Deutschland 2050 - Toralf Staud - E-Book

Deutschland 2050 E-Book

Toralf Staud

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Beschreibung

Aprikosen aus Hamburg, Kühlräume für Berlin und Hochleistungskühe im Hitzestress. Deutschland im Klimawandel: Wie werden wir leben und arbeiten? Wohin werden wir reisen? Wie werden unsere Städte aussehen? Neue Ausgabe mit einem aktuellen Vorwort. Spätestens die Hitzesommer 2018 und 2019 sowie die auch 2020 anhaltende Trockenheit haben es deutlich gemacht: Der menschengemachte Klimawandel ist keine Bedrohung für die ferne Zukunft ferner Länder, der Klimawandel findet statt – hier und jetzt. Doch welche konkreten Auswirkungen wird er auf unser aller Leben in Deutschland haben? Selbst wenn es Deutschland und der Welt gelingen sollte, den Ausstoß von Treibhausgasen in den nächsten Jahrzehnten drastisch zu reduzieren – bereits jetzt steht fest: Das Klima in Deutschland verändert sich. Im Jahr 2050 wird es bei uns im Durchschnitt mindestens zwei Grad Celsius wärmer sein. - Was sind die praktischen Konsequenzen dieses Temperaturanstiegs? - Wie wird unser Leben in Deutschland in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts konkret aussehen, wenn es immer heißer, trockener und stürmischer wird? - Welche Anpassungen werden nötig und möglich sein?In ihrem Buch geben die Autoren Nick Reimer und Toralf Staud konkrete Antworten auf die Frage, wie der Klimawandel uns in Deutschland treffen wird. Auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse aus zahlreichen Forschungsfeldern schildern sie, wie wir in dreißig Jahren arbeiten, essen, wirtschaften und Urlaub machen. Welche neuen Krankheiten uns zu schaffen machen. Wie sich unsere Landschaft, unsere Wälder, unsere Städte verändern. Entstanden ist eine aufrüttelnde Zeitreise in die Zukunft: Selbst wenn wir den Klimawandel noch bremsen können, wird sich unser Land tiefgreifend verändern. Ohne verstärkten Klimaschutz jedoch wird Deutschland 2050 nicht wiederzuerkennen sein.

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Nick Reimer / Toralf Staud

Deutschland 2050

Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Nick Reimer / Toralf Staud

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweise

Vorwort zur Taschenbuch-Ausgabe 2023 Zwei (fast) verlorene Jahre

Flutkatastrophen, Hitzewellen, Feuersbrünste – doch der Ausstoß an Treibhausgasen geht praktisch ungebremst weiter

Etliche neue Forschungsarbeiten sind erschienen, die das Bild dichter und detaillierter machen

Die Politik? Macht weiter business as usual. Ein Lichtblick ist nur das Bundesverfassungsgericht

Einleitung Die Zukunft ist auch nicht mehr, was sie mal war

Deutschland wird heißer. Es wird zugleich trockener und nasser – und unser Leben unsicherer

Es drohen horrende Kosten für die Anpassung an ein verändertes Klima – und mehr gesellschaftliche Ungleichheit

Bauern, Forstwirte, Architekten – Klimawandel bedeutet auch eine radikale Entwertung von Erfahrungswissen

Klimaschutz mag wirken wie ein Totalumbau des Landes. In Wahrheit sorgt er dafür, dass nicht alles völlig anders wird

Kapitel 1: Klimamodelle Heißes Land

Virtuelle Luftpakete wandern um die Welt, Modellmeere heizen sich auf, simulierte Stürme brauen sich zusammen

Trotz aller Klimagipfel und Regierungsversprechen steigt der Kohlendioxid-Gehalt der Atmosphäre weiter und weiter

Rund zwei Grad wärmer wird es in Deutschland bis 2050 – ohne Klimaschutz könnten es bis 2100 sechs Grad werden

»Kälte wird es nur etwas weniger geben. Dafür bekommen wir mehr Hitze – und vor allem mehr extreme Hitze«

Klimamodelle haben die bisherige Erwärmung ziemlich gut vorhergesagt. Warum sollten sie sich für die Zukunft irren?

Kapitel 2: Mensch »Der Hitze entkommt man nicht«

Allein die Hitzewelle von 2003 forderte in Deutschland mehr als 7000 Menschenleben

Andere Länder haben schnell auf die zunehmenden Hitzerisiken reagiert, etwa Frankreich oder die Schweiz

Die Gefahren der Erwärmung wiegen deutlich schwerer als ihre positiven Folgen

Gute Zeiten für Zecken und Mücken – und für tropische Krankheiten

Sommer – das wird nicht mehr die unbeschwerte Jahreszeit sein, auf die man sich den ganzen Winter freut

Die Asiatische Tigermücke vermehrt sich schon heute in vielen Städten – und wird in einer Art Kleinkrieg bekämpft

Was dem Klima nützt, ist meist auch gut für die Gesundheit

Kapitel 3: Natur Todesurteil Klimawandel

»Kuckuck, kuckuck«, ruft’s immer seltener aus dem Wald

»Wir befinden uns mitten im größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier«

Der Klimawandel lässt neue Arten gedeihen – für bestehende Biotope ist das oft ein großes Problem

Giftige Algenblüten, massenhaft tote Fische – in den Sommern der Zukunft kippen Seen und Flüsse immer öfter

Es ist nicht nur moralische Pflicht, das Artensterben zu stoppen – es läge auch im Eigeninteresse der Menschheit

Kapitel 4: Wasser Viel zu nass und viel zu trocken

Klimamodelle erwarten viel mehr Starkregen – auf den Regenradars zeichnet sich der Trend bereits ab

Starkregen können beschauliche Bäche in reißende Ströme verwandeln – und ganze Ortschaften verwüsten

Selbstverstärkende Dürre: Ist ein Boden erst ausgetrocknet, nimmt er kein Wasser mehr auf – egal, wie viel es regnet

Dass es in Deutschland genug Wasser für alle gibt – diese Gewissheit gilt angesichts des Klimawandels nicht mehr

Stauseen sind ein Rückgrat der Wasserversorgung – doch vielerorts herrscht schon seit drei Jahren Ebbe

Bevölkerung, Bauern, Industrie, Kraftwerke – alle wollen Wasser: »Wir müssen uns auf harte Konflikte einrichten«

Kapitel 5: Wald Ade, du deutscher Fichtentann

Die Fichte ist nicht wegzudenken aus der Kultur der Deutschen – und doch wird sie vielerorts verschwinden

Der Borkenkäfer profitiert vom Klimawandel – schon bis 2050 kann er sich exponentiell vermehren

»Wenn Bäume schreien könnten, wir hätten hier ohrenbetäubenden Lärm!«

Vor zehn Jahren noch galt die Eiche als relativ klimafest – heute ist bundesweit nicht mal mehr jede fünfte gesund

Deutscher Wald 2050: »Trend zur Steppe« und »schwachwüchsige Bestände wie im Mittelmeerraum«

Als Folge von Dürre, Hitze und Schädlingsbefall: »Sicher ist, dass Waldbrände zunehmen werden«

Kippelemente im Klimasystem: Extreme Risiken für den Amazonas und die borealen Wälder im hohen Norden

Kapitel 6: Städte Erhitzt sich die Erde, kochen die Städte

Schon heute ist Hitze in der Stadt tödlicher als Verkehrsunfälle. Und es wird noch viel heißer …

Heute gibt es im Winter Wärmestuben für Obdachlose, 2050 braucht es im Sommer öffentliche Kühlräume

Städte brauchen künftig viel mehr Grün – doch der Klimawandel lässt Stadtbäume sterben

Viele der aktuellen Baunormen passen nicht mehr zum Klima der Zukunft

Dachgeschoss-Wohnungen sind heute cool. In den künftigen Sommern wird man es dort kaum noch aushalten

Notstromaggregate stehen häufig im Keller – bei Überschwemmungen eine ganz schlechte Idee

Kapitel 7: Küste Ein Meter, zwei Meter, fünfzig Meter

Der Meeresspiegelanstieg beschleunigt sich. Einmal in Gang gesetzt, wird er Jahrtausende anhalten

»Eine Sturmflut, die heute alle 50 Jahre zu erwarten ist, wird Ende des Jahrhunderts fast normal sein«

Steigende Meere bedrohen nicht nur Inseln und Küsten – sondern auch Regionen weit im Binnenland

Auf Grönland liegt genug Eis für sieben Meter langfristigen Pegelanstieg, in der Antarktis für mehr als 50 Meter

Ein Bauernpaar von der Insel Pellworm wollte die Bundesregierung zu mehr Klimaschutz zwingen – erfolglos

Hamburgs Umweltsenator bringt bereits ein riesiges Sperrwerk in der Elbe ins Gespräch

Bei einer schweren Sturmflut erwarten Katastrophenschützer Tausende Tote und Verletzte

Das Watt säuft ab, kälteliebende Nordseefische wie der Kabeljau wandern Richtung Norden

Dünger aus der Landwirtschaft, zunehmende Hitze – in der Ostsee werden die »Todeszonen« immer größer

Kapitel 8: Verkehr »Irgendwo ist immer irgendwas unterbrochen«

Der neue ICE braucht Klimaanlagen, die für Sommer wie in Italien oder Spanien ausgelegt sind

Für etliche Straßen und Autobahnen wird sich das Hochwasserrisiko mindestens verdoppeln

Der Anstieg der Meeresspiegel wird auf lange Sicht dem Nord-Ostsee-Kanal Probleme bereiten

Der Rhein wird wegen zunehmender Niedrigwasser ein unzuverlässiger Transportweg

Kapitel 9: Wirtschaft Überhitzungsgefahr für die deutsche Wirtschaft

Niedrigwasser wie 2018 hatten Klimamodelle für den Rhein eigentlich erst in Jahrzehnten erwartet

Fast die Hälfte der deutschen Unternehmen beklagt bereits Probleme durch Hitzewellen

Extremwetter können Logistikketten unterbrechen – und Industrieanlagen in die Luft fliegen lassen

Es wird auch Profiteure geben in der Wirtschaft: Hersteller von Klimaanlagen etwa oder Versicherungen

Wird die Siesta auch in deutschen Firmen in einigen Jahrzehnten üblich werden?

