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Der "Deutsche Novellenschatz" ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 23 von 24. Enthalten sind die Novellen: Frey, Jacob: Das erfüllte Versprechen. Hackländer, Friedrich Wilhelm: Zwei Nächte. Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. Wildermuth, Ottilie: Streit in der Liebe und Liebe im Streit.
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Seitenzahl: 285
Veröffentlichungsjahr: 2021
Deutscher Novellenschatz
BAND 23
Deutscher Novellenschatz, Band 23
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849661311
Das Korpus „Deutscher Novellenschatz“ ist lizenziert unter der Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0) Lizenz und Teil des Deutschen Textarchivs. Eine etwaige Gemeinfreiheit der reinen Texte bleibt davon unberührt. Näheres zum Korpus und ein weiterführender Link zu den Lizenzbestimmungen findet sich unter https://www.deutschestextarchiv.de/novellenschatz/. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht.
www.jazzybee-verlag.de
Das erfüllte Versprechen.1
Zwei Nächte.55
Streit in der Liebe und Liebe im Streit.88
Der Säugling. Eine toskanische Geschichte.106
Jacob Frey.
Jacob Frey wurde am 13. Mai 1824 in dem aargauischen Dorfe Gontenschwyl geboren, besuchte das Aarauer Gymnasium und widmete sich auf den Universitäten von München, Zürich und Tübingen von 1845 an historisch-philologischen Studien, wobei jedoch die Ereignisse, die damals die Schweiz erschütterten, vielfach störend auf seinen Studiengang einwirkten. So nahm er u. A. im Jahre 1847 als Freiwilliger am Sonderbundskrieg teil. Als dann die neue schweizerische Bundesverfassung, die aus diesen Kämpfen hervorging, das Zustandekommen einer eidgenössischen Hochschule zu versprechen schien, ging Frey in der Absicht, sich für eine akademische Laufbahn vorzubereiten, zum zweiten Mal nach Tübingen, übernahm dann aber 1850 die Redaktion des in Aarau erscheinenden "Schweizerboten", den Heinrich Zschokke gegründet und über dreißig Jahre lang selbst geleitet hatte. Nicht lange darauf in die gesetzgebende Behörde seines Heimatkantons gewählt, zog er sich jedoch bald wieder von jeder amtlichen Stellung zurück, übernahm 1856 die Redaktion der Berner Zeitung, später die Leitung eines belletristischen Unternehmens in Basel und lebt seit einigen Jahren in der Nähe von Aarau, mit wissenschaftlichen und literarischen Arbeiten beschäftigt.
Es erschienen von ihm: Zwischen Jura und Alpen. Erzählungen und Lebensbilder. Leipzig. J. J. Weber. 1858. 2 Bände.
— Die Waise von Golligen. Erzählung aus den Tagen des Untergangs der alten Eidgenossenschaft. Basel. Krusi. 1862.
— Schweizerbilder. Aarau. Sauerländer. 1869. Außerdem eine Menge Erzählungen, in schweizerischen Zeitschriften zerstreut.
Neben Jeremias Gotthelf hat Jacob Freys feineres und weicheres Talent bisher nur in seiner Schweizer Heimat die verdiente Beachtung zu finden vermocht. Auch ist nicht zu leugnen, dass hie und da ein gewisses konventionelles Schönheitsgefühl die Frische und Unmittelbarkeit seiner Dorfgeschichten beeinträchtigt. Ich habe deshalb ein historisches Lebensbild gewählt, in welchem sich alle Vorzüge Freys am erfreulichsten entfalten: klares Durchbilden des Themas, Betonen des Hauptmotivs in echt novellistischer Schärfe und ein sicherer Takt in der Lösung des sittlichen Problems. Nach dieser Seite ist die vorliegende Erzählung wahrhaft mustergültig. Niemand wird sich dem erschütternden Eindruck der tragischen Gerechtigkeit entziehen, die hier, im Einklang mit dem Gewissen des Helden, in überraschender Weise geübt wird, während wiederum die Mischung von Kühnheit und Selbstsucht in der Schuld des Unglücklichen seiner Gestalt unser volles Interesse sichert. Auch die Darstellung, die in der ersten Hälfte hie und da an Überschwänglichkeiten leidet, erhebt sich mehr und mehr zu charakteristischer Einfachheit und dichterischer Gewalt.
***
I.
An einem Frühlingsmittag des Jahres 1749 machte sich unter einem Teil der regelmäßigen Morgenbesucher des Bärengrabens in Bern, der zu jener Zeit am Ausgange der Schauplatzgasse lag und sich damals noch einer größeren Anzahl ständiger Stammgäste zu erfreuen hatte, als heut zu Tage, eine ungewöhnliche Bewegung bemerklich. Während sonst die ehrbaren Bürger gravitätisch in Schlafrock und Pantoffeln daher gewandelt kamen, um behaglich über das Grabengeländer gelehnt sich durch den Anblick des vielgeliebten Wappentieres auf das Tagewerk vorzubereiten, gingen sie jetzt, wie in unruhiger Erwartung getrieben, hin und wieder, jeden neuen Ankömmling schon von Weitem gleichsam mit Blick und Miene ausfragend. Drunten begannen die Mutzen ihre hochbewunderten Künste, um sich die gewohnten Morgenbrötchen ihrer Verehrer zu verdienen; die Alten produzierten Bittemännchen und Drehtänze, die Jungen schlugen so drollige Purzelbäume, wie sie nur der hoffnungsvollsten Bärenjugend gelingen können; aber das wollte Alles nicht hinreichen, die Aufmerksamkeit der am Geländer Auf- und Niedergehenden diesmal anzuziehen und festzuhalten. Im Gegenteil wendeten sich die Blicke der eifrig miteinander Sprechenden unablässig nach dem Erdgeschosse des nächsten Eckhauses hinüber, obwohl dort durchaus nichts Besonderes zu erschauen war, wenn man nicht etwa das schwarze Schild über der Türe, das in weißer Schrift verkündete, dass hier der ehrsame Meister Hänni seine Perücken- und Haarkräuslerkunst betreibe, als Merkwürdigkeit gelten lassen wollte. In jener Blütezeit der männlichen Perücken und kunstvoll geflochtenen und gekämmten Damenfrisuren war das nun freilich kein so unbeachtenswerter Gegenstand; doch war er heute, was er seit Jahren gewesen, und manniglich bekannt, dass Meister Hänni der geschickteste, aber auch der teuerste und deshalb nur von der Noblesse frequentierte Haarkünstler der alten Zähringerstadt sei. In allem dem konnte also auch gar kein Grund zu dem ungewöhnlichen Verhalten der Bärengrabengäste vorhanden sein.
