Deutschland schützt seine Kinder! - Kay Biesel - E-Book

Deutschland schützt seine Kinder! E-Book

Kay Biesel

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Beschreibung

Versagt der Kinderschutz in Deutschland tatsächlich mit »grausamer Regelmäßigkeit«, wie in populären Debattenbeiträgen oftmals behauptet wird? Wie ist das deutsche Kinderschutzsystem überhaupt aufgebaut? Und: Wo liegen seine Stärken, wo seine Schwächen? Diese Streitschrift setzt sich kritisch mit der These vom »Systemversagen« im Kinderschutz auseinander und berichtet über seine Fehler, aber auch über seine Erfolge. Es erklärt Statistiken, geht auf Skandale ein und bezieht Stellung zum gegenwärtigen Zustand des deutschen Kinderschutzsystems. Entgegen den reißerischen Behauptungen, die die öffentliche Debatte prägen, wird dabei eins deutlich: Deutschland schützt seine Kinder sehr wohl, auch wenn es noch besser darin werden muss. Das Buch leistet damit nicht weniger als eine dringend notwendige Versachlichung einer Debatte, die unsere Gesellschaft umtreibt.

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Seitenzahl: 335

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KAY BIESEL, FELIX BRANDHORST, REGINA RÄTZ, HANS-ULLRICH KRAUSE

Deutschland schützt seine Kinder!

Eine Streitschrift zum Kinderschutz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Korrektorat: Demian Niehaus

Print-ISBN 978-3-8376-4248-3

PDF-ISBN 978-3-8394-4248-7

EPUB-ISBN 978-3-7328-4248-3

https://doi.org/10.14361/9783839442487

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Personen und Ortsnamen sowie etliche Nebenumstände der in diesem Buch geschilderten Fallvignetten wurden verfremdet, um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten zu wahren. Ein großer Dank gilt den Interviewpartner_innen aus der Sozialen Arbeit!

Die Begriffe Soziale Arbeit, Sozialarbeit und Sozialpädagogik, auch im Kontext von Berufsbezeichnungen, werden synonym verwendet, da es sich um eine Berufsgruppe handelt.

Die Begriffe Kinder, Minderjährige und junge Menschen umfassen Personen im Alter von der Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs. Um die Besonderheiten der Lebensphase zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr zu berücksichtigen, wird an manchen Stellen auch explizit von ›Jugendlichen‹ gesprochen.

Mit dem Begriff Eltern sind Personen gemeint, die kraft Gesetzes Sorge für Kinder tragen, wie z.B. leibliche Eltern und Adoptiveltern. In einem weiten Verständnis umfasst dieser jedoch auch Erwachsene, die anstelle der Eltern bzw. in ihrem Auftrag partiell Erziehungsaufgaben wahrnehmen.

Mit dem Begriff der Kindeswohlgefährdung ist ein ursprünglich aus dem Familienrecht stammender Begriff gemeint. Er ist bis heute von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, Eingriffe in die Rechte von Eltern zum Schutze von in ihrem Wohl gefährdeter Kinder vorzunehmen (»Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls« nach §1666 BGB). Inzwischen hat der Begriff auch in den Sozialwissenschaften und der Sozialen Arbeit Eingang gefunden. Er wird dort anstelle des zuvor geläufigeren Oberbegriffs Kindesmisshandlung verwendet. Dieser Entwicklung Rechnung tragend wird der Begriff der Kindeswohlgefährdung in diesem Buch sowohl im sozialwissenschaftlichen als auch im juristischen Sinne verwendet.

Inhalt

Prolog

Einleitung

1.Der ›Fall Kevin‹Ein Wendepunkt für den Kinderschutz

2.Ist wirklich alles so schlimm?Oder: Wie man die offiziellen Zahlen auch deuten kann

3.Die Rechtsmedizin als Vorkämpferin gegen Kindeswohlgefährdungen – stimmt das?

4.Warum Ritter und Waffen nichts taugen, um Kinder zu schützenKinderschutz in Deutschland heute

5.Das deutsche Kinderschutzsystem einfach erklärt

6.Kinderschutzfehler im SystemWas läuft schief im Kinderschutz?

7.Helfen oder Strafen?Kinderschutz und seine Möglichkeiten

8.Schweigen die Ärzte wirklich?Argumente für und gegen eine generelle Melde- und Reaktionspflicht bei Kindeswohlgefährdungen

9.Kranke Eltern, kranke Kinder?Kinderschutz jenseits des Normalen

10.Eltern sind Kinderschützer – eine Entlastung

11.Kinder haben Rechte – und das ist gut so!

12.Muss sich etwas ändern?Umrisse eines Kinderschutzes der Zukunft

Epilog

Literatur

Prolog

Kinderschutz ist ein emotional besetztes und in den Medien häufig diskutiertes Thema. Es wird immer wieder mit Fällen verbunden, in denen Kinder durch Erwachsene schwer misshandelt, vernachlässigt und/oder sexuell ausgenutzt werden und erheblichen Schaden nehmen oder sogar ums Leben kommen. Ein Fall, der zuletzt für Entsetzen sorgte und sorgt, war der Staufener Missbrauchsfall. Er machte abermals deutlich, dass nicht alle Eltern sich dem Wohl ihrer Kinder verpflichtet fühlen und auch nicht davor zurückschrecken, diese auf ungeheuerliche Art und Weise sexuell auszubeuten. Gleichzeitig zeigte er auf, dass die Zusammenarbeit zwischen der Polizei, der Justiz, der Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheits- und Bildungswesen nicht funktionierte, weshalb es misslang, das Martyrium für das vom Missbrauch betroffene Kind rechtzeitig zu beenden. Der von den Rechtsmedizinern Michael Tsokos und Saskia Guddat verfasste Bestseller »Deutschland misshandelt seine Kinder« hat bereits im Jahr 2014 das Thema Kinderschutz in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt und dabei sowohl die Eltern als auch die Fachkräfte ins ›Visier der Kritik‹ genommen. Und dies zu Recht, denn auch wir sagen: Es darf nicht hingenommen werden, dass Kinder durch ihre Eltern, andere Personen oder aufgrund von strukturellen Mängeln des Kinderschutzsystems in Deutschland in ihrem Wohl gefährdet werden oder sogar in Lebensgefahr geraten!

Wir gehen fest davon aus, dass kein Kind – egal von wem – misshandelt, vernachlässigt oder sexuell ausgenutzt werden darf. Wir haben die klare Position, dass Kinderschutz sich um die Verhinderung von Gewalt und Übergriffe durch Erwachsene gegenüber Kindern bemühen muss, so wie wir auch davon überzeugt sind, dass die geltenden Gesetze zum Schutz von Kindern von allen Personen eingehalten werden müssen. Wir halten es auch für richtig und notwendig, dass strafrechtlich relevante Formen von Kindeswohlgefährdungen von Polizei und Justiz verfolgt werden, sofern dies aus sozialpädagogischer bzw. medizinisch-therapeutischer Sicht indiziert ist und nicht nur der Täterverfolgung, sondern auch dem Opferschutz dient.

