

Ziehen zwei Partner aus dem Zusammenleben Nutzen, so spricht man im Pflanzen- oder Tierreich von einer Symbiose. In diesem Sinne wird hier auch die deutsch-jüdische Symbiose verstanden. Sie war kein Trugbild und hätte weiter funktionieren können, die NS-Diktatur war kein Urteil Gottes! Mit Recht schreibt der Berliner Historiker Reinhard Rürup: »Auch wenn am Ende der Geschichte ein Völkermord stand, ist die deutsch-jüdische Geschichte sehr viel mehr als die Vorgeschichte der Katastrophe.«20 Es ist eine Geschichte von ungewöhnlichem Reichtum der Kultur und des Geistes, auch eines unglaublich rasanten wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs seit dem späten 18. Jahrhundert. Im deutschen Biedermeier wird dies durch ein Genrebild von Moritz Daniel Oppenheim, »Mendelssohn spielt vor Goethe«, und die Porträts von Heine oder Börne illustriert. Doch am Ende steht die Verzweiflung in den Selbstporträts Max Liebermanns, dem Begründer des deutschen Impressionismus, und Felix Nussbaums »Selbstbildnis mit Judenpass« und gelbem Stern von 1943.

Wenn wir heute weiterhin auf Gewalt beharren, marschieren wir auf dem falschen Weg weiter. Die Unfähigkeit einzulenken hat bisher in der Regel zum Untergang geführt. Die Menschen haben letztlich ein tiefes Bedürfnis nach Wahrheit. Heute wird allerorten davon geredet, wo Lüge verkündet wird. So steht der biblische Satz »Der Ewige Israels lügt nicht« in völligem Gegensatz zur Entwicklung der israelischen Gesellschaft. Ohnehin hat das gegenwärtige mit dem »Ewigen Israel« nur sehr wenig gemein.

Trotz des wachsenden Bewusstseins für Menschenrechte oder die Abschaffung der Apartheid in Südafrika, erleben wir heute an allen Ecken und Enden ein bedauerliches Versagen der Kinder Gottes. In Hass und Grausamkeit zeigen sich Menschen in Ruanda oder im ehemaligen Jugoslawien, in Algerien oder in den von Israel besetzten Gebieten nicht viel weniger grausam als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Hier wie dort wird das Völkerrecht missachtet, werden Feindbilder manipuliert, wird mit Doppelmoral argumentiert. Vertreibung, Enteignung, Freiheitsberaubung, gezielte Tötung – das alles wird geduldet und sogar aktiv von Demokratien der »westlichen Wertegemeinschaft« unterstützt. Ignoranz gegenüber dem Leid anderer ist ein weit verbreitetes Phänomen. Auch Schweizer, Amerikaner und andere Demokraten waren blind, als es darum ging, die aus dem brennenden Deutschland flüchtenden Juden aufzunehmen.

Was wir brauchen, ist nicht Sicherheit durch Gewalt, sondern Sicherheit durch Frieden. Die Weichen dürfen nicht so gestellt werden, dass Krieg wieder zum legitimen Mittel der Politik wird. Ich fordere, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht aufgrund historischer Schuld gelähmt wird bzw. sich politisch einseitig festlegt, sondern Verantwortung sowohl für Israel als auch für Palästina übernimmt. Es gibt wenige Juden, die wie ich Lobesworte für Deutschland übrig haben. Dennoch bin ich enttäuscht, dass gerade die Bundesrepublik, die doch gezeigt hat, dass ehemalige Feinde zu Freunden bzw. friedlichen Nachbarn werden können, es nicht wagt, gegen die israelische Palästina-Politik zu protestieren. Bedauerlicherweise fehlt nicht nur der Mut zur Kritik, sondern es wird im vorauseilenden Gehorsam der israelischen Regierung nach dem Mund geredet. Seit über sechzig Jahren lebe und handele ich nach dem Spruch der jüdischen Weisen: »Ein Held ist nicht derjenige, der seinen Feind tötet, sondern derjenige, der sich ohne Unterlass bemüht, seine Feinde zu Freunden zu machen.« Ich frage mich aber, wie man diejenigen bezeichnen soll, die Freunde als Feinde beschimpfen, nur weil sie Kritik üben.