Dagegen lag dieser in einer Mitteilung, die der Torwart am Aarberger Turme den Gevattern und Basen seiner Nachbarschaft gemacht, und was dann im Fernern mit derselben zusammenhing. Am vorgestrigen Abend nämlich kam, so lautete der Bericht, ein junger, fremder Herr durch das Tor geritten, von so durchaus vornehmem Aussehen, dass der Torwart sich gar nicht getraute, ihn um seinen Pass, um woher und wohin zu befragen. Das muss wenigstens der Abgesandte einer fürstlichen Hoheit sein, hatte er gedacht, wenn es nicht eine solche erlauchte Person selbst ist, die sich das Vergnügen macht, allein zu reisen, oder deren Gefolge erst nachkommen wird. Aber als der Fremde schon vorbeigeritten, hatte er seinen Schimmel wieder umgelenkt und den Torwart nach einer Herberge gefragt. Dieser nannte ehrerbietigst die goldene Sonne und den Distelzwang als die Gasthäuser, in denen vornehme Reisende abzusteigen pflegten. Der Fremde jedoch erwiderte, er begehre vor Allem nach der Zunftherberge, in der sich die Haarkräusler und Perückenmacher zum Abendtrunke einfänden. Aha, dachte der Torwart, die gewünschte Herberge nennend und einen bedeutungsvollen Blick auf die braunen Haare des Fremden werfend, die sich in üppiger Fülle unter dem kleinen Hute hervorrollten, hab's auf den ersten Blick getroffen; meine Augen sind nicht umsonst seit dreißig Jahren im Dienste gewesen. Der will inkognito bleiben und sich seine Haare färben lassen oder so was, bevor er sich in Gesellschaft zeigt. Na, wollen sehen, ob es ihm gelingen wird. Bin auch kein Dummkopf, ich.
Und um dem Selbstgefühl, das durch die letzten Worte leuchtete, alsbald die richtige Geltung zu verschaffen, trat der Torwart an das nächste Haus und ließ seine Finger pochend auf ein kleines Fenster fallen. Schwerenot, Gevatter, rief er, sein Gesicht hart an die Scheiben drückend, einem Manne zu, der drinnen in der Stube mit untergeschlagenen Beinen auf einem Tische saß und emsig die Nadel handhabte, habt Ihr den vornehmen Fremden nicht bemerkt, der eben vorbeigeritten ist?
Wer ist's … was gibt's? fragte der andere, rasch von seinem Sitze herabspringend und das Fenster öffnend; ah … oh, nein, die verdammte Arbeit sitzt mir am Halse, dass ich kaum aufblicken darf. Den auf dem Schimmel meint Ihr?
Pscht … nicht zu laut! machte der Torwart mit geheimnisvoller Gebärde; doch wenn ich Euch raten darf, so werft Zwirn und Nadel bei Seit' und geht zum kleinen Anker hinunter; dort wird er absteigen. Wär' mein Junge nicht fort, ich würd' selbst hingehen.
Ah so, so … rief der ehrsame Meister leise, indem er eilfertig mit beiden Armen in den Rock fuhr und Hut und Stock zusammensuchte, etwas Verdächtiges, etwas für die Speckkammer, meint Ihr, Gevatter Heinz?
Nichts nutz, sagte der Torwart mit pfiffiger und zugleich überlegener Miene, fehlgeschossen, Nachbar, weit fehlgeschossen; doch marschiert nur gleich ab, trinkt einen Schoppen beim Anker und haltet die Augen offen. Ihr wisst, ein solcher Gang hat Euch schon manchmal mehr eingetragen, als Nadel und Schere die ganze Woche lang, Meister Bötzlein.
Der dienstfertige Schneider vergeudete keine Zeit mehr mit Fragen; traute er sich doch zum mindesten eine ebenso feine Spürnase zu, als er sie seinem Gevatter zugestehen mochte, und so langte er denn auch richtig schon vor dem Anker an, als der Fremde eben vom Pferde stieg. Er saß auch bereits in der Gaststube hinter seinem Glase, als dieser eintrat und sich ebenfalls eine Kanne Wein bestellte. Ihr habt da ein sauberes Pferd, gnädiger Herr, sagte der Wirt zu dem Reisenden; doch scheint es etwas ermüdet zu sein.
Es ist ein braves Tier, ja, erwiderte der Fremde, dem bei den Worten des Wirtes ein feines Lächeln über das Antlitz flog, es hat eben auch einen weiten Weg gemacht.
Hundert Kronen wert unter Brüdern, denke ich.
Der Fremde trommelte eine Weile mit den Fingern auf die Fensterscheiben; dann wendete er sich wieder gegen den Wirt und sagte mit vornehmer Nachlässigkeit: Ich habe das Tier nicht mehr notwendig für die nächste Zeit; ist's Euch anständig, so könnt Ihr's haben um den genannten Preis, obwohl er zu niedrig ist.
Ist's Euer Ernst, gnädiger Herr?
Versteht sich, mein voller Ernst, Herr Wirt.
Gut … ich nehm' es, sagte dieser rasch mit übelverhehlter Freude; in einer Viertelstunde sollt Ihr das Geld haben, Junker.
