Deutschland und Russland - wie weiter? - Christiane Reymann - E-Book

Deutschland und Russland - wie weiter? E-Book

Christiane Reymann

4,8

Beschreibung

Schon Reichskanzler Bismarck wusste um die besondere Beziehung zwischen Deutschland und Russland und konstatierte, dass ein gutes Verhältnis der beiden zueinander Frieden und Stabilität in Europa bringe. Trotz dieser Erkenntnis führte Deutschland in nachfolgenden Jahren zwei verheerende Kriege gegen Russland, die Millionen Opfer kosteten. Und nun steht ein neuer Kalter Krieg vor der Tür, deutsche Panzer gelangen ins Baltikum und in die Ukraine! Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann nehmen das deutsch-russische Sonderverhältnis, das seit jeher zwischen Affinität und Abneigung schwankt, unter die Lupe. Die historischen Erfahrungen aufgreifend, plädieren sie für ein gegenseitiges Verständnis, mehr noch: für eine enge Kooperation, die beiden Seiten zum Vorteil gereicht. Ein Appell für ein friedliches und gedeihliches Miteinander und eine unverzichtbare Argumentationshilfe für alle, die sich Aufklärung statt Propaganda wünschen und mitreden wollen, wenn es um die Gestaltung der außenpolitischen Beziehung zweier großer Staaten geht, von deren Verhältnis auch der Frieden in Europa abhängt.

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Wolfgang Gehrcke

Christiane Reymann

Deutschland

und Russland –

wie weiter?

Der Weg aus der

deutsch-russischen Krise

edition berolina

eISBN 978-3-95841-539-3

1. Auflage

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805/30 99 99

FAX 01805/35 35 42

(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)

© 2017 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Umschlagabbildung: ullstein bild - Ulrich Baumgarten

www.buchredaktion.de

Inhalt

Alles Walzer

Eine andere Russland-Politik ist nötig – aber ist sie auch möglich?

NATO statt Frieden

Sanktionen: Schwarze Pädagogik als Politikersatz

Krieg der Worte

Russland ist nicht allein

Russland und der Westen zu Ukra-ine – Krim – Kosovo – Syrien

Gute Nachbarschaft mit Russland schafft Frieden in Europa

Vorwort

Alles Walzer

Rückkehr zum Kalten Krieg oder gute Nachbarschaft – auf diese Alternative lassen sich alle Kontroversen zum Verhältnis zwischen Russland und Deutschland bringen. Immer seltener wird ernsthaft über die Geschichte der beiden Länder gesprochen; diese Kenntnis wird aber gebraucht, ohne Geschichte keine Zukunft. Gar nicht mehr wird das Regelwerk deutsch-russischer Verträge beachtet und herangezogen, um aktuelle Konflikte zu entschärfen. Dabei könnte sich etwa der »Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit« als nützlich erweisen, von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow feierlich am 9. November 1990 in Bonn unterzeichnet. Darin versichern beide Staaten, durch Verständigung und Versöhnung einen gewichtigen Beitrag zur Überwindung der Trennung Europas zu leisten und »eine dauerhafte und gerechte europä­ische Friedensordnung einschließlich stabiler Strukturen der Sicherheit zu schaffen«. Sie verpflichten sich zum »Nichtangriff«, sie würden »niemals und unter keinen Umständen als erste Streitkräfte gegeneinander oder gegen dritte Staaten einsetzen«.

Dieser Vertrag ist immer noch in Kraft. Die Wirklichkeit hat sich weit von ihm entfernt. Statt Verständigung und Versöhnung erleben wir einen Krieg der Worte, mit Sanktionen wird die Wirtschaft als Waffe eingesetzt, und die Bundeswehr steht an der Westgrenze Russlands.

Europa ist tief gespalten. Die moralische Verantwortung Deutschlands angesichts der 27 Millionen im faschistischen Krieg ermordeten Bürgerinnen und Bürger aus den Ländern der Sowjetunion hat die Bundesregierung offensichtlich abgelegt und weggepackt; als ob sie nach Abzug der russischen Truppen nicht mehr gebraucht würde. Versöhnung wird ersetzt durch Überheblichkeit, Nichtachtung und ständige Versuche, Russland zu demütigen.

Doch warum, so fragen sich viele, sollen Russland und Deutschland nicht gute Nachbarn sein können, warum wieder in Feindschaft verfallen?