Es ist die Aufgabe aller Bürger_innen, wachsam zu sein und Kindern zu helfen, die in ihrem Wohl gefährdet sind. Sie sind dazu verpflichtet, sich an die für Kinderschutz zuständigen Stellen wie z.B. die Kinderschutzhotline, die Jugendämter, Polizeidienststellen, Kinderschutz-Zentren oder Kinderschutzambulanzen zu wenden.

Kinderschutz ist zunächst einmal Aufgabe der Eltern im Rahmen ihrer Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG: Recht und Pflicht der Eltern) – und die meisten Eltern werden dieser ihrer Verantwortung auch gerecht. Wir wissen aber auch, dass Eltern trotz diverser Hilfsangebote nicht bereit oder in der Lage sein können, ihre für Kinder gefährlichen und bedrohlichen Handlungsweisen zu unterlassen. Dann ist es unumgänglich, Entscheidungen gegen den Willen der Eltern zu treffen und Kinder (wirksam) vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Denn das Wohl von Kindern und Jugendlichen hat immer oberste Priorität!

Dieses Buch richtet sich an ein breites Publikum. Unsere Streitschrift soll aus der Perspektive der Sozialen Arbeit einen kritischen Blick auf die vorhandenen Strukturen und Verfahren im Kinderschutz ermöglichen und damit einen Beitrag für eine sachliche Auseinandersetzung über den Kinderschutz in Deutschland leisten.

Unser Anliegen ist es, dass Kinder in diesem Land besser geschützt und ihre Rechte gestärkt werden. Hierzu ist es erforderlich, dass der Kinderschutz in Deutschland weiterentwickelt wird, die Akteure offen aufeinander zugehen und sich mit ihren Fehlern und Erfolgen auseinandersetzen. Uns ist dabei eine Wertschätzung der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern und Familien ebenso wichtig wie die der im Kinderschutz tätigen Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, des Gesundheits- und Bildungswesens, der Justiz und der Polizei.

Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Wir danken Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner für die gründliche Durchsicht des Manuskripts und die weiterführenden ergänzenden Anregungen. Ebenso danken wir all jenen Menschen, die uns dazu ermutigt haben, dieses Buch zu schreiben und uns stark zu machen, für einen besseren Kinderschutz in Deutschland.

Einleitung

Das deutsche Kinderschutzsystem versagt mit grausamer Regelmäßigkeit. Es ist fehlkonstruiert, ausgebrannt und abgestumpft. Es trägt zu tödlichen Systemfehlern bei. Es verschließt seine Augen vor unliebsamen Wahrheiten. Fachkräfte schweigen lieber, anstatt genau hinzusehen. Sie sind zu tolerant im Umgang mit Kindesmisshandler_innen. Ihnen sind die Schicksale von Kindern egal, die tagtäglich von ihren Eltern geschlagen, gequält und gepeinigt werden. Sie sind eine Komplizenschaft mit Knochenbrechern, Baby-Totschüttlern und Serientätern eingegangen. Sie übersehen mit Absicht alltäglich von Eltern in Kinderzimmern verübte Verbrechen. Das jedenfalls behaupten Michael Tsokos und Saskia Guddat (2015) in ihrem aus rechtsmedizinischer Sicht verfassten Debattenbuch »Deutschland misshandelt seine Kinder«, das inzwischen in erweiterter Taschenbuchausgabe vorliegt, auf die wir uns im Folgenden beziehen.

Wir setzen uns in unserem Buch kritisch mit der von Tsokos und Guddat vertretenen These vom »Systemversagen« (Tsokos/Guddat 2015: S. 19) im Kinderschutz auseinander, und zwar aus der Perspektive der Sozialen Arbeit. Wir nehmen die von ihnen vorgetragene Kritik ernst und geben entlang von zwölf Kapiteln fundierte Antworten auf die folgenden von ihnen aufgeworfenen Fragen:

•Ist das deutsche Kinderschutzsystem grundlegend fehlkonstruiert (vgl. ebd.: S. 21), »ausgebrannt und abgestumpft« (ebd.: S. 159)?

•Verschließt es die Augen vor »unliebsamen Wahrheiten« (ebd.: S. 17)?

•Sind ihm die Schicksale von Kindern egal, die tagtäglich von ihren Eltern geschlagen, gequält und gepeinigt werden?

•Besteht es aus einem »Kartell« (ebd.: S. 127) von »Verleugner[n]« (ebd.) und »Rittern mit stumpfen Schwertern« (ebd.: S. 142), die sinnlos »Milliarden für das Kindeswohl« (ebd.: S. 143) verpulvern?

•Ist es eine Komplizenschaft mit »Knochenbrecher[n]« (ebd.: S. 186), »Baby-Totschüttler[n]« (ebd.: S. 193) und »Serientäter[n]« (ebd.: S. 68) eingegangen?

•Übersieht es von Eltern in Kinderzimmern verübte »alltägliche Verbrechen« (ebd.: S. 66)?

•Lässt es »ausgepeitscht[e]« (ebd.: S. 136), »blau geprügelt[e]« (ebd.: S. 137), »mit Faustschlägen und Fußtritten, mit maßlosen Beschimpfungen und Herabsetzungen« (ebd.: S. 65) traktierte Kinder im Stich?

•Schaut es weg, wenn Kinder »in Kellerlöcher oder Zimmer, deren Fenster mit schwarzer Folie verklebt sind« (ebd.), eingesperrt werden?

•Ist es ihm egal, wenn ihre »Körper und Seelen« (ebd.) zerstört werden?

•Ist es »absichtlich ahnungslos« (ebd.: S. 178)?

Die in unserem Buch vertretenen Positionen sind natürlich streitbar. Sie sind aber nicht darauf angelegt, Kritik abzuwehren. Unsere Streitschrift zielt darauf ab, den Blick auf die im Kinderschutz existierenden Probleme und Herausforderungen zu erweitern. Wir wollen mit unserem Buch differenzierte Sichtweisen aufzeigen und zum kritischen Nachdenken anregen. Wir machen deutlich, warum es nicht trivial ist, Kinder zu schützen. Wir berichten über Fehler, aber auch über Erfolge. Wir erläutern Statistiken, gehen auf Skandale ein und beziehen Stellung. Wir sagen, was mit dem deutschen Kinderschutzsystem los ist: direkt und schonungslos. Wir machen uns stark für das deutsche Kinderschutzsystem und zeigen, was seine Stärken und Schwächen sind und wohin es sich weiterentwickeln kann. Wir wollen all jenen Fachkräften im Kinderschutz eine Stimme geben, die sich täglich dafür engagieren, Kinder zu schützen. Wir wollen der Skandalisierung ein Ende setzen, aufklären statt anklagen und Umrisse eines Kinderschutzes der Zukunft skizzieren, um diesen zu verbessern. Wir wollen mit unserem Buch einer breiten und interessierten Leserschaft ein ernsthaftes Nachdenken über den Kinderschutz in Deutschland ermöglichen.

Wir behaupten: Deutschland schützt seine Kinder, auch wenn es besser darin werden muss. Wir zeigen auf, dass es nicht nur Mittel der Rechtsmedizin braucht, um Misshandlungen und Vernachlässigungen an Kindern abzuwenden. Und wir erörtern, warum Kinderschutz nur gemeinsam gelingt – im Kontakt und im Dialog mit Kindern, Eltern und allen für den Kinderschutz verantwortlichen Behörden, Organisationen und Fachkräften.