Damit braucht Ihr Euch gar nicht zu eilen … gedenk' ich doch die Nacht in Eurer Herberge zuzubringen. Wollt Ihr mir vor der Hand ein Gemach zuweisen lassen, Herr Wirt?
Als dieser von dem dienstfertigen Geleite, das er dem Fremden nach dem besten Gemache des ganzen Hauses gegeben, in die Gaststube zurückkehrte, schritt er einige Male mit raschen Schritten auf und nieder, sich vergnügt die Hände reibend, und nahm dann eine schwere Zinnkanne von dem braunen Büffet herab. He. Meister Bölzlein, schmunzelte er, das blanke Geschirr auf den Tisch stellend, heut trinkt Ihr ein Glas mit mir … heut vermag ich's.
Ihr habt einen guten Handel gemacht … he? Hundert Kronen Profit so gut als einen Rappen, mein' ich, und wenn ich das Pferd noch diesen Abend wieder verkaufe.
Hundert Krone[n,] schrie Meister Bölzlein, indem er alle Finger seiner beiden Hände auseinander spreizte, als wollte er sie in einem Haufen Geldes versenken, hundert Kronen! Alle Wetter, das sind viele Füchse in einer Falle. Wenn das der Fremde vermuten könnt'!
Vermuten? machte der Wirt mit einer fast geringschätzigen Miene; vermuten sagt Ihr? … Glaubt Ihr denn, ein solcher Herr, wie der droben, kenne den Wert eines Pferdes nicht besser, als Ihr ein Nadelöhr? Aber was scheren sich diese deutschländischen Grafen und Fürsten um lumpige hundert Kronen, wenn sie gerade eine Laune haben. Ich wette darauf, es hat den gnädigen Herrn nur geärgert, dass das Tier einige Ermüdung zeigte … das hatt' ich weg, ehe er vom Sattel gestiegen war.
Ah … drum habt Ihr ihn gleich frisch an diesem Punkte angebohrt.
Na … trinkt eins, Meister Bölzlein; für was wäre man Wirt zum kleinen Anker, wüsste man nicht, wo solche Praktiken sich brauchen ließen. Wisst Ihr doch auch, wo die Schneiderhölle liegt … he? Ha, ha!
Der Schneider leerte sein Glas und lachte mit dem pfiffigsten Gesichte, das er aufzutreiben vermochte, zur Gesellschaft mit; wie alle klugen Leute wollte er nicht ohne Schein an sich fallen lassen, als ob er sich nicht so gut wie andere auf seinen eigenen Vorteil verstände. Dann aber sagte er weiter: Und Ihr haltet den Herrn wirklich für einen deutschländischen Grafen oder Fürsten und dergleichen?
Und Ihr zweifelt daran? erwiderte der Wirt, indem sich wieder ein Zug der Geringschätzung um seinen Mund legte; aber habt Ihr denn keine Augen im Kopfe? Oder habt Ihr an unsern gnädigen Herren schon solche Manieren gesehen? Solche, solche … ja, wie soll's unsereins ausdrücken! Nein! die bringen's ihr Leben lang nicht zu Stande, sie mögen stolzieren und sich spreizen, wie sie wollen.
Aber er hat auch nicht einen einzigen Goldring am Finger, entgegnete Bölzlein, während er sein Auge auf ein kleines Reifchen sinken ließ, das einen seiner eigenen Finger umspannte; ich hab' genau Achtung gegeben, sobald er den Handschuh zog.
So, und Ihr meint, solche Herren brauchen derartigen Plunder auf allen Straßen herumzutragen, besonders wenn sie auch einmal für sich allein sein wollen? … Wie war's denn mit dem französischen Marquis, der vor einem Jahre fast zwei Monate lang in meinem Hause logierte … he? Übrigens haltet davon, was Ihr wollt, Bölzlein, das ist Eure Sache; aber ich wette, wenn der Fremde nur auf einem Ziegenbock eingeritten und dafür beim Distelzwang drüben abgestiegen wäre, so ließet Ihr ihn schon ohne Widerrede für einen Kaiserprinzen gelten.
Obgleich nun dieser Ausfall weder sehr zart noch rücksichtsvoll war, so hatte doch Meister Bölzlein schon der Weinkanne wegen, die auf dem Tische stand, Grundes genug, um jeder liebsamen Meinungsverschiedenheit mit dem Ankerwirt auszuweichen. Daneben war er auch sonst noch froh über die Entdeckung und ließ seine ohnehin nicht sehr ernst gemeinten Zweifel umso lieber fallen, als er nun seinem Gevatter Torwart in der Verbreitung einer großen, geheimnisvollen Neuigkeit zuvorzukommen gedachte. — Der Ankerwirt dagegen legte sein Gesicht in ebenso ernste als geheimnisvolle Falten, als schon nach kaum einer Stunde ein Trüppchen sonst selten bei ihm gesehener Gäste nach dem anderen die Gaststube zu füllen begann. Bis zur Feierabendstunde hatte das große Geheimnis die Runde gemacht, und am folgenden Morgen blieb nur noch die Rätselfrage zu lösen, was wohl den fremden Prinzen auf so seltsame Weise nach einer löblichen Stadt Bern geführt haben möge. Dass da Gewichtiges verborgen lag, bezeugte schon der Umstand, dass er dem Ankerwirt ein Pferd, das unter Brüdern seine tausend Kronen gelte, geschenkt habe, nur damit dieser, der dem Fremden durch Zufall auf die wahre Spur gekommen, weder seinen Rang noch Namen verrate.
