4,99 €
Der "Deutsche Novellenschatz" ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 22 von 24. Enthalten sind die Novellen: Andolt, Ernst [d. i. Bernhard Abeken]: Eine Nacht. Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 378
Veröffentlichungsjahr: 2021
Deutscher Novellenschatz
BAND 22
Deutscher Novellenschatz, Band 22
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849666842
Druck: Bookwire GmbH, Voltastr. 1, 60486 Frankfurt/M.
Das Korpus „Deutscher Novellenschatz“ ist lizenziert unter der Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0) Lizenz und Teil des Deutschen Textarchivs. Eine etwaige Gemeinfreiheit der reinen Texte bleibt davon unberührt. Näheres zum Korpus und ein weiterführender Link zu den Lizenzbestimmungen findet sich unter https://www.deutschestextarchiv.de/novellenschatz/. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht.
www.jazzybee-verlag.de
INHALT:
Eure Wege sind nicht meine Wege.1
Eine Nacht.139
Hermine Wild (Adèle Wesemal).
Adele Wesemael, aus einer niederländischen Familie (der Vater war aus Brügge, die Mutter aus Gent), wurde im Jahre 1825 in Mechelen geboren, kam aber schon im dreizehnten Jahre nach Sachsen, von da im Jahre 1850 nach Österreich, wo sie ihren beständigen Wohnsitz aufschlug. Die deutsche Sprache lernte sie schon als Kind, da in ihrem elterlichen Hause für deutsche Bildung und Literatur eine große Vorliebe herrschte, und fast zu gleicher Zeit kamen Racine und Schiller in ihre Hände. Dass sie seitdem vollständig zur Deutschen geworden ist, bezeugt jede Seite ihrer Erzählungen, die zuerst von Leopold Kompert eingeführt, in Österreich verdiente Anerkennung gefunden haben, dem großen deutschen Publikum aber noch wenig bekannt geworden sind. Die hier mitgeteilte Novelle, wenn sie auch noch an einer gewissen Ungleichheit in der Gruppierung und Beherrschung des Stoffes leidet, erschien uns jedenfalls durch die energische Charakteristik und die Schärfe der Beobachtung so bedeutend, dass wir auf dies ungewöhnliche Talent, das weit über das Mittelmaß weiblicher Begabung hinausragt, in unserer Sammlung aufmerksam zu machen wünschten. Niemand wird der Entwicklung der Hauptfigur ohne den lebhaftesten Anteil folgen, was umso mehr für ein hohes Verdienst der künstlerischen Darstellung Zeugnis gibt, je weniger der Charakter dieser Leonie auf unsers Sympathien rechnen kann.
***
Es mochte gegen das Ende des vergangenen Jahrhunderts sein; die Französische Revolution, deren furchtbarer Ausbruch nur wenige Jahre danach erfolgte, kündigte schon hier und da durch verlängerte Stöße der unterwühlten Gesellschaft ihre Annäherung an; da kehrte Graf Tornstein auf seine Güter nach Deutschland zurück. Fast ein Fremdling kehrte er dahin zurück; als junger Mann hatte er die Heimat verlassen, sich seitdem bald hier, bald dort im Auslande aufgehalten, und nachdem er an den lockeren Sitten seiner Zeit den gehörigen Anteil genommen, sich in Paris mit einem französischen Fräulein vermählt, das, reich an Ahnen und arm an anderen Gütern, ihm nichts zubrachte, als die Verbindung mit einer alten, angesehenen Familie und ihre eigene ungewöhnliche Schönheit. Von dieser Schönheit hatten die Insassen des Gutes durch den Verwalter gehört, der einst, Geschäfte halber, nach Paris gerast war und den Grafen einen glücklichen Mann pries. Wieder waren Jahre verstrichen, den alten Mann deckte die Erde, und ein andrer Verwalter nahm seine Stelle ein. Die junge, schöne Gräfin, sagte ein Gerücht, hatte ein früher Tod von der Seite ihres Gatten gerissen, und vom Grafen kam noch immer keine Kunde. Er lebte in der Erinnerung seiner Untertanen ein schattenhaftes Leben, das nur manchmal von Seiten des Verwalters durch besonders empfindliche Eintreibung grundherrlicher Gerechtsame aufgefrischt ward. Da sprach man denn von ihm als von einem ziemlich leichtsinnigen, ein wenig zum Stolz geneigten, im Ganzen aber freundlichen und milden Herrn, auf den man einst große Hoffnungen gesetzt und dessen Rückkehr man herbeiwünschte, ohne daran zu glauben, weil man in ihr die einzige Schranke für die oft unausstehliche Tyrannei der Beamten sah. Und nun war er wirklich gekommen, fast unerwartet, und Alt und Jung war herbeigelaufen, sich an seinem Anblick zu erfreuen, und Alt und Jung schüttelte die Köpfe über die Verschiedenheit zwischen dem Grafen, den sie geträumt, und demjenigen, den sie nun sahen. Es kehrte zurück ein gebrochener Mann, vor der Zeit gealtert und die in früher Jugend so mutig erhobene Stirn von einem finstern Ernst umwölkt, der jede Freude ob seiner Rückkehr schnell verstummen hieß.
Der Tod seiner Gemahlin habe ihn so geändert, sagte man sich. Er habe vergebens auf Reisen Zerstreuung für seinen Schmerz gesucht; noch jetzt könne er ihren Namen nicht aussprechen hören, und keine Frau habe seit ihrem Verluste einen Eindruck auf ihn gemacht. Die Bauern schüttelten die Kopfe dazu; Sentimentalität ist auf dem Dorfe wenig zu Hause; sie waren froh, dass der Gram seine Gerechtigkeit und Einsicht nicht getrübt, die Plackereien der Beamten hatten ein Ende, mehr verlangten sie nicht. Doch Liebe und Vertrauen erwarb sich bei ihnen der kalte, schroffe Gebieter nicht, dessen Stolz durch sein Unglück nur gewachsen schien. Ein freundliches Gesicht hatte ihm mehr Herzen gewonnen, als alle seine wirklichen Eigenschaften es vermochten. Nur die Frauen waren mildern Sinnes, sie bedauerten ihn, um die verstorbene Gräfin, die solche Liebe eingeflößt, galt unter ihnen, trotz ihres Todes, für eine hochbeglückte Frau. Zwei Kinder hatten ihn begleitet; der Knabe mit seinem deutschen Namen Otto, war des Vaters Ebenbild, das Mädchen französisch Leonie genannt, und beide einander so unähnlich, als es Bruder und Schwester nur je gewesen sind, doch beide schon, scheu und fremd, denen das deutsche Wort nur gebrochen von den weichen Lippen floss.
Dieser letzte Umstand änderte sich jedoch bald, und dadurch fiel die eine Scheidewand zwischen dem Dorfe und dem gräflichen Hause weg. Denn trotz seines Stolzes, duldete der Graf, dass seine Kinder sich in ungestörter Freiheit mit den Kindern der Bauern herumtrieben. Sie hatten freilich auch keinen anderen Umgang. Ihr Vater schloss sich von dem benachbarten Adel, der ihm zuerst freundlich entgegenkam, so viel als möglich ab; man hielt seine Absonderung für Teilnahme an den neufranzösischen Ideen, er wurde auch in diesen Kreisen unlieb, und so stand er bald ganz allein.
