Deutscher Herbst 2015 - Alexander Meschnig - E-Book

Deutscher Herbst 2015 E-Book

Alexander Meschnig

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Beschreibung

Die Grenzöffnung im Herbst 2015 war ein tiefer Einschnitt in der deutschen Geschichte. Der Beginn der sogenannten "Flüchtlingskrise" markiert eine massive Spaltung quer durch Familien und Freundschaften und eine unversöhnliche Polarisierung der politischen Lager. Praktisch alle Parteien, Medien, Kirchen, Künstler und zivilen Organisationen haben sich dabei von Anfang an geschlossen auf die Seite eines moralischen Universalismus gestellt, der jedes partikulare Interesse als nationalistisch, rassistisch oder "rechts" verortete und seine Protagonisten als "Pack", "Dunkeldeutschland" oder "Hetzer" in das gesellschaftliche Abseits stellte. Im Kern bleibt der moralische Universalismus unpolitisch. Denn seine abstrakten Forderungen reflektieren weder seine historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, noch die größtenteils irreversiblen Folgen seines eigenen Handelns. Ob die mit der Grenzöffnung bereits angestoßenen Entwicklungen noch eine Umkehr ermöglichen, kann niemand mit Sicherheit vorhersagen. Hauptbedingung für eine politische und vor allem mentale Wende ist aber eine nüchterne Analyse und Darstellung der Gegenwart, die sich an der Wirklichkeit, also an dem, was ist, und nicht an dem, was sein soll, orientiert. Die hier vorliegenden Essays wollen dazu einen Beitrag leisten.

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Alexander Meschnig

DEUTSCHER HERBST 2015

Essays zur Politik der Entgrenzung

© Manuscriptum Verlagsbuchhandlung

Thomas Hoof KG · Lüdinghausen und Berlin 2018

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ohne Zustimmung des Verlags ist strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die digitale Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-944872-88-9eISBN 978-3-948075-82-8

www.manuscriptum.de

INHALT

Vorwort

Der westliche Selbsthass

Die französische Kassandra: Jean Raspail

Unangenehme Fragen und Entscheidungen

Ein Lehrstück in Sachen Sozialrassismus

Merkel und das Ende des Politischen

Von üblichen Reaktionen und moralischen Schwächen

Deutschland auf dem Weg zum Failed State

Schuld und Erlösung: Zur religiösen Dimension der aktuellen Krise

Der Islamismus als Empörungsparadigma

Die Rückkehr der Gewalt in den Alltag

Realitätsverweigerung und ihre Folgen

Das »Postfaktische« als angewandte Dialektik

Medienpädagogik und die Pflicht zur Toleranz

Die linke Romanze mit der Gewalt

Das Ende der Illusionen

Wie der Frosch im heißen Wasser

Die Eitelkeit des Guten: Zur Psychologie der Willkommenskultur

Auf dem Weg in den Ausnahmezustand

Entfernte Verwandtschaft: August 1914 – September 2015

Epilog

Literatur

Die Probleme des 21. Jahrhunderts werden sicherlich nicht die des 20. Jahrhunderts sein. Ihre Rückübersetzung in das alte politische Drama, in welchem ›Faschisten‹ gegen ›Antifaschisten‹ kämpfen und innerhalb dessen die Rollen fest verteilt, die Prädikate eindeutig festgelegt sind, verstellt nur den Blick auf neuartige Konfliktlagen und richtet heillose Verwirrung an.

Rolf Peter Sieferle

VORWORT

Die folgenden Essays erschienen im Zeitraum August 2015 bis Oktober 2017 auf dem politischen Blog Die Achse des Guten (www.achgut.com). In der Regel beziehen sie sich nicht direkt auf tagesaktuelle Geschehnisse, auch wenn sie von diesen inspiriert sind, sondern versuchen, größere mentalitätsgeschichtliche Linien anhand der Entwicklungen in Deutschland zu ziehen. Mit Beginn der sogenannten »Flüchtlingskrise«, die eine Art Zäsur in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands darstellt, ist – unabhängig von den irreversiblen Folgen – eine massive Spaltung quer durch Familien und Freundschaften zu beobachten, die sich auf der Ebene der Politik widerspiegelt. Dem »Rechtspopulisten« steht der »Gutmensch«, dem »Menschenfeind« der »Volksverräter« gegenüber. In dieser extremen Polarisierung zweier unversöhnlicher Lager haben sich Politik und Medien von Anfang an fast unisono auf die Seite eines moralischen Universalismus gestellt, der jedes partikulare Interesse als nationalistisch, rassistisch oder »rechts« verortete und seine Protagonisten als »Pack«, »Dunkeldeutschland« oder »Hetzer« in das gesellschaftliche Abseits stellte. In seinem berühmten, 1840 erschienen Hauptwerk Über die Demokratie in Amerika beschreibt Alexis de Tocqueville die innere Logik des Ausgeschlossenwerdens in einer freien Welt:

»Der Machthaber sagt hier nicht mehr: ›Du denkst wie ich, oder du stirbst‹, er sagt: ›Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten: aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. (…) Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren.‹«

Zahlreiche Leserbriefe und E-Mails, die mich in den letzten Jahren auf meine regelmäßigen Artikel auf der Achse erreichten, hatten die soziale Isolierung in Beruf, Familie oder Freundschaften zum Thema, die diejenigen wie ein Bannstrahl traf, die die staatlich verordnete Willkommenskultur – die zur alles entscheidenden Gretchenfrage wurde – nicht kritiklos begrüßten. Als Unmensch gekennzeichnet, fand der Skeptiker sich allabendlich der moralischen Abwertung in den öffentlich-rechtlichen Medien ausgesetzt. Seine Positionen und Einwände standen außerhalb der legitimen Diskursräume. Die damit einhergehende Vermeidung tabuisierter Themen führte schließlich dazu, dass viele es nicht mehr wagten, bestimmte Dinge auszusprechen. Am Ende stand dann das Verbot, sie überhaupt noch zu denken.

Dieser Mechanismus prägt das kulturelle und politische Leben bei essentiellen Fragen in Deutschland nicht erst seit den Ereignissen des September 2015. In der unheilvollen Dynamik einer wachsenden »Schweigespirale« besteht eine große Gefahr für demokratische Gesellschaften, denn das offensichtliche Verleugnen, Verdrängen und Schönreden wichtiger Themen führt in letzter Konsequenz zu einer Entwicklung, die tatsächlichen rassistischen und rechtsextremen Kräften in die Hände spielt. Alle Politik und alle Diskussion, die uns vorschreiben will, in welchen Grenzen wir zu denken haben, ist eine Gefahr für die freie Meinung und den Austausch von Argumenten. Ob diese verfestigten Tabus nochmals ohne größere gesellschaftliche Konflikte rückgängig gemacht werden können, ist mehr als fraglich.

Die erschreckende Abwesenheit jedes Ansatzes von Vernunft, Skepsis oder Reflexion in Politik und Medien angesichts der Masseneinwanderung hunderttausender junger Männer aus den zerfallenden arabischen und afrikanischen Staaten ist in sich erklärungsbedürftig. Auch wenn Deutschland aufgrund seiner Geschichte vielleicht besonders anfällig ist: Länder wie Schweden, Dänemark, Holland oder Frankreich zeigen in aller Deutlichkeit, dass es sich hier um ein allgemeines Phänomen westeuropäischer Länder und Gesellschaften handelt. Eine geradezu groteske Realitätsverweigerung und eine mentale Disposition, die im »Fremden« quasi den Erlöser von historischen Sünden und Verbrechen wie Kolonialismus oder Faschismus sieht, spielen sicher eine wichtige Rolle. Daneben sind es aber Opportunismus, Feigheit und eine fast grenzenlose Naivität, die von Beginn an einen unverstellten Blick auf die Folgen der Grenzöffnung verhinderten.