»Geschichte muss immer wieder neugeschrieben werden, nicht weil neuehistorische Tatsachen bekannt werden,sondern weil sich der Standpunktder Betrachter ändert.«21

Arnold J. Toynbee (1889–1975)

Standpunktbestimmung

von Wolfgang Effenberger

Wann immer in den Medien oder im Schulunterricht die Geschichte des Judentums thematisiert wird, rücken die Opfer von Gräueltaten, Pogromen und Diskriminierung in den Vordergrund: 1096 im Rheinland von Kreuzfahrern des »ungeordneten Zuges« niedergemetzelt, 1350 während der Großen Pest als angebliche Brunnenvergifter auf Scheiterhaufen verbrannt, 1516 unter Papst Leo X. zusammengepfercht im Metallgießerviertel Venedigs, dem »Ghetto« – später folgten die meisten europäischen Städte diesem Beispiel –, bis zur Reichsverfassung von 1871 ausgeschlossen vom vollen Bürgerrecht, 1916 als Soldaten im Ersten Weltkrieg durch die beabsichtigte »Judenzählung im Heer« diffamiert, ab 1933 von den Nationalsozialisten boykottiert, durch beschämende »Judengesetze« der Menschenwürde beraubt und schließlich ermordet. In letzter Konsequenz führte der Massenmord am Volk des Buches das Volk der Dichter und Denker zurück auf die Stufe der Barbarei.

Viel zu wenig Beachtung finden indes die positiven Aspekte des Zusammenlebens von Juden und Deutschen im Laufe der Geschichte. Die Juden hatten sich von einer verfolgten, benachteiligten und dämonisierten religiösen Minderheit zu einer sich rasch und erfolgreich integrierenden Gemeinschaft entwickelt. Ihr Erfolg in Wirtschaft, Wissenschaft, Literatur und Politik rief bei vielen Deutschen unausweichlich Neid, Angst und Empörung hervor. Zwar hinkte die Bereitschaft der deutschen Aristokratie und des wohlhabenden Bürgertums, Juden gesellschaftlich vollständig zu akzeptieren, deren Integrationsbereitschaft hinterher, doch lässt sich belegen, dass Großkaufmannsfamilien, Bankhäuser und Unternehmer seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer wieder ihre Geschicke mit jüdischen Familien verflochten: Abgeordnete im badischen Landtag, in der Frankfurter Nationalversammlung und im Deutschen Reichstag, konservative Groß- und Kleindeutsche, Zeitungsverleger, freisinnige Nationalliberale sowie konservative Offiziere bis hin zu Generälen.

Eindrucksvoll erlebte im Ersten Weltkrieg der Musketier Ernst Effenberger, mein Großvater, als Untergebener eines Leutnants mit jüdischen Vorfahren ein Beispiel deutschjüdischer Symbiose. Er folgte dem bewunderten Offizier nach dem Krieg nicht nur in den Veteranenverband »Stahlhelm«, sondern auch in die Abwehrkämpfe des von Polen bedrängten Schlesien. Die gegenseitige Achtung ließ keinen Raum für Rassismus oder Antisemitismus. Diese Einstellung führte bei Ernst Effenberger 1934 zunächst zum Berufsverbot als Förster und 1938 zur Internierung im Konzentrationslager Sachsenhausen. Währenddessen fand seine Ehefrau in der Papierfabrik der jüdischen Familie M. Pam Brot und Arbeit, was die schwierige Lage der siebenköpfigen Familie deutlich erleichterte.22

Mehrere hundert Kilometer entfernt, im rumänischen Schtetl Frumişca, erlebte 1940 der damals 12-jährige Reuven Moskovitz eine im Rückblick tragikomische Situation: Während Hitler in Deutschland Juden verfolgte, befreundeten sich in seinem Dorf deutsche Soldaten mit jüdischen Mädchen. Im Elternhaus fand ein musikbegeisterter deutscher Feldwebel mit seinem Burschen Quartier. »Willi, blond und blauäugig, spielte auf der Querflöte wunderbare deutsche, französische und rumänische Liebeslieder.«23 Daneben brachte er den jüdischen Jugendlichen Handball bei und hielt schützend die Hand über sie. Doch auch die hässliche Seite offenbarte sich. Jungen Luftwaffensoldaten hatte es der lange weiße Bart von Reuvens Großvater angetan. Unter Protestschreien des Enkelkindes schnitten sie ihm mit einem Rasiermesser ein Stück ab. »Mein kindliches Herz aber war voller Hass gegen diese Deutschen, die meinen Großvater so gedemütigt hatten.«24