Staaten, die der Klimawandel schwer trifft, werden weniger Geld haben, um deutsche Produkte zu kaufen

Bild ist alarmiert: »Bittere Nachrichten zum Frühstück – Der Klimawandel macht den Kaffee teurer!«

Wetterextreme werden weltweit den Bergbau stören – also auch die deutsche Rohstoffversorgung

Kapitel 10: Landwirtschaft »Am wohlsten fühlen sich Kühe bei 15 Grad«

Hitzesommer bringen große Probleme, bei mehr als 30 Grad zum Beispiel werden die Pollen von Weizen steril

Kichererbsen, Hirse und Sojabohnen könnten in Deutschland 2050 weit verbreitete Ackerkulturen sein

Wenn Schwärme GPS-gesteuerter, solarbetriebener Roboter den 300-PS-Diesel-Traktor ersetzen

Asseln, Milben, Pilze – der große Dienst der kleinen Lebewesen. Humusreiche Böden speichern Kohlendioxid

Apfelwickler, Kirschfruchtfliege, neue Pilzkrankheiten – ein Obstbauer verklagt die Bundesregierung

Feigen und Kiwi, Safran und Süßkartoffeln – in Deutschland gedeihen immer mehr südliche Pflanzen

Typischer, spritzig-herber Frankenwein ist immer schwerer zu produzieren. Stattdessen gedeiht Cabernet Sauvignon

Bei mehr als 24 Grad Celsius geraten Milchkühe unter Hitzestress

Die Industrie verspricht Lösungen für alle Probleme: voll klimatisierte Ställe, Gentechnik, Retortenfleisch

Der deutsche Appetit auf Fleisch sorgt auch im Ausland für Klimaschäden – zum Beispiel am Amazonas

Kapitel 11: Energie »Sicherheit der Stromversorgung hochgradig gefährdet«

Ein Gutteil der deutschen Wasserkraft wird von den Gletschern der Alpen gespeist – die aber schwinden

Wind und Sonne liefern 2050 den meisten Strom – der Klimawandel lässt die Erträge leicht sinken

»Das Argument, wir bleiben bei Kohle, um Risiken zu vermeiden, ist völlig daneben.«

Klimaanlagen fressen 2050 viel Strom – mit Solarzellen lässt sich das Problem dämpfen

Stürme, Fluten, Hitzewellen – die Energienetze sind künftig viel stärker durch Extremwetter gefährdet

Kapitel 12: Tourismus Erholung, Urlaub, Katastrophe

Spaniens Süden verwüstet, Urlaub am Mittelmeer ist Mitte des Jahrhunderts »out«

Malerische Sandstrände verschwinden, Korallenriffe sterben

Der Klimawandel setzt historischen Parks und Gärten zu – eine uralte Kulturtechnik des Menschen verdurstet

Luftkurorte müssen hierzulande strenge Vorgaben erfüllen, in vielen Gemeinden könnte es bald zu heiß werden

Trotz millionenteurer Schneekanonen: 2050 wird es in Deutschland wohl nur noch zwei Skigebiete geben

Mehr Starkregen, weniger Frost – der Klimawandel bringt das Hochgebirge ins Rutschen

Ansteigende Meere überfluten Flughäfen, Passagiere werden von heftigeren Turbulenzen durchgeschüttelt

Kapitel 13: Sicherheit »Es wird künftig richtig ungemütlich werden«

Die Waldbrandgefahr steigt drastisch. Feuerwehren stoßen immer öfter an die Grenzen ihrer Kräfte

Starkregen und Schlammlawinen, Hochwasser und Hagel – wenn Wetter lebensgefährlich wird

Ob Corona oder Klimawandel: Jahrzehntelang hat Deutschland die Notvorsorge vernachlässigt

»Den Reichen macht der Klimawandel das Leben teurer und unbequemer. Die Armen sterben.«

Militärstrategen stufen den Klimawandel längst als »Bedrohung für die nationale Sicherheit« ein

Missernten, Mega-Hurrikans, Flüchtlingsströme – die Folgen werden auch Deutschland treffen

Kapitel 14: Politik »Der Klimawandel passt nicht zur menschlichen Intuition«

Dank

Anmerkungen

Inhaltsverzeichnis

Neuigkeiten zum Buch auf Twitter: @Dtl2050

 

Wissenschaftliche Fachveröffentlichungen sind in den Anmerkungen meist mit ihrer Nummer im internationalen System »Digital Object Identifier« bezeichnet. Gibt man diesen Code auf der Website www.doi.org ein, gelangt man direkt zur entsprechenden Quelle.

Einzelne Befunde verschiedener Studien zu ähnlichen oder gleichen Themen sind oft nicht direkt vergleich- oder kombinierbar (und mögen manchmal in Details vielleicht widersprüchlich wirken), weil häufig die genaue Definition der untersuchten Parameter, die genutzten Klimamodelle oder auch Basiszeiträume und Emissionsszenarien differieren.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Taschenbuch-Ausgabe 2023Zwei (fast) verlorene Jahre

Für das Klima sind zwei Jahre eine sehr kurze Zeit. Fürs Wettrennen um seine Stabilisierung jedoch eine ziemlich lange

Es gibt Ereignisse, Tage, an denen etwas kippt. Der 15. Juli 2021 war so ein Tag. Am Vorabend waren in Teilen Westdeutschlands extreme Regenmengen niedergegangen. In der Nacht stiegen Ahr, Erft und andere Mittelgebirgsflüsse auf sintflutartige Pegel. Am nächsten Morgen dann kommen nach und nach unfassbare Bilder etwa aus dem Ahrtal. Autos, die wie Korken in den Fluten schaukeln. Häuser, von denen nur einzelne Mauern geblieben sind. Ein ganzer Straßenzug in Erftstadt-Blessem, den eine Kiesgrube verschluckt hat; mannshohe Kanalisationsrohre liegen herum wie Legosteine. Es werden Tragödien bekannt wie jene des Lebenshilfe-Heims in Sinzig, wo zwölf behinderte Menschen ertranken.

An jenem 15. Juli 2021 kamen die Folgen des Klimawandels endlich an im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Bis dahin kannte man solche Bilder aus Bangladesch oder von den Philippinen. Aber aus Rheinland-Pfalz? Aus Nordrhein-Westfalen?

Es war ein Ereignis, wie es hierzulande kaum jemand für möglich gehalten hatte. Mehr als 180 Menschen starben, die schwerste sogenannte Naturkatastrophe seit der Sturmflut 1962 in Hamburg. Es war ein Szenario, wie wir es (ab Seite 98) beschrieben hatten im Wasserkapitel dieses Buches, das ein paar Wochen zuvor herausgekommen war. Staunend wurden wir hinterher gefragt, wie wir das haben wissen können. Nun, wir hatten es lediglich aufgeschrieben – »gewusst« hat es die Forschung. Sie hat seit Jahren vor häufigeren und extremeren Starkregen im Zuge des Klimawandels gewarnt. Nur hatte die breite Öffentlichkeit nicht hingehört.

Flutkatastrophen, Hitzewellen, Feuersbrünste – doch der Ausstoß an Treibhausgasen geht praktisch ungebremst weiter

Vor fünf Jahren, nach dem Hitze-und-Dürresommer 2018, entstand die Idee zu diesem Buch. Vier Jahre ist es her, dass wir mit den Recherchen begannen. Zwei Jahre sind vergangen, seit Deutschland 2050 im Mai 2021 schließlich erschien. Was ist seither passiert?

Viel und wenig zugleich.

Vor allem ist die Menschheit ein Stück weitergerutscht in die selbst verursachte Heißzeit. Zwei weitere Jahre hat sie fast ungebremst Treibhausgase ausgestoßen. Nachdem die weltweiten Emissionen 2020 infolge der Corona-Lockdowns etwas gefallen waren, stiegen sie 2021 und 2022 erneut, unter anderem wegen wieder hochschnellender Passagierzahlen im Flugverkehr. Auf rund 40,5 Milliarden Tonnen hat das Global Carbon Project die 2022er-Emissionen geschätzt.[1] Sie lagen damit etwa wieder auf dem Niveau von 2019 – immerhin also ist der Ausstoß seit einigen Jahren nicht mehr gewachsen.

Doch das reicht nicht. Die Emissionen müssen sinken. Schnell. Praktisch auf null, wenn sich die Erde nicht weiter erhitzen soll. Denn Treibhausgase reichern sich in der Atmosphäre an und sorgen, einmal ausgestoßen, teils jahrhundertelang für höhere Temperaturen.

Die Weltorganisation für Meteorologie meldete Ende 2022 ein weiteres Mal Rekordwerte für Kohlendioxid, Methan und Lachgas in der Atmosphäre. Um mehr als 1,1 Grad Celsius gegenüber vorindustriellem Niveau hat sich die Welt bereits erwärmt, so heiß war es zuletzt vor rund 125000 Jahren. Geht es weiter wie bisher, sind in neun Jahren so viele Treibhausgase in der Luft, dass die Durchschnittstemperatur der Erde dauerhaft über jene Erwärmungsschwelle von 1,5  Grad Celsius steigt, die auf dem UN-Klimagipfel 2015 in Paris als Limit beschlossen wurden.[2]

Anderthalb Grad – das klingt nach wenig. Tatsächlich aber wären 1,5 Grad Celsius ein Sprung in der Erdmitteltemperatur, der beispiellos ist in der Geschichte der modernen Menschheit. Ihre gesamte Zivilisation hat sich in einer historischen Glücksphase entwickelt, in 12000 Jahren ungewöhnlich stabilen Klimas, in einem schmalen Band der genau richtigen Temperatur. Fachleute sprechen (angelehnt an ein klassisches englisches Märchen) von einer »goldilocks zone« der Temperatur – und aus dieser Zone katapultieren wir uns gerade heraus.

Die Konsequenzen sind zunehmend zu spüren. Der Starkregen etwa, der an Ahr und Erft zur Katastrophe führte, war durch den Klimawandel bis zu neunmal wahrscheinlicher geworden. An immer mehr Extremwettern kann die Wissenschaft den Einfluss der Erderhitzung zeigen. Das westkanadische Lytton zum Beispiel schrieb sich ebenfalls 2021 in die Geschichtsbücher der Klimakrise. Während einer Hitzewelle stieg dort das Thermometer auf ungeheure 49,6 Grad Celsius, kurz danach wurde das Dorf bei einem Waldbrand nahezu komplett vernichtet. Ohne den Klimawandel, stellten Forscher fest, wäre solche Hitze »praktisch unmöglich« gewesen.[3]

2022 ging es weiter mit dem Horrorticker: Im März meldete die Nasa, dass in der bislang stabilen Ostantarktis das Conger-Eisschelf kollabiert ist. In Somalia setzte sich die schlimmste Dürre seit vier Jahrzehnten fort. Eine brutale Hitzewelle suchte im April und Mai Pakistan und Indien heim, im Juli eine den Irak. In Großbritannien erreichten die Temperaturen erstmals seit Beginn der Wetteraufzeichnungen mehr als 40 Grad Celsius. In den Dolomiten brach ein großer Teil des Marmolata-Gletschers ab. Die fünf weltgrößten Ölkonzerne verbuchten derweil Rekordgewinne, allein im zweiten Quartal 2022 rund 62 Milliarden US-Dollar.