Im Verlaufe des Tages nahm die Sache jedoch eine Wendung, die nun erst das Bedenklichste erreichte und die kühnsten Vermutungen in die Schranken rufen musste. Bisher war es wohl öfters vorgekommen, dass sich hohe Personen aus diesem oder jenem Grunde vorübergehend unter angenommenem Namen in der Stadt aufgehalten; aber es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Kunde hergeflogen, der fremde Prinz sei bei dem Meister Hänni am Bärengraben als angeblicher Geselle eingetreten — natürlich weil er, wie recht und billig, in die Verschwiegenheit des Ankerwirtes trotz des kostbaren Pferdegeschenkes kein Vertrauen gesetzt habe. Aber was nun da herauskommen werde, das möge der Himmel wissen! — So, meint ihr, erwiderten jedoch die Pfiffigen auf diesen Ausruf ratloser Neugier; werden denn beim Meister Hänni nicht alle Ratsherrnzöpfe der Stadt geflochten und dabei alle Geheimnisse und Affären eines löblichen Standesregimentes verhandelt? Denkt ihr, ein fremder Prinz werde bei einem geheimen Aufenthalte in unserem Lande andere Absichten haben, als solche Dinge zu erfahren, ganz abgesehen davon, dass er in seiner angenommenen Rolle nun auch wohl noch in die Gemächer der vornehmen Frauen einschleichen kann? … Ja, der hat eine feine Nase; aber bedenklich ist's in einer Zeit, wo der Kriegsteufel an allen Enden spuken will und es selbst in unsern eigenen Mauern nicht mehr sauber aussieht. Wir werden noch etwas erleben können!
Das nun waren die Vorgänge, welche die Gemüter der Frühbesucher des Bärengrabens an jenem Morgen in so ungewöhnliche Aufregung versetzten und ihre Blicke mit gespannter Neugier an Tür und Fenster des ehrsamen Meisters Hänni bannten. Aber alles Schauen und Spähen blieb vergeblich, von dem geheimnisvollen Gesellen war nichts zu entdecken, und die unbefriedigte Augenlust wusste sich auf keine andere Weise zu entschädigen, als dass die verschiedenen Gerüchte und Vermutungen über den Unbekannten nun immer eifriger und lauter zur Sprache kamen.
Diesem bunten Gerede hatte schon seit einiger Zeit ein alter, aber rüstig und stattlich aussehender Herr zugehört, der an einem Teile des Grabengeländers auf- und niederschritt, ohne sich in die Unterhaltung der ehrsamen Bürger einzumischen. Manchmal jedoch, wenn er auf seinem gemessenen Gange der Gruppe näher kam und die weit ausfliegenden Vermutungen und Pfiffigkeiten hörte, murmelte er etwas unter dem weißen Schnurrbarte hervor, das wie "alberne Tröpfe" oder "dummes Pack" und dergleichen klang. Allmählich jedoch wurden seine Schritte unmerklich langsamer, und seine scharfen Blicke begannen selbst bisweilen nach den Fenstern des Meisters Hänni hinüberzuschweifen; der ansteckende Reiz der Neugier und des Geheimnisses fing auch bei ihm an, sich geltend zu machen, wenngleich seine Gedanken, wie sich's für eine Standesperson der Republik gebührte, andere Wege einschlugen, als diejenigen des Packes der niederen Bürger. Was Prinz! brummte er in einem fast knurrenden Tone in sich hinein; sauberer Prinz das … kann mir's vorstellen. Aber warum sollt's nicht einer der revolutzenden Taugenichtse sein, die sich aus allen Winkeln herbeischleichen wollen? Kann sein, kann sein … aufpassen! Rappelt's ja schon lange genug bei unsern Strudelköpfen. Können nachsehen einmal … wird nichts schaden. Damit zog der Graubart eine mit blitzenden Steinen besetzte Uhr aus der Tasche der Atlasweste, jedoch nur, um sie sofort wieder mit einem halb verdrießlichen Gesichte in ihr Versteck zurückzuschieben. Ist noch nicht Zeit, kaum halb acht vorbei, fuhr er in seiner brummigen Weise fort, doch kann ihn auch einmal zu Haus flechten lassen, den Zopf, und drüben den Befehl geben, er soll den Burschen selbst zur Schule schicken … wird noch besser sein. Mit diesem Entschlusse verließ der Alte den Bärengraben und schritt gemessenen Ganges der Türe Meister Hännis zu.
Dieser hatte sich eben zum Frühstücke niedergesetzt, fuhr aber augenblicklich wie ein aufgescheuchtes Reh empor, als sein Kunde eintrat. Um Vergebung, gnädiger Herr Oberst, sagte er ihm entgegentretend und zugleich seiner Frau zuwinkend, die Tassen wegzuräumen: ist's denn schon an der Zeit, oder geht meine Uhr falsch?
Nichts da, bleibt sitzen, Meister Hänni, erwiderte der Oberst mit einer Stimme, deren Schall an den Wänden hin zitterte, als müsse er einen Ausgang ins Freie suchen; kaum halb acht vorbei … kann aber nicht kommen zur Stunde … Geschäfte zu Haus.
Und Euer Gnaden befehlen?
Er schickt ja seinen Gesellen gegen Mittag zu meiner Tochter … was? … Gut, der soll etwas früher kommen, als gewöhnlich, und dann auch bei mir klopfen.
Es ist ein neu eingetretener; François, der Schlingel, ist mir davon gelaufen; bitte deshalb auch das gnädige Fräulein um Nachsicht.
Ein neuer? Schöne Geschichten, schrie der Oberst; schickt ihn her, Meister, Punkt zehn Uhr, zehn Minuten … verstanden? … Werd' das Fräulein avertieren.
Der Meister machte seinen Bückling, während der alte Soldat seinen langen Rohrstock auf den Boden stieß, als müsse er ein Siegel auf seinen Befehl drücken, und dann wieder abmarschierte.