Ein absolutes sicheres Aufwachsen von Kindern kann kein Staat garantieren – auch wenn dies ein zentrales Anliegen der Gesellschaft ist. Der Staat muss sich darauf verlassen, dass Familien als soziale Einheiten funktionieren. Sie sind als private Orte, in denen Kinder mit Unterstützung und im Beisein ihrer Eltern gewöhnlich aufwachsen, bis sie wirtschaftlich auf den eigenen Beinen stehen können, unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gestellt. In Familien wird täglich Kinderschutz geleistet, und zwar zuvorderst von Eltern und nicht von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe, dem Gesundheits- und Bildungswesen, der Polizei, der Justiz oder der Rechtsmedizin. Ohne Eltern wäre der Kinderschutz in Deutschland arm dran. Ohne sie würde es unseren Kindern schlecht gehen. Leider gibt es in Deutschland Eltern, die ihre Kinder misshandeln, vernachlässigen oder sexuell ausbeuten und nicht gewillt oder in der Lage sind, ihre Kinder ohne Gewalt zu erziehen. Solche Eltern aber pauschal – wie im Buch »Deutschland misshandelt seine Kinder« geschehen – als »Serientäter« (ebd.: S. 68) zu verunglimpfen sowie zu fordern, dass ihnen standardmäßig ihre Kinder weggenommen sowie dass sie bestraft und verfolgt werden sollen, entspricht nicht dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion.

Um nicht missverstanden zu werden: Jedes Kind, das von Gefährdungen seines Wohls bedroht ist und von seinen Eltern verprügelt, erniedrigt und gepeinigt wird, ist ein Kind zu viel, das Leid und Schmerzen erfährt. Dennoch sind Bestrafungen durch dauerhafte Kindeswegnahmen nicht die einzige und häufig nicht die beste Lösung für den Umgang mit Misshandlung, Vernachlässigung und sexualisierter Gewalt in Familien. Es gilt, fallbezogen und überlegt zu reagieren, um Kindern nachhaltig zu helfen. Dies impliziert zunächst vielfältige Handlungsmöglichkeiten im Kinderschutz, die idealerweise gemeinsam mit Kindern und Eltern gefunden werden müssen.

Wir laden dazu ein, gemeinsam mit allen für den Kinderschutz verantwortlichen Fachkräften und Organisationen kritisch über die Qualität und Wirksamkeit des Kinderschutzsystems in Deutschland nachzudenken und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Wir wollen mit unserem Buch das Kinderschutzsystem in Deutschland nicht verteidigen, denn es hat deutliche Schwachstellen. Skandalisierungskampagnen gegen Eltern und Fachkräfte sind unserer Ansicht nach aber nicht zielführend. Wir sind keine Anhänger der postfaktischen Verschwörungstheorie, dass es ein »Kartell der Verleugner« (Tsokos/Guddat 2015: S. 127) von wegschauenden und schweigenden Fachkräften gebe, die nicht wahrhaben wollen, was mit Kindern in Familien passiert.

Für uns ist Kinderschutz nicht nur ein privates und fachliches, sondern auch ein gesellschaftliches und politisches Thema. Für politische Akteure stellt es ein Experimentierfeld dar. Für den Kinderschutz gibt es immer etwas zu tun. Nie ist etwas perfekt, nichts ist ganz zu Ende durchdacht, schon gar nicht ein für alle Mal fertig. Kinderschutz ist eine Dauerbaustelle. Ein Sensationsfall in den Medien, und schon stehen alle in Misskredit; eine Unzulänglichkeit, eine Unachtsamkeit oder eine Entscheidung zur Unzeit, und schon wird dem Kinderschutz der Stecker gezogen. Dann wird der Resetknopf gedrückt und es wird reformiert, was das Zeug hält. Es werden bestehende Hilfestrukturen hinterfragt, Gesetze geschmiedet, Kampagnen gefahren und Modellprojekte initiiert. Kinderschutz kommt auf diese Weise jedoch nicht zur Ruhe. Zudem verliert er als Berufsfeld an Attraktivität. Auch vor diesem Hintergrund stecken etliche Jugendämter in Deutschland derzeit in der Krise.

Wer sich heute für eine Arbeit im Kinderschutz entscheidet, muss also ein Idealist sein. Schließlich kann man es im Kinderschutz niemandem Recht machen. Entweder greift man zu früh ein, reagiert zu spät oder übersieht, dass es einem Kind schlecht geht – und schon steht man im Verdacht, mit den misshandelnden Eltern unter einer Decke zu stecken und sie zu schützen, anstatt sich für die Kinder einzusetzen. Doch wie schwer es ist, Kinder vor schädigenden Handlungen oder Unterlassungen ihrer Eltern zu schützen, ohne ihre Familien als grundlegende Basis einer gesunden kindlichen Entwicklung zu zerstören, bleibt dabei oftmals unbeachtet. Es wird zu wenig reflektiert, dass es eine hochkomplexe professionelle Aktivität darstellt, kindliche Signale und Aussagen zu deuten, zu verstehen, wie Familien funktionieren, elterliche Probleme zu erkennen sowie die richtigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen – und dass Eltern lernen können und in den meisten Fällen auch wollen, wie es besser, also ohne Gewaltanwendung an ihren Kindern, geht.

Kinderschutz ist nicht nur gut. Er ist mit massiven Eingriffen in das Leben von Kindern und das Zusammenleben von Familien verbunden. Er kann hilfreich sein, wenn er bei Eltern auf Akzeptanz stößt und als Chance zur Veränderung von Familien angenommen wird. Er kann zerstörend sein, wenn er unreflektiert vorgenommen wird und auf einem Familienbild fußt, in dem es nur Opfer und Täter gibt und keine Kinder und Eltern, die miteinander in durch Abhängigkeiten, Konflikte und Krisen gekennzeichneten biologischen, sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen stehen.

Wir fordern:

•Kein Kind soll in seinem Wohl gefährdet werden!

•Kinder sollen respektiert und ernst genommen werden!

•Eltern sollen anerkannt und entlastet werden!

•Familien sollen gestärkt und unterstützt werden!

•Fachkräfte im Kinderschutz sollen geachtet und wertgeschätzt werden!

•Eine sachliche und besonnene Auseinandersetzung über einen Kinderschutz mit Zukunft!

1.Der ›Fall Kevin‹Ein Wendepunkt für den Kinderschutz

Der ›Fall Kevin‹ im Jahr 2006 war für den Kinderschutz in Deutschland ein Wendepunkt. Als medial inszenierter Skandal führte er zu einem Umdenken in der Politik und in der Praxis. Wir möchten im Folgenden nachzeichnen, wie der Fall die Öffentlichkeit erregt und damit das ganze Kinderschutzsystem ins Wanken gebracht hat.

Medial inszenierte Skandale sind nicht einfach nur besonders brisante Ereignisse, über die in der Presse oder dem Internet berichtet wird. Vielmehr sind sie Produkte von Journalist_innen, die ihr Handwerkszeug einsetzen: Ähnlich wie bei der Produktion literarischer Werke werden dabei bestimmte Techniken genutzt und standardisierte Erzählstrukturen verwendet (vgl. Burkhardt 2015: S. 50, 156, 203–204, 348).