Bei dieser Abgeschlossenheit befanden sich die Kinder ganz wohl. Mit Büchern und Anstandsvorschriften wurden sie wenig geplagt. Ihr Unterricht beschränkte sich auf das, was sie vom Schulmeister und vom Pfarrer lernen konnten, woran sich für Leonie ein besonderer Cursus in kleinen Handarbeiten und sonstigen weiblichen Beschäftigungen unter den Augen der Frau Pfarrerin schloss.
Wir können nicht sagen, das unsere kleine Heldin diesen Arbeiten besonders geneigt war; sie liebte den Musikgang, sie liebte überhaupt Alles, was ihre kleine Person mit Behaglichkeit umgab, und nur wenn sich mit einer Beschäftigung irgendein Zweck, ein Interesse verband, verwandelte sich oft plötzlich ihre träge Natur in starre Unermüdlichkeit und seltene Energie. Die Pfarrerin selbst war eine gute, sanfte Frau, die das mutterlose Mädchen seiner Mutterlosigkeit wegen schnell lieb gewann und, da sie selbst keine Kinder hatte, es gerne um sich sah; und Leonie war gerne dort, denn sie fühlte sich geliebt. Lieber aber war sie noch, wo es minder ruhig herging, denn, ohne selbst lärmend zu sein, war sie doch die Seele von allem Lärm, und die Knaben des Dorfes, ihr Bruder nicht ausgenommen, dem sie an geistiger Gewandtheit weit vorausgeeilt war, erkannten sie stillschweigend als ihre Herrscherin an. Unter ihnen war sie in ihrem Elemente, von ihnen wurde dem kleinen Fräulein die erste Huldigung dargebracht, und wunderbar war es, wie ihre zierliche Erscheinung sich immer sauber herausschälte aus der rohen Atmosphäre, in der sie sich so wohl gefiel.
Bei Otto drohte der Bauerntölpel mit der Zeit den adeligen Junker ganz zu überwuchern, bei Leonie war das unmöglich. Ihre ganze Organisation widersetzte sich dem. Sie war und blieb ein kleines, feines Ding, das nirgends viel Platz einnahm, geräuschlos auftrat und immer da war, man wusste nicht wie. Alles war Widerspruch an ihr; ihre blonden, lockigen, etwas ins Rötliche schimmernden Haare umrahmten seltsam den zarten Kopf mit den schwarzen, denkenden Augen. Statt des weichen Gemütes, das ihrem Bruder bei den tollsten Streichen stets den Stempel kindlicher Liebenswürdigkeit verlieh, zeigten sich bei ihr nur kurze, seltene Aufwallungen voll Leidenschaft, die aber der nächste Augenblick spurlos zu verwischen schien. Bis jetzt war eine zähe Beharrlichkeit, die vor keinem Hindernis zurückschrak, vielleicht einer der deutlichsten Züge dieses keimenden, sonderbar schwer zu erkennenden Charakters. Wohin kein Fuß gekommen, da drang gewiss der ihrige durch. Fest wie Stahl und leicht wie eine Feder, hatte ein Tanzmeister von ihr gerühmt; die Bauern druckten sich minder kunstgemäß aus, zollten ihr aber nicht geringere Bewunderung. Und es war ein eigener Anblick, sie so geschmeidig und luftig in ihrer unbändigen Gesellschaft durch Flur und Felder streifen zu sehen. Wie eine verzauberte Prinzessin-Tochter von bösen Kobolden bewacht, nur dass die Kobolde hier mehr gehorchten als befahlen, und selbst Otto entzog sich diesem Zauber seiner Schwester nicht. Aber keck und mutig in dem kleinen Kreise, in welchem sie Königin war, wurde sie scheu und still, sobald sie vor ihrem Vater stand. Er war ihre einzige, aber auch ihre große Furcht. Wann diese Furcht angefangen, darüber hatte sie nicht nachgedacht; es war ein Zustand, der für sie in der Ordnung der Welt begriffen war. Nie hatte sie ein freundliches Wort von ihm vernommen, nie einen Blick, eine Liebkosung von ihm empfangen, wie sie Otto, trotz seines finsteren Wesens, doch oft von ihm empfing; ja ihre aufkeimende Lieblichkeit, die, wechselvoll wie die Welle, in allen Schattierungen quellenden Lebens unaufhörlich ging und kam, immer dieselbe und doch stets eine andere schien, weckte bei ihm, anstatt Stolz und Befriedigung, offenbar nur eine größere Strenge und eine Kälte, die fast an Abneigung stieß. Doch ruhten seine Augen oft eigentümlich forschend auf ihr, als suche er ein Rätsel zu lösen, das seinen peinlichsten Anstrengungen stets von neuem zu entschlüpfen schien. In diesem Blicke vielleicht lag der erste Grund der Scheu, die Leonie vor ihrem Vater empfand; sie hatte ihn in seiner unheimlichen Tiefe so oft auf sich geheftet gesehen! Als sie noch in den Armen ihrer Amme lag und das werdende Verständnis an den ersten schwachen Eindrücken der äußeren Welt sich allmählich zu entfalten begann, war es dieser Blick vielleicht gewesen, der an ihr zitterndes Leben trat und der klaren Welle der Empfindung eine dunklere Färbung verlieh. Wer forscht dem Keime unserer Gefühle nach? Genug, die Furcht vor ihrem Vater schien mit Leonies Lebenswurzel verwachsen zu sein, ein heimlicher Trotz gegen einen Druck, der ihr mehr willkürlich als berechtigt erschien, mischte sich nach und nach ihrer Empfindung bei; sie war verschlossen und still in seiner Gegenwart und ging ihm aus dem Wege, wenn sie ihn kommen sah. Er bemerkte es wohl, aber er rief sie nie zurück. Er glaubte sie zu kennen; vielleicht kannte er sie auch, und doch — wir möchten fast sagen, es wäre besser gewesen, er hätte sie nicht so gut gekannt.
Sie sind zu streng gegen Ihre Tochter, Herr Graf, sagte der Pfarrer eines Tages zu ihm.
Finden Sie? fragte der Graf in den Hof deutend, wo Leonie, in dem Kreise einiger jugendlichen Verehrer stehend, die ihr angeborene Anmut in unbewusster Koketterie zum Zeitvertreib an ihnen übte.
Kinderei! meinte der Pfarrer, die Achseln zuckend.
Die Zeit wird kommen, wo es keine Kinderei mehr sein wird, versetzte der Graf, was dann?
Ich begreife Sie nicht. Jeder andre Vater hätte seine Freude an dem schönen Kinde, und Sie —
Ja, sie ist schön, sagte der Graf, und eine Wolke zog über seine Stirn, ich wollte, sie wäre es nicht.