Vor Hitlers Machtergreifung wurden die Deutschen von ihren Nachbarn häufig gefürchtet, beneidet, bewundert oder auch verlacht. »Wirklich geliebt wurden sie vielleicht nur von Juden«, vermutet Amos Elon.25 Heinrich Heine, die Personifizierung des deutschjüdischen Dilemmas, erklärte sich die konfliktträchtige Beziehung der beiden durch ihre Wahlverwandtschaft. Auch Franz Kafka diagnostizierte: »Juden und Deutsche haben vieles gemeinsam. Sie sind strebsam, tüchtig, fleißig und gründlich verhasst bei den anderen. Juden und Deutsche sind Ausgestoßene.«26 Der amerikanische Historiker Gordon A. Craig sieht eine auffällige Ähnlichkeit in Fleiß, Sparsamkeit und der Neigung zu abstraktem Denken sowie gemeinsamen Respekt vor dem geschriebenen Wort.27 Nirgendwo sonst in Europa war die Dualität so ausgeprägt, wenngleich für die deutschen Juden seit dem 19. Jahrhundert häufig auch quälend. »Selten hat es ein Zusammentreffen zweier kultureller (ethnischer oder religiöser) Traditionen gegeben, das auf seinem Höhepunkt so schöpferisch war.«28

»Die deutschen Juden«, so formulierte es Arnold Zweig 1933, »sind an allen geistig gesellschaftlichen Formungen des deutschen Lebens hervorragend beteiligt, an den nützlichen ganz wie an den schädlichen, an den fördernden wie an den hemmenden. Die deutschen Juden sind nämlich Menschen und keine Engel.«29 Jüdische Familien, z. B. die Barnays, Mendelssohns, Pringsheims, Rathenaus und Warburgs, waren Mitgestalter der Geschichte, der Wirtschaft und der Kultur. Der Philosoph Moses Mendelssohn – enger Freund Lessings und anderer Vertreter der deutschen Aufklärung – »war der erste in einer langen Reihe von assimilierten deutschen Juden, die die deutsche Kultur verehrten und deren Bestrebungen zwei Jahrhunderte später ein so grauenhaftes und abruptes Ende finden sollten.«30 Darüber hinaus waren sie seit ihrer Emanzipation in allen westlichen Ländern gute Patrioten geworden.»Aber nirgends hatte dieser jüdische Patriotismus so glühende, tief emotionale Züge angenommen wie gerade in Deutschland«31, schreibt Sebastian Haffner, um dann weiter von einer jüdischen Liebesaffäre mit Deutschland zu sprechen, die sich in dem Halbjahrhundert vor Hitler abgespielt habe. Noch im März 1939 schwärmte Martin Buber – im strengen Gegensatz zu Gerschom Scholem – von einer deutsch-jüdischen Symbiose, die von den Nationalsozialisten unterbrochen worden sei, später aber wieder aufgenommen werden könne.32 Weniger anstößig wären die Begriffe »Assimilierungsgrad« oder »Akkulturation« gewesen.

Das deutsch-jüdische Erfolgskapitel ist durch die verstörenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts in den Hintergrund getreten. Zudem erschwert die Erinnerungskultur der vergangenen Jahrzehnte den offenen Blick auf 1000 oder sogar 2000 Jahre gemeinsamer Geschichte. Frank Stern fasst zusammen: »Der ausschließliche Blick auf Antisemitismus, Verfolgung, Vertreibung, Deportation und Vernichtung, auf die kulturelle und gesellschaftliche Distanz, verstellt die Wahrnehmung von Gemeinsamem, von wechselseitiger Teilhabe, kulturellen und sozialen Annäherungen und im gesellschaftlichen Austausch potenzierter Kreativität.«33