Drei Jahre später werden die Konsequenzen aus der massenhaften Einwanderung tribalistischer, gewaltaffiner, patriarchaler und antisemitischer Gemeinschaften mit ihren mitgebrachten kulturellen Mustern immer sichtbarer. Damit erweitern sich auch die Grenzen des Sagbaren langsam, aber stetig. Fast alle Vertreter der »Willkommenskultur« wollen heute nicht mehr an ihre euphorischen Prognosen im Herbst 2015 erinnert werden. Es ist zu vermuten, dass sie den einst Verfemten irgendwann ohne Scham erklären werden, doch auch alles immer schon kritisch gesehen zu haben. Am Ende wird wieder niemand dabei gewesen sein; man war ja selbst nur das Opfer seiner Gutgläubigkeit und Menschenliebe geworden. Niemand konnte vorhersehen, was kommen wird. Erinnern wir uns daran, dass das Narrativ der »kulturellen Bereicherung« durch die Hereinströmenden und die Hoffnung auf einen ökonomischen Aufschwung durch überwiegend gering Qualifizierte oder Analphabeten aus Ländern ohne eine etablierte Arbeitsund Leistungskultur ein dominantes Muster bildete. Daimler-Chef Zetsche versprach sich durch Flüchtlinge ein »neues Wirtschaftswunder«, der gescheiterte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz fand die Masseneinwanderung »wertvoller als Gold«, die unvermeidliche Katrin Göring-Eckardt sprach von einem »Geschenk für Deutschland«, und ihr Parteikollege Anton Hofreiter sah im August 2015 »das Ganze als Chance (…), dass nämlich viele Menschen, insbesondere auch gutausgebildete Menschen, ihre Zukunft in Deutschland sehen.« Da durfte auch Lukas Köhler, Landesvorsitzender von Junge Liberale Bayern, im Juli 2015 nicht zurückbleiben: »Liebe Flüchtlinge, es ist gut, dass ihr hier seid, weil wir zusammen in Bayern glücklich werden können und ihr unsere Gesellschaft bereichert.«

Neben diesen heute nur noch wie aus einer längst vergangenen Zeit klingenden Stimmen wurden aber bereits mögliche Veränderungen für »die hier schon länger Lebenden« früh und deutlich ausgesprochen und in der Regel gutgeheißen. Beispielhaft hier nur der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck im September 2015: »So wie die Flüchtlinge ihre Lebensgewohnheiten ändern müssen, werden auch wir es tun müssen. (…) Unser Wohlstand und die Weise, in Frieden zu leben, werden sich ändern.« Fast zeitgleich machte der Präsident des Regierungsbezirks Kassel, Walter Lübcke (CDU), im Oktober desselben Jahres Bürgern, die gegen die Unterbringung von Asylbewerbern protestierten, klar: »Wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen – das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.«

Für nüchterne Analytiker der Folgen der Grenzenlosigkeit des deutschen (Sozial-)Staates klangen Äußerungen wie die oben zitierten von Beginn an wie unfreiwillige Satire; zugleich hatten und haben sie aber weitreichende politische Folgen. Wenn der amtierende Justizminister Heiko Maas in einer öffentlich-rechtlichen Sendung klarstellte: »Es gibt keine Verbindung, keine einzige nachweisbare Verbindung zwischen dem Terrorismus und den Flüchtlingen«, und das zu einem Zeitpunkt, als der deutsche Geheimdienst bereits auf den Zusammenhang von unkontrollierter Masseneinwanderung und terroristischen Attentätern aufmerksam machte, dann kann man von einer bewussten Irreführung der Bevölkerung sprechen. »Die Mär vom eingeschlichenen Terroristen« betitelte auch die regierungstreue Süddeutsche Zeitung einen Beitrag vom 14. Oktober 2015. Spätestens nach den Anschlägen von Paris mit 170 Toten, bei denen einige der Täter mit gefälschten syrischen Pässen über Griechenland in die EU einreisten, hat die Wirklichkeit alle diese Aussagen ad absurdum geführt.

Für jeden praktisch denkenden Menschen sind offensichtliche Zusammenhänge, etwa die zwischen steigender Kriminalität und einer ungeregelten Zuwanderung aus korrupten und gewalttätigen Gesellschaften, evident. Sie wurden und werden aber weiterhin geleugnet, wenngleich immer mehr Einsprengsel der Wirklichkeit den Weg in die (alternativen) Medien finden. Die Verkünder der Vorzüge von Weltoffenheit und Multikulturalismus werden zunehmend mit den Folgen ihrer humanitaristischen Ideologie konfrontiert. Da die Bereitschaft, die eigene Position in Frage zu stellen, nicht vorhanden und ein fundamentaler Fehler nicht einzugestehen ist, muss gegen jede Vernunft und Realität weiter relativiert und verharmlost werden. Die erzieherische Komponente gegenüber den Uneinsichtigen stand und steht dabei im Mittelpunkt, obwohl das heute letztlich nur noch Rückzugsgefechte sind. Bekanntlich sind letztere aber von besonderer Heftigkeit. Ein großer Teil des deutschen Journalismus hat seit dem September 2015 in der Pädagogisierung ihrer Leser, die allesamt auf eine »bunte Gesellschaft«, auf Weltoffenheit und Toleranz, verpflichtet werden sollten, ihre Bestimmung gefunden. Über die künftigen Aufgaben des Journalisten, genauer eigentlich: des politischen Aktivisten, war im Berliner Tagesspiegel zu lesen:

»Das Projekt Aufklärung müsste also auf der anderen Seite im deutschen (europäischen) Inneren an tiefsitzenden soziokulturellen Einstellungen rühren und wäre als politische Bildungsaufgabe der von Amerikanern und Briten nach 1945 in Westdeutschland betriebenen ›Reeducation‹ vergleichbar.«

Der massive Rückgang der Leserschaft der meisten großen Printmedien hat meines Erachtens nicht nur mit den Angeboten des Internet zu tun. Statt Information und politischen Journalismus bekommt man heute häufig pädagogische und moralische Rührstücke serviert, die das Politische auf ethische Fragen und individuelle Haltungen reduziert. Schert jemand – selten genug – aus dem erlaubten Diskurs aus, sind Entschuldigungstiraden oder maßlose Vorwürfe an der Tagesordnung.

In einigen der nachfolgenden Essays steht die Analyse einer »zweiten Reeducation«, diesmal im Namen der vielzitierten Buntheit und Toleranz, im Mittelpunkt. Insgesamt wird der Versuch gemacht, die deutsche Gegenwart auf historische, psychologische und mentale Muster zu untersuchen, die für eine Erklärung der aktuell ablaufenden Prozesse unabdingbar sind. Ich habe dabei keine meiner Prognosen im Nachhinein verändert, damit die innere Dynamik der letzten Jahre anhand der Entwicklung der Themen an meinen eigenen Reflexionen und Überlegungen deutlich wird. Jeder Text steht für den Versuch, auf den ersten Blick scheinbar Unerklärliches und Paradoxes in einen Interpretationsrahmen zu stellen, der den Sommer 2015 nur als die Zuspitzung und Verdichtung einer Dynamik betrachtet, die in Deutschland lange vor der Grenzöffnung begann. Natürlich ist Geschichte immer auch kontingent, von Zufällen und Sprüngen, von überraschenden Momenten und Wendungen gekennzeichnet. Dennoch gibt es Entwicklungen in Deutschland, die eine Kontinuität besitzen, wenngleich die aktuellen Verhältnisse vor ein paar Jahren von den meisten wahrscheinlich für vollkommen unmöglich gehalten worden wären.

Praktisch jedes Themenfeld wurde in diesem Land seit Jahren von unzähligen Tabus und Sprechverboten begleitet: Integration, Bildung, Asyl, Umwelt, Geschlechterverhältnisse, Kindererziehung, Kriminalität, Klimawandel, Gentechnik. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Im Idealfall hat jeder die »richtige Meinung« dazu, ja in allen diesen Fällen kann es im Prinzip nur eine richtige Meinung geben; alle anderen sind, am besten bei Strafe des gesellschaftlichen Ausschlusses, zu verbieten oder – die Macht dazu hat man noch nicht – unter Strafe zu stellen. Zumindest müssen die Protagonisten von »Fehlmeinungen« in die rechte, rassistische, populistische, neoliberale oder unmoralische Ecke gestellt werden. Man kann einfach nicht für Atomkraft und Gentechnik oder gegen eine weitere Zuwanderung aus islamisch geprägten Ländern sein; das ist entweder krank (islamophob), oder es grenzt schon an ein Hassverbrechen. Die Meinung, es lebten zu viele nicht integrierbare Gruppen in Deutschland oder man fühle sich zunehmend fremd in seinem eigenen Land, darf ein aufrechter Demokrat nicht haben, und es muss ihr deshalb vehement mit moralischer Entrüstung und gesellschaftlicher Ächtung begegnet werden. Eine nüchterne Betrachtung der Realitäten und unmittelbaren Folgen der ungesteuerten Zuwanderung, die quer zu den moralischen Erwartungen liegt, fällt selbst schon unter das Verdikt von »Hate Speech«. Ein sachlicher und distanzierter Blick, etwa auf die horrenden Kosten der »Flüchtlingskrise«, gilt per se als menschenverachtend, da allein auf den ökonomischen Nutzen gerichtet, und trifft auf vehementen Widerstand desjenigen Teils der Öffentlichkeit, der medial den moralischen Raum vorgibt, innerhalb dessen man in Deutschland denken darf. Der Soziologe Max Weber hat 1895 in seiner akademischen Antrittsrede Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik den Typus des von ihm so genannten Gesinnungsethikers schon sehr früh präzise beschrieben:

»Aber das Gegenteil von politischer Erziehung bekundet auch das schablonenhafte Gekläff jenes stets anwachsenden Chorus der – wenn mir der Ausdruck verziehen wird – Wald- und Wiesen-Sozialpolitiker, und ebenso jene menschlich liebenswürdige und achtungswerte, dennoch aber unsäglich spießbürgerliche Erweichung des Gemütes, welche politische Ideale durch ›ethische‹ ersetzen zu können meint und diese wieder harmlos mit optimistischen Glückshoffnungen identifiziert.«

Längst ist der sogenannte Mainstream – nicht nur in Politik und Medien, auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in Kirchen, Stiftungen und Verbänden – ein »politkorrektes Links« geworden, das im Verdrängen und Verleugnen gesellschaftlicher Realitäten seine Bestimmung gefunden hat und sich nur noch um die richtige Gesinnung dreht. Alle gesellschaftlichen Tabus, so der Medienwissenschaftler Norbert Bolz, sind heute linke Tabus: Ausländerkriminalität, muslimischer Antisemitismus, Jugendgewalt etc. Der moralisch Überlegene kann sich stets sicher sein, dass er den Argumenten der Gegenseite kaum etwas entgegensetzen muss; in allen öffentlichen Talkshows ist er auch in ausreichender Überzahl vertreten. In den meisten Fällen kennen die »edlen Seelen« (Siegfried Kohlhammer) auch niemanden mit einer anderen Meinung und wollen diese auch nicht hören. Mit »Rechten« sollte man am besten nicht reden, es könnte ja sein, dass man selbst keine Argumente hat.

Viele der Entwicklungen der letzten Jahre deuten darauf hin, dass eine in Deutschland selbstverordnete Haltung nicht mehr bereit ist, das Eigene zu verteidigen, da es gar keinen Begriff mehr davon gibt oder er ins Lächerliche gezogen wird. Exemplarisch dafür etwa Aydan Özoguz im Tagesspiegel vom Mai 2017: »Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.« Jedes nationale oder eigene Interesse, jede Tradition, alles Gewachsene, Errungene, gilt in den Augen der moralischen Universalisten per se als egoistisch, rassistisch, völkisch oder zumindest als unstatthaft. Dabei kann inzwischen jeden, der von den vorgegebenen Sprach- und Denkmustern abweicht, der Vorwurf des Rassisten oder Nazis treffen. Das geht soweit, dass freiwillige Mitarbeiter einer Hilfsorganisation wie der Essener Tafel, die ehrenamtlich Notleidenden hilft, sich von Linksextremen als Nazis beschimpfen lassen müssen. Dass die Essener Tafel zeitgleich von einer Migrantenpartei (ADD), die den autoritären türkischen Präsidenten Erdogan auf ihren Wahlplakaten in Deutschland feiert, eine Anzeige wegen Rassismus erhält, zeigt nur, dass Absurditäten in diesem Land Konjunktur haben. Nichts, was früher undenkbar war, ist heute unmöglich. Es gibt deshalb auch keine Satire mehr in Deutschland. Die tägliche Realität lässt sich nicht mehr persiflieren.