Der Pfarrer war erstaunt, schwieg aber, da er zu fühlen glaubte, dem Grafen sei das Gespräch unangenehm. Seine Verstimmung hatte überhaupt seit einiger Zeit bedeutend zugenommen. Er war offenbar unruhig, ritt einige Mal selbst nach der nächsten Stadt und unternahm endlich eine längere Reise, von der er erst nach Wochen wiederkam. Ein gewisses Befremden erregte er vorher im Dorfe, das er einen Hof, der in einiger Entfernung vom Dorfe ziemlich vereinsamt am Saume des Waldes lag und dem Schloss eigen zugehörte, einem seiner Diener in Pacht gab, dem einzigen, der ihn aus der Fremde zurück begleitet, sich durch sein mürrisches, verschlossenes Wesen wenig Liebe erwarb und dazu, obgleich ein Deutscher, doch fremd in der Ortschaft war. Wie gesagt, die Leute verwunderten sich über das Glück des Mannes, und die Gunst, in welcher er bei dem Grafen stand, erwarb ihm manchen Neider. Das kümmerte aber den Thomas Werner nicht. In aller Ruhe ließ er seine neue Behausung herrichten, wie man sagte, mehr wie es sich für ein Herrenhaus gezieme, als für einen Bauernhof. Möbel wurden aus der Stadt herbeigeschafft, die Fenster der oberen Zimmer umhüllten sich mit Gardinen, und man wollte von Teppichen wissen, deren Farbenpracht alles im Dorfe Gesehene bei weitem überstieg und sich nur mit denen des Schlosses vergleichen ließ. Das der Thomas diese Vorbereitungen nicht für sich allein traf, versteht sich von selbst; man munkelte allerhand von einer reichen Braut; als aber das Haus fix und fertig war und in all seinem Glanze dastand, kam eines Tages die alte Mutter des Thomas, die keine Seele kannte, ebenfalls aus der Fremde herbei und quartierte sich ganz still bei ihrem Sohne ein. Von einer Braut war keine Spur, weder aus dem Dorf, noch aus der Fremde; Thomas und seine Mutter lebten fast ganz allein und hielten keinen Dienstboten, als einen blöden Knecht.
Der Graf ritt hinüber und nahm Alles selbst in Augenschein. Otto bat vergebens mitgehen zu dürfen, das Gerede der Leute hatte ihn neugierig gemacht, und Thomas' barsches Benehmen, als er einst versucht bei ihm vorzusprechen, hatte den Grafensohn arg verletzt und seine Neugierde dabei nur vermehrt. Allein sein Vater war nicht nachgiebiger gestimmt, als Thomas selbst, und wies ihn mit seiner Bitte scharf zurück. Missmutig schlich er zu seiner Schwester hinab in den Hof. Leonie saß auf einem Steine, ihre goldenen Haare leuchteten hell im blendenden Sonnenschein, die zierlichen Füßchen berührten kaum die Erde; sie sah mit den schwarzen Augen grade vor sich hinaus in die Weite und lächelte seltsam bei ihres Bruders Mitteilung. Du bist ein Narr! sagte sie nach einer kleinen Pause, und weiter sagte sie nichts. Und doch wusste Leonie besser als irgendjemand, woran sie war. Auch sie war neugierig gewesen, lange bevor noch irgendjemand es war. "Und die Hauptsache ist, das die Kinder sie nicht sehen, und niemand erfahre, wer sie ist," hatte sie ihren Vater zu Thomas sagen hören. Leonie hatte besonders scharfe Sinne, und das Gehör stand den anderen keineswegs nach. Wer war es, den sie nicht sehen sollte? dessen Dasein der Vater so ängstlich zu verheimlichen befahl? Leonies kindische Neugierde klammerte sich an dem Gedanken fest und ließ ihn nicht mehr los. Dass Thomas den Waldhof erhielt, dass er so viele unerklärliche Vorbereitungen traf, geschah nicht ohne Grund, das sah auch sie wohl ein; Alle frugen, sie allein war still, aber ihr lärmendes Gefolge trieb sich plötzlich öfter ohne sie herum, und sie hatte ungemein viel um die neue Behausung des Thomas zu tun. Da saß sie denn eines Nachmittags im Grünen, von der dichten Hecke versteckt; im Garten arbeitete Thomas, und seine Mutter half ihm dabei.
Und sie kommt also wirklich morgen schon? fragte plötzlich die zitternde Stimme der alten Frau. Leonies Ohren öffneten sich weit in horchender Erwartung.
Ja, versetzte Thomas kurz, in seiner Arbeit fortfahrend.
Es ist doch hart, fuhr die Mutter fort; was mag sie nur getan haben?
Was geht's Euch an? fuhr der Thomas auf, wir werden gezahlt sie zu bewachen, wir bewachen sie — damit ist's aus für uns! —
Aber man mochte doch wissen, was dahinter steckt. Wenn sich die Polizei nur nicht rein mischt! Wenn ich in meinen alten Tagen noch in eine solche Geschichte käme, es wäre schrecklich.
Der Graf wird wissen, was er tut, sagte Thomas mürrisch; morgen Abend kommt sie an, Alles ist fertig, und das Übrige kümmert uns nicht.
Damit war das Gespräch zu Ende. Leonie horchte noch immer. Nachdenkend ging sie nach Hause und war den ganzen Abend merkwürdig still.
Einige Tage darauf erzählte man im Dorfe, beim Thomas wohne eine schöne, noch junge, fremd aussehende Frau; man hatte sie in seinem Garten auf und ab gehen sehen, während seine Mutter unter der Haustüre saß und strickte. Als gefragt wurde, wer sie sei, gab er sie für eine entfernte ausländische Verwandte aus, deren Verstand zerrüttet sei, und die er aus Erbarmen bei sich behalte. Die Leute schüttelten die Kopfe dazu, die stolze, edle Erscheinung war selbst in ihren Bauernkleidern von Thomas und seiner Umgebung himmelweit verschieden; man sprach und sprach, die Sache fing an Lärm zu machen, die Polizei wurde wirklich aufmerksam, Thomas wurde nach der Stadt berufen, er kehrte zurück, und Alles blieb wie es war. Der Graf, hieß es, habe sich seines langjährigen Dieners angenommen und ihn von jeder Unannehmlichkeit durch sein Fürwort frei gemacht. Die Folge davon war, das man anfing, den Grafen mit der Fremden in Verbindung zu bringen. Natürlich hörten die Kinder des Dorfes Manches von dem, was die Eltern sprachen, und legten es sich auf ihre Weise zurecht; Leonie machte ein gar kluges Gesicht zu ihren Bemerkungen, aber sie schwieg wie das Grab. Und doch war sie dabei gewesen, als die Fremde ankam, die damals keine Bauernkleider trug. Hinter einem Busche versteckt, furchtsam in sich zusammengekauert, hatte Leonie gesehen, wie Thomas sie aus dem Wagen hob und gleich danach ihr Vater zur Erde sprang. Leonie erschrak heftig, ihn so nahe, nur ein paar Schritte entfernt, vor sich zu sehen. Was würde er tun, wenn er sie hier entdeckte? Sie kauerte sich noch mehr zusammen und hielt den Atem an. Ahnungslos gingen die Drei an ihr vorbei, und hinter ihnen erhob sich Leonie. Sollte sie fliehen? Nein, das ließ ihre Neugierde nicht. Geräuschlos wie ein Schatten schlich sie näher zum Hause hinan. Weinranken umzogen es bis zum Dache. Wie eine Katze kletterte sie an diesen empor, und hatte der Graf einen Augenblick nach seinem Eintritt das Auge dem Fenster zugewendet, das die Hauptstube des Hofes erhellte, so hatte er ein bleiches Kindergesicht an die kleinen, altmodischen Scheiben gedrückt gesehen. Aber daran dachte er nicht; seine Gedanken waren ganz anders beschäftigt, und doch wäre es gut gewesen, hätte er es gesehen; denn wenn sie auch die Worte nicht vernahm, der Auftritt, der drinnen vorging, war in seiner düsteren Färbung gewiss nicht für ein Kinderauge gemacht.