Mit einer zeitgemäßen Darstellung der gemeinsam erfahrenen kulturellen und geschichtlichen Entwicklungen möchte das vorliegende Buch einen Beitrag leisten, dass jüdisches und deutsches Leben in Deutschland wieder zur gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit wird. Auch will es der Forderung des 2010 verstorbenen Gründungsdirektors des Jüdischen Museums Frankfurt und ehemaligen Vorsitzenden der deutschen Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts, Georg Heuberger, nach einem »Perspektivwechsel« in der Darstellung von Juden im Schulunterricht Auftrieb verleihen.34 In der FAZ wurde sein Anliegen wie folgt beschrieben: »Im Mittelalter-Unterricht zum Beispiel solle darauf hingewiesen werden, daß Juden mehrere Jahrhunderte lang relativ unangefochten in der christlichen Gesellschaft lebten und eine bedeutende Rolle im mittelalterlichen Wirtschaftsleben spielten, aber auch bei der Vermittlung von Wissen aus der arabischen Welt. Zu den Themen des Geschichtsunterrichts müsse auch die jüdische Aufklärung, die darauf folgende Herausbildung eines jüdischen Bürgertums und einer jüdischen Bildungselite im 19. Jahrhundert gehören. Und selbstverständlich dürften die jüdischen Geistesheroen nicht vergessen werden: Sigmund Freud etwa, Albert Einstein, Franz Kafka, Arnold Schönberg.«35 Diese Aufzählung wird aber erst vollständig durch die Sozialrevolutionäre – angefangen bei Ferdinand Lassalle und Karl Marx bis hin zu Wilhelm Reich – sowie gesellschaftskritische Literaten wie Lion Feuchtwanger, Arthur Koestler und Kurt Tucholsky. Desgleichen sind etliche erfolgreiche deutsch-jüdische »Tandems« hervorzuheben wie Karl Marx/Friedrich Engels, Rosa Luxemburg/Karl Liebknecht, Otto Hahn/Luise Meitner, Ludwig Mies van der Rohe/Lilly Reich und viele andere. Hinzu kommen die ständig steigenden Zahlen von Mischehen; vermerkte doch die Reichsstatistik von 1914, dass auf 100 jüdische Eheschließungen 53 mit einem nichtjüdischen Partner kamen,36 ein weiteres Indiz für vorurteilsfreie Annäherung.

Formen des Antisemitismus beschränkten sich nicht auf deutschvölkische Kreise, sie fanden sich auch bei einigen assimilierten deutschnationalen Bürgern jüdischer Herkunft. Von einer geschlossenen deutschen Judenheit kann somit nicht gesprochen werden. Die Pole drifteten sehr weit auseinander, Kommunisten und Kapitalisten, Deutschnationale und Zionisten scheuten sich durchaus nicht, das brüderliche Band gelegentlich zu zerreißen. Die überaus reiche und vielschichtige deutsch-jüdische Erfahrung vor 1933 umfasst das ganze geistige, politische, religiöse und säkulare Spektrum der Gesellschaft und darf nicht nur auf institutionelle Zuordnungen reduziert werden. Die Trennlinie des Hasses war immer Änderungen unterworfen, sie verlief aber stets durch beide Lager und kann nicht auf die einfache Formel »hier Deutsche, da Juden« beschränkt werden.

Für Frank Stern zeichnet sich die deutsch-jüdische Kulturgeschichte zwar durch Widersprüche aus, doch sei sie über »Jahrhunderte auch eine kulturelle, soziale, intellektuelle, künstlerische und ästhetische Fundgrube, nicht allein für das Verständnis der Vergangenheit, sondern auch im Hinblick auf eine sich neu entfaltende deutsch-jüdische Gegenwart«.37 Seit 1945 zeichnet ein als gesellschaftliche Norm installierter Philosemitismus die neue Haltung gegenüber Juden aus. Doch auch wenn Deutschland und die Welt der »deutschen Judenheit« in der Tat viel zu verdanken haben – seien es kulturelle Beiträge oder epochale Erfindungen –, so wird von manchen Deutschen die Judenliebe heute geradezu übertrieben hingebungsvoll zelebriert. Auf sie trifft Wolffsohns Satz zu: »Ohne Juden wissen viele gute Deutsche nicht, was sie denken dürfen sollen.«38 Nach Stern könnte indes der Philosemitismus zur erneuten Ausgrenzung alles Jüdischen führen. Ein derartiger Irrweg wird sich nur vermeiden lassen, wenn Vorurteile und Klischees überwunden werden können und das Verständnis für komplexe Zusammenhänge wächst. In diesem Sinne tragen die Medien eine besondere Verantwortung. So hat das ZDF mit dem Mitte März 2013 ausgestrahlten Doku-Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« auf bisher einzigartige Weise, soweit das in drei Filmstunden überhaupt möglich ist, die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges als Schicksalsgeschehen in aller Eindringlichkeit und Differenziertheit in einem gefühlsstarken Generationenporträt eingefangen. Ähnliches ist auch mit diesem Buch beabsichtigt.

Sollte der von Georg Heuberger geforderte »Perspektivwechsel« alle Facetten beleuchten und auch schmerzhafte Wahrheiten nicht ausschließen, werden Ausgrenzungs- und Diffamierungsversuche nicht fruchten. Künftige Demagogen hätten keine Chance.