Als der Oberst seine Wohnung erreicht, stieg er über die breite Steintreppe einem Gemache zu, das mit seiner Fensterseite nach dem grünen Aarstrom und dem Hochgebirge ging. Es war das ein Aufenthalt, ganz durchweht von jenem eigentümlichen Reize, der dem Auge nur in den Gemächern feinfühliger Frauen entgegentritt. Beim ersten Anblick scheinbarer Zufall in aller Anordnung, der das Ernste mit dem Spielenden, das Glänzende mit dem Unscheinbaren in buntem Wechsel zusammengewürfelt; aber alsbald dämmert dem Blicke des Beschauenden jener tiefere Ordnungssinn auf, der jedem Gegenstande seine Stelle angewiesen, als wäre er auf derselben empor gewachsen und könnte an einem anderen Platz gar keinen Raum mehr finden; über Alles liegt dazu der Abglanz jener zierlichen Sauberkeit ausgegossen, der auch das Unbedeutende schmückt, wie die Sonne den dürftigen Strauch vergoldet. Der Oberst betrat dieses Gemach selten und nur in Ausnahmefällen; er habe stets Angst darin, sagte er, von dem tausendfachen Krimskrams etwas zu zerbrechen oder zusammenzutreten. So blieb er auch jetzt hart an der Türe stehen, als scheue er sich, weiter vorzutreten, rief aber dabei einen so dröhnenden Morgengruß, dass die Saiten der Harfe, die in der Mitte des Gemaches an einem weißen Marmortische lehnte, vor dem Schalle erzitternd leise zusammenklangen. Dieser grüßende Kommandoruf galt einer jungen Dame, die in weitem, blendend weißem Morgenkleide an einem der Fenster saß, das, dicht von Schlingpflanzen umsponnen, nur ein grünlich dämmerndes Licht auf die jugendliche Gestalt herabfallen ließ. Diese erhob sich rasch, um dem Eintretenden lächelnd entgegenzugehen. Schon so früh, Papa? sagte sie, die großen, träumerischen Augen verwundert aufschlagend, gewiss hat mir das einen fröhlichen Tag zu bedeuten.
Na, Dummheiten, erwiderte der Oberst, während sich doch seine strengen Züge milderten beim Anblicke des feinen Antlitzes, das ihm wie ein milder Stern entgegenschimmerte, na, freilich sollst einen frohen Tag haben … wie immer, Jule. Aber was ich sagen wollt' … heut' kommt ein neuer Friseur zu dir … etwas früher als andere Tage. Der andere sei zum Teufel gegangen.
Und bloß deshalb habt Ihr Euch bemüht, Papa?
Versteht sich, Kleine, warum denn nicht? erwiderte der Oberst in einem Anfluge von Verlegenheit vor dem mit wachsender Verwunderung an ihm hängenden Blicke der Tochter; bin droben gewesen beim Bärengraben und hab's da vernommen … ist aber noch etwas Anderes dabei.
Ach, fiel das Fräulein lächelnd ein, am Ende handelt es sich gar um den verzauberten Prinzen.
Was, Prinzen! schrie der Oberst, wer fackelte dir schon von den Dummheiten?
Werde nicht böse, Papa … nur Mädeli hat mir davon geplaudert.
Der Oberst schwieg eine Weile, während er mit dem Stocke hastig, aber leise auf den Boden stieß. Albernes Weibergeschwätz, versteht sich, fuhr er dann mit gedämpfterer Stimme fort; weiß wohl, wie sich die Prinzen verkleiden, und was es zu bedeuten hat … konnt's genug sehen in Versailles, bis ich's satt bekam und mich davonmachte. Aber gleichwohl, wo so viel Rauch, kann auch ein Feuerlein sein, gleichviel welches; deshalb will ich wissen, woher der Bursche kommt, Jule, und was er eigentlich hier zu treiben beabsichtigt.
Den Friseur meint Ihr doch, Papa? Versteht sich … Dummheiten! Und wer soll ihn denn das fragen, Vater?
Der Oberst wusste aus langer Erfahrung augenblicklich, wenn es ihm das eigene Gefühl auch nicht sagte, dass er seine Tochter in irgendwelcher Weise verletzt, sobald sie das kindlich gewohnte Papa mit der ernsteren Benennung Vater vertauschte; jetzt jedoch empfand er auch, ohne vorher in seinem Eifer daran gedacht zu haben, was es zu bedeuten habe, und sagte daher rasch: Nicht du, Jule, versteht sich. Du lässt den Burschen, wenn er anrückt, eine Weile warten, und da soll ihn Mädeli unterhalten unterdessen. Wird's gern tun bei einem Prinzen … verstanden? … Na, nachher soll er auch bei mir vorbeikommen.
Der alte Herr hatte diese Worte mit halb lachendem Munde gesprochen, aber die Tochter sah seinen befehlenden Blick dabei noch leuchten, als er bereits zur Türe hinausgeschritten. Einen Augenblick blieb sie ihm nachschauend stehen, dann ging sie, die Hände leise vor sich hin faltend, wieder langsam dem Fenster zu. Drunten auf der Aare glitt in leichtem Laufe ein Schifflein vorbei, aus dem frohes Jauchzen und Jodeln erklang; es waren Leute aus den Bergen, die wohl in die Fremde zogen, um dort das Brot zu suchen, das ihnen der raue Boden ihrer Heimat nicht gewähren konnte. Das Fräulein blickte und horchte ihnen nach, bis das Schifflein in der Flusswindung verschwunden war. Oh, ihr Glücklichen, flüsterte sie dann leise. Könnte ich mit euch ziehen, in die weite, fremde Welt hinaus!
II.