Die Fremde war in des Hauses unterer Stube, sichtbar erschöpft, auf einen Sessel gesunken. Thomas blieb an der Türe stehen, der Graf maß mit langsamen Schritten und gebeugtem Haupte das Zimmer auf und ab. Endlich trat er mit einer raschen Wendung vor die Fremde hin und schlug mit einer entschlossenen Bewegung ihren Schleier zurück. Sie zuckte sichtbar zusammen, dann erhob sie die bleiche Stirn und starrte ihn aus dem abgemagerten Gesicht mit ein paar dunklen, großen, unnatürlich glänzenden Augen an, welche das einzige Lebendige zu sein schienen an der ganzen Gestalt, so regungslos saß sie da. Des Grafen Augen hafteten fest auf den ihrigen, aber es war kein Blick der Liebe, und die Worte, welche diesem Blicke folgten, waren böse Worte. Der Graf war der erste, der das Schweigen brach.
Du weißt, weshalb du hier bist? sagte er in französischer Sprache.
Die bleiche Frau wurde wo möglich noch blässer, und ihr unruhiger Blick suchte scheu im Zimmer umher; doch bald fasste sie sich wieder.
Ihr wollt mich töten, antwortete sie in derselben Sprache; tut es! und ein leiser Schauer durchrieselte ihren Körper.
Immer dieselbe! sagte der Graf verdrossen; er wandte sich ab und nahm seinen Gang durch das Zimmer wieder aus. Ihre Augen folgten ihm anfangs mit fieberhafter Anspannung, dann lehnte sie den Kopf zurück, senkte die Augenlieder, und es war, als schliefe sie. Nur wer ihr sehr nahe war, hörte das rasche, beklommene Atem holen ihrer Brust. Endlich blieb der Graf wieder stehen, und sie sah von neuem auf.
Du sollst hier bleiben, sagte er, für deine Bequemlichkeit ist gesorgt, so viel es sich tun lies; nur die Kleider sollst du wechseln, denn du giltst für eine Verwandte meines Pächters, und Niemand darf ahnen, das dem nicht so ist.
Die feinen, zitternden Hände schlossen sich krampfhaft in einander, und zum ersten Mal zeigte sich ein Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht.
Lasst mich ziehen, sagte sie nach einer kurzen Pause, was habt Ihr hier von mir, wenn Ihr mich nicht töten wollt?
Ziehen? und wohin? fragte der Graf.
Wo mich Niemand kennt, wohin mein Name nie gedrungen ist, von wo Ihr nie mehr von mir hören sollt.
Nein, versetzte er düster, die Zukunft meiner Kinder darf nicht der Laune des Zufalls anheimgestellt sein.
Ich werde schweigen!
Er schüttelte nur heftig den Kopf.
So züchtiget mich, wenn ich rede; Ihr habt ja die Mittel dazu! versetzte sie bitter.
Gott behüte mich davor, sie anwenden zu müssen! rief der Graf mit erhobener Hand. Nein, setzte er kalt und fest hinzu, es bleibt Alles wie bisher, und Nichts ist verändert, als dein Wächter und dein Aufenthaltsort.
Mit unaussprechlicher Angst wandten die Augen der Fremden sich vom Grafen auf Thomas, der regungslos an der Tür stand; doch der Diener schien nichts gehört zu haben, und die Züge des Grafen blieben unbewegt. Sie stöhnte laut auf und barg das bleiche Gesicht in die Hände. Alles war still, der Graf ging wieder auf und ab, endlich, nach einer längeren Pause, fing er wieder an:
Es soll dir nichts abgehen, sprach er in beruhigendem Tone, weiter kam er nicht. Es war, als habe eine Schlange sie gestochen, mit solcher Heftigkeit warf die Fremde den gebeugten Kopf in die Höhe. Da war keine Spur mehr von Angst und Verzweiflung; ein wilder, wütender Trotz hatte jeden anderen Ausdruck verdrängt. Ihre Lippen bebten, ihre schwarzen Haare wallten unordentlich um das bleiche, noch immer schöne Gesicht, und aus den schwarzen Augen blitzte ein stechendes Feuer, vor dem der Graf unwillkürlich erblasste und einen Schritt zurückwich.
Es soll mir nichts abgehen! wiederholte sie in höhnendem Tone. Was gibt es denn, das mir nicht abginge? Das Ihr mich den Atem des Lebens schöpfen lasset, ist das die große Gnade, die Ihr mir gewährt, für mein Glück, für meine Jugend, die Ihr mir genommen, für jeden Schatz des Lebens, den Ihr mir geraubt! Sie ballte leidenschaftlich die Hände und hob sie mit einem irren Lachen. So saget doch, Ihr versteht Euch ja darauf, saget mir, was es noch gibt, das Ihr mir nicht erbarmungslos zertreten habt. Hättet Ihr mich getötet, es hätte Euch nicht die halbe Freude gemacht.
Über des Grafen Augen schien bei diesen Worten eine Wolke zu ziehen. Mit einem furchtbaren Laute des Zornes trat er auf sie zu, fasste sie heftig am Arme und drückte sie auf den Stuhl, von dem sie sich in ihrer Aufregung halb erhoben. Zitternd vor Erschöpfung sank sie darauf zurück, aber mit ungebrochenem Trotze blickte sie noch immer zu ihm auf. Seine Brust hob sich schwer, es rollte darin ein tiefes Ungewitter, doch brach es nicht sogleich los, und ohne das er es wusste, drückten seine Finger dunkle Flecke in den weißen, weichen Arm, den er gefasst. Warum ich dich nicht getötet? sagte er endlich leise, aber mit der zermalmenden Kraft, welche allein der höchste Zorn gewahrt; mahne mich nicht daran! ich habe Blut genug gesehen. Unselige! was hast du aus mir gemacht! — Sie wandte erbebend das Gesicht von ihm ab; die Besinnung kam ihm wieder und er ließ sie los. Was nützen Worte? fuhr er dann nach einer Weile, dumpf, aber ruhig, fort. Vorwürfe machen das Geschehene nicht ungeschehen, und wir müssen tragen, was nicht zu ändern ist. — Er schwieg, dann begann er wieder mit lauter, fester Stimme: Nein, Nichts lässt sich ändern; — was zu mildern war, habe ich gemildert; martern will ich dich nicht, aber schwören musst du mir —
Glauben Sie noch an Schwüre, Herr Graf? fragte sie, den Kopf erhebend, doch ohne ihn anzusehen. An meine Schwüre? setzte sie höhnisch hinzu.
Auch gut, erwiderte er, deine Unkenntnis der Sprache bürgt mir für deine Unschädlichkeit, und allem Übrigen werde ich vorzubeugen wissen. Er trat zur Türe, die er öffnete, und Thomas' Mutter, welche draußen gewartet hatte, trat jetzt herein. Sorget für sie, sagte er ihr in deutscher Sprache, auf die Fremde weisend; dann blickte er noch einmal um: Gott behüte dich! sagte er wieder auf Französisch. Sie hatte das Gesicht in die Hände gelegt und rührte sich nicht. Er verließ das Gemach und trat in den Garten hinaus. In tiefen Gedanken blieb er hier stehen, die Hand an die Stirne gelegt. Es wird schwer sein, sie zu bändigen, sagte er endlich vor sich hin, als glaube er sich allein.