Das Jubiläumsjahr 1913 – die Welt schaut auf Berlin

Die rauschenden Festlichkeiten zum 25-jährigen Regierungsjubiläum Kaiser Wilhelms II. überstrahlten 1913 zwei weitere bedeutende Ehrenfeste: die Hundertjahrfeiern anlässlich der Völkerschlacht bei Leipzig sowie des Judenedikts in Bayern. Bereits vier Tage vor dem Höhepunkt, am 13. Juni 1913, nahm der Kaiser bei strömendem Regen im offenen Gefährt auf der Döberitzer Heerstraße die Parade der Wagen ab, welche der Kaiserliche Automobilclub ihm zu Ehren organisiert hatte.39 Am gleichen Tag hob Ludwig Geiger, Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judentums (AZJ), die Regierungsjahre des Kaisers als eine Zeit gesegneten Friedens hervor, ihn selbst als leuchtendes Beispiel unermüdlicher, vielseitiger Tätigkeit. »So schlingt sich zwischen Monarchen und Volke ein Band inniger Herzlichkeit. Selbst die Unzufriedenen – und deren gibt es wie jedem Monarchen gegenüber gar manche in vielen Kreisen – sehen in ihm nicht nur den Herrscher, sondern den Vater und den Führer.«40

Am nächsten Tag folgten im Landesausstellungspark zu Berlin die Huldigungsfeier der Vereinigten Deutschen Landsmannschaften sowie eine Festsitzung im Reichstag, die aber von den Sozialdemokraten boykottiert wurde. In seiner Festrede wies Reichstagspräsident Johannes Kaempf dem Kaiser unterstellte Kriegsgedanken vehement zurück: »Er, der das mächtigste Kriegsinstrument in der Hand hält, hat es nicht benutzt, um kriegerische Lorbeeren zu pflücken, sondern um uns und der Welt den Frieden zu bewahren. Wir leben in einer ernsten Zeit, aber wir haben das felsenfeste Vertrauen, daß der Kaiser das bleiben wird, was er war und was er ist: der Friedensfürst, der das Kriegsschwert nur ziehen würde, wenn es gälte, die Lebensbedingungen des deutschen Volkes zu verteidigen.«41

Die Feierlichkeiten am Sonntag, dem 15. Juni, wurden mit Festgottesdiensten in der Hof- und Garnisonkirche zu Potsdam, in der Alten Garnisonkirche zu Berlin, der Invalidenhauskirche und der Neuen Garnisonkirche am Kaiser-Friedrich-Platz eröffnet – vereinigte doch der Jubilar in seiner Person dank Gottes Gnaden Thron und Altar. Die Verbindung von Staatsräson und Christentum lässt sich bis zur Epoche Karls des Großen zurückverfolgen. Inzwischen hielt sich der Protestantismus lutherischer Prägung viel darauf zugute, preußische Staatsreligion zu sein. Je mehr der Geist der Aufklärung in die Gedanken- und Glaubenswelt des Volkes eingedrungen war und sich mit der Bilderfeindlichkeit der evangelischen Kirche verschmolzen hatte, »desto weniger konnte noch zwischen dem ›Antlitz Gottes‹ und dem des jeweils regierenden deutschen Kaisers unterschieden werden«42. Neben den Festgottesdiensten in den protestantischen Kirchen wurde aber auch in der Synagoge der Israelitischen Synagogen-Gemeinde »Adaß Jisroel«, u. a. mit jüdischen Mannschaften der Berliner Garnison, eine Jubiläumsfeier abgehalten.

An der Spitze der Abordnung aus den Vereinigten Staaten von Amerika stand kein Geringerer als der Milliardär Andrew Carnegie. Von Präsident Wilson lag ein Gratulationstelegramm vor: »In der aufrichtigen Hoffnung, daß eine lange Dauer Eurer Majestät segensreicher, friedlicher Regierung dem großen deutschen Volke wachsenden Segen bringen möge, bringe ich Euer Majestät die herzlichsten Glückwünsche der Regierung und des Volkes zum 25jährigen Tage von Eurer Thronbesteigung dar.«43 Ebenso hatte der British Council des vereinigten kirchlichen Komitees zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen Abordnungen entsandt. In der Ergebenheitsadresse der englischen Kirchen betonte Bischof Boyd Carpenter den außergewöhnlichen Fortschritt in der materiellen, moralischen und intellektuellen Wohlfahrt des deutschen und seines eigenen Volkes, um dann festzustellen:»Ein solcher Fortschritt ist nur möglich, wenn die Völker frei sind von den Besorgnissen und Störungen des Krieges, und wir erkennen es mit Dankbarkeit an, daß die Erhaltung des europäischen Friedens nächst Gott in nicht geringem Maße auf den früh gebildeten und unermüdlich festgehaltenen Entschluß Eurer Majestät zurückzuführen ist, die Segnungen des Friedens zu fördern und zu erhalten.«44 Wilhelm II. möge lange leben, damit er sich weiterhin für den Frieden in der Welt und den Fortschritt der Zivilisation einsetzen und bei der Ausbreitung des gemeinsamen Glaubens eine feste Stütze sein könne. Der Kaiser wiederum versicherte dem englischen Bischof, dass er fortfahren werde, sein Bestes zu tun, »um den Frieden zu erhalten und die freundlichen Beziehungen zu fördern, die zwischen den beiden Nationen bestehen«45.