Medial inszenierte Skandale sind »Elementargeschichten des sozialen Systems« (ebd.: S. 336), die auf Grundlage einer stereotypisierten Unterscheidung zwischen ›Gut‹ und ›Böse‹ einfache und leicht verständliche moralische Geschichten erzählen, die für die gesellschaftliche Kommunikation von Bedeutung sind (vgl. ebd.: S. 336). Die Moral dieser Geschichten appelliert an die Ängste und negativen Emotionen der Menschen (vgl. ebd.: S. 398).1

In einem medial inszenierten Skandal wird anhand eines konkreten Fallbeispiels das Verhalten einzelner Personen sichtbar gemacht und als öffentliches Ärgernis dargestellt, weil es mit den gesellschaftlichen Werten und Normen nicht vereinbar ist. Durch die Inszenierung einer moralischen Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts löst der Skandal eine öffentliche Empörung aus und nimmt Einfluss auf die Politik (vgl. ebd.: S. 395–396). Er erzeugt Handlungsdruck zur Abwendung der Bedrohung und zur symbolischen Wiederherstellung der sozialen Ordnung.

Medial inszenierte Skandale haben im Kinderschutz schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Bereits die Gründung der weltweit ersten »Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten an Kindern« 1874 in New York wurde medienwirksam als Reaktion auf den Fall des von seinen Pflegeeltern misshandelten Kindes Mary Ellen inszeniert, der als Skandalfall in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit geriet. Auch in der jüngeren deutschen Geschichte gab es immer wieder medial inszenierte Skandale im Kinderschutz. So nahmen z.B. das Buch und der Film »Bambule« von Ulrike Meinhof, in denen die autoritären und misshandelnden Praktiken der Heimerziehung dieser Zeit thematisiert werden, großen Einfluss auf die öffentliche Diskussion über Kinderheime in den 1970er Jahren (vgl. Hering/Münchmeier 2014: S. 230). In den 1990er Jahren machten Fälle sexueller Gewalt wie die sogenannten Wormser Prozesse Schlagzeilen. Und auch Kinderschutzfälle, in denen Kinder zu Tode kamen, wurden in dieser Zeit von den Medien aufgegriffen, etwa der Osnabrücker ›Fall Laura-Jane‹ (1994), der Stuttgarter ›Fall Jenny‹ (1996) oder in den 2000er Jahren der Saarbrücker ›Fall Pascal‹ (2003), in dessen Folge zwei Jahre später der Paragraf 8a »Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung« ins Sozialgesetzbuch (SGB) VIII eingefügt wurde. Sie sind jedoch medial anders verarbeitet worden als der ›Fall Kevin‹ sowie zeitlich folgende weitere Fälle (wie z.B. der ›Fall Lea-Sophie‹ oder der ›Fall Chantal‹), die sich unmittelbar nach der Konkretisierung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung (§8a SGB VIII) ereigneten.

Medial inszenierte Skandale im Feld des Kinderschutzes folgen denselben standardisierten Mustern einer journalistischen Erzählung wie andere öffentlichkeitswirksame Geschichten. Aber sie weisen eine Besonderheit auf, die für die Praxis der Inszenierung zunehmend an Bedeutung gewonnen hat: Während üblicherweise auf das Opfer und die Normverstöße und moralischen Verwerfungen des Täters fokussiert wird, bieten sich Kinderschutzfälle in besonderer Weise dazu an, die Figur des ›Helfers‹ stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Ein Kinderschutzskandal erzeugt fast immer beides: Empörung über das Verhalten der Täterin bzw. des Täters und über jenes der Fachkräfte des Kinderschutzes, welche die Kindeswohlgefährdung nicht verhindert haben. Mit dieser öffentlichen moralischen Empörung wird zugleich die Politik aktiviert, da das exemplarisch aufgedeckte Fehlverhalten von Fachkräften vielleicht kein Einzelfall ist und möglicherweise auf einen Reformbedarf im gesamten staatlich organisierten Kinderschutzsystem hinweist. Die Politik wird durch den medial inszenierten Skandal im Kinderschutz dazu aufgerufen, das durch den Einzelfall erschütterte Vertrauen der Bürger_innen in das Kinderschutzsystem wiederherzustellen.

Als im Oktober 2006 in Bremen die Leiche des zweijährigen Kindes Kevin, das unter der Fürsorge des Jugendamts stand, aus dem Kühlschrank seines drogensubstituierten, alleinerziehenden Ziehvaters geborgen wurde, war dies das Schlüsselereignis für die wichtigste Elementargeschichte des Kinderschutzes in Deutschland in der jüngsten Vergangenheit. Der Fund der Kinderleiche im Kühlschrank war ein Schock und zugleich eine Sensation. Der ›Fall Kevin‹ wurde zu einem für lange Zeit aufrechterhaltenen medial inszenierten Skandal, der nahezu mustergültig alle Phasen und Episoden durchschritt, die aus der Theorie des Medienskandals bekannt sind (vgl. Burkhardt 2015). Der ›Fall Kevin‹ verunsicherte das gesamte Kinderschutzsystem (→Kapitel 5). Er markiert einen zentralen Wendepunkt des Kinderschutzes in Deutschland.

Die Moral der Geschichte vom ›Fall Kevin‹

Der medial inszenierte Skandal um den ›Fall Kevin‹ hat eine wahre Flut an Meldungen, Nachrichten, Berichten, Reportagen und Fernsehspots hervorgebracht. Alle relevanten regionalen und überregionalen Medien haben intensiv über den Fall berichtet. Durch verschiedene Folgeereignisse konnte das öffentliche Interesse am Fall über Jahre hinweg aufrechterhalten werden: In direkter Folge des Fallgeschehens trat zunächst die Bremer Sozialsenatorin von ihrem Amt zurück und der Bremer Bürgermeister gestand ein Versagen der staatlichen Behörden ein. Schnell gab er eine Dokumentation der Fallereignisse auf Grundlage der Fallakten des Jugendamts durch den damaligen Justizstaatsrat Ulrich Mäurer in Auftrag. Es entstand die sogenannte Mäurer-Dokumentation, die bereits früh die personalisierten Daten lieferte, aus denen die Medien leicht eine Skandalgeschichte inszenieren konnten. Zu offensichtlich waren die Fehlentscheidungen, die im Fall getroffen wurden, zu groß die Schlampereien und Versäumnisse der Fachkräfte des Jugendamts.

Bereits drei Wochen nach dem Fund der Kinderleiche wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft zum ›Fall Kevin‹ eingesetzt. An den 21 öffentlichen Sitzungen zur Beweisaufnahme, in denen 73 Zeugen von den Ausschussmitgliedern befragt wurden, nahmen die Medien regen Anteil. Der abschließende Bericht des Untersuchungsausschusses entwickelte sich ebenso wie die Mäurer-Dokumentation zu einer wichtigen Quelle der Berichterstattung. Auch in den Folgejahren knüpften medial stark beachtete Ereignisse an das Fallgeschehen an, z.B. der Strafprozess gegen Kevins Ziehvater oder die Gerichtsverhandlung gegen Kevins Amtsvormund. Das Verfahren gegen den Case-Manager von Kevins Familie wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.