Sie ist krank, versetzte Thomas, der ihm gefolgt war, sehr krank, die paar Jahre haben schrecklich an ihr gezehrt.
Nichts konnte mir ungelegener kommen, als diese Verheiratung des Arztes; und sie einem anderen anvertrauen —nein, das ging auch nicht an! — Er schwieg und versank von Neuem in Gedanken.
Wer weiß, wie bald die letzte Lösung kommt, sagte Thomas halb zögernd. Der Graf antwortete nicht. Ihr kennt meinen Willen! sagte er dann, sich gegen seinen Diener wendend.
Sie kennen mich ja, gnädiger Herr. Der Graf nickte, reichte ihm die Hand, und ohne weitere Worte schieden sie.
Im Schloss angekommen, lief Otto allein dem zurückkehrenden Vater entgegen. Wo ist Leonie? sagte dieser, sich nach ihr umsehend, und jetzt erst wurde das kleine Mädchen vermisst. Man rief und suchte, und die ganze Dienerschaft geriet in Aufregung. Der Graf runzelte die Stirne und ging mit verschränkten Armen ungeduldig im Hofe auf und ab. Das Fräulein ist gern im Pfarrhause, vielleicht behielt die Pfarrerin sie über Nacht, sagte der Verwalter zu ihm. Man soll hingehen und sie zurückbringen, wenn sie dort ist, befahl der Graf. Da kam der Pfarrer selbst daher, um seinen Gutsherrn bei der Rückkehr zu begrüßen. Das Kind sei nicht bei ihm, versicherte er. Alle sahen sich bestürzt an.
Sie streift gerne herum, meinte der Pfarrer besorgt, sie hat sich wohl gar verirrt.
So müssen wir sie suchen! rief der Graf und schritt selbst nach dem Stalle, aus welchem schon sein Pferd vorgeführt ward. Alles lief hin und her, Otto wollte mit, und der Pfarrer hielt ihn nur mit Mühe zurück. In dieser Unruhe trat plötzlich Leonie, erhitzt und atemlos, unter das Tor des Hofes. Sie erblasste, als sie in dem Gewühle ihren Vater hoch zu Pferde sah. Sie hatte gehofft, vor ihm nach Hause zu kommen, aber hat der Eile und der Dunkelheit einen Pfad mit dem anderen verwechselt. Der Graf sprang vom Pferde und trat zu ihr: Wo warst du? sagte er, seine Hand fest auf ihre Schultern legend.
Sie sah mit den unergründlichen Augen zu ihm auf: Ich war spazieren, antwortete sie mit zitternder Stimme, die jedoch fester wurde in dem Maße, als sie ihre Fassung wieder gewann; ich war spazieren im Felde und verlor den rechten Weg.
In des Grafen Brust stieg in diesem Augenblicke eine Wallung gegen das Kind an, als könne er es zerdrücken; er fühlte, das seine Hand schwerer wurde auf ihrer Schulter, und er zog sie unwillkürlich zurück.
Solche Irrfahrten kannst du ein andermal unterlassen, sagte er kalt und wandte sich ab.
Wie ein Pfeil schoss sie von ihm fort und atmete erst in ihrem Zimmer wieder frei auf.
Was weiter geschah, haben wir schon erzählt. Des Dorfes Neugierde wurde rege, und Otto blieb natürlich nicht frei. Als alle seine Fragen von Thomas nichts herausbrachten, als einige Grobheiten, die dem Grafensohn schwer zu verdauen waren, wandte er sich endlich um Erklärung an seinen Vater selbst.
Wer ist die fremde Frau, die bei dem Thomas wohnt? fragte er ihn eines Tages mit der ihm eigenen Offenheit, die einen der besten Züge in seinem guten, liebenswürdigen Charakter bildete.
Kümmere dich nicht um fremder Leute Angelegenheiten, war des Grafen barsche Antwort.
Allein Otto war des Vaters Liebling und hatte allen Mut eines solchen.
Die Leute sagen aber, das du sie kennst, Papa, fuhr er unerschrocken fort.
Diesmal erblasste der Graf und wandte sich so jählings gegen den Knaben, das dieser zusammenfuhr.
Hörst du noch nicht mit dieser Dummheit auf? rief er zornig. — Und höre, fuhr er fort, indem er sich bezwang, der Thomas beklagt sich, das du sein Haus umlagerst wie ein Dieb und ihm beständig auf dem Halse liegst; wenn mir noch etwas dergleichen zu Ohren kommt, so werde ich mich erinnern, wo unser Herrgott die Ruthe hat wachsen lassen, — das merke dir! —
Er verließ das Zimmer, und Ottos Stirne zog sich trotzig zusammen; des Thomas Angeberei lenkte indessen seine Gedanken von des Vaters unerklärlicher Heftigkeit ab.
Der Thomas ist ein gemeiner Kerl, sagte er ärgerlich, in meinem Leben schaue ich ihn nicht mehr an.
Leonie hatte scheinbar unbekümmert dem Auftritt beigewohnt; auch jetzt sagte sie nichts, aber in ihrem Herzen wühlte es und ließ ihr keine Ruhe. Was war es denn, was der Vater, zu dem sie stets nur mit tiefer Scheu, wie zu einem höheren Wesen, unfehlbar in seiner unerbittlichen Streng, aufgeblickt, was war es ,das er so sorgfältig, — ja in dem Grunde ihrer Gedanken lag das Wort unausgesprochen: wie ein Verbrechen — verbarg?
Ich muss doch dahinter kommen, sagte sie sinnend. Aber es war schwerer, als sie geglaubt.
Eines Tages war sie mit Otto im Walde.
Wir müssen heim, sagte er, es wird spät — Oh, wir können den kürzeren Weg nehmen, meinte Leonie.
Dann müssen wir beim Thomas vorbei, und das tue ich nicht.
Der Thomas ist aber nicht zu Hause; ich hörte gestern wie die Leute sagten, er gehe heute nach der Stadt.
Das ist mir einerlei, war Ottos resolute Antwort.
So gehe ich allein, versetzte Leonie schnippisch.
Du weißt, der Vater hat's verboten, und ich sag's ihm, wenn du gehst.
Mir hat er's nicht verboten, erwiderte Leonie in gereiztem Tone. Aber du weißt, er mag mich nicht, und da freust du dich, wenn du mir einen Verdruss machen kannst.
Damit war nun freilich Otto geschlagen. Sein gutes Herz litt unter der größeren Liebe des Vaters, die er als eine Ungerechtigkeit gegen die Schwester empfand; aber sein Nachgeben zeigte sich nicht auf eine freundliche Art.
Du bist eine rechte Katze, sagte er ärgerlich und sah sie zornig an. Meinetwegen! tue was du willst. — aber mit dir gehe ich nicht, und wenn's der Vater erfährt, so ist's meine Schuld nicht, wenn er dir ein Wetter macht.
Ich will nur den kürzeren Weg gehen, um schneller daheim zu sein, und das ist nichts Böses, versetzte sie still.
Er entfernte sich langsam; bevor er verschwand, drehte er sich noch einmal um. Kommst du? rief er ihr zu.