Der Inhalt des Huldigungstelegramms von Rabbiner S. Breuer im Namen der »Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums« stand dem Ehrenerweis der englischen Bischöfe in keiner Weise nach (siehe Abb. auf Seite 35).

Dem Kaiser war die Huldigung Breuers offenbar derart wichtig, dass er persönlich den Innenminister anwies, »der freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums in Frankfurt a. M. im Hinblick auf die in dem Huldigungstelegramm vom 16. Juni d. J. zum Ausdruck kommende loyale und königstreue Gesinnung Allerhöchst ihren Dank auszusprechen«47.

Darüber hinaus erwies sich der Kaiser gegenüber herausragenden Persönlichkeiten der Großindustrie sowie der Finanzwelt als dankbar und zeichnete aus Anlass des Jubiläums verdiente Bürger mit Titeln und Orden aus. Elf von ihnen bildete die Illustrierte Zeitung ab, wobei ein Hinweis auf konfessionelle Zugehörigkeit fehlte. Erst durch Recherche konnte ermittelt werden, dass fünf von ihnen später auf einem jüdischen Friedhof ihr Grab fanden, z. B. der Chef der Firma Caesar Wollheim Kohlen en gros, Eduard Arnhold. Der Politiker und Mäzen schenkte 1910 dem preußischen Staat die Villa Massimo in Rom, wo bis heute jeweils sechs deutsche bildende Künstler – Architekten, Autoren und Komponisten – mit einem Stipendium für ein Jahr gefördert werden. Die Villa, Sitz der deutschen Akademie (Accademia Tedesca), wurde 1913 fertiggestellt.

Jüdische Medien wie die Deutsche Israelitische Zeitung (DIZ) berichteten mit Stolz, dass der jüdische Turnverein »Bar Kochba« mit einer 50-köpfigen Mannschaft an der Einweihung des deutschen Stadions anlässlich der Jubiläumshuldigung teilnahm, und zählten alle mit einer Auszeichnung bedachten jüdischen Persönlichkeiten auf: »So wurde u. a. Herr Geh. Kommerzienrat Arnhold in Berlin in das Herrenhaus berufen. Der Rote Adlerorden zweiter Klasse wurde Herrn Dr. James Simon, dem Vorsitzenden des Hilfsvereins der deutschen Juden [verliehen], die Krone zum Roten Adlerorden dritter Klasse Herrn Geh. Kommerzienrat Dr. Ed. Simon, der Rote Adlerorden dritter Klasse mit der Schleife Herrn Kommerzienrat Bamberg, der Roter Adlerorden vierter Klasse Herrn Fabrikbesitzer Baschwitz, dem Kommerzienrat Paul Herz, sämtlich in Berlin …«48

Aus Anlass des Regierungsjubiläums ausgezeichnete Männer aus Großindustrie und Finanzwelt