Es wäre nicht leicht zu sagen, ob der alte Oberst von seiner Umgebung mehr geachtet als gefürchtet wurde; er gab Denjenigen, die von ihm abhängig waren, reichliche Ursache zu Beidem, und gewiss war es, dass selbst die kindliche Liebe seiner Tochter sogar in ihren späteren Jahren nicht ohne einen Beisatz jenes Gefühls geblieben war, das mehr einem unbedingten Gehorsam, als einer unbefangenen warmen Anhänglichkeit zur Wurzel diente. Dagegen genoss er bei den Bessern seiner Standesgenossen um seiner streng aristokratischen Gesinnungen, seiner geraden Offenheit und unerschütterlichen Rechtschaffenheit willen einer hohen Achtung; selbst bei der niederen Bürgerschaft stand er vor manchem Einflussreichern seines Standes in Ansehen, obwohl er nie weder ein höchstes bürgerliches Amt bekleidet, noch auch trotz seiner Abstammung aus einem der ältesten Geschlechter nur nach einem solchen getrachtet hatte. In dieser Sphäre war es namentlich die fast sprichwörtlich gewordene Unbrüchlichkeit seines Wortes, die ihm Respekt verschaffte; denn wer einmal eine Zusage oder ein Versprechen von ihm erhalten hatte, und wäre er der Geringste der Geringen gewesen, der konnte sicherer darauf bauen, als auf Anderer Brief und Siegel. Ausschließliche Furcht und bitteren Hass hegten nur zwei Menschenklassen gegen ihn, und beide hatten auch ihre triftigen Gründe dafür. Auf der einen Seite waren dies diejenigen seiner patrizischen Standesgenossen, die aus französischen Diensten heimgekehrt, französische Sitte und Leichtfertigkeit zur Geltung bringen wollten; der Oberst selbst hatte zwar seine militärische Laufbahn ebenfalls im Dienste Frankreichs begonnen, sich aber bald mit Abscheu von dem sittenlosen Treiben abgewendet und, in brandenburgisch-preußischen Dienst getreten, dort noch unter dem alten Dessauer den besten Teil seiner Schule durchgemacht. So blieb er denn sein Leben lang der geschworene Feind alles Franzosentums und wies dabei mit gerechtem Stolze auf seine zwei Söhne hin, die jetzt ebenfalls in preußischen Diensten unter den Fahnen des großen Fritz die echte Soldatenprobe bestehen konnten. Die andere Klasse seiner entschiedenen Feinde bestand aus den politisch Unzufriedenen, die für die mindere Bürgerschaft auf Kosten des Patriziates größere Rechte forderten und die gerade jetzt sich wieder eifrig zu rühren begannen. Zur Ausrottung dieser Revoluzzer, in denen der Alte die verkörperte Hölle selbst erblickte, würde er weder Feuer noch Schwert gescheut haben, und er machte nach seiner Art auch nirgends ein Hehl aus diesen Gesinnungen.
Unter diesen Umständen konnte das ungewöhnliche Interesse, das der Vater an dem fremden Haarkräusler zu nehmen schien, für seine Tochter kein großes Rätsel bleiben. Dass er nicht an die über denselben verbreiteten Gerüchte glaubte, hatte er deutlich gesagt, und das war auch selbstverständlich; aber fast ebenso gewiss war es, dass er mit der Verbreitung dieser Gerüchte nicht einen bloßen lächerlichen Zufall, sondern eine tiefer verborgene Absicht erblickte. Er vermutete in dem Fremden entweder einen verkappten Revoluzzer, von denen er seit einiger Zeit tagtäglich mit wachenden Augen träumte, oder gedachte vielleicht, wenn diese Annahme sich nicht erwahren sollte, denselben zu einem seiner Späherwerkzeuge zu machen; denn dass er sich auch mit solchen zu umgeben anfing, war der still beobachtenden Tochter ebenfalls nicht entgangen.
Das Eine wie das Andere hatte gleich viel Verletzendes für den reinen, milden Sinn des Fräuleins, und je mehr sie darüber nachsann, um so peinlicher wurde ihr der Gedanke, wie rücksichtslos der Vater sie selbst habe missbrauchen wollen, einen unbekannten Menschen, mochte er nun Dieser oder Jener sein, in sein eigenes leidenschaftliches Tun hereinzuziehen. Hatte sie doch sonst genug zu leiden davon, wie sehr sie auch stets bemüht war, sich von all diesem Kämpfen und Streiten fernzuhalten; aber wie sollte sie sich erwehren? — An einen offenen Widerstand gegen die Befehle des Vaters wagte sie nicht zu denken, der kindliche Gehorsam lag durch Erziehung und Gewohnheit zu tief begründet in ihrer Seele, als das sie sich plötzlich zu einem solchen Schritte hätte entschließen können; dafür aber reifte allmählich fast wider ihren Willen der andere Entschluss, nun doch zu tun, was der Vater ihr anfänglich zugemutet, und lieber den Haarkräusler, so weit schicklich, selbst auszufragen, als es dem Mädeli zu übertragen. Durch die Nötigung, sich auf so ungewohnte Weise in ihren Gedanken mit dem Unbekannten beschäftigen zu müssen war unmerklich eine Art Teilnahme für ihn entstanden, und leise sagte sie, als sie über ihr Verhalten glaubte ins Reine gekommen zu sein, vor sich hin: Kann ich ja dann doch nach eigenem Gutdünken meinen Polizeibericht erstatten.
Unbefangenheit und Ruhe wollten jedoch dem Fräulein immer noch nicht zurückkehren mit diesem Entschlusse, und je näher die Stunde heranrückte, um so unruhiger wurde sie; es legte sich ein Schatten auf ihr Gemüt, der fort und fort dunkler wurde, und endlich wie eine trübe Vorahnung ihre ganze Seele erfüllte. Julia versuchte sich Vorwürfe darüber zu machen und das drückende Gefühl wegzuschließen. Was hast du dich um einen hergelaufenen Haarkräusler zu kümmern? sagte sie laut; ist doch gewöhnlich nicht viel zu verderben an solch windigem Volke, und sollte mehr an Diesem sein, als an den meisten seiner Genossen, so wird er schon selbst sich zu helfen wissen. Gewiss, da ist jetzt auch wieder nur das einfältige Gerede der Leute und die dadurch veranlasste Laune des Vaters schuld gewesen; wie du so töricht sein kannst, Julie! Aber all diese gewöhnlichen Trostmittel gegen eine unsichere Erwartung wollten nicht mehr verfangen, und nur mit Mühe vermochte das Fräulein ein ängstliches Erschrecken zu verbergen, als das Mädchen den fremden Gesellen meldete.