Die Ergebnisse einer Diskursanalyse zum ›Fall Kevin‹ (Brandhorst 2015) zeigen, dass der Fall in der Öffentlichkeit vor allem als Fehlergeschichte der Sozialen Arbeit und des Jugendamts verhandelt wurde. In Zentrum der Skandalgeschichte stand nicht allein Kevins Ziehvater, sondern noch deutlicher der fallverantwortliche Case-Manager des Bremer Jugendamts, der zum ›Mittäter‹ erklärt wurde.

Dies geschah, indem der Case-Manager persönlich für das Scheitern des Falls und den Tod Kevins verantwortlich gemacht wurde. Die öffentliche Kritik an seiner Person bezieht sich immer wieder auf dieselben Befunde: So habe der Case-Manager keine aktive Fallsteuerung betrieben, auf mehrfache Hinweise auf eine Gefährdung Kevins keine Reaktion gezeigt, das Verhalten der Eltern nicht kontrolliert oder sanktioniert und allein die Bedürfnisse der Eltern zur Richtschnur seines Handelns gemacht. Auf diese Weise habe er das Kindeswohl aus dem Blick verloren. Er habe fachliche Schwächen in der Gefährdungseinschätzung gezeigt und mit Kritik nicht umgehen können, habe seine einmal eingenommene Sicht auf den Fall trotz zahlreicher warnender Hinweise nicht verändert und Vorgesetzten und Kooperationspartnern wichtige Informationen zum Fall vorenthalten.

Aus den dokumentierten Arbeitsweisen des Case-Managers wird eine moralisch verwerfliche Haltung der Person abgeleitet. Ihr wird eine weltanschaulich verblendete fachliche Orientierung unterstellt. Doch auch andere Fachkräfte der Sozialen Arbeit stehen in der Kritik. So wird z.B. der Vorgesetzten des Case-Managers im Jugendamt vorgeworfen, sie habe keine Fachaufsicht ausgeübt. Oder es wird den sozialpädagogischen Fachkräften eines kurzzeitig in Kevins Familie tätigen Krisendienstes unterstellt, sie hätten geschönte Berichte über die Zustände in der Familie an das Jugendamt übermittelt.

Im Kern formen stark zugespitzte und stereotypisierende Thesen den Skandaldiskurs zum ›Fall Kevin‹ (vgl. Brandhorst 2015: S. 338): Demnach sei das Scheitern des Jugendamts auf eine unter Fachkräften der Sozialen Arbeit weit verbreitete ablehnende Haltung gegenüber staatlicher Kontrolle von Familien zurückzuführen. Zudem wird ein an den Ressourcen und Interessen der Eltern orientierter systemischer Ansatz der Sozialen Arbeit als Ursache des Scheiterns ausgemacht. Es wird eine einseitige Hilfeorientierung der ›Gutmenschen‹ aus der Sozialen Arbeit kritisiert, die ihre Augen vor der brutalen Realität verschließen, in der Eltern kaltblütig ihre Kinder misshandeln und die Sozialarbeiter_innen täuschen. Auf Grundlage dieser Thesen entsteht in der Öffentlichkeit eine »moralische Panik« (Cohen 2002) bezüglich der Arbeitsweisen und Haltungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit im Kinderschutz und deren Beziehungen zu den misshandelnden Eltern (vgl. Brandhorst 2018: S. 240–242). Mit den Erzählsträngen wird ein traditionelles Klischee aufgerufen: jenes einer staatsfernen, aber mit der Klientel verstrickten Sozialen Arbeit. Und es werden nicht nur für Kevins Ziehvater, sondern auch für die betreuenden Fachkräfte der Sozialen Arbeit harte, abschreckende Strafen gefordert. Dieser Fokus auf strafrechtliche Konsequenzen für Fachkräfte der Sozialen Arbeit ist im sozialpädagogischen Fachdiskurs zum ›Fall Kevin‹ besonders stark ausgeprägt (vgl. Brandhorst 2015: S. 283–334).

In der Deutung der Ursachen für das beanstandete Fehlverhalten von Fachkräften der Sozialen Arbeit hat der Medienskandal zum ›Fall Kevin‹ die Argumentationslinien bereits vorgeformt, die auch Tsokos und Guddat in ihrem Buch »Deutschland misshandelt seine Kinder« aufgreifen, wenn sie sozialpädagogische Fachkräfte des Jugendamts pauschal als »Komplizen der elterlichen Misshandler« (Tsokos/Guddat 2015: S. 162) bezeichnen.

Der ›Fall Kevin‹ war der Ausgangspunkt einer öffentlichen Infragestellung eines ressourcen- und hilfeorientierten Ansatzes der Sozialen Arbeit und einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Eltern im Arbeitsfeld des Kinderschutzes. In der Öffentlichkeit bildete sich die Meinung, dass der Staat in Kinderschutzfällen härter durchgreifen muss. Gleichzeitig entstand der Eindruck, dass die Soziale Arbeit im Kinderschutz ›Monster mit Wattebäuschen bewirft‹.

Aber sind die Fehlerhypothesen und moralisch-psychologischen Ausdeutungen der Verhaltensweisen des Case-Managers, die diesem Image zugrunde liegen, angesichts der Falldaten eigentlich plausibel und haltbar? Oder lassen sich die am ›Fall Kevin‹ exemplarisch festgemachten Ursachen für das individuelle Fehlverhalten sozialpädagogischer Fachkräfte anhand der bekannten Faktenlage auch ganz anders interpretieren?

Die Hintergründe der Fehler im ›Fall Kevin‹

Im kommunikativen Zusammenspiel von Medien und Politik rückt der Medienskandal die individuelle Schuld des Case-Managers in den Vordergrund. Die Frage nach der Steuerungsverantwortung und damit einhergehend nach der Verantwortung für die prekären Rahmenbedingungen im Bremer Jugendamt des Jahres 2006 wird in dieser stark vereinfachenden und hoch individualisierten Elementargeschichte ebenso an den Rand gedrängt wie die Frage nach der Verantwortung des Jugendamts und seiner Leitung oder die Frage nach der Mitverantwortung von Fallakteuren aus der Medizin und der Psychiatrie. Eine Ausnahme stellt die mediale Ausdeutung der Rolle des substituierenden Arztes von Kevins Ziehvater dar, der als »ideologischer Zwillingsbruder« (Rückert 2008) des Case-Managers konzipiert wird. In der Skandaldebatte werden mutmaßlich falsche Fachkonzepte und moralisch fragwürdige Arbeitseinstellungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit als Hintergründe für das Scheitern des Jugendamts im ›Fall Kevin‹ thematisiert. Die prägende These, dass die sozialpädagogischen Fachkräfte im Kinderschutz Kontrolle kollektiv ablehnen würden, wird im Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses hervorgebracht. Sie verbreitet sich daraufhin virulent in anderen Publikationen.