Im August litt dann China unter einer Hitzewelle, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte – in manchen Gegenden hielt sie 70 Tage an. In Italien trocknete der Po fast aus, in Frankreich riefen fast alle Departements Dürrealarm aus, in Spanien und Portugal wüteten Waldbrände. Im September verursachte Hurrikan Ian in den USA Schäden von rund hundert Milliarden Dollar. Im Oktober traf es wieder Pakistan, diesmal ein Extremregen, mehr als 1500 Menschen starben. Im November erschien im Fachjournal Nature eine Studie, der zufolge Teile des grönländischen Eisschildes dreimal schneller schmelzen als bislang gedacht. »Wir unterschätzen, was passiert«, sagt Angelika Humbert, Gletscherforscherin am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Und die Internationale Energieagentur (IEA) gab bekannt, dass der globale Kohleverbrauch 2022 einen Höchstwert erreichte, erstmals waren es in einem Jahr mehr als acht Milliarden Tonnen.[4]

Auch in Deutschland war 2022 eines der wärmsten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen. Es brachte massive Waldbrände etwa in der Sächsischen Schweiz und wochenlang Niedrigwasser im Rhein. Im Sommer fiel 40 Prozent weniger Regen als im langjährigen Mittel. »Wir dürften damit in Zeiten des Klimawandels einen bald typischen Sommer erlebt haben«, kommentierte ein Sprecher des Deutschen Wetterdienstes. Das Jahr endete mit einem Silvestertag, an dem vielerorts T-Shirt-Wetter herrschte.

Immer wieder seit Erscheinen des Buches fühlte es sich an, als seien wir schon in Deutschland 2050. Beim Schreiben hatten wir noch Sorge, man könnte uns des Alarmismus bezichtigen. »Deutschland steht ein großflächiges Waldsterben bevor« heißt es etwa zu Beginn des Waldkapitels (S. 113); vieljährige Dürren würden dazu führen, dass es 2050 »ganze Regionen ohne alte Bäume« gibt. Als wir dies formulierten, war es eine düstere Erwartung der Forschung – Ende 2022 jedoch hatten manche Gegenden Deutschlands bereits das fünfte Trockenjahr in Folge hinter sich, riesige Flächen sind kahl. Der Verlust entspreche fast fünf Prozent der gesamten Waldfläche, ermittelte das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit Satelliten.[5]

Immerhin ist die Medienaufmerksamkeit viel größer geworden. Als wir Deutschland 2050 recherchierten, gab es noch kaum Artikel oder Sendungen zu lokalen und regionalen Folgen der Erderhitzung; das ist heute ganz anders. Ein Netzwerk Klimajournalismus hat sich 2021 in Deutschland gegründet, im Jahr darauf auch in Österreich, der Schweiz, in Frankreich. 2022 waren die Hitzewellen Topthema in den Medien, und erstmals gab es Debatten, dass man sie vielleicht nicht mit Gute-Laune-Fotos aus Freibädern illustrieren sollte, dass noch kaum eine Kommune einen Hitzeaktionsplan zum Schutz der Bevölkerung hat und so weiter. Der neue Ton war etwa im ZDF-heute journal zu hören, wo auf dem Höhepunkt einer Hitzewelle nicht nur klar der Zusammenhang mit dem Klimawandel benannt wurde, sondern Moderator Christian Sievers die Lage eindringlich-irritierend auf den Punkt brachte: »Es kann sein, dass dies der kälteste Sommer ist für den Rest unseres Lebens.«[6]

Etliche neue Forschungsarbeiten sind erschienen, die das Bild dichter und detaillierter machen

Natürlich lieferte die Forschung in den vergangenen zwei Jahren neue Erkenntnisse. Etliche Studien zu regionalen Folgen des Klimawandels sind seit 2021 erschienen – sie haben nirgends das Bild geändert, das wir auf den folgenden 380 Seiten zeichnen, wohl aber weitere Belege und Beispiele geliefert.

Hier nur zu einigen Kapiteln die wichtigsten Neuigkeiten:

 

Mensch – Einen wahren Datenschatz zu Folgen des Klimawandels für die Gesundheit legte der Landesverband Nordwest der Betriebskrankenkassen (BKK) vor. Eine Studie wies auf der Basis von zehn Millionen Versicherten nach, dass an Hitzetagen zum Beispiel mehr Kinder und Alte in Kliniken eingeliefert werden, dass in Hitzejahren die Zahl von Krankschreibungen in die Höhe schnellt (was auch große Verluste für die Wirtschaft bedeutet) und dass durch Zecken übertragene Krankheiten bereits deutlich zugenommen haben.[7]

Für die Asiatische Tigermücke (die Tropenkrankheiten wie das Denguefieber übertragen kann) wurden Ende 2022 aus 21 Orten am Oberrhein Kolonien gemeldet, doppelt so vielen wie bei Erscheinen des Buches. Auch weiter nach Norden hat es das Insekt schon geschafft; nicht mehr Jena, sondern eine Kleingartenanlage in Berlin-Treptow gilt nun als nördlichstes Vorkommen.[8]

Die mit Abstand gefährlichste Klimafolge ist jedoch Hitze, auch EU-weit, wie ein Report der Europäischen Umweltagentur (EEA) feststellte.[9] Der Sommer 2022 war der erste, für den hierzulande fast in Echtzeit Daten zu Hitzetoten verfügbar waren. Früher gab es sie erst mit Verzögerung (oder gar nicht), diesmal legten Robert Koch-Institut und Statistisches Bundesamt schnell Zahlen vor. Etwa 4500 Menschen starben demnach 2022 an hohen Temperaturen, in einer besonders heißen Juliwoche lag die sogenannte Übersterblichkeit bei rund 24 Prozent. Hitze hat damit in vier von fünf Sommern seit 2018 nachweislich Tausende Todesopfer in Deutschland gefordert.[10]

Wie künftige Hitzewellen konkret ausfallen, haben Helmholtz-Forscher mit neuen Methoden simuliert. Temperaturspitzen, zeigten sie, steigen viel heftiger als der Temperaturdurchschnitt: Eine mittlere globale Erwärmung um vier Grad zum Beispiel würde die Maxima um zehn Grad anheben – bei einer Simulation etwa für Köln wurden aus 37 Grad Celsius Spitzenwert einer Hitzewelle 47 Grad. Dazu passt eine Studie der ETH Zürich: Sogenannte »Freak-Hitzewellen«, die frühere Temperaturrekorde weit übertreffen, werden bei ungebremsten Emissionen nach 2050 drei- bis 21-mal häufiger. Und das Sterberisiko während einer Hitzewelle steigt besonders stark, wenn es auch nachts nicht mehr abkühlt, zeigte eine Studie aus Asien.[11]

Das wohl größte Aufsehen in der Fachwelt erregte eine andere Studie zur Gesamtwirkung der gesundheitlichen Klimafolgen: Sie identifizierte Hunderte von Krankheiten, bei denen der Klimawandel Schwere oder Häufigkeit verstärkt, etwa weil er die Verbreitung von Bakterien, Viren, Pilzsporen oder auch Algen fördert.[12]

 

Natur – Mehrere neue Studien vervollständigen das Bild, wie sehr Arten und Ökosysteme durch den Klimawandel bereits aus dem Takt geraten oder geschädigt sind. Ein internationales Forscherteam etwa wies für Zugvögel, die zwischen Europa und Afrika pendeln, eine Verschiebung der Abflug- bzw. Ankunftszeiten seit den 1960er-Jahren zwischen 16 und 63 Tagen nach.[13] Für fein austarierte Nahrungsketten zum Beispiel können solche Veränderungen schwere Folgen haben.

Eine australische Untersuchung zeigte anhand besonders weit zurückreichender Daten, dass sich die Lebensdauer von Bäumen in Tropenwäldern innerhalb von 35 Jahren etwa halbiert hat, wohl vor allem durch zunehmende Trockenheit. Dazu passen Befunde aus dem Amazonas, dass der dortige Regenwald seit den frühen 2000er-Jahren auf drei Vierteln seiner Fläche an Vitalität verloren hat und sich dem Zusammenbruch nähert. Der wäre verheerend: Bislang bremste der Amazonas den Klimawandel, er zog pro Jahr viele Millionen Tonnen CO2 aus der Luft. Doch wie eine andere Studie zeigte, haben Teile des Waldes in den vergangenen Jahren die Fähigkeit zur CO2-Aufnahme verloren und setzen nun selbst Treibhausgase frei.[14]

Ähnlich besorgniserregend sind Befunde aus den Alpen. Die erhitzen sich doppelt so schnell wie der weltweite Durchschnitt. Der letzte der fünf deutschen Gletscher werde bis 2050 verschwunden sein, hatten wir im Naturkapitel (S. 88) prophezeit. Inzwischen rechnet die Forschung bereits für Anfang der 2030er-Jahre damit. Beim Südlichen Schneeferner an der Zugspitze war es schon 2022 so weit; der heiße Sommer hat ihn auf einen so traurigen Eishaufen schrumpfen lassen, dass die Bayerische Akademie der Wissenschaften ihre Messgeräte abbaute und ihn aus der Gletscherliste strich.[15]

Was der Klimawandel mit Tieren und Pflanzen der Alpen macht, hat eine Schweizer Studie analysiert. Viele passen sich an und wandern in die Höhe. Rund 70 Meter müssten sie pro Jahrzehnt vorankommen, um in ihrer Klimazone zu bleiben. Doch die meisten Arten sind zu langsam; anderen nützt ihr eigenes Tempo wenig, weil zum Beispiel Nahrungspflanzen nicht mitkommen. Auf die Gefahr von Tierwanderungen für den Menschen blickte eine globale Untersuchung: Weil sich die Lebensräume vieler Säuger verschieben, besonders stark in Asien und Afrika, wird es zu Tausenden neuartiger Virusübertragungen kommen – das Risiko neuer Krankheiten (»Zoonosen«) und möglicher Pandemien wie bei Sars-CoV-2 steigt drastisch.[16]

 

Wasser – Als wir Deutschland 2050 schrieben, gab es zwar viele Indizien dafür, dass Starkregen (wie jener an Ahr und Erft) durch den Klimawandel zunehmen, aber für Deutschland erst wenige harte wissenschaftliche Belege. In den vergangenen zwei Jahren sind sowohl neue Analysen mit weltweitem Blick erschienen als auch erste zu Deutschland: So werteten zwei Kollegen der Süddeutschen Zeitung historische Daten des Deutschen Wetterdienstes seit 1931 mit neuer Methodik aus und stießen auf eine klare Zunahme von Tagen, an denen es irgendwo im Land extreme 150 Millimeter oder noch mehr Regen gab. Der DWD selbst wies anhand von Radarmessungen seit 2001 nach, dass kleinräumige, extreme Starkregen in den Sommermonaten bereits zugenommen haben, milder, großflächiger Dauerregen hingegen seltener wurde.[17]

Zugleich ist seit Erscheinen des Buches die zunehmende Trockenheit unübersehbar geworden. Bei unseren Recherchen hatten wir noch vom Sprecher der Wasserbetriebe einer deutschen Großstadt gehört: »Machen Sie sich keine Sorgen, Deutschland ist ein wasserreiches Land!« Heute warnen Versorger landauf, landab vor Knappheit. In Brandenburg deckelt inzwischen der Wasserverband Strausberg-Erkner (wo sich Tesla angesiedelt hat) in Neuverträgen mit Privathaushalten die garantierte Liefermenge.