Julia empfand beim ersten Anblicke des Eintretenden, dass ihre Unruhe nicht vergeblich gewesen. Sie hätte gerne eine Art Zierpuppe gesehen, wie sie in diesem Stande häufig vorkommen, die gerade durch das Gesuchte und Auffallende ihres Putzes den müßigen Stadtklatsch hervorgerufen haben mochte; nun aber stand ein junger, zwar sauber, aber einfach gekleideter Mann vor ihr, über den die Natur ihr reichstes Füllhorn männlicher Schönheit schien ausgegossen zu haben. Julias erster Gedanke war, als er sich mit leisem Erröten vor ihr verneigte: Nun haben Beide recht, die Leute und mein Vater; dem Stande, den er angibt, kann er nicht angehören, darin ist er weder erzogen, noch dafür geboren. Sie warf noch einen Blick auf die schlanke und doch kräftig gebaute Gestalt, auf das fein gebildete und doch eine selbstbewusste Entschlossenheit wiederspiegelnde Antlitz, von dem vor ihrem prüfenden Auge das leise Erröten bis über die Helle, von dunkelgoldenen Haaren umrahmte Stirn hinauf glitt, und wendete sich dann ab, um die eigene Glut zu verbergen, die auf ihre Wangen stieg. Der Redelaut schien tief in ihrer Brust festgeklemmt, und die wenigen Worte, die sie sprechen wollte, musste sie sich erst leise im Gedanken vorsprechen; aber wie gewöhnlich und alltäglich sie auch waren, sie traten vielfach anders über die Zunge, als das Fräulein beabsichtigt hatte. — Ihr seid also der neue … Herr, der bei Meister Hänni eingetreten ist! — Die gewöhnliche Anrede des bürgerlichen Er und das Wort Geselle hatten sich fast unbewusst noch auf den Lippen umgewandelt in höflichere Formen. — Zu dienen, gnädiges Fräulein, und wenn Ihre Güte mir einige freundliche Nachsicht gewähren möchte, so hoffe ich wohl, meinen Dienst bald zu Ihrer Zufriedenheit versehen zu können! — Welch ein reiner Klang der Stimme und welch eigener, wehmütig-froher Aufblick des großen, dunklen Auges hatten dieser Antwort das Begleit gegeben! — Aber war es das, oder war's die schon sich andeutende, alle widerstrebenden Schleichwege abschneidende Offenheit in den Worten des Fremden, was den unheimlichen Druck so plötzlich von der Seele des Fräuleins hob? Sie wusste es selbst nicht und gab sich auch keine Rechenschaft darüber, warum sie nun sofort mit ihrer gewohnten Freundlichkeit erwidern konnte: Meinetwegen braucht Ihr nicht in Sorge zu sein; ich habe nicht Ursache, einen allzu hohen Wert auf meine Frisur zu legen. — Unter dieser Erwiderung hatte sie selbst das von seinen Golddrähten geflochtene Netz, das ihre Haare umspannte, losgelöst und ließ sich auf einem Stuhle nieder.
Und doch darf ich wohl behaupten, noch keinen schöneren Haarschmuck gesehen zu haben, erwiderte der Friseur, seine Hand an die niederfallende Seidenflut legend; da freilich wird meine geringe Kunst der Natur nicht Stand zu halten vermögen, gnädiges Fräulein.
Julie zuckte leise zusammen unter seiner Berührung. Sie fühlte ganz deutlich, wie von seiner Hand ein warmer Strom ausfloss, der sich gleich einem milden Hauche über ihr ganzes Wesen ergoss, und unwillkürlich musste sie die Augen erheben, um ihm ins Antlitz zu blicken. Die Blicke begegneten sich und blieben eine lange Weile aneinander hangen wie festgebannt. Die dunkle Glut seiner Augen schien sich tief niedertauchen zu wollen in den blauen Spiegel des entgegenschauenden, und ihr war es, als könnte sie hinter dem nächtlichen Glanze in weiter, dämmernder Ferne einen schimmernden Stern emporsteigen sehen. Als sie die Blicke wieder voneinander wendeten, war es nicht mehr das Gefühl der Verlegenheit, welches das leise Erröten von Neuem auf die Wangen trieb, sondern ein Gefühl unnennbaren Behagens, ein ertönendes Singen und Klingen in der Tiefe der Seele, gleich dem verwehenden Gesänge der Lerche, die, dem Menschenauge nicht mehr erreichbar, im Dunstmeere dahinschwebt. Das lang anhaltende Schweigen, das nun erfolgte, war auch nicht die herumtastende Unruhe, die vergeblich nach einem Worte sucht, es war vielmehr eine träumerische Ruhe, die nichts sucht und nichts begehrt und in sich selber glücklich ist. Und als das Fräulein endlich wieder zu sprechen anfing, tat sie es nicht, um dem Befehle des Vaters, an den sie in diesem Augenblicke gar nicht mehr dachte, gehorsam sich zu zeigen, sie tat es vielmehr, um einem eigenen Befehle zu gehorchen, der ihr ganz vernehmlich zurief: Du musst dir das Rätsel lösen lassen … er kann es, er allein, der dir alles, alles sagen wird.
Ihr seid ein Deutscher, begann sie, Eurer Sprache nach, mein Herr.
Aus Köln am Rhein, gnädiges Fräulein.
Ach, daran liegt es! Meine selige Mutter war eine geborene Rheinländerin, und deshalb wohl haben mich die Anklänge Eurer Aussprache schon beim ersten Worte so freundlich angemutet.
Eine Rheinländerin? Ist ein schönes Land, mit seinen Städten, Schlössern und Ruinen, die sich in dem herrlichen Strome beschauen; habt Ihr's noch nie gesehen, gnädiges Fräulein?