Angesichts des offensichtlichen menschlichen Versagens fand die in den Medien durchaus präsente Diskussion über strukturelle Hintergründe, die Einfluss auf das Fallgeschehen nahmen, kein Gehör. Wenig Beachtung fanden z.B. die doch bemerkenswerten Tatsachen, dass im Bremer Jugendamt seit zwei Jahrzehnten ein Einstellungsstopp galt und das Amt dadurch chronisch unterbesetzt war. Auch wurde kaum wahrgenommen, dass die sogenannten Case-Manager im Bremer Jugendamt mehr oder weniger autodidaktisch arbeiteten. Denn die Arbeitsform des Case-Managements, für deren Ausübung Fachkräfte in Deutschland üblicherweise monatelange von der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management zertifizierte Fortbildungen besuchen, wurde in Bremen mit einer nur dreitägigen Schulung eingeführt. Aufgrund des Personalmangels fehlte den Fachkräften im Bremer Jugendamt die Zeit, um z.B. die im neuen Handlungskonzept vorgesehenen Dokumentationspflichten und Beratungsgebote zu erfüllen. Im Ergebnis wurde ihnen keine tragfähige Alternative zur etablierten Hilfepraxis angeboten und es gelang nicht, ein fachlich fundiertes Case-Management aufzubauen, wie es im langjährigen Um- und Abbauprozess im Bremer Jugendamt eigentlich vorgesehen war.

Dieser Veränderungsprozess wurde von Beratungsunternehmen wie Roland Berger oder McKinsey & Company geplant, die mit Kinderschutzthemen wenig vertraut sind. Er beinhaltete auch die Einführung eines neuen Steuerungsmodells, mit dem besonderes Augenmerk auf das Finanzcontrolling gelegt wurde, sowie die Auslagerung von Dienstleistungen in den privaten Sektor, die zuvor das Jugendamt erbracht hatte. Die Fachkräfte des Jugendamts sollten nun nicht mehr selbst in die Familien gehen. Sie sollten ihre Fälle nur noch verwalten und managen, d.h. die Hilfen gemeinsam mit den Betroffenen planen und den Verlauf kontrollieren. Dagegen regte sich unter den Sozialarbeiter_innen aus dem Jugendamt Widerstand. Vor allem kritisierten sie, dass bei der Planung und Kontrolle der Hilfen finanzielle Gesichtspunkte im Vordergrund standen. Die Frage, wie ein Fall fachlich zu bewerten ist, hatte im Jahr 2006 im Bremer Jugendamt nach Ansicht vieler Fachkräfte keine Priorität. Und so gab es auch keine oder nur unzureichende Strukturen und zeitliche Rahmenbedingungen, um kollegiale Fallberatungen verbindlich umzusetzen. Übrigens: Trotz der betriebswirtschaftlichen Neuausrichtung des Jugendamts konnten zu keiner Zeit Einsparungen im Sozialetat erzielt werden – sie verfehlte ihr Ziel auf ganzer Linie. Die Ausgaben stiegen wie zuvor kontinuierlich weiter an.

Die oft zitierte angebliche Kritikunfähigkeit des Case-Managers und sein stures Festhalten an einmal getroffenen Einschätzungen wurden im Medienskandal als menschliche Schwächen ausgelegt. Das beanstandete Verhalten wurde aber nicht mit unzureichenden Möglichkeiten zur Fallberatung mit Kolleg_innen aufgrund der dauerhaft angespannten Personalsituation und der hohen Fallbelastung der Fachkräfte in Zusammenhang gebracht. So betreute allein der Case-Manager von Kevin 112 Fälle, von denen in 82 Fällen ein konkreter Handlungsbedarf bestand. (Auch Kevins ebenso in der öffentlichen Kritik stehender Amtsvormund war noch für weitere Mündel zuständig, insgesamt betreute er etwa 240 Kinder.) Das Fehlverhalten des Case-Managers wurde auch nicht vor dem Hintergrund fehlender Supervisionsangebote diskutiert. Im Bremer Jugendamt war eine einzige Halbtagskraft für die Supervision von 1.200 Mitarbeiter_innen zuständig. Genauso wenig wurde der Vorwurf, der Case-Manager habe Schwächen in der Gefährdungseinschätzung gezeigt, mit fehlenden Fortbildungsangeboten in Zusammenhang gebracht, für die pro Jugendamtsmitarbeiter_in im Jahr lediglich 12 Euro zur Verfügung standen. Selbst das Bekanntwerden einer amtsinternen Untersuchung, in der bereits vor den Ereignissen im ›Fall Kevin‹ unmissverständlich dargelegt wurde, dass unter den gegebenen personellen und strukturellen Rahmenbedingungen eine adäquate Bearbeitung von Fällen grundsätzlich nicht mehr zu gewährleisten sei, änderte nichts an der öffentlichen moralischen Empörung über das Verhalten des Case-Managers. Diese mündete in eine allgemeine Kritik an angeblich problematischen Arbeitsweisen und Haltungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit und den fachlichen Konzepten und Methoden der Profession.

Aus der Distanz heraus betrachtet ist es erstaunlich, dass im Kontext der öffentlichen Auslegung des Fehlverhaltens des Case-Managers nicht deutlich gemacht wurde, was doch eigentlich auf der Hand liegt: Die in höchstem Maße anspruchs- und verantwortungsvollen Aufgaben der Fachkräfte im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) können diese nur dann erfüllen, wenn ausreichend Personal zur Verfügung steht und das Jugendamt – mindestens – für regelmäßige Supervision, strukturell und zeitlich abgesicherte Teamberatung von Fällen sowie stetige Fortbildungen sorgt. Der ›Fall Kevin‹ zeigt, dass Fehlentscheidungen vorprogrammiert sind, wenn bei den Entscheidungsträgern und der Jugendamtsleitung kein Verständnis dafür vorhanden ist, wie schwierig es für Fachkräfte ist, ihre aus langjähriger Berufserfahrung gespeisten Einschätzungen in Frage zu stellen, wenn Supervisions- und Beratungsangebote fehlen, in denen sie ihre Sichtweisen reflektieren könnten.

In der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem ›Fall Kevin‹ wurde zu wenig beachtet, dass es eine hochkomplexe professionelle Aktivität darstellt, zu verstehen, was Kinder sagen und wie ihre Familien funktionieren, zu erkennen, welche Probleme die Eltern haben, und auf Grundlage sozialpädagogischen Fallverstehens die richtigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Dies öffentlich zu thematisieren und den Staat und die Kommunen in die Verantwortung zu nehmen, eine ausreichend gute Ausstattung sowie mit fachlichen Standards zu vereinbarende Zeitkontingente für die Fallarbeit in den Jugendämtern zu gewährleisten, ist eine verpasste Chance, Fehlerquellen im Kinderschutz zu erkennen und daran zu arbeiten, sie zu beheben.

Aber was ist stattdessen passiert? Welche Wirkung hat die Elementargeschichte über den ›Fall Kevin‹ in der Sozialen Arbeit und im Kinderschutz entfaltet? Was hat sich nach dem Fall im deutschen Kinderschutzsystem verändert?