Europaweit sei die aktuelle Trockenphase die schlimmste Dürre seit mindestens 250 Jahren, ergab eine Studie, eine andere fand sogar in den vergangenen 2100 Jahren nichts Vergleichbares. Mit ihren Klimamodellen kann die Forschung auch schon ungefähr beziffern, wie viel schlimmer die Lage noch werden könnte. Bei ungebremsten Emissionen würde bis Ende des Jahrhunderts die mittlere Dauer einer Dürre auf mehr als 200 Monate steigen, fanden Leipziger Forscher, dann könnten Trockenphasen also im Mittel mehr als 16 Jahre andauern. Würden wir endlich mit starkem Klimaschutz beginnen, stiege die Dürredauer ebenfalls, jedoch »nur« auf bis zu 100 Monate.[18]

Was es vor zwei Jahren ebenfalls noch nicht gab, waren deutschlandweite Informationen zu sinkenden Grundwasserpegeln; auch hier haben Medien die Lücke geschlossen und Datensammlungen veröffentlicht. Und eine Studie zeigte, dass die Pegel weiter sinken werden: je stärker der Klimawandel, desto drastischer. Und am deutlichsten in Nord- und Ostdeutschland.[19]

 

Wirtschaft – Wie teuer der Klimawandel ist und wird, zeigen immer mehr Analysen. Laut des Wirtschaftsforschungsunternehmens Prognos zum Beispiel haben die Hitze-und-Dürresommer 2018/19 in Deutschland mindestens 35 Milliarden Euro Schäden angerichtet. Für die Flutkatastrophe 2021 ermittelte das Institut mehr als 40 Milliarden Euro. Seit 2001 summierten sich klimabedingte Schäden auf mindestens 145 Milliarden – ein Jahresschnitt von 6,6 Milliarden Euro.[20]

Und es wird noch schlimmer kommen. Der Versicherungsriese Swiss Re rechnet bis 2040 in Deutschland mit einem Anstieg der Schäden durch Naturkatastrophen um 90 Prozent. Ebenfalls laut Swiss Re würde die Wirtschaft der EU ohne Klimaschutz bis 2050 elf Prozent des möglichen Wachstums einbüßen, weltweit sieht die Analyse mögliche Verluste von 18 Prozent (China würde mit 24 Prozent übrigens noch härter getroffen). Bei starkem Klimaschutz jedoch und einem Bremsen der Erderhitzung unter zwei Grad ließen sich die globalen Verluste auf vier Prozent begrenzen. »Die Klimakrise ist langfristig das mit Abstand größte Risiko für die Weltwirtschaft«, fasst der Chefökonom der Swiss Re, Jérôme Haegeli, zusammen. »Klimapolitik ist Wirtschaftspolitik.«[21]

Unter zunehmender Extremhitze, haben weitere Studien gezeigt, leidet weltweit die Arbeitsproduktivität (am stärksten in Süd- und Südostasien, dem südlichen Afrika und Mittelamerika), nach Hitzewellen gehen die Exporte eines Landes merklich zurück. Auch Starkregen schaden nachweislich der Wirtschaftskraft, am größten ist der Effekt in reichen Industrieländern.[22]

Wie sehr sich starke Klimapolitik für Deutschland lohnen würde, hat die Beratungsfirma Deloitte vorgerechnet. Ohne Klimaschutz drohen der hiesigen Wirtschaft demnach in den nächsten 50 Jahren rund 730 Milliarden Euro Schäden und der Verlust von bis zu 470000 Jobs. Brächte man Deutschland hingegen auf einen 1,5-Grad-Pfad, würde dies zwar erst mal hohe Investitionen erfordern, so Deloitte, bis 2030 wären es etwa 0,5 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. 2038 aber komme der »Wendepunkt«, danach liege das Wachstum höher als in einer Welt ohne Klimaschutz, und das Wohlstandsplus stiege fortan von Jahr zu Jahr.

Zum gleichen Ergebnis kamen Analysten der Europäischen Zentralbank (EZB), nachdem sie die gesamte EU-Wirtschaft einem »Klima-Stresstest« unterzogen hatten. Der Klimawandel sei ein großes systemisches Risiko für das Wirtschafts- und Finanzgefüge der EU, so das Fazit. »Die kurzfristigen Kosten [eines klimafreundlichen Umbaus der Wirtschaft] verblassen vor den mittel- und langfristigen Kosten eines ungebremsten Klimawandels.“[23]

 

Landwirtschaft – Selbst wenn die hiesigen Bauern es schaffen, sich anzupassen, die weltweiten Folgen des Klimawandels für die Landwirtschaft werden auch uns schwer treffen, zeigte 2021 eine Studie. Mehr als 44 Prozent der Agrarimporte der EU – etwa an Zuckerrohr, Palmöl, Kakao oder Kaffee – werden künftig hochanfällig sein für Dürren in den Erzeugerländern.

Neuere Forschungsarbeiten liefern eher noch düstere Ausblicke, als wir im Landwirtschaftskapitel beschreiben: Die aktuellste Generation von klima- und agrarwissenschaftlichen Modellen ergibt deutlich früher heftige Ernteeinbußen, für einige exportstarke Gebiete bereits vor 2040. In den Hauptanbaugebieten von Reis, Soja, Mais und Weizen, so eine Studie, werde wegen zunehmenden Wassermangels das Risiko von Missernten bis 2050 bis zu 25-mal höher sein als heute. Weltweit mache der Klimawandel Hungersnöte wahrscheinlicher, fasste der IPCC den Forschungsstand zusammen.[24]

Die Politik? Macht weiter business as usual.Ein Lichtblick ist nur das Bundesverfassungsgericht

Die Lage also ist in den vergangenen zwei Jahren noch dramatischer geworden, das Handeln noch dringlicher. Das hat – um nur eine allerletzte Studie zu nennen – im September 2022 ein internationales Forschungsteam im Fachjournal Science klargemacht: Bereits im Bereich von 1,5 bis zwei Grad Erhitzung könnte das Klimasystem der Erde bis zu sechs sogenannte Kipppunkte überschreiten; zum Beispiel könnte schon dann die Schmelze der Eisschilde auf Grönland und der Westantarktis unumkehrbar angestoßen sein, viele Meter Meeresspiegelanstieg unwiderruflich werden.[25] Unter 1,5 Grad Celsius zu bleiben, wäre also eminent wichtig.

Die Öffentlichkeit hat dies auch verstanden. 82 Prozent der Wahlberechtigten sagen in Umfragen, der Handlungsbedarf beim Klimaschutz sei groß oder sehr groß. Unter den Anhängern aller Parteien (außer der AfD) gibt es dafür riesige Mehrheiten.[26] Was aber hat sich seit Erscheinen des Buches in der Politik getan? Verheerend wenig.

Dabei hatte es ermutigend angefangen: mit einem Donnerschlag aus Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht entschied Anfang 2021, dass schwache Klimapolitik die Freiheitsrechte künftiger Generationen unzulässig beschneide. Und verpflichtete die (Noch-Merkel-)Regierung zur Nachbesserung. Es folgte eine Bundestagswahl, in der sich Olaf Scholz als »Klimakanzler« plakatieren ließ, bei der die Grünen zweitstärkste Kraft wurden. »Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität«, hieß es im Koalitionsvertrag, den als dritte Partei die FDP unterschrieb.

Doch dann ließ Wladimir Putin seine Armee die Ukraine überfallen und setzte fossile Energie als Druckmittel gegen die EU ein. Einerseits wurde dadurch restlos deutlich, dass erneuerbare Energien nicht nur dem Klima nützen, sondern auch der nationalen Sicherheit. Andererseits schob sich auf der Tagesordnung der Regierung der Krieg (verständlicherweise) vor das Klima. Sie kümmerte sich erst mal um Notmaßnahmen, ließ alte Kohlekraftwerke wieder hochfahren und für viele Milliarden Euro LNG-Terminals zum Import klimaschädlichen Flüssiggases bauen. So ist die Bilanz unterm Strich frustrierend. Zwar sank 2022 der Energieverbrauch deutlich, die hohen Preise für fossile Rohstoffe zwangen zum Sparen und machten die Erneuerbaren noch konkurrenzfähiger – aber strapazierten zugleich den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft.

Zwar hat Klimaminister Robert Habeck dicke Gesetzespakete für den Ausbau von Solar- und Windkraft durchs Parlament gebracht, der unter Angela Merkel ausgebremst wurde. Doch bis sie wirken, wird es dauern. Kurzfristig sind die deutschen Emissionen durch die höhere Kohleverstromung erst mal wieder gestiegen. Im Verkehrsbereich wiederum blockiert die FDP substanziellen Fortschritt.

Und weltweit? Zwar wurden in Australien und Brasilien Regierungen abgewählt, die desaströs waren fürs Klima. In den USA wurde das größte Klimaschutz-Förderprogramm aller Zeiten beschlossen. Auch die EU hat Ende 2022 mit dem Ausbau ihres Emissionshandels und einem neuen Einfuhrzoll gegen klimaschädlich hergestellte Waren zwei große Schritte getan. Der globale Wind- und Solarboom wird immer stärker; laut Internationaler Energieagentur werden die Erneuerbaren schon in zwei bis drei Jahren die Kohlekraft überholen. Doch 2021 und 2022 endeten zwei weitere UN-Klimagipfel enttäuschend: Ein Aus für Erdöl und -gas wurde wieder nicht beschlossen. Im Gegenteil, weltweit werden noch immer neue Lagerstätten angebohrt.