Die letzten Jahre haben nicht nur bei mir immer wieder das Gefühl ausgelöst: Im Prinzip ist bereits alles gesagt, alles liegt klar zutage, und dennoch steuern wir immer mehr auf einen Punkt zu, von dem an es keine Rückkehr zu den Verhältnissen vor dem September 2015 gibt. Natürlich ist mir, wie wahrscheinlich den meisten Lesern, klar, dass es niemals ein Zurück in der Weise geben kann, dass stattgefundene Entwicklungen rückgängig gemacht werden können. In verschiedenen Essays habe ich versucht, »die Dinge an ihr Ende zu denken«, um auf die eklatanten Widersprüche der offiziellen Politik aufmerksam zu machen, die irreversible Fakten schafft. So kann etwa kein demokratischer Staat Massenabschiebungen in der Größenordnung von einigen hunderttausend Menschen durchführen. Es können auch keine schwer bewachten Transporte »Schutzsuchende« in andere europäische Länder verbringen (Stichwort: Quote), selbst den – nicht vorhandenen – Willen dieser Staaten vorausgesetzt. All das können nur totalitäre Systeme umsetzen; für eine Demokratie bleibt das unmöglich. Aber was folgt daraus? Wir, oder besser: die politische und mediale Elite, haben uns in eine Lage gebracht, aus der es mit normalen rechtsstaatlichen Mitteln keinen Ausweg mehr zu geben scheint.

Dabei geht es in der Polarisierung der Positionen schon lange nicht mehr um den alten Gegensatz von rechts oder links, der nur noch eine folkloristische Note ist oder aus Denkfaulheit und Dummheit beibehalten wird, sondern um die Frage, ob wir bereit sind, die Errungenschaften unserer demokratischen Gesellschaft mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu verteidigen. Dabei steht die eigene Selbstbehauptung, jenseits politischer Lager, im Mittelpunkt.1 Ihr steht aber eine Phalanx moralischer Universalisten in Politik, Medien, Universitäten, Künsten etc. entgegen, die in der Abschaffung jeglicher nationaler oder kultureller Besonderheiten ihre gesellschaftliche Vision gefunden hat. Die Grenzöffnung im September 2015 war so nur der konsequente Schritt einer allgemeinen Entgrenzung, in der alles Vertraute, Geschaffene und Gesicherte zugunsten einer fluiden, hybriden, supranationalen Struktur verschwinden soll. Der Widerstand dagegen wird aber in dem Maße zunehmen, wie die Kräfte des Partikularen eigene Interessen durchsetzen und Werte bewahren wollen, auch wenn sie in den Augen des Juste milieu als reaktionär, altmodisch oder rassistisch gelten.

Es gibt aber, so ebenfalls ein übergreifendes Thema der folgenden Essays, letztlich einen Verbündeten, der Hoffnung gibt: Die Wirklichkeit. Schon heute lassen sich bestimmte Entwicklungen und Folgen der grenzenlosen Einwanderung nicht mehr vollständig verleugnen. Über alternative Medien und Portale gelangen, trotz des verabschiedeten »Netzwerkdurchsetzungsgesetzes«, mehr und mehr Informationen an die Öffentlichkeit, auf die die Hauptmedien reagieren müssen und die sie nicht länger verschweigen können. Die konkreten Erfahrungen von Polizisten, Lehrerinnen, Flüchtlingshelfern, Ärzten, Krankenschwestern, die Erlebnisse ganz normaler Menschen, die in sozialen Brennpunkten leben (müssen), können auf Dauer nicht totgeschwiegen werden. Man darf bereits heute Wetten darauf abschließen, dass viele der einstmals verfemten Positionen der Regierungskritiker früher oder später übernommen werden, wenn der Druck der Verhältnisse zu stark wird. Der Kulminationspunkt ist wahrscheinlich schon jetzt überschritten, mit einem Kippen der Stimmung kann schnell und jederzeit – etwa durch ein einzelnes, unvorhersehbares Ereignis – gerechnet werden. Eine Prognose über das Wann ist unmöglich, aber der Protest gegen die »Merkelisierung der Politik« (Rolf Peter Sieferle) wird stärker werden, je mehr Menschen von den Folgen der Masseneinwanderung betroffen sind und je wirkungsloser die »Rassismus- und Nazikarte« allein durch ihre ubiquitäre Anwendung auf buchstäblich alle Kritiker der Willkommenskultur wird. Viele werden, auch das keine gewagte Prognose, bei einer allgemeinen Änderung der Stimmung sofort in das bis dorthin verachtete Lager überwechseln; bei manchen Journalisten und Politikern hat man dieses Gefühl schon heute. Die Wirklichkeit und die von ihr produzierten Folgen lassen sich, das mag ein Trost sein, auf Dauer nicht leugnen. Das »Postfaktische«, so die Grundthese in einem meiner Essays, hat aber die Eigenschaft, die eigenen Widersprüche als besondere Qualität zu verkaufen. So könnte es angesichts der ökonomischen und administrativen Stärke Deutschlands lange dauern, bis sich die Konsequenzen der gegenwärtigen Politik in aller Schärfe zeigen – in der historischen Betrachtung, siehe etwa die realsozialistischen Länder, vielleicht bis zu einer massiven wirtschaftlichen Krise und dem sukzessiven Zusammenbruch des Sozialstaates.