Sie hatte sich niedergesetzt. Nein, sagte sie, und er ging fort.
Als er zwischen den Bäumen verschwunden war, stand sie auf, horchte ein wenig und schritt dann leichtfüßig und froh den Weg dahin, der zum Waldhof führte; dort angekommen, ging sie langsamer; sie sah um sich; es war um die Mittagszeit und kein Mensch war auf dem Felde zu sehen. Sie näherte sich der Hecke des Gartens und blickte hindurch. Auch hier war Alles verlassen, die Fenster geschlossen, die oberen mit weißen Vorhängen umhängt. Ihr Herz klopfte ein wenig; sie dachte, die fremde Frau könne plötzlich hervortreten und wirklich eine Wahnsinnige sein. Sie dachte an Thomas, an dessen Mutter, die sie sehen konnte, an ihren eigenen Vater, an seinen Zorn, den sie mehr als Alles fürchtete, und sie war nahe daran, die Rückkehr nach Hause in Wahrheit anzutreten, aber die Neugier überwand doch jede Furcht. Ich will nur ein wenig ausruhen, sagte sie und setzte sich. Sie war ermüdet, die Sonne brannte, sie neigte den Kopf zurück, und bevor sie sich's versah, war sie eingeschlafen. Ein leises Geräusch weckte sie. Sie schlug die schweren Augen auf; durch die mühsam zurückgezogenen Zweige der Hecke schimmerte ein bleiches, eingefallenes Gesicht, aus dem zwei dunkle, weitgeöffnete Augen mit einem fast irren Blick unverwandt auf das zarte, kleine Wesen sahen. Es war die Fremde. Leonie sprang auf. Ihre erste Empfindung war ein überwältigendes Entsetzen, ihre erste Bewegung war eine Bewegung zur Flucht. Aber rasch wie ein Gedanke fuhr eine weise, durchsichtige Hand, sich blutig ritzend, durch die Dornen der Hecke und hielt das erschreckte Kind am Kleide fest.
Bleibe! sagte eine süße, leise Stimme in der sanften Sprache, die sie so lange nicht mehr gehört, und die wie ein halbvergessener Traum nur noch in seltenen Nachklangen durch ihre Seele zitterte. — Wieder siegte die Neugierde, sie blieb stehen und wandte sich der Fremden zu.
Wer bist du? Wie heißest du? fragte diese jetzt, und ihre zweite Hand, ebenfalls durch die Dornen gestreckt, erfasste mit zitternder Hast des Mädchens kleine, halb widerstrebende Hand.
Ich heiße Leonie und bin des Grafen Tochter, dem das Gut gehört.
Oh komm näher! Las dich anschauen! bat die Frau und zog sie mit beiden Händen dichter an die Hecke heran. Ihre durstigen Augen hing sie an dem feinen, in wechselnder Bewegung errötenden und erbleichenden Gesichtchen fest. Kein Zug, murmelte sie halblaut, kein einziger Zug! Ein düsterer Ausdruck voll Schmerz und Trauer, aber ohne Weichheit, zog über ihr Gesicht und überdeckte es mit einer noch tieferen Blasse. Wo ist dein Bruder? fragte sie plötzlich, wie sich besinnend.
Er wollte nicht kommen, der Vater hat's verboten, sagte Leonie.
Und da kommt er auch nicht?
Nein, er fürchtet sich.
Oh, er ist seines Vaters rechtes Kind! sagte die Frau mit einer Bitterkeit, die nicht ohne Verachtung war. Sie schwieg eine Weile. Hat er dir's auch verboten? fragte sie dann.
Die Röte der Scham schlug unwillkürlich auf in Leonies Gesicht. Ich habe nicht gefragt, sagte sie zögernd und erwartete fast einen Verweis.
Die Frau betrachtete sie aufmerksam einen Augenblick. Liebst du deinen Vater? fragte sie dann.
Leonie stockte — darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Sie schlug die Augen zu Boden und blieb die Antwort schuldig.
Die Fremde zog sie immer näher an sich heran; mit ihren, mageren, weißen Händen streichelte sie die glühende Wange des Mädchens und strich ihr das glänzende, goldrote Haar aus der weisen, feuchten Stirne. Wie schön du bist! flüsterte sie wie in einem irren Traume, wie deine Augen glänzen! Auch ich war einst schön — man sieht jetzt nichts mehr davon. — Was ist Schönheit ohne Klugheit? Oh werde klug, und dann gehört dir die Welt!
Wer sind Sie? fragte Leonie, sie erstaunt anblickend.
Mit einem schmerzlichen Stöhnen, das einem unterdrückten Schrei glich, beugte die Fremde den Kopf. Frage mich nicht, rief sie dann, sie töten mich, wenn ich dir es sage, und ich will nicht sterben, nun ich dich gesehen. Oh sie haben mir das Leben furchtbar ausgesogen! Er — hüte dich vor Ihm — hörst du? — Er kennt kein Erbarmen! —Aber du wirst mich rächen! Oh siehst du — die Rache bleibt noch, und wenn uns Alles genommen ist! —
Leonie verstand sie nicht recht; sie dachte, ein großes Übel müsse der Frau widerfahren sein von Jemand, vielleicht von ihrem Vater — der war ja immer so streng! Die Rührung nahm aber bei ihr selten überhand, und so erregte das wilde Klagen der Unbekannten mehr ihre Neugierde, als das es zu ihrem Herzen sprach. Sie blickte ihr erstaunt und aufmerksam in das bleiche Gesicht, sie getraute sich nicht, zu fragen, wen sie durch Er bezeichnen wollte, darum nicht, weil sie es ahnte, und so blieb sie ganz still.
Wirst du wiederkommen? fragte die Fremde jetzt.
Ich — ich weiß nicht, sagte Leonie, Thomas darf' nicht wissen, dass ich da war.
In diesem Augenblicke wurde die Türe des Hauses aufgerissen, und Thomas selbst trat heraus. Er schritt rasch auf seine Gefangene zu, und bevor diese sich von ihrem Schrecken erholt, stand er schon neben ihr. Er blickte über die Hecke, und als er das zitternde Mädchen auf der anderen Seite stehen sah, zog sich seine Stirne in wunderbar krause Runzeln zusammen; doch er nahm die Mütze ab, und seine Rede war höflich, wenn auch fest. Gnädiges Fräulein, sagte er, es schickt sich nicht, so heimlich herzukommen wider den Willen Ihres Vaters und mit Leuten zu reden, die ihren Verstand nicht bei sich haben, und in deren Nähe man keinen Augenblick sicher ist.
Ich ging vorüber, da rief sie mich an, sagte Leonie, in deren Leben die Großmut nur dann eine Rolle spielte, wenn sie deren von Anderen bedurfte. Sie wandte sich ab und ging. Den ganzen Tag stand sie in der Erwartung eines strengen Verweises von ihrem Vater; sie studierte sein Gesicht; aber es war nicht anders als sonst. Am folgenden Morgen erhielt sie den Befehl, mit der Pfarrerin, welche dort eine Schwester besuchen wollte, nach der Stadt zu fahren. Leonies Augen öffneten sich weit; das Vergnügen, das ihr geboten ward, kam ihr weniger gelegen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Sie dachte an die Fremde und saß lange schweigend in dem Wagen neben der ebenfalls schweigenden Pfarrerin. Plötzlich fuhr sie aus ihrer Träumerei auf. Was ist Klugheit? fragte sie die Pfarrerin.