Ja, es passiert etwas – aber es ist zu wenig zu langsam.

Dieses Buch beschreibt Deutschland im Jahr 2050 – dann wird sich Deutschland schon rund zwei Grad erwärmt haben. Wie es danach weitergeht, haben wir noch in der Hand. Im Moment bewegt sich die Menschheit auf einem Pfad, der die Welt nach 2050 noch viel heißer machen würde.

 

Berlin, Februar 2023

Inhaltsverzeichnis

EinleitungDie Zukunft ist auch nicht mehr, was sie mal war

Der Klimawandel ist nicht irgendwo weit weg – sondern längst da. Er wird Deutschland drastisch verändern. Aber noch haben wir es in der Hand, ob die Veränderungen beherrschbar bleiben

Erinnern Sie sich an das Jahr 1990? Es war das Jahr der deutschen Wiedervereinigung, der Bundeskanzler hieß Helmut Kohl, sein Innenminister Wolfgang Schäuble. Das Automodell mit den meisten Neuzulassungen war der VW Golf. Matthias Reims »Verdammt, ich lieb’ Dich« und Sinead O’Connors »Nothing Compares 2 U« standen wochenlang an der Spitze der Charts. An das iPhone war noch nicht zu denken, aber Funktelefone gab es schon: schwere, schuhkartongroße Geräte mit langer Antenne. Das Spaceshuttle Discovery setzte das Weltraumteleskop »Hubble« in seiner Umlaufbahn aus. Bei der Fußball-WM in Italien schoss Andy Brehme mit einem umstrittenen Foul-Elfmeter die deutsche Elf unter Teamchef Franz Beckenbauer zum Sieg. Die Bundesrepublik gab sich ein erstes Klimaziel: die Verringerung der CO2-Emissionen um mehr als 25 Prozent bis zum Jahr 2005.

Einerseits ist all dies eine ganze Weile her. Andererseits fühlt sich 1990 noch ziemlich nah an. Gut 30 Jahre sind seither vergangen.

Fast genauso weit entfernt ist das Jahr 2050 – nur nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Und doch klingt diese Jahreszahl in unseren Ohren weit weg, fast wie Science-Fiction.

Vielleicht ist es so angelegt im menschlichen Gehirn, dass sich derselbe Zeitraum nach vorn viel länger anfühlt als nach hinten. Die Zukunft ist schwer greifbar, unwirklich. Mit ihr verbinden sich keine konkreten Bilder, wie sie das Gedächtnis bereithält von dem, was wir schon erlebt haben. Doch diese verzerrte Zeitwahrnehmung ist fatal bei einem Thema, bei dem es ums Überleben der Menschheit geht. Und die Verzerrung verstärkt, was beim Klimawandel ohnehin ein Problem ist: die »psychologische Distanz«.

Mit diesem Begriff beschreiben Sozialpsychologen das Phänomen, dass die meisten Menschen den Klimawandel weit entfernt wähnen – sowohl zeitlich als auch räumlich: Okay, die armen Eisbären in der Arktis, all die bedauernswerten Menschen in Bangladesch – die bekommen sicherlich ein Problem. Vermutlich auch mein Ur-Ur-Enkel. Aber ich selbst?

Meinungsumfragen zeigen das Phänomen sehr anschaulich: Als für eine Studie (in den USA) Menschen sagen sollten, wen oder was sie bedroht sehen durch den Klimawandel, nahm das Gefühl stetig ab, je näher sich die Befragten dem jeweils Geschädigten fühlten: 71 Prozent hielten Pflanzen- und Tierarten für gefährdet durch die Erderhitzung, 70 Prozent sahen künftige Generationen bedroht, Menschen in Entwicklungsländern mehr als 60 Prozent. Dass auch US-Bürger gefährdet sind, räumten immerhin noch 59 Prozent ein. Ging es aber um Bewohner der eigenen Gemeinde, sahen nur noch 46 Prozent eine Betroffenheit. Und dass sie persönlich die Folgen der Klimaerhitzung zu spüren bekämen, glaubten bloße 41 Prozent.[27]

Angesichts der Risiken, die der Klimawandel mit sich bringt, müssten wir in heller Aufregung sein. Doch anders als Corona lässt uns das Thema seltsam kalt. Neben der (leider) menschlichen Tendenz, unangenehme Dinge zu verdrängen, hat dies auch damit zu tun, dass der Klimawandel keine täglich neuen Infektionszahlen liefert. Die Erderhitzung geht schleichend vor sich. Die über Jahrzehnte messbaren Veränderungen des Klimas sind mit menschlichen Sinnen kaum wahrnehmbar, gehen in den täglichen und jährlichen Schwankungen des Wetters unter.

Warum das menschliche Gehirn am Klimawandel scheitert, haben zum Beispiel der Harvard-Psychologe Daniel Gilbert und der britische Kommunikationsberater George Marshall analysiert: Es fehlt ein einzelner, klar identifizierbarer Bösewicht, der mit Treibhausgas unsere Zukunft zerstört – gäbe es ihn, würden wir umgehend Armeen losschicken. Unser Sinnes- und Denkapparat ist im Laufe der Evolution auf plötzliche, unmittelbare Gefahren trainiert worden – auf einen Säbelzahntiger zum Beispiel würden wir sofort reagieren. Sehen wir jedoch in der Zeitung eine wissenschaftliche Grafik zum Temperaturanstieg, blättern wir weiter.[28]

Die Klimaforschung hat ihren Teil beigetragen zur psychologischen Distanz. Zwar legt sie seit Jahrzehnten immer besorgniserregendere Befunde zur Erderhitzung vor, aber sie tut dies in der ihr eigenen, nüchternen, distanzierten Sprache. Sie verwendet Maßeinheiten (»ppm«), die kaum jemandem etwas sagen. Sie betont Ungewissheiten ihrer Forschungsergebnisse und liefert stets Fehlermargen mit – was wissenschaftlich überaus korrekt ist, aber in der Laienöffentlichkeit den irrigen Eindruck erweckt, die Forscher seien bei kaum etwas wirklich sicher. Tatsächlich jedoch ist lange klar: Der Klimawandel ist Realität. Seine Hauptursache ist der Mensch. Die möglichen Folgen sind verheerend. An diesen drei Punkten sind keine vernünftigen Zweifel mehr möglich.[29]

Wer die Augen nicht absichtlich zukneift, der sieht es inzwischen auch: Laut Daten des Deutschen Wetterdienstes (dem selbst verbohrte Leugner des Klimawandels vertrauen, wenn sie wissen wollen, ob es morgen regnet) ist die Durchschnittstemperatur in Deutschland seit 1881 bereits um 1,6 Grad Celsius gestiegen. Die Nordsee am Pegel Cuxhaven steht heute 40 Zentimeter höher als 1843. Die Zahl der sogenannten Heißen Tage (an denen das Thermometer 30 Grad Celsius überschreitet) hat seit 1951 um 170 Prozent zu-, die der Schneetage um 42 Prozent abgenommen. Der Beginn der Vegetationsperiode im Frühjahr hat sich seit 1961 um bis zu drei Wochen nach vorn verschoben.[30]

Der Deutsche Wetterdienst kann auch schon sagen, wie es weitergeht. Immer ausgefeiltere Klimamodelle und immer leistungsfähigere Großrechner erlauben immer verlässlichere Blicke in die Zukunft. Auch andere Institute und Forscherteams haben bergeweise Studien zum Klimawandel in Deutschland vorgelegt. Doch wie gesagt: Fast immer sind diese Publikationen in der schwer verständlichen Sprache der Wissenschaft abgefasst. Und was die Ergebnisse im Detail bedeuten werden, ihre praktischen Konsequenzen – das beschreiben die Studien fast nie.

Genau deshalb gibt es dieses Buch. Wir haben unzählige Forschungsberichte und Studien gesichtet, Tagungen besucht, mehrere Hundert Interviews mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis geführt. Die folgenden Kapitel sind das Ergebnis monatelanger Recherchen. Sie sind nicht spekulativ, sondern basieren auf belastbaren Forschungsergebnissen – nur haben wir stets versucht herauszufinden, was denn konkret aus ihnen folgt. Deutschland 2050 buchstabiert also theoretische Erkenntnisse ins Praktische aus. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Deutschland wird heißer. Es wird zugleich trockener und nasser – und unser Leben unsicherer

Wir sind also auf Reisen gegangen: zum Beispiel nach Thüringen in den Nationalpark Hainich, zu BASF in Ludwigshafen, zum Zentrum für Agrarlandschaftsforschung im brandenburgischen Müncheberg. Und haben dann so anschaulich wie möglich zu beschreiben versucht, wie Deutschland und das Leben hierzulande in 30 Jahren aussehen werden. Manches haben wir erwartet, aber häufig waren wir überrascht – obwohl wir seit vielen Jahren über Klimawandel und Klimaforschung schreiben.

Deutschland wird 2050 jedenfalls ein anderes Land sein – ein heißeres. Hitze- und Dürresommer wie 2018 und 2019 werden Mitte des Jahrhunderts normal sein, ebenso extrem milde Winter wie jener 2019/20. Es wird immer öfter Sturzregen und Überflutungen geben, und doch vielerorts viel trockener sein als heute. Es wird mehr Unwetter geben und höhere Sturmfluten an den Küsten. Unser Leben wird 2050 unsicherer sein – und was dies für die sicherheitsfixierten Deutschen bedeutet, kann man nur ahnen.

Der Wortakrobat Karl Valentin soll einmal gesagt haben: »Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.« Der Satz trifft dieses Buch nicht. Zwar sind die Bibliotheken in der Tat prall gefüllt mit Vorhersagen, die völlig danebenlagen. Den Zweiten Weltkrieg haben Historiker genauso wenig kommen sehen wie die deutsche Wiedervereinigung. Ausgerechnet der einstige Chef des Elektronikriesen IBM prognostizierte mal, weltweit gebe es einen Bedarf »für vielleicht fünf Computer«.

Doch dieses Buch handelt bewusst nicht von politischen oder ökonomischen, von technologischen oder sozialen Entwicklungen. Auch wir wissen selbstverständlich nicht, wer 2050 Kanzlerin ist (und auch nicht, ob die Bundesrepublik dann überhaupt noch eine parlamentarische Demokratie sein wird). Wir schreiben auf den folgenden Seiten nichts davon, mit welchen Verkehrsmitteln wir uns in 30 Jahren fortbewegen oder mit welchen Geräten wir dann kommunizieren werden. Vorhersagen hierzu sind – da hatte Karl Valentin recht – hochgradig unzuverlässig.