Die umfassende Huldigung des »Friedenskaisers« war beeindruckend. Immer wieder wurde betont, dass der ungeahnte materielle und kulturelle Aufschwung in erster Linie dadurch möglich gewesen sei, dass Wilhelm II. nicht nach kriegerisch errungenen Lorbeeren strebe, sondern seine Macht und seinen Einfluss eingesetzt habe, um Deutschland und Europa den Frieden zu erhalten. Am 4. Mai 1891 hatte der Kaiser versprochen, dafür zu sorgen, dass, »der europäische Friede«, läge er in seiner Hand, »nimmer gestört würde«.49 Dieses Bemühen sei bisher von Erfolg gekrönt, so stellte die DIZ fest. »Dafür gebührt ihm nicht allein seines eigenen Volkes Dank. Deshalb ist der Tag, der das erste Vierteljahrhundert der Regierung des Kaisers abschließt, für ganz Europa von hoher Bedeutung. Er reiht sich den anderen nationalen Gedenktagen an, die das Jahr 1913 in so reicher Zahl dem deutschen Volke bietet. Mit unzähligen anderen danken auch wir deutschen Juden dem Kaiser herzlich für das, was er durch seine Friedenspolitik für unser Vaterland und für alle Kulturvölker getan hat.«50 In den letzten 25 Jahren hätte er sich als Friedensfürst des inneren und äußeren Friedens, als »des Reiches Mehrer« bewährt. Der Herr möge ihm auch weiter die Kraft geben, den Frieden zu erhalten und Gerechtigkeit zu pflegen. »Am nächsten Sabbath wird in den Synagogen Bayerns die Fürbitte für den Kaiser dem Gebete für unsern Prinz-Regenten und das Königliche Haus angeschlossen werden.« 51

Diese Huldigungen muten heute merkwürdig an, sind wir doch gewohnt, das deutsche Kaiserreich mit kritischen Augen zu betrachten. Die geringe Zahl an Auswanderern gen Nordamerika bestätigt indes das positive Urteil der DIZ. Sie ist Indiz für ein prosperierendes Deutsches Reich, denn im Gegensatz zu den steigenden Auswanderungszahlen der Briten und Italiener gingen die der Deutschen fast gegen null (vgl. Grafik auf Seite 194).52

Und in Ergänzung zu den schmeichelnden Worten der DIZ bringt Alexander von Schönburg Nicolaus Sombarts Ausführungen über den Gralsbezirk der Wilhelminischen Herrschaft treffend auf den Punkt: »Als längst das Abendrot der Monarchien leuchtete, versuchte Wilhelm II. noch ein letztes Mal, die Idee von der ›mystischen Mitte‹ zu leben. Und es gelang dem oft verlachten Monarchen sogar. Er schuf in Deutschland ein Kaiseramt – angesichts der zerklüfteten deutschen Identität war das allein schon eine ziemliche Leistung –, auf das in der zugegeben kurzen Zeit seiner Existenz alle Institutionen des Reiches, alle Schichten und Stände der Bevölkerung ausgerichtet waren ... Im Zentrum des Reiches die mit Wucht aufgemotzte deutsche Hauptstadt, in deren Zentrum stand das königliche Schloß, und in dessen Mitte wiederum befand sich der legendäre Weiße Saal.«53 In dieser Darstellung spiegeln sich in kongenialer Weise die Feierlichkeiten zum 25. Thronjubiläum. Noch ahnte kaum jemand, dass in der »Friedenssanduhr«, nur 42 Jahre nach dem letzten Krieg, die Körner des letzten Friedensjahres bereits herunterrieselten ...

Der Gedenktag zu 100 Jahren bayerisches Judenedikt am 10. Juni vollzog sich weitaus stiller. Diese Weisung, so ließ die AZJ ihre Leser wissen, »zeugt gewiß von dem ehrlich aufklärerischen Geiste des ersten bayerischen Königs, dem volks-, bürger-, freiheitsfreundlichen Max I. Joseph, dem Vater der bayerischen Verfassung von 1818.«54 Aus gleichem Anlass veröffentlichten die bayerische Staatszeitung und die DIZ eine Würdigung des Distrikt-Rabbinats von Ansbach: »Wenn einem Gesetz, noch dazu in unserer gesetzgeberisch so fruchtbaren Zeit, ein so ehrwürdiges Alter beschieden ist, wenn es so viele Umwälzungen, wie sie das 19. Jahrhundert in sich barg, überdauert, dann kann es ein schlechtes Gesetz nicht sein. Und in der Tat fühlten sich unsere jüdischen Mitbürger bis vor ganz kurzer Zeit sehr wohl unter dem Regime des Ediktes. Aber seit etwa 6 Jahren tobt innerhalb der bayerischen Judenheit ein heftiger Kampf.«55 Ludwig Feuchtwanger schreibt den unerfreulichen und, da vor der christlichen Öffentlichkeit ausgetragen, wahrhaft blamablen Zwist zwei diametral entgegengesetzten Randgruppen zu: der starren Orthodoxie einer verschwindenden Minderheit und den geradezu als Ketzer angesehenen reformerischen Kräften.56