Die Auswirkungen des ›Falls Kevin‹ auf die Arbeit im Kinderschutz

Welche Wirkung der medial inszenierte Skandal um den ›Fall Kevin‹ auf die Kinderschutzarbeit entfaltet hat, lässt sich zunächst an einer Reihe politischer Maßnahmen illustrieren, die direkt auf den Fall Bezug nehmen. So wurden auf Landesebene verschiedene Gesetze zur Verbesserung des Kinderschutzes eingeführt. Mit ihnen wurde z.B. ein verbindliches Einladewesen zur Teilnahme an Gesundheitsuntersuchungen von Kindern, Lockerungen des Datenschutzes in Kinderschutzfällen sowie die Verpflichtung zur Einrichtung von Kinderschutznetzwerken zwischen Organisationen und Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens etabliert. Unter dem Titel »Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme« wurde im Jahr 2006 ein Aktionsprogramm mit verschiedenen Modellprojekten und Expertisen beschlossen. Mit den Zielen, im Sinn der Qualitätsentwicklung aus Fehlern im Kinderschutz zu lernen, die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern möglichst frühzeitig zu verbessern und die Vernetzung von Angeboten des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe zu stärken, wurde ein Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) aufgebaut. Bund und Länder richteten gemeinsame Kinderschutzgipfel aus. Das SGB VIII wurde geändert und es wurde festgelegt, dass Amtsvormünder nicht mehr als fünfzig Mündel betreuen sollen (interessanterweise wurde für Fachkräfte, die in den Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter mit Kinderschutzarbeit befasst sind, bis heute keine Fallzahlobergrenze festgelegt.) Es wurde ein Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdungen des Kindeswohls verabschiedet, und nicht zuletzt gab der Diskurs über den ›Fall Kevin‹ auch den Anstoß für die Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) im Jahr 2012.

Auf fachlicher Ebene führte der Fall ebenso zu vielen Veränderungen. In Bremen, dem Ort des Geschehens im ›Fall Kevin‹, wurde z.B. ein mehrjähriger Qualitätsentwicklungsprozess im kommunalen Kinderschutzsystem initiiert, das Personal im Jugendamt wurde deutlich aufgestockt und ein Kindernottelefon sowie ein neuer Krisendienst wurden eingeführt, ebenso wie eine Obduktionspflicht bei ungeklärter Todesursache von Kindern sowie die obligatorische Untersuchung von Haarproben von Kindern drogensubstituierter Eltern.

Als Konsequenz aus dem ›Fall Kevin‹ wurden im ganzen Land Netzwerke für den Kinderschutz geschaffen und es wurde ein besserer Informationsaustausch zwischen den verschiedenen im Kinderschutz tätigen Berufsgruppen und Organisationen gewährleistet. Im Bereich der Prävention von Kindeswohlgefährdung wurden die Frühen Hilfen gestärkt. In den Jugendämtern wurden Verfahrensstandards zum Umgang mit Fällen, in denen das Kindeswohl gefährdet ist, weiterentwickelt, Beurteilungshilfen wie Kinderschutzbögen und neue lösungsorientierte Methoden zur Gefährdungseinschätzung eingeführt und Fachkonzepte zum Aufbau sozialer Frühwarnsysteme ausgearbeitet.

Zudem ergaben sich elementare Veränderungen im Arbeitsfeld. In direkter Folge des ›Falls Kevin‹ schossen die Zahlen der Fremdmeldungen einer Kindeswohlgefährdung, der Hilfen zur Erziehung, der Inobhutnahmen von Kindern durch das Jugendamt sowie der sorgerechtlichen Maßnahmen dramatisch in die Höhe und verharren seitdem auf hohem Niveau. Die Zahlen weisen auf eine veränderte Praxis der Jugendämter hin, die nun schneller als zuvor in Familien intervenieren.

Die Fachkräfte haben aus dem Medienskandal um den ›Fall Kevin‹ gelernt: Sie wollen vermeiden, selber einmal derart in die Öffentlichkeit gezerrt zu werden wie der Case-Manager, der für den ›Fall Kevin‹ zuständig war. Sie haben gelernt, dass es wichtig ist, das eigene Vorgehen durch die Einhaltung bestimmter Verfahren und gründliche Dokumentation rechtlich abzusichern. Und sie werden im Zweifelsfall eher aktiv, um Kinder aus ihren Familien in Obhut zu nehmen, als abzuwarten, denn sie wollen sich nicht vorwerfen lassen, etwas übersehen zu haben. Die mit dem ›Fall Kevin‹ verbundene Fachdebatte über Fehler und Risiken im Kinderschutz führte zu einer Wendung in der Kinderschutzarbeit: Es geht nun nicht mehr allein darum, Kinder zu schützen. Den Fachkräften ist bewusst geworden, dass auch sie selbst sich in ihrer Arbeit schützen müssen. Niemand will als Fachkraft für den Tod eines Kindes von den Medien verantwortlich gemacht, an den moralischen Pranger gestellt und von der Justiz verfolgt werden. Dieses neue Sicherheitsdenken leistet einer bürokratisierten Melde-, Ermittlungs- und Eingriffspraxis der Jugendämter im Kinderschutz Vorschub.

Wie oben beschrieben wurde Fachkräften der Sozialen Arbeit im Nachgang des ›Falls Kevin‹ vorgeworfen, sich Kontrolle zu verweigern und nicht die nötige Distanz zu den Eltern wahren zu können. Dies bewirkte, dass die sozialpädagogische Beziehungsarbeit mit problematischen Eltern und die Hilfeorientierung im Kinderschutz, ja die positive Wirkung sozialpädagogischer Hilfe zur Abwendung von Kindeswohlgefährdungen insgesamt infrage gestellt wurden. So fand sich die Soziale Arbeit in der Defensive wieder.

An der vom ›Fall Kevin‹ ausgelösten Debatte lässt sich ablesen, dass die Skandalerzählung in der Öffentlichkeit ein Missverständnis erzeugt hat. Kinderschutz wird nur noch mit spektakulärer Gewalt von Erwachsenen gegen Kinder in Verbindung gebracht. Nun ist professionelle Hilfe und Arbeit im Konflikt natürlich auch und gerade in dramatisch zugespitzten Situationen erforderlich, in denen es zu physischer oder sexueller Gewalt gegen Kinder gekommen ist. Aber bei der überwiegenden Mehrzahl der Fälle liegen andere, oft weniger ausgeprägte Formen der Kindeswohlgefährdung vor, wie Vernachlässigung oder psychische Misshandlung. Das bedeutet auch, dass in den meisten Fällen die Rollen nicht so klar verteilt sind wie in der Elementargeschichte über den ›Fall Kevin‹. Normalerweise haben es die Fachkräfte im Kinderschutz nicht mit skrupellosen Gewalttätern zu tun, sondern mit Eltern, denen das Wohl ihrer Kinder sehr am Herzen liegt und denen es trotzdem aus verschiedenen Gründen und in bestimmten Lebenssituationen nicht gelingt, ausreichend darauf zu achten. Diesen Menschen will und kann die Soziale Arbeit helfen. Konzepte und Methoden, mit denen Fachkräfte ihre Arbeit verbessern können und mit denen Familien besser geholfen werden kann, stehen aber nur vereinzelt zur Diskussion. Unter dem Einfluss der öffentlichen Meinung verschieben sich die Vorzeichen in der Kinderschutzarbeit zugunsten einer stärkeren Kontroll- und Eingriffsorientierung und entgegen einer Hilfeorientierung und einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Eltern.