Ausgangspunkt dieses Buches ist nicht die Soziologie, nicht Politik- oder Wirtschaftswissenschaft – sondern die Physik. Es dürfte kaum einen Bereich geben, in dem sich verlässlicher in die Zukunft blicken lässt als beim Klima. (Ungleich verlässlicher jedenfalls als bei den regelmäßigen Steuerschätzungen – auf deren Grundlage aber ganz selbstverständlich weitreichende politische Entscheidungen gefällt werden.)

Die Grundmechanismen des Klimasystems sind seit vielen Jahren bekannt, manche gar seit mehr als anderthalb Jahrhunderten. Es ist deshalb sicher, dass sich die Erde 2050 weiter erhitzt haben wird. Wie stark der weltweite Temperaturanstieg ausfallen wird, ist ebenfalls schon ziemlich klar (dazu kommen wir gleich). Und dank immer kleinteiligerer Klimamodelle weiß die Forschung auch bereits relativ gut, was daraus für verschiedene Gegenden Deutschlands folgt und was zum Beispiel an Hitze zu erwarten ist, bei Starkregen, beim Meeresspiegel. Geht man mit diesen Daten zu Bauern oder Ärzten, zu Forstwirten oder Stadtplanern, dann können die einem mit oft bemerkenswerter Gewissheit sagen, was diese Veränderungen jeweils für ihren Fachbereich bedeuten.

Es drohen horrende Kosten für die Anpassung an ein verändertes Klima – und mehr gesellschaftliche Ungleichheit

In diesem Buch geht es nicht um Klimaschutz, also darum, wie sich der Ausstoß an Treibhausgasen senken ließe. Dass und wie dies möglich ist – konkret: wie die deutschen Emissionen bis 2020 hätten halbiert werden können –, haben wir 2007 in unserem Buch Wir Klimaretter aufgeschrieben.

Auf den folgenden Seiten geht es auch nicht darum, wie man sich an das künftige Klima anpassen könnte. Natürlich, an einigen Stellen des Buches wird es zur Sprache kommen – aber das ist nicht unser eigentliches Thema. Denn wie genau Menschen auf Klimaveränderungen reagieren werden, ist spekulativ. Zum Beispiel rechneten unlängst zwei Forscher vor, dass es technisch durchaus möglich sei, die Nordsee mit gigantischen Dämmen vom Atlantik abzutrennen und so auch gleich noch die Ostsee vor dem Anstieg des Meeresspiegels zu schützen. 637 Kilometer Sperranlagen müssten gebaut werden, zwischen Norwegen und Schottland sowie zwischen Frankreich und England, mindestens 50 Meter breit und 100 bis 320 Meter hoch (also tief). Auf rund 550 Milliarden Euro taxierten die Wissenschaftler die Kosten.[31]

Wer weiß? Vielleicht entscheiden sich die Anrainerstaaten von Nord- und Ostsee irgendwann tatsächlich für ein solches Giga-Projekt. Vielleicht siedeln sie aber auch Küstenstädte um. Oder tun etwas ganz anderes. Niemand kann wissen, welche Risiken eine Gesellschaft einzugehen bereit ist, wie stoisch sie eventuell welche Schäden hinnimmt, welche Kosten für Gegenmaßnahmen sie für angemessen hält, welche technologischen Optionen für vertretbar.

Lange Zeit haben Klimaschützer ungern über Anpassung geredet. Vermutlich hatten sie Sorge, damit Druck aus der Klimadebatte zu nehmen – also die Diskussion wegzulenken von der existenziellen Frage, wie der Ausstoß von Treibhausgasen gesenkt werden kann. Die Befürchtung ist durchaus berechtigt. Denn flüchtig betrachtet mag es so wirken, als wäre Anpassung an den Klimawandel eine Alternative zu unbequemen und bisweilen teuren Emissionsminderungen. Als wäre es einfacher, sich halt ein bisschen auf ein verändertes Klima einzustellen.

Das Gegenteil ist richtig. Je weiter man sich ins Thema Anpassung vertieft, desto mehr Probleme tauchen auf. So sagt es sich schnell, dass – um nur ein Beispiel zu nennen – in 30 Jahren alle Krankenhäuser und Altenheime in Deutschland Klimaanlagen brauchen. Doch Tausende Großeinrichtungen mit verlässlich und halbwegs energieeffizienter Kühlung nachzurüsten, bringt eine unüberschaubare Fülle technischer und praktischer Schwierigkeiten mit sich (von den Kosten ganz zu schweigen).

Apropos Kosten. Beschäftigt man sich mit den absehbaren Folgen des Klimawandels in Deutschland, wird schnell offenkundig, dass in den kommenden Jahrzehnten gewaltige Ausgaben auf das Land zukommen. Ein leistungs- und handlungsfähiger Staat ist in Zeiten des Klimawandels mindestens so überlebenswichtig wie während der Corona-Pandemie.

Bisher gibt es keine belastbaren Daten dazu, was genau die Folgen des Klimawandels für Deutschland finanziell bedeuten werden – und vermutlich ist es unmöglich, die notwendigen Ausgaben für Anpassung und erwartbare Schäden auch nur halbwegs verlässlich zu beziffern. Aber es ist schon erstaunlich, wie oft (und laut) über Kosten von Emissionssenkungen debattiert wird. Wie sich manchmal an einem einzelnen Windrad verbissene Konflikte entzünden, die ganze Dörfer entzweien. Wenn es jedoch tatsächlich ums Überleben geht – nämlich um die konkreten Auswirkungen der künftig viel gefährlicheren Klimaverhältnisse –, herrscht weitgehend Schweigen. Da wird weder über praktische Umsetzbarkeit geredet noch über die Verteilung von Lasten. Und auch nicht darüber, ob – verglichen mit den horrenden Kosten einer Klimaanpassung – die Ausgaben für Minderungen des Treibhausgas-Ausstoßes nicht vielleicht sehr viel besser angelegtes Geld sind.

Hier nur ein paar Zahlen: Nach dem Dürresommer 2018 zahlten Bund und Länder mehr als 300 Millionen Euro Soforthilfen an Landwirte, 2019 gab es 800 Millionen für die Forstwirtschaft. Nach den verheerenden Waldbränden jenes Jahres schaffte allein Mecklenburg-Vorpommern neue Feuerwehrtechnik für 50 Millionen Euro an, in den Küstenschutz hat das Bundesland seit 1991 rund 450 Millionen Euro investiert. Orkan »Sabine« richtete im Februar 2020 bundesweit etwa 675 Millionen Euro Schäden an, wobei der Sturm noch als relativ glimpflich galt: Orkan »Kyrill« 2007 kostete allein die Versicherer mehr als drei Milliarden. Das Hochwasser an Elbe und anderen Flüssen 2013 verursachte nach Angaben der Münchner Rückversicherung Schäden von mehr als zwölf Milliarden Euro. Der Klimawandel macht Extremwetter in den kommenden Jahrzehnten deutlich häufiger. »Wir werden dauerhaft mehr Geld brauchen«, brachte es der baden-württembergische Agrarminister Peter Hauk (CDU) Ende 2019 auf den Punkt.

Und noch ein vollkommen vernachlässigtes Thema fällt auf: Der Klimawandel wird – auch dies ist keine spekulative Aussage – soziale Ungleichheiten vertiefen. Weltweit ist bereits offensichtlich, dass ärmere Staaten wie auch ärmere Menschen (obwohl sie viel weniger zum Klimawandel beitragen) stärker unter den Folgen leiden als reiche. Dasselbe Phänomen wird sich in Deutschland zeigen. Auch hierzulande verursachen Wohlhabendere deutlich mehr Treibhausgase. Doch wer genug Geld hat, kann sich in seiner Wohnung eine Klimaanlage leisten (oder lebt sowieso in einem Häuschen mit schattigem Garten). Wer Vermögen hat, wird einfacher fortziehen können aus flutgefährdeten Gegenden. Schon heute beeinflusst das Einkommen die Wohnqualität, Gesundheit und Lebenserwartung – beispielsweise wohnen an lauten Hauptstraßen mit schlechter Luft überproportional viele ärmere Leute. Der Klimawandel wird die ungleiche Belastung mit Risiken verstärken.

Bauern, Forstwirte, Architekten – Klimawandel bedeutet auch eine radikale Entwertung von Erfahrungswissen

Ein dritter Punkt schließlich, der kaum jemandem klar ist – aber in seiner Tragweite kaum zu überschätzen: Wir alle, also jeder Mensch wie auch ganze Gesellschaften, verlassen uns permanent auf unsere Erfahrungen. Wir gehen (bewusst oder unbewusst) davon aus, dass man aus der Vergangenheit ableiten kann, wie man sich sinnvollerweise heute und künftig verhalten sollte. Welche Pflanzen ein Landwirt anbaut, wann er aussät, wann er erntet; wie und wo man sein Haus baut; wo eine Gesellschaft Städte ansiedelt, und wie sie diese organisiert – all dies ist abgeleitet aus Gewohnheiten und aus Wissen, das häufig über Generationen oder gar Jahrhunderte gewachsen ist.

Doch wenn sich das Klima deutlich verändert, dann passen Bauernregeln, Bauvorschriften und vieles andere nicht mehr. Klimawandel bedeutet deshalb auch eine radikale Entwertung menschlichen Erfahrungswissens. Die Zukunft ist künftig unberechenbar (beziehungsweise muss mit Supercomputern erst sehr aufwendig berechnet werden, weil sie eben nicht mehr sein wird, wie sie immer war). Forstexperten zum Beispiel diskutieren längst, was es bedeutet, wenn Erfahrungen keine verlässliche Entscheidungsgrundlage mehr darstellen. Unmöglich werden Leben und Wirtschaften unter solchen Umständen sicherlich nicht – aber man kann sich vorstellen, wie schwierig und teuer es werden wird, dass es Menschen belasten und in die Verzweiflung treiben wird.