I. Von der Frühzeit bis Anfang des 20. Jahrhunderts: Ambivalenz und Symbiose

Zum Verständnis der Situation von Juden und Christen ist es notwendig, die Geschichte in das für beide Seiten wichtige Alte Testament zurückzuverfolgen, um ein vereinfachendes, dennoch zulässiges Koordinatensystem entstehen zu lassen. War doch Jesus, den auch der Kaiser, erster Priester des deutschen protestantischen Christentums, als Sohn Gottes anbetete, selbst Jude und in jüdischer Tradition aufgewachsen. Im Kampf um die wahren Werte seiner Religion ging er am Palmsonntag in den Tempel und trieb alle Händler und Käufer hinaus, stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenverkäufer um und rief: »In den Heiligen Schriften steht, dass Gott erklärt hat: ›Mein Tempel soll eine Stätte sein, an der die Menschen zu mir beten können!‹ Ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus!«1

Mit Jesu Geburt beginnt für die christlich geprägte westliche Hemisphäre die neue Zeitrechnung, dagegen gibt der hebräische Kalender (HK) das Jahr von Christi Geburt mit 3761 an. Er beginnt mit der Erschaffung Adams, der biblischen Schöpfungsgeschichte.

Gemeinsames Ferment reicht weit zurück

Großsteingräber und Pyramiden

Aus der zweiten Hälfte der Jungsteinzeit (4000–1740 v. C.) finden sich über ganz Europa verstreut und sogar bis in den Vorderen Orient hinein imposante Steinsetzungen, üblicherweise als Megalithen bezeichnet, z. B. Tempel in Malta, die Menhire von Carnac in der Bretagne, die geheimnisvolle Anlage im britischen Stonehenge oder das irische Kuppelgrab Newgrange2. Rätselhafte Steinkreise sind zudem in verschiedenen Küstenregionen der Nord- und Ostsee anzutreffen sowie im Vorderen Orient – im Hebräischen Gilgal genannt. Aus unbehauenen Steinblöcken zusammengefügte Tische oder Tore im Jordanland mögen uralten Erzählungen über Riesen zugrunde liegen.

Über die Erbauer weiß man nur sehr wenig. Heute geht man davon aus, dass erst sesshaft gewordene Sammler und Jäger einen solchen Totenkult entwickeln konnten. Andere Quellen sehen die Steinmale als Überreste indogermanischer Wanderungen an,3 während Heine-Geldern die Zeugnisse einer »großen religiösen Bewegung« zuschreibt.4 Lange Zeit konnten sich die Menschen nicht erklären, wie die 20 bis 30 Tonnen schweren Deckplatten bewegt worden waren, und so wurde diese Tätigkeit entweder Hünen oder sogar dem Teufel zugeschrieben. Als christliche Missionare anfingen, die Steinbauten als »Teufelsküchen«, »Teufelsbetten« und »Teufelskanzeln« zu verfluchen, waren sie zur Vernichtung freigegeben. Gab es im Kreise Uelzen um 1850 219 Gräber, sind es heute noch 17, von denen die meisten Spuren der Zerstörung aufweisen.5

»Teufelsküche« in Haldensleben (li.), Dolmen im Ostjordanland

Noch faszinierender sind die zur gleichen Zeit im alten Ägypten zumeist über Grabkammern errichteten Pyramiden, gewaltige Monumente aus Naturstein oder Ziegeln. So beherrscht etwa südlich von Abusir die erste Pyramide die riesige Nekropole von Sakkâra. Diese Stufenpyramide wurde von dem berühmten Baumeister Imhotep entworfen und symbolisiert eine Treppe, über welche die Seele des Herrschers zum Himmel aufsteigen sollte.6 Angesichts der übermenschlichen Anstrengungen muss die Totenverehrung bzw.die Jenseitsvorstellung hier von zentraler Bedeutung gewesen sein. Sollte dahinter vielleicht die Hoffnung auf eine heile Welt im Jenseits stehen – der Tod nicht als Schritt ins Ungewisse, sondern als Eintritt in einen bekannten und sicheren Raum? Während die religiösen Beweggründe der europäischen Megalithschöpfer im Dunkeln liegen, ist der Götterkult der Pyramidenerbauer bekannt, im altägyptischen Tempel zeigt sich deutlich, bildlich und inschriftlich, das Nebeneinander unterschiedlichster Gottheiten, an deren Spitze der Götterkönig Amun stand. Mit der Vielzahl versuchten die Ägypter den Reichtum göttlichen Wirkens fassbar zu machen.