Dieser war die Unterbrechung nicht gerade angenehm. Sie hatte in der Stadt sehr viel vor, teils im Auftrage des Grafen, teils für sich selbst, und in Gedanken ging sie eben die Mittel und Wege durch, sich ihrer verschiedenen Verpflichtungen zu fremder und eigener Zufriedenheit zu entledigen. Sie antwortete daher so kurz sie konnte, was sie einmal von ihrem Manne gehört: Klugheit ist, immer das Rechte zu tun zur rechten Zeit.
Leonie dachte ein wenig nach. So jung sie war, wusste sie doch manchen Fall, wo das Rechte tun dem Täter übel bekommen war; aber dann lag es vielleicht daran, weil er die rechte Zeit nicht abgewartet.
Wann ist die rechte Zeit, das Rechte zu tun? fuhr sie fort.
Immer — sagte die Pfarrerin. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Wenn wir aber Verdruss davon haben, das Rechte zu tun?
Man muss es dennoch tun.
Aber warum?
Weil Gott es befohlen hat.
Aber warum hat er es befohlen?
Weil es so recht ist.
Aber warum ist es recht? fuhr Leonie, die nicht aus dem Kreise heraus kam, zu fragen fort.
Weil Gott es befohlen hat, ist es recht.
Aber er hätte auch das Gegenteil befehlen können, war des Mädchens kecker Schluss.
Kind, rede nicht so gottlos, sagte die fromme Frau, die an dem Ende ihrer theologischen Weisheit angelangt war und in ihre früheren Gedanken versank. Aber in Leonies regem Geist blieb die ungelöste Frage und beschäftigte sie, bis sie an dem Orte ihrer Bestimmung aus dem Wagen stieg.
Hier indessen schwanden die letzten Eindrücke sehr bald vor den Überraschungen, die sie erwarteten, und die für Leonie den vollen Reiz der Neuheit besaßen. Die Frau Pfarrerin hatte Auftrag bekommen, dem kleinen Fräulein eine standesmäßige Toilette zu verschaffen, und die etwas rohen Stoffe, die bis jetzt ihre Garderobe ausgemacht, wurden durch die feinen und glänzenden Gewebe ersetzt, mit welchen der Luxus seine Auserkorenen bedeckt. Niedliche kleine Schuhe umschlossen die zierlichen Füßchen, durch welche zwar das Herumsteigen in Feld und Wald, wie es ihnen bis jetzt eigen gewesen, so ziemlich zur Unmöglichkeit gemacht wurde, die aber Leonies eitles Mädchenherz schnell genug durch ihre Zierlichkeit zu versöhnen versprachen. Auch hatte die Frau Pfarrerin Erlaubnis, Leonie einige Mal ins Theater zu führen, und so flogen die paar Wochen, die der bezaubernde Aufenthalt dauerte, wie ein seliger Traum dahin.
Die Überraschungen, die sie bei der Rückkehr auf dem Schloss erwarteten, waren indessen weniger angenehmer Art. Leonie erstaunte nicht wenig, als ihr in dem Salon, zu dem sie hinaufging, ihren Vater zu begrüßen, eine ältliche Dame entgegentrat, die ihr der Graf als ihre Gouvernante vorstellte, und welcher er die volle Macht einer Mutter auf das erschrockene Mädchen übertrug. Als sie sich nach Otto erkundigte, erfuhr sie, er sei fort, auf die Schule geschickt, und erst nach Monaten werde sie ihn wiedersehen. Auch eine Kammerfrau war angenommen worden, deren besondere Aufgabe es war, das Fräulein auf ihren Spaziergängen zu begleiten; wenn Fräulein Bertold einmal daran verhindert wurde und Leonie glaubte, ja einmal den günstigen Moment zu erhaschen, um unbemerkt aus dem Schloss zu entwischen, so eilte stracks ein baumlanger Bediente nach, welcher der kleinen Dame untertänig Schirm und Überwurf trug.
Und so ging denn Leonie in ihren kostbaren Kleidern und eleganten Schuhen allem Zwang entgegen, der das gewöhnliche Erbteil der Kinder der privilegierten Kaste ist, und der für Leonie, nach der Freiheit, die sie bis dahin genossen, nur eine erhöhte Marter war.
Sie wusste jedoch, dass ihres Vaters Wille unwiderruflich sei; ihr Widerstand, wenn sie einen wagte, durfte nur ein verborgener sein, und so fügte sie sich mit scheinbarer Gelassenheit in ihr verändertes Geschick und rächte sich so gut sie konnte für die beständige unleidliche Aufsicht durch ein unruhiges, trotziges Wesen, bei dem ihre Studien nur wenig Fortschritte machten.
Fräulein Therese Bertold war indessen keine gewöhnliche Gouvernante, und die Personen, die sie dem Grafen empfohlen, hatten Grund zu der Empfehlung gehabt. Sie verstand ihr Fach und hatte nicht nur Gelegenheit gehabt, Charaktere zu studieren, sie hatte sie wirklich studiert, und was nicht immer damit verbunden ist, sie verstand es auch, aus diesen Studien Nutzen zu ziehen, und wenn sie dabei im Grunde mehr an sich, als an ihre Zöglinge dachte, wer wird es ihr verärgern? Sie wurde ja nicht für die Liebe, sondern für den Unterricht bezahlt. Sie hatte denn sehr bald herausgebracht, mit welcher Geistesrichtung sie es hier zu tun hatte. Sie sind ein adeliges Fräulein, sagte sie daher eines Tages zu Leonie, die sich eben einer besonderen Unliebenswürdigkeit befliss. Sie sind ein adeliges Fräulein und gehören einer alten berühmten Familie an; auch werden Sie reich sein, wie es sich zu Ihrem Stande schickt. Was ist aber das Alles, wenn Sie nicht auch durch Ihre Manieren sich von dem gewöhnlichen Menschentross unterscheiden? Manieren und Kenntnisse, die den Geist entwickeln, und die man lernen muss, mit Klugheit zu benutzen, das ist die einzige wahre Auszeichnung, in der unsere Macht gesichert ist.
Es war das zweite Mal, das Leonie die Klugheit rufen hörte, als Mittel zum Ziele. Die Erklärung der Pfarrerin hatte sie nicht vergessen und seitdem im Stillen manche Bemerkung darüber gemacht. Wenn Klugheit nichts Anderes war, als immer das Rechte zu tun, so haben wir gesehen, das ihr die oft üblen Folgen nicht entgangen waren, und das schien ihr wenig beneidenswert.
Was ist Klugheit? fragte sie jetzt wiederum.
Klugheit, erläuterte Fräulein Bertold, ist die Kunst, jeden Menschen nach der ihm eigenen Weise zu behandeln und ihn auf diese Art nach unserem Willen zu lenken.
Diese von jener der Pfarrerin sehr verschiedene Erklärung leuchtete Leonie auch viel besser ein.
Und kann man Klugheit lernen? fuhr sie mit plötzlichem Interesse zu fragen fort.