Die folgenden 350 Seiten konzentrieren sich auf Deutschland, um – siehe oben – die psychologische Distanz zum Klimawandel zu überbrücken. Doch vermutlich unterschätzen wir dadurch, was auf Deutschland tatsächlich zukommen wird. In vielen Bereichen nämlich warnen Experten, dass indirekte Rückwirkungen von Veränderungen anderswo uns sogar noch stärker treffen werden als die direkten Konsequenzen des Klimawandels hierzulande: Dass es weltweit viel mehr Flüchtlinge geben wird, dass Kriege um Wasser ausbrechen, dass der deutschen Exportwirtschaft Absatzmärkte im Ausland wegbrechen oder Importe notwendiger Rohstoffe schwieriger werden – all dies sind plausible Erwartungen, all dies wird Folgen für uns haben. Doch ist bei solchen indirekten Auswirkungen des Klimawandels die Ungewissheit größer, das Abschätzen der Folgen für Deutschland schwieriger – und damit das Risiko, doch spekulativ zu werden.

Weshalb wir 2050 als Horizont des Buches gewählt haben? Zum einen, weil dieses Jahr für die meisten Menschen in Deutschland noch innerhalb ihrer Lebenszeit liegt. Wenn Sie unter 50 sind, dann haben Sie gute Chancen, dieses Jahr noch zu erleben. Für Ihre Kinder, erst recht Ihre Enkel gilt das umso mehr. Zum anderen, weil die Klimaverhältnisse des Jahres 2050 (leider) schon ziemlich feststehen, da wir den größten Teil der Treibhausgase, die in 30 Jahren unser Klima und Wetter beeinflussen werden, bereits freigesetzt haben.

Die größere Unsicherheit beim Blick in die weitere Klimazukunft resultiert schlicht daraus, dass ungewiss ist, welche Mengen an Treibhausgasen die Menschheit künftig noch ausstoßen wird. In der Forschung wird deshalb mit verschiedenen Entwicklungsszenarien gerechnet. Wir haben für dieses Buch vor allem auf jene geblickt, in denen kein oder nur schwacher Klimaschutz betrieben wird. Nicht weil wir Pessimisten, sondern weil wir Realisten sind.

Von einem Pfad, der zum Erreichen der Pariser Klimaziele führen würde, ist die Welt meilenweit entfernt. Drei oder gar vier Grad Temperaturanstieg bis Ende des Jahrhunderts sind im Moment viel wahrscheinlicher als zwei oder gar nur 1,5 Grad Celsius. Und vier Grad mehr – das wäre wirklich eine komplett andere Welt. Wie sie aussähe, hat die Wochenzeitung DIE ZEIT eindrücklich ausgemalt: Bisher unvorstellbare Hitzewellen würden Teile der Welt unbewohnbar machen, weite Gebiete in Afrika und am Amazonas wären Wüste. Im Süden Chinas wären Flüsse ausgetrocknet, Millionen Menschen geflohen. Die verbleibende Menschheit müsste sich vor allem in Kanada, Nordeuropa und Nordrussland zusammendrängen.[32]

Mancher tut solche Szenarien als apokalyptisch ab – doch die Apokalypse wirkte plötzlich nicht mehr so irreal, als 2020 Australien und Kalifornien in einem Feuerinferno versanken und über den Atlantik so viele Hurrikans fegten wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen, als der eigentlich feucht-sumpfige Pantanal in Brasilien in Flammen aufging und über Ostafrika Heuschreckenschwärme in biblischen Dimensionen herfielen, als im nordsibirischen Werchojansk, normalerweise einer der kältesten Orte der Welt, plötzlich 38 Grad Hitze gemessen wurden und auch in den Weiten der Taiga gewaltige Flächenbrände wüteten. 2020 war erneut eines der heißesten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen, sowohl in Deutschland als auch weltweit.[33]

Klimaschutz mag wirken wie ein Totalumbau des Landes. In Wahrheit sorgt er dafür, dass nicht alles völlig anders wird

Im Jahr 2050 fallen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Klimaszenarien noch gering aus – selbst wenn die Welt ab jetzt entschieden handeln würde. Das Klimasystem der Erde ist träge, viele Elemente reagieren mit erheblicher Verzögerung. Erst nach Mitte des Jahrhunderts laufen die Varianten der Zukunft deutlich auseinander. Entschließt sich also die Menschheit (und die Bundesregierung) doch noch zu strengem Klimaschutz, dann flacht die Erhitzungskurve ab Mitte des Jahrhunderts ab. Dann werden die Wetterverhältnisse des Jahres 2100 stark jenen von 2050 ähneln. Land und Leben sehen dann zwar deutlich anders aus als heute, aber man wird es noch wiedererkennen. Deutschland wäre zwar ein erheblich heißeres Land – aber das Klima würde sich langfristig auf diesem Niveau einpegeln.

Bleiben jedoch schnelle und drastische Emissionssenkungen aus, beschleunigt sich der Klimawandel weiter – und dann wird auch Deutschland Ende des Jahrhunderts vor Schwierigkeiten stehen, die kaum noch zu bewältigen sein werden. Bei galoppierender Erderhitzung kämen wir mit der Anpassung kaum noch hinterher: Gerade sind neue Wälder mit Baumarten herangewachsen, die mit den gestiegenen Temperaturen klarkommen – schon würden sie wieder unter Klimastress gesetzt. Kaum hätten wir die Deiche an der Nordseeküste erhöht, würden sie schon wieder mit höheren Sturmfluten konfrontiert.

Halbwegs stabile Wetterverhältnisse sind von unschätzbarem Wert – nicht zufällig hat sich die menschliche Zivilisation in den vergangenen rund zehntausend Jahren in einer Phase geringer Klimaschwankungen entwickelt. Wenn nicht in den kommenden zehn Jahren scharfe Einschnitte beim Treibhausgasausstoß gelingen, wird ein galoppierender Klimawandel in Gang gesetzt, dessen Folgen für die Menschheit wirklich unkalkulierbar wären.

Verfechter eines strengeren Klimaschutzes sagen bisweilen, es müsse sich alles ändern. Wirtschafts- und Lebensweise der westlichen Welt seien nicht zukunftsfähig. Essensvorlieben, Konsumgewohnheiten, Reiseverhalten, Energieversorgung – nichts dürfe bleiben, wie es ist. Zugleich wundern sie sich über Widerstände. Doch die sind alles andere als überraschend. Große Teile der Gesellschaft haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten bereits Unmengen von Veränderungen und Umbrüchen erlebt – im Berufsalltag, bei sozialen Sicherungssystemen, bei der Vielfalt der Gesellschaft, die sie umgibt, zuletzt durch die Corona-Pandemie und die einschneidenden Gegenmaßnahmen. Viele Leute haben schlicht die Nase voll von Veränderungen. Sie sehnen sich nach Ruhe und Stabilität – und da ist dann das Windrad am Horizont oder der Veggie-Tag in der Kantine der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Dabei ist es ja eigentlich genau andersherum: Neben den Veränderungen, die ein ungebremster Klimawandel für die Welt und auch für Deutschland brächte, verblassen die Umbauten, die zur Senkung der Treibhausgasemissionen nötig sind. In Wahrheit bedeutet nicht Klimaschutz eine große Veränderung – vielmehr würde ein Verzicht auf Klimaschutz unser aller Leben auf den Kopf stellen.

Dieses Buch schildert, wie ein Deutschland aussieht, das gegenüber vorindustriellem Niveau rund zwei Grad Celsius wärmer ist. Gelegentlich schauen wir auch auf Verhältnisse, die bei ungebremsten Emissionen drohen – vier Grad mehr (oder gar noch höhere Werte) in Deutschland, das würde alles ändern. Strenger Klimaschutz rettet also zumindest noch etwas Stabilität. Man könnte sagen, er sichert unser Zuhause, unser Eigentum, unsere Städte. Oder noch kürzer: Klimaschutz bewahrt Heimat.

Wer verhindern will, dass Deutschland sich noch stärker verändert, als in diesem Buch geschildert, muss sofort mit dem schärfsten Klimaschutz anfangen, den er sich überhaupt vorstellen kann.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: KlimamodelleHeißes Land

Dank immer schnellerer Großrechner und immer besserer Klimamodelle kann der Deutsche Wetterdienst bereits heute ziemlich genau sagen, was uns Mitte des Jahrhunderts erwartet

Die Zeitmaschine steht in Offenbach, Frankfurter Straße 135. Hier hat der Deutsche Wetterdienst (DWD) seinen Hauptsitz. Fast einen ganzen Häuserblock nimmt das moderne sechsstöckige Bürogebäude ein. Im Erdgeschoss arbeitet, aufwendig gesichert, der DWD-Zentralcomputer. Mit ihm kann man in die Zukunft schauen: für ein paar Tage, also auf das Wetter von übermorgen in der Hocheifel oder in der Uckermark – aber auch auf das Klima in Deutschland im Jahr 2050.

Mit einer Chipkarte öffnet Pressesprecher Uwe Kirsche eine schwere Glastür. Ein paar Meter weiter eine zweite. »Das hier ist Hochsicherheitsgebiet«, sagt Kirsche. Eine Zugangsberechtigung zum Deutschen Meteorologischen Rechenzentrum, so der offizielle Titel, bekommt man nur nach einer intensiven Überprüfung – unter anderem durch den Bundesnachrichtendienst. Verlässliche Wetterdaten, das kann man ohne Übertreibung sagen, sind systemrelevant für eine moderne Gesellschaft. »Der gesamte Luftverkehr, der Katastrophenschutz, nicht zuletzt die Bundeswehr«, erklärt Kirsche, »verlassen sich auf unsere Vorhersagen.« Dasselbe gilt für Behörden, die Wirtschaft – und nicht zuletzt jede und jeden von uns, die wir nach einem Blick auf das Smartphone oder die Wetterkarte der Tagesschau die großen und kleinen Dinge des Lebens planen.

Dann öffnet Uwe Kirsche eine dritte Tür. Dahinter liegt der Serverraum, groß wie ein Tanzsaal. Es ist laut hier wie in einer Autowaschanlage und warm wie in einem Heizungskeller, aber alles blitzblank sauber. Auf einem Boden aus massiven Metallrosten – darunter läuft die Verkabelung – stehen Computerschränke, lang wie Schiffscontainer. Ihre glatte Außenhaut ist mit Wolkenwirbeln bedruckt, aufgenommen aus dem Weltall. »Cray« steht darauf. 2013 lieferte der US-Hersteller von Supercomputern dem Wetterdienst sein aktuelles Großhirn, 2016 wurde es aufgerüstet, 2018 noch einmal. Pro Sekunde schafft die Maschine zweimal 1000 Billionen Rechenoperationen – wollte man dieselbe Leistung mit Heimcomputern erbringen, man bräuchte 30000 von ihnen.[34]

Die Prozessoren erzeugen so viel Abwärme, dass sie mit Wasser gekühlt werden müssen. Sollte einmal der Strom wegbleiben, springt in Sekundenschnelle ein Dieselgenerator an. Bricht ein Feuer aus, wird der Raum mit Argon-Gas geflutet, um den Brand zu ersticken. Fällt der Rechner dennoch aus irgendwelchen Gründen einmal aus, steht an anderer Stelle eine baugleiche Kopie bereit, die sofort übernimmt. Hinter dem Cray XC40 wird an weiteren Schränken gearbeitet. Techniker installieren bereits den Nachfolger; er kommt vom japanischen Konkurrenten NEC und wird noch leistungsfähiger sein.