Es bleibt am Ende die Frage, ob die bereits angestoßenen Entwicklungen noch eine Umkehr ermöglichen. Deutschland hat sich, wie die meisten westeuropäischen Staaten, in eine Lage gebracht, in der alle Errungenschaften der letzten Jahrzehnte fundamental in Frage gestellt sind. Wir müssen endlich anfangen darüber nachzudenken, was das für unser Zusammenleben und unsere Gesellschaft bedeutet. Dafür braucht es aber zuallererst eine ungeschminkte Analyse und Darstellung der Gegenwart, die sich an der Wirklichkeit, also an dem, was ist, und nicht an dem, was sein soll, orientiert. Die nachfolgenden Essays wollen dazu einen Beitrag leisten.

Am 24. August 1945, zwei Tage vor seinem Tod, beendete der österreichisch-jüdische Schriftsteller Franz Werfel seinen utopischen Roman Stern der Ungeborenen. Vor den Nationalsozialisten ins amerikanische Exil geflohen, sah er die Zukunft Deutschlands nach Kriegsende in prophetischer Weise vorher. Seine Worte mögen uns heute als Menetekel gelten:

»Zwischen Weltkrieg II und Weltkrieg III drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Und sie nahmen das, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Und Humanität schien ihnen jetzt der bessere Weg zu diesem Ziel. Sie fanden diesen Weg sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenwahn. (…) So wurden die Deutschen die Erfinder der Ethik der selbstlosen Zudringlichkeit. Und die Gebildeten unter ihnen hielten Vorträge an Volkshochschulen und in protestantischen Kirchen, wobei ihr eintöniges Thema stets der brüderlichen Pflicht des Menschen gewidmet war.«

Februar/März 2018

1Diese Frage steht auch im Zentrum einer Arbeit, die ich gemeinsam mit Parviz Amoghli in der Werkreihe von TUMULT (Band 5) unter dem Titel Siegen oder vom Verlust der Selbstbehauptung im Mai 2018 veröffentlicht habe.

4. August 2015

DER WESTLICHE SELBSTHASS

I.

Der Soziologe Max Weber nannte den vorherrschenden Typus des Intellektuellen in seinem 1919 veröffentlichten Essay Politik als Beruf zu Recht in pejorativer Absicht: Gesinnungsethiker. Deutschland besitzt, insbesondere im linken Spektrum, eine schier unerschöpfliche Quelle an »edlen Seelen« (Siegfried Kohlhammer), die in der Regel jegliche Verantwortung für ihre »reine und hehre Gesinnung« anderen bzw. der Allgemeinheit übertragen, die dann mit den unmittelbaren Folgen leben müssen. Ihre Positionen sind im besten Sinne apolitisch, da sie in den meisten Fällen keinen Bezug zur Realität oder den Friktionen der Realpolitik zeigen. Unerfüllbare Maximalforderungen und abstrakte Ideale, wie etwa ein bedingungsloser Pazifismus Käßmannscher Prägung oder das neueste Buchelaborat aus dem Prantlschen Paralleluniversum, sind typische Ausprägungen eines gesinnungsethischen Moralismus.