Ihr habt Heimweh danach, wie es scheint, und doch ist unser Land wohl nicht minder schön.
Es ist meine Heimat, sagte er leise, die ich nicht gern verlassen habe.
Darauf musstet Ihr Euch wohl für einige Zeit schon gefasst machen, als Ihr Euren Beruf erwähltet, mein Herr.
Julia bemerkte erst an dem augenblicklichen Zögern der Erwiderung, das sie unbewusst eine verfängliche Frage getan haben mochte, und schon wollte sich ein Gefühl der Reue regen, dass es wenigstens jetzt schon geschehen; aber alsbald antwortete er ruhig: Ich habe den Beruf erst seit einem halben Jahre erlernt, gnädiges Fräulein, und muss Euch deshalb nochmals um gütige Nachsicht bitten, wenn Ihr mich langsam und unbehilflich findet.
Seltsam!
Seltsam mag Euch das wohl erscheinen, lautete die Antwort auf diesen nur leise vor sich hin gehauchten Ausruf; kommt es mir doch selbst manchmal vor, wie ein Traum … wie ein dunkler, schwerer Traum, mein gnädiges Fräulein.
Der wehmütige Klang der Stimme, mit dem diese Worte gesprochen waren, bebte in Julias Ohren nach, wie der verschwimmende Ton einer Trauerglocke. Hier stand sie mit einem Schritte an der Enthüllung eines Geheimnisses, das ihr Gemüt so unvermutet vorbeschäftigt hatte, aber sie wusste ja schon genug und schwieg, während sich ihre Blicke langsam und träumerisch zu Boden senkten. Ja, sie wusste es mit plötzlicher und erschreckender Klarheit, dass noch ein Schritt weiter sie an die Entschleierung eines schmerzvoll empfundenen Unheils führen würde, und das mochte sie jetzt nicht in seiner deutlichen Gestalt anschauen … jetzt nicht in diesem Augenblicke. Einmal musste sie's erfahren, auch das wusste sie deutlich; aber es war noch immer früh genug, wohl zu früh, wann es kommen mochte. Das Herz sträubt sich stets, bei der Empfindung eines unerwarteten Glückes, sei dieses ein bewusstes oder unbewusstes plötzlich wieder dem Schmerze seine Pforten zu öffnen, und so schwieg auch das Fräulein in fast ängstlicher Selbstbehütung, bis der Friseur zur Seite trat und schüchtern sagte: Wenn ich Euch um den Spiegel bitten dürfte, gnädiges Fräulein.
Das eigene Bild, das ihr aus dem geschliffenen Kristalle entgegentrat, verscheuchte die traumhaften Schatten wieder, die sich hervorgedrängt, obwohl sie sich selbst jetzt fast wie ein Traumbild erschien. Bin ich das wirklich selbst? rief sie nach einer Pause lächelnd und zugleich über den Ausruf wie eine dunkle Rose erglühend; wahrhaftig, Ihr seid ein seltsamer Haarkünstler, mein Herr! … Nein, nein, fuhr sie jedoch mit einer abwehrenden Handbewegung, den Spiegel dem verlegen vor ihr Stehenden zurückgebend, fort, es ist gut so … ich bin zufrieden, verlasst Euch drauf.
Sie erhob sich und wollte dem grünen Fenster zugehen; aber sie musste nach dem ersten Schritte stehen bleiben und sich an die weiße Marmorplatte des Tisches lehnen. Ihr habt nur noch zu meinem Vater zu gehen, sagte sie leise, ohne aufzublicken; mein Mädchen wird Euch draußen den Weg weisen.
Und ich darf wiederkommen … Ihr seid zufrieden mit meinem Dienste, gnädiges Fräulein?
Gewiss, gewiss, erwiderte sie rasch, morgen zur nämlichen Stunde, oder etwas später, wenn es Euch gelegen ist, und so dann alle Tage. Und noch eines, fügte sie hinzu, als er langsam sich der Türe zuwendete, mein Vater scheint manchmal etwas barsch, bis man sich daran gewöhnt hat; aber böse ist's nicht gemeint.
Nehmt meinen herzlichsten Dank, gnädiges Fräulein … Julia!
Sie schaute betroffen auf, der sich bereits schließenden Türe nach, und legte dann mit langem, nachdenklichen Sinnen die Hand über die Augen. Julia? … Wer hatte den Namen ausgesprochen? Hab' ich es selbst getan oder er? … Nein, er ist's gewesen, gewiss … es klingt mir ja noch der Ton seiner Stimme im Ohre nach. Aber wie ist er dazu gekommen … hast du eine Unvorsichtigkeit, eine Torheit begangen? … Nein, gab sie sich laut die Antwort auf diese Selbstanfragen … und wenn es doch wäre, so trage ich keine Schuld daran … ich nicht.
Sie wendete sich langsam wieder dem Spiegel zu, um nochmals ihr Bild zu beschauen. Ja, es war eine Veränderung vorgegangen mit ihr seit einer kurzen halben Stunde — sie war eine Andere geworden; aber wo lag er denn, dieser Wechsel? — An dem Haarschmucke allein konnte es nicht liegen, er war in all seinen Touren bis in die kleinsten Formen herab der nämliche geblieben; und doch … und doch bildete er einen so ganz anderen, helleren Rahmen als bisher um die Stirn, fast wie von einem verborgenen Lichte angeschimmert. Aber auch die Augen, Wangen und Mund — waren sie nicht wie von einem neuen Glanze erfüllt, von einer frischen Blüte angehaucht? — Gewiss, du bist recht hübsch, Julie, sagte sie, den Spiegel lächelnd gegen die Wand zurücklehnend, und es fehlt nichts weiter mehr, als dass du dir zu deinen übrigen Vorzügen nun auch noch ein Stück Eitelkeit erwirbst.