Der medial inszenierte Skandal um den ›Fall Kevin‹ führte zu einer deutlich erhöhten Aufmerksamkeit für die Problematik der Kindeswohlgefährdung in der (Fach-)Öffentlichkeit und der Politik. Er lieferte die argumentative Vorlage für neuere Skandalisierungen sozialpädagogischer Hilfen im Feld des Kinderschutzes. Er bewirkte umfassende Veränderungen in der Kinderschutzarbeit und nahm Einfluss auf die gesellschaftlichen Erwartungen, was diese leisten soll, auch wenn er eine stark vereinfachende, widersprüchliche und einseitige Geschichte erzählte. Nun ließe sich behaupten, dass es schließlich egal sei, wodurch Veränderungen konkret ausgelöst wurden – Hauptsache, sie fanden statt und der Kinderschutz wurde verbessert. Aber wurde er tatsächlich verbessert? Wie steht es heute um den Kinderschutz in Deutschland?

Die aktuelle Situation im Kinderschutz

Die medialen, politischen und fachlichen Diskurse über den ›Fall Kevin‹ haben viele positive Veränderungen in der Kinderschutzarbeit in Deutschland nach sich gezogen, etwa eine Verstärkung der interorganisationalen und multiprofessionellen Zusammenarbeit zwischen Akteuren aus der freien und öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe, der Pädiatrie, Psychologie, Psychiatrie und Rechtsmedizin, eine höhere Aufmerksamkeit für die Inaugenscheinnahme von und Kommunikation mit betroffenen Kindern sowie den Aufbau von Angeboten der Frühen Hilfen zur Prävention von Kindeswohlgefährdungen. Dennoch erzeugen medial inszenierte Skandale im Kinderschutz, in denen entweder übereilt und unbegründet oder zu spät und zögerlich zum Schutz von Kindern in Familien interveniert wurde, stets aufs Neue den Eindruck in der Öffentlichkeit, dass nach wie vor etwas nicht zu stimmen scheint im deutschen Kinderschutzsystem. Wie passt das zusammen?

Ein Blick auf die Situation der Jugendämter als Kerneinrichtungen des deutschen Kinderschutzsystems kann einen Eindruck davon vermitteln, was im Kinderschutz ›los ist‹. Denn die Jugendämter sehen sich aktuell, trotz eines Zuwachses von Ressourcen infolge des ›Kevin-Skandals‹, mit zwei bedeutenden Herausforderungen konfrontiert: Erstens neutralisiert ein steigendes Fallaufkommen einen Großteil der hinzugewonnenen Ressourcen, zweitens fällt es den Jugendämtern zunehmend schwer, geeignetes und qualifiziertes Personal für die riskante Arbeit im Kinderschutz zu finden. Dies hat zur Folge, dass in Prozessen der Fallbearbeitung fachliche Aspekte häufig durch die Einschränkungen, die chronischer Zeitmangel mit sich bringt, überlagert werden (vgl. Beckmann/Ehlting/Klaes 2018).

Gleichzeitig sind im Zuge der von Enders (2013) untersuchten negativen medialen Aufmerksamkeit für die Kinderschutzarbeit der Jugendämter die äußeren Erwartungen an deren Aufgabenerbringung im Kinderschutz gestiegen. Der dadurch ausgelöste Reformdruck kam zu einer Zeit, als viele Jugendämter sich ohnehin, im Zuge der oben beschriebenen Orientierung an Formen des Managements und der Schwerpunktverlagerung in der Leistungserbringung durch die verstärkte Auslagerung von Aufgaben an Träger der freien Jugendhilfe (unter Missachtung der nicht delegierbaren Steuerungsverantwortung), in einem Umbauprozess befanden. Diese Entwicklung erfolgte vielerorts konträr zu den rechtlichen Vorgaben, fachlichen Aufgaben und sozialpädagogischen Konzepten sowie dem professionellen Selbstverständnis der Fachkräfte.

Die der rechtlichen Absicherung von Fachkräften geschuldete Verregelung der Fachpraxis durch verstärkte Dokumentationspflichten, Verfahrensvorgaben und den Einsatz technischer Hilfsmittel (wie z.B. schematische Einordnungen in Gefährdungsbereiche oder Bögen zur Indiziensammlung) führt heute zu einer zunehmenden Bürokratisierung der Kinderschutzarbeit sowie zu einer Betonung der Expertenrolle der Fachkräfte und einer Falleinschätzung von oben und außen. Sie führt aber auch zu einem Autonomieverlust der Fachkräfte und zu einer Verdrängung des fallverstehenden Bezugsrahmens der Sozialen Arbeit im Kinderschutz. Denn in einem starren und ungenügend fachlich unterfütterten Regelkorsett kann sich eine »Kunstlehre des Fallverstehens« (Müller 2012: S. 15) nicht entfalten. Auch das sozialpädagogische Paradigma der Partizipation, mit dem die Kommunikation mit betroffenen Familien zur Grundlage dieses Fallverstehens erklärt wird, kann unter den gegebenen Rahmenbedingungen nur schwerlich umgesetzt werden. Dies hat z.B. zur Folge, dass Fachkräfte der Jugendämter ihre Gefährdungseinschätzungen häufig zu einseitig auf medizinische, psychologische oder psychiatrische Diagnostiken stützen und teilweise gar kein eigenständiges sozialpädagogisches Fallverständnis mehr entwickeln. Klatetzki (2013) erkennt darin die Gefahren einer Deprofessionalisierung der Sozialen Arbeit und des Verlustes einer eigenständigen Handlungsorientierung der Jugendämter. Zusätzliches Gewicht erhält diese Befürchtung dadurch, dass – wie die Erfahrungen aus den vergangenen Jahren zeigen – die multiprofessionelle und organisationsübergreifende Kooperation für viele Fachkräfte aufgrund unterschiedlicher Fachsprachen und Bewertungsmaßstäbe eine erhebliche Herausforderung darstellt (vgl. Wolff et al. 2013: S. 174–189). Realität und Anspruch der Zusammenarbeit im Kinderschutz liegen häufig noch weit auseinander. Was bedeutet das nun für die betroffenen Kinder?

In Hinblick auf die multifaktoriellen Ursachen von Kindeswohlgefährdungen bleibt das sozialpädagogische Fallverstehen im Kinderschutz unerlässlich, um Gefahren für das Wohl von Kindern zu erkennen. Im professionellen Verstehensprozess können Entwicklungen, Dynamiken und Beziehungsmuster in Familien sowie Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Belastungsfaktoren wahrgenommen werden. Klinische Diagnostiken ermöglichen dies nur begrenzt. Wenn sozialpädagogische Fachkräfte des Jugendamts allerdings aus den genannten Gründen Kindern und Eltern nicht genügend zuhören und die Familiensituation und den bisherigen Fallverlauf nicht gemeinsam mit ihnen analysieren; wenn sie unterschiedliche fachliche Expertisen nicht gründlich genug im Dialog mit anderen Professionen reflektieren; wenn sie deshalb Zusammenhänge nicht verstehen und keine eigenständige sozialpädagogische Perspektive auf den Fall entwickeln – so kann dies handfeste negative Auswirkungen auf das Wohl von Kindern haben, weil Gefährdungen oder Entwicklungschancen übersehen werden.