So mag es eine individuell erhöhende und wohlfeile Sache sein, den Anspruch eines jeden Ausländers auf Einwanderung und Versorgung durch den deutschen Sozialstaat zu fordern (»Kein Mensch ist illegal«). Nüchtern betrachtet stellt das aber nur eine Einladung an Millionen von Wirtschaftsflüchtlingen aus der ganzen Welt dar, gleich, ob sie politisch verfolgt werden oder nicht, die verpflichtende Grundsicherung (Unterkunft, Verpflegung, Geldleistungen) hier in Anspruch zu nehmen. Dabei spielt es objektiv nicht einmal eine Rolle, ob Deutschland ein, zwei oder mehrere Millionen Armutsflüchtlinge aufnimmt. Die Bevölkerungsexplosion in Afrika oder den meisten muslimischen Ländern würde die Verluste an Auswanderern jedes Jahr einfach ausgleichen. Die Zahl der Afrikaner ist etwa seit 1950 von 250 Millionen auf über eine Milliarde gestiegen. Millionen vor allem junge Männer, warten bereits auf die Chance, ihre Heimatländer zu verlassen und nach Europa zu kommen. Dafür gehen sie alle Risiken ein, insbesondere da sich herumspricht, dass, wer einmal in Europa, vor allem in Deutschland angekommen ist, in den allerwenigsten Fällen ausgewiesen wird, selbst wenn ein Asylstatus abgelehnt wird. Ökonomische Gründe mögen für die wachsenden Flüchtlingswellen wichtig sein; letztendlich ist es aber der demografische Faktor, der den Druck im Inneren vieler Staaten erhöht. Die extremen Youth bulges in Afrika und den arabischen Ländern, also die exorbitante Zunahme junger Männer in der Bevölkerungspyramide, für die keinerlei gesellschaftliche Position zur Verfügung steht und die im wahrsten Sinne des Wortes »Überflüssige« sind, zeigt sich aktuell in der Zunahme kriegerischer Konflikte in den betroffenen Regionen. Bürgerkriege, äußere Konflikte, ethnische und religiöse Spannungen sind stets historische Begleiterscheinungen von Youth bulges, wie Gunnar Heinsohn, ein akademischer Außenseiter, in seinem Buch Söhne und Weltmacht eindringlich zeigt.

II.

Die letzte Konsequenz vollkommen offener Grenzen ist, neben dem schon lange sichtbaren Import unzähliger Konflikte der Einwanderer und mentaler Inkompatibilitäten, das Ende unserer Sozialsysteme, wo man über längere Zeit Beiträge einbezahlt, um danach irgendwann Leistungen zurückzubekommen. Das Grundprinzip allen menschlichen Zusammenlebens lautet Reziprozität. Warum jemand, der hier nie einen Cent für die Allgemeinheit bezahlt hat, alle möglichen Forderungen stellen, den Staat erpressen und damit Erfolg haben kann – wie etwa in Berlin-Kreuzberg monatelang von sogenannten »Refugees« und ihren linksextremen »Supportern« vorexerziert –, das bleibt für die meisten Menschen, nicht nur in Deutschland, wohl rätselhaft. Es gibt, zugespitzt gesagt, keinen Generationenvertrag zwischen alternden Westeuropäern und Schwarzafrikanern, rumänischen Sintis, Irakern oder Afghanen. Offensichtlich gibt es aber so etwas wie einen »Schuldvertrag« zwischen dem »reichen Europa« und dem »armen Rest«, der leicht zu instrumentalisieren ist und jederzeit abgerufen werden kann. Der französische Soziologe Pascal Bruckner fasst dieses Verhältnis präzise und polemisch zusammen: »Europa schuldet Letzteren alles: Unterkunft, Verpflegung, Gesundheitsversorgung, Erziehung, ordentliche Löhne, prompte Erledigung ihrer Anliegen und vor allem Respektierung ihrer Identität. Bevor sie noch einen Fuß auf unseren Boden gesetzt haben, sind sie Gläubiger, die ihre Schulden einfordern.«

Über die tatsächlich Schuldigen, etwa die unsäglichen afrikanischen Regierungen, wird selten einmal berichtet. Inzwischen kommen die meisten afrikanischen Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa strömen, nicht aus den Bürgerkriegsländern und sind in der Regel nicht von Hunger bedroht. Die Ärmsten haben auch gar keine Möglichkeit, den Preis für die Schlepper zu bezahlen. Korruption und Vetternwirtschaft, ein mangelndes Bildungssystem, eine ineffiziente Administration, ausufernde Planwirtschaft, mangelnde Rechtssicherheit und ein Gangstertum an der Spitze vieler Staaten, die für sich und ihre Clans den Reichtum verschleudern, erzeugen eine Perspektivlosigkeit für viele Afrikaner, die offensichtlich alle Risiken auf dem Weg nach Europa in Kauf nehmen. Die afrikanische Union oder einzelne afrikanische Staaten scheint dieser Massenexodus der eigenen Bevölkerung, in der Regel junge Männer, nicht