In einer anderen Ecke des Saals stehen Speichersilos, jedes groß wie ein Wohnzimmer. Durch ein Gittergeflecht sind unendlich lange Reihen schwarzer Magnetband-Kassetten zu sehen. Sie sind billiger als Festplatten und verbrauchen weniger Strom; in jeder stecken 1000 Meter Band, fünf Mikrometer dick. Auf Schienen rasen automatische Greifer hin und her, ziehen Kassetten aus den Regalen, fahren sie zum Lesegerät und wieder zurück. Dies ist das Deutsche Wetter- und Klimaarchiv. Es enthält fast alle verfügbaren Beobachtungsdaten, die es seit 1881 für Deutschland und seit Mitte der 1960er weltweit gibt. Und täglich treffen Millionen neuer Daten aus allen Ecken der Erde in Offenbach ein, von Wetterwarten, Wetterbojen, Wetterschiffen, Wetterballons, Wetterradars, Wettersatelliten – ein Datenschatz von unermesslichem Wert. Denn wer in die Zukunft schauen möchte, wer verlässlich Wetter und Klima vorausberechnen will, braucht Milliarden penibel aufgezeichneter Daten aus Gegenwart und Vergangenheit.

»Wetter und Klima sind natürlich unterschiedliche Dinge«, sagt Barbara Früh, die beim Deutschen Wetterdienst das Sachgebiet »Klimaprojektionen und Klimavorhersagen« leitet. Wetter ist der momentane Zustand der Atmosphäre, Klima der langjährige Durchschnitt. Doch bei der Vorhersage haben beide dieselben Grundlagen, erklärt Früh. Sie basieren gleichermaßen auf Physik, auf den Hauptsätzen der Thermodynamik und den Gesetzen der Energie- und Masseerhaltung; auf Mathematik, Chemie, Meteorologie – und jahrzehntelanger Wetterbeobachtung.

Die Grundidee der Wetter- wie auch der Klimamodellierung ist simpel: Kennt man erstens den Ausgangszustand der Atmosphäre und kennt man zweitens die physikalischen Prozesse, die in der Atmosphäre ablaufen, dann kann man drittens die künftige Entwicklung berechnen. Zumindest wenn es Fachleuten wie Barbara Früh gelingt, eine mathematische Gleichung zu formulieren, die beispielsweise ausrechnet, wie stark die Sonnenstrahlung unsere Ozeane erhitzt, wie schnell erwärmte Luft nach oben strömt und wie viel Feuchtigkeit sie dabei mit sich reißt. Wann und wo dadurch Druckunterschiede entstehen, die Wind zur Folge haben, der aber verwirbelt wird, zum Beispiel an einer Gebirgskette. Und so weiter.

Barbara Früh beschäftigt sich seit den 1980er-Jahren mit dem Thema. Sie studierte Meteorologie an der Universität Mainz, wo damals Paul Crutzen lehrte, der für seine Arbeiten im Gebiet der Atmosphärenchemie später den Nobelpreis erhielt. Mathematik und das Beschreiben der Realität mittels vereinfachender Gleichungen, das liegt ihr: Früh promovierte im Jahr 2000 zur »Entwicklung und Evaluierung einer Modellhierarchie zur Simulation der aktinischen Strahlung in aerosolbelasteter und bewölkter Atmosphäre«. Vereinfacht gesagt ging es um die Frage, wie Sonnenstrahlen eigentlich durch die Atmosphäre die Erde erreichen.

Virtuelle Luftpakete wandern um die Welt, Modellmeere heizen sich auf, simulierte Stürme brauen sich zusammen

Auf dem Cray XC40 läuft also eine unglaublich komplexe Software: das Wettermodell des Deutschen Wetterdienstes (eigentlich besteht es aus mehreren Modellen, aber dazu später). Erdoberfläche und Meere und Eismassen sind darin nachgebildet, die Lufthülle der Erde, ihre genaue chemische Zusammensetzung.

Die Welt ist in dem Modell in Millionen von Quadern zerteilt: Über die Erdoberfläche wurde ein Gitternetz gelegt und die Luft über jedem einzelnen Gitter dann auch noch zusätzlich in Scheiben geschnitten. Für jedes dieser Abermillionen Kästchen berechnet die Software in jedem Rechenschritt meteorologische Größen wie Temperatur, Luftdruck, Feuchte, Windgeschwindigkeit und vieles mehr. Die Ergebnisse werden dann jeweils an die Nachbarkästchen gemeldet, wo sie als Ausgangspunkt für den nächsten Rechenschritt dienen. Dann werden erneut alle Gleichungen gelöst, die Resultate weitergemeldet, und dann noch einmal – und so weiter. So werden virtuelle Luftpakete durch die Quader geschoben, simulierte Wassermassen heizen sich auf, Modell-Sturmfronten brauen sich zusammen und entladen sich wieder.

Je weiter eine Wetterprognose vorausschauen soll, desto weiträumiger muss gerechnet werden. Zum Beispiel hängt das Wetter in der Uckermark in zehn Minuten vor allem vom aktuellen Wetter in der Umgebung der Uckermark ab. Doch je weiter der Blick, desto größer das Gebiet, das Einfluss nimmt – und das man deshalb berechnen muss. Desto mehr muss man sich um die Ozeane kümmern, das Meereis, die Landoberfläche in immer ferneren Regionen. Für Vorhersagen von fünf Tagen in Deutschland muss der Deutsche Wetterdienst bereits das Wetter auf der ganzen Erdkugel berechnen. Denn ob es nächste Woche in der Uckermark regnet, hängt vom Luftdruck über dem Mittelmeer genauso ab wie von der Wassertemperatur am Nordpol oder der Windgeschwindigkeit hinter dem Ural.

Viermal am Tag – um 0 Uhr, 6 Uhr, 12 Uhr und 18 Uhr – startet der Supercomputer die Wettervorausberechnung von vorn. Als Ausgangspunkt werden jeweils aktuelle Messdaten genommen, also das reale Wetter zum Zeitpunkt X. Nach rund zwei Stunden Rechenzeit hat die Maschine das Ergebnis für 78 Stunden Wetterzukunft ermittelt. Die Enddaten werden dann von weiteren, kleineren Computern für alle möglichen Abnehmer aufbereitet, sie werden in Wetterkarten umgewandelt, an Fluglotsen und Radioredaktionen übermittelt, auf Wetter-Apps ausgespielt.

Je kleiner die Quader im Modell, desto genauer kann das Wetter für bestimmte Orte berechnet werden – aber je mehr Quader ein Modell hat, desto größer ist natürlich der Rechenaufwand, desto schnellere Supercomputer braucht man. Um Aufwand zu sparen, schalten die Wetterexperten des DWD drei verschiedene Modelle zusammen: Jenes für Deutschland, genannt COSMO-DE, ist besonders feinmaschig; hier haben die Quader nur eine Kantenlänge von 2,8 Kilometer. Das europäische Umland ist gröber modelliert, hier sind die Gitterzellen 6,5 Kilometer groß. Für den Rest der Welt nutzt der Deutsche Wetterdienst ein Modell namens ICON mit einer Maschenweite von 13 Kilometer. Daraus ergeben sich 315 Millionen Gitterpunkte, welche der Cray XC40 in jedem Rechenschritt durchackern muss.

Eine zweite Einflussgröße für die Genauigkeit der Prognose sind die Ausgangsdaten der Berechnungen: Je exakter und vollständiger die Wetterdaten für heute sind, desto verlässlicher lässt sich das Wetter für übermorgen ableiten. Natürlich prüfen die Meteorologen ständig, ob das, was sie prognostiziert haben, später auch tatsächlich eingetroffen ist; schon allein um ihre Modelle zu verbessern. Das Ergebnis ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig besser geworden und mittlerweile verblüffend exakt: In mehr als 90 Prozent der Fälle tritt nach zwei Tagen tatsächlich das vorherberechnete Wetter ein.

Hundertprozentige Sicherheit wird wohl niemals möglich sein – selbst bei unendlicher Rechenleistung und noch exakteren Modellen. »Das Wettersystem in der Atmosphäre ist chaotisch«, erklärt Barbara Früh. »Bei nur geringsten Verschiebungen der Anfangsbedingungen resultieren möglicherweise ganz andere Ergebnisse.« Sie benutzt das Bild eines Schmetterlings, der im peruanischen Regenwald mit den Flügeln schlägt, was hier ein Donnerwetter auslösen könne. Doch die Fortschritte, die der Deutsche Wetterdienst und andere Wissenschaftler gemacht haben, sind beachtlich: Heute sind ihre Sieben-Tages-Prognosen genauer als die Vorhersage für den übernächsten Tag in den 1970er-Jahren.

»Im Prinzip arbeiten wir bei der Klimamodellierung genauso wie bei der Wettervorhersage«, sagt Barbara Früh. Doch während ihre Wetterkollegen die Temperatur, den Regen, die Stürme der kommenden Woche berechnen, schaut sie in die ferne Zukunft. Mehr als 20 Leute arbeiten in Frühs Team, in jahrelanger Arbeit haben sie gemeinsam mit Kollegen anderer Institute das Klimamodell COSMO-CLM entwickelt und immer weiter verfeinert. Weil aber selbst bei Supercomputern wie dem Cray XC40 die Rechenleistung begrenzt ist, sind die Rechenschritte größer als bei den Wetterberechnungen. Die Daten werden in jedem Modellquader nicht alle paar Sekunden berechnet, sondern lediglich in Intervallen von gut drei Minuten; und ausgegeben werden die Ergebnisse nur in Stundenschritten. Zudem sind in den Klimamodellen die Kantenlängen der berechneten Quader größer. Verglichen mit den Klima-Berechnungen wirkt die Erstellung der Wetterberichte fast wie eine Bierdeckel-Kalkulation. Um das Klima für Deutschland über die nächsten 80 Jahre durchzurechnen, ist der Supercomputer fünf bis sechs Monate beschäftigt.

Trotz aller Klimagipfel und Regierungsversprechen steigt der Kohlendioxid-Gehalt der Atmosphäre weiter und weiter