Zum Teil kann man sie lernen, zum Teil muss sie freilich eigene Begabung sein; auch gehört ein großer Verstand dazu, immer deutlich zu unterscheiden, was man zu tun und zu lassen hat. Aber anmutige Manieren und ein feiner, gebildeter Geist erleichtern die Sache sehr und sichern uns überall ein Übergewicht.
Leonie war nachdenklich geworden und guckte in Gedanken hinaus. Ihr Vater kam so eben in den Hof herein gesprengt. — Da ist mein Vater, dachte sie; wäre ich klug, so täte er Alles, was ich will. Mit Otto und den anderen Knaben ist es leicht genug; nur mit dem Vater ist es schwer. — Sie stützte den Kopf in die Hand und sah träumerisch vor sich nieder.
Von nun an war es nicht mehr nötig, Leonie zum Lernen anzuspornen. Sie kam selbst mit Büchern und Zeichenmappe; keine Arbeit war ihr zu schwer oder zu langwierig, und mit einer wunderbaren Begabung ausgestattet, überwand sie leicht jede Schwierigkeit. Sie befliss sich eines ernsten Ganges, und die früheren Vertraulichkeiten mit der Dorfjugend schienen bis auf die letzte Spur aus dem Gedächtnis des kleinen Fräuleins verwischt. Fräulein Bertold hatte sich nicht getäuscht und erntete überall bei den wenigen Nachbarn, die Zeuge von der Umwandlung ihres Zöglings waren, viel Lob und Ehre ein. Nur in dem Grafen selbst brachten die glänzenden Fortschritte seines Töchterchens keine Änderung hervor; er blieb still und kalt wie immer und verfolgte die rastlose Tätigkeit des Mädchens mit demselben rätselhaft forschenden Blicke, mit dem er einst den Spielen des Kindes zugesehen.
Von Thomas und seinem Hause, so wie von der fremden Frau war nicht mehr die Rede. Leonie war seit jenem Nachmittage nicht mehr hingekommen. Fräulein Bertold wich nicht von ihrer Seite; aber seitdem blinder Gehorsam gegen ihren Vater eine Triebfeder ihrer kleinen, schon so reifen Politik geworden war, schien der ganze Vorgang von ihr vergessen zu sein. Schien, sagen wir; denn wie ein schlummernder Keim lag er in ihrer Seele und wartete des Anstoßes, der ihn zu neuem Leben wecken sollte, und dieser blieb nicht aus.
Sechs Jahre waren auf diese Weise verflossen, Leonie hatte das fünfzehnte Jahr erreicht, und die erste Morgenröte der Jungfräulichkeit übergoss ihre Stirne mit einem erhöhten Zauber.
Sie saß am Klaviere, über dessen Tasten unter Fräulein Bertolds Leitung ihre seinen Finger in glänzenden Trillern flogen. Von dem früheren Wildfang war nichts mehr an ihr zu sehen. Ihre Kleidung war gewählt, ihre Haltung elegant und fein, und das goldige Haar schmiegte sich in glänzender Fülle um das junge, geistvolle Haupt.
Um dieselbe Stunde des Nachmittags ging es lebhafter als sonst in dem kleinen Hofe am Walde her. Die fremde Frau lag im Sterben. Seit sechs Jahren hatte die Krankheit in ihrer Brust rastlose, wenn auch langsame Fortschritte gemacht, und eigentlich war es ein Wunder, das sie noch nicht gestorben war. Aber mit eiserner Willensfestigkeit klammerte sie sich an das fliehende Leben; es war, als erwarte sie etwas, als könne sie nicht sterben, bevor es in Erfüllung gegangen, und Tag für Tag, unausgesetzt, von ihrem Lehnstuhle am Fenster, übersahen die fieberhaften Augen die Wege und Pfade, die nach dem Hause führten.
Allein was sie erwartete, das zeigte sich nicht. Leonie war in guter Aufsicht, und wenn sie auch den kleinen Vorfall aus ihrer Kindheit keineswegs vergessen hatte, so war sie doch viel zu sehr auf ihr eigenes Wohl bedacht, viel zu sehr von anderen Wünschen und Plänen erfüllt, um dem ausgesprochenen Befehle ihres Vaters, ohne besonderen Anstoß, zu trotzen.
Auch heute stand der Lehnstuhl der Kranken neben dem Fenster, auch heute starrten ihre Augen in heißer Sehnsucht in die herbstgefärbte Landschaft hinaus. Der Arzt war gekommen und fortgegangen. Diese Nacht werde wohl die letzte sein, hatte er unten zu Thomas gesagt und eben schob dieser die schweren Riegel hinter dem Fortgehenden zu. Da schlich seine Mutter sacht aus dem Krankenzimmer zu ihm herab, um den letzten Ausspruch des Arztes zu vernehmen. Oben bei der Sterbenden blieb nur ein halberwachsenes Kind, eine arme Waise, welche Thomas zu sich genommen, um der Mutter in der Pflege der Kranken beizustehen.
Es war ein eingeschüchtertes, scheues Wesen, das in der unheimlichen Stille des Hauses kaum eine Bewegung zu machen oder ein lautes Wort zu sprechen wagte. Denn die alte Frau hatte die Gemütlichkeit, die sie zu Anfang mitgebracht, in ihrem Wächteramte längst verloren, und Thomas war mürrischer als je. Selbst für ihn war es ein trauriges Schauspiel, die gequälte, noch immer schöne Frau so Zoll für Zoll absterben zu sehen, und es ist kein Wunder, wenn die Zeit ihm lange währte, bis sie die letzte Erlösung fand.
An jenem Kinde nun hatte die Frau in aller Stille sich eine Bundesgenossin gemacht. Wort für Wort, ohne das Jemand darum wusste, hatte sie von ihr so viel von der deutschen Sprache gelernt, als sie bedurfte, um sich verständlich zu machen, um zu hören, was um sie her gesprochen wurde, obgleich niemals eine Miene in ihrem Gesichte verriet, das sie den Inhalt der Gespräche verstand.
Geräuschlos war die Türe in das Schloss gefallen, und der schleppende Gang der alten Frau war auf der Treppe verhallt. Die Lampe brannte auf dem Tische; in der Ecke saß das Mädchen mit rotgeweinten Augen angstvoll zusammengedruckt und rührte sich nicht. Da erhob sich die Sterbende langsam aus ihrer liegenden Stellung, und mit einer gebieterischen Gebärde winkte sie die Kleine herbei.
Jetzt geh! — jetzt ist es Zeit! sagte sie.
Das Mädchen fuhr zitternd in die Höhe.
Hörst du mich, Tine? rief die Kranke ungeduldig.
Das arme Kind sank in die Knie: Ich kann nicht! hauchte sie in furchtbarer Angst — Ich darf nicht! — Mein Oheim jagt mich fort, wenn ich es tue! —
Dann nimm den Fluch einer Sterbenden ans dich! — Weißt du denn nicht, dass du geschworen hast? — und ich habe Niemand zu schicken, als dich — und ich sterbe — ich sterbe! — Weh dir, wenn ich sterben muss in dieser Todesangst, die mich nicht sterben lässt! —
Sie war aufgestanden und machte eine Bewegung auf das Mädchen zu. Doch dieses war totenbleich aufgesprungen.
Ich gehe, sagte sie, mag mein Oheim mit mir tun, was er will. —
Und leise und eilig hatte sie das Zimmer verlassen und schlich durch eine Hintertüre zum Hause hinaus.