Die Bundeskanzlerin versteht Russisch, der russische Präsident versteht Deutsch. An den Sprachfähigkeiten kann es nicht liegen, wenn man sich nicht versteht. Vielleicht liegt es daran, dass im Westen zu lange daran geglaubt wurde, man könne Russland aus einer europäischen Sicherheitsordnung ausschließen. Doch man kann Russland nicht einfach vor die Tür eines europä­ischen Hauses setzen, es hat darin Wohnrecht, und zwar auf Dauer.

Es war Bundespräsident Richard von Weizsäcker (­CDU), der am 9. Mai 1985 die westdeutsche Nachkriegsgeschichte vom Kopf auf die Füße stellte, als er statt von »Niederlage« im Zweiten Weltkrieg endlich von »Befreiung« sprach. Dafür haben die Menschen in der Sowjetunion und die Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee allergrößte Opfer gebracht. Wie muss es in Moskau gewirkt haben, wenn am 9. Mai 2015, dem 70. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus, die Bundeskanzlerin nicht nach Moskau reiste und die für ihren schlechten Geschmack bekannte Kriegsministerin von der Leyen unter dem Motto »Alles Walzer« zu einem Ball des Heeres in Berlin einlud!

Ganz im Sinn des deutsch-russischen Freundschaftsvertrags haben wir dieses Buch als einen Beitrag zur Verständigung, Versöhnung und zu guter Nachbarschaft geschrieben.

Kapitel 1

Eine andere Russland-Politik ist nötig – aber ist sie auch möglich?

Das Verhältnis Deutschland-Russland ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Eiszeit und Froststarre statt Tauwetter und Blütenknospen. Die Verantwortung für diese Entwicklung liegt bei der Bundesregierung. Sie hat sich auf eine aggressive antirussische Linie festgelegt. Der Westen setzt auf Wirtschaftskrieg, Aufrüstung und ­NATO­-Erweiterung bis an die russische Grenze. Dahinter wird das verstanden als zeitgenössische Variante des Dranges nach Osten. Noch einmal sind die EU-Sanktionen gegen Russland bis – vorerst – Juli 2017 verlängert worden. Mit der Türkei und der Ukra­ine verhandelt die Bundesregierung über Visafreiheit, die entsprechenden Verhandlungen mit Russland hat sie abgebrochen.

Im Januar 2017 hat die US-Army, von Colorado über den großen Teich kommend, eine komplette Panzerbrigade mit 4.000 Soldatinnen und Soldaten und mehr als 2.000 Panzern, Haubitzen, Jeeps und Lkw nach Bremerhaven verschifft. Von da bewegte sie sich mit Zügen und in Fahrzeugkolonnen weiter in Richtung Osteuropa für Manöver nah an der russischen Grenze. Alle neun Monate wird die eine gegen eine andere Brigade ausgetauscht. So handhabt das auch die Bundeswehr mit ihren Truppen, damit es nicht so aussieht, als stationiere die ­NATO­ dauerhaft große Kontingente an der russischen Grenze, was der ­NATO­-Russland-Akte widersprechen würde: Eine Trickserei, die zusätzlich Misstrauen sät.

Zeitgleich waren die politischen Eliten in Westeuropa, und besonders in Deutschland, tief verunsichert wegen des Wahlsiegs von Donald Trump. Sie hatten auf Hillary Clinton gesetzt und folglich bemerkbare Schwierigkeiten, sich umzuorientieren. Sehr laute Stimmen warnten vor einer Annäherung der ­USA­ und Russlands. In der jüngeren Vergangenheit gehörten Mahnungen an beide Seiten, die russische und die US-amerikanische, doch miteinander zu reden und zu verhandeln, zum guten Stil eines jeden politischen Programms, das nicht als verbohrt gestrig daherkommen wollte. Gespräche und Verhandlungen fanden ja auch statt, so zwischen Chruschtschow und Kennedy zum Abzug der russischen Raketen aus Kuba, zur Beendigung des Vietnamkriegs zwischen den ­USA­ und Vietnam, unter Assistenz der Sowjetunion und Chinas; ab 1991 die Verhandlungen zu Rüstungsbegrenzung und Abrüstung zwischen den Präsidenten Clinton, George W. Bush, Obama und Jelzin, Tschernomyrdin, Putin und Medwedew.

In den ersten Wochen seiner Amtszeit standen im Zentrum der Kritik an Präsident Trump durch die westlichen Eliten nicht etwa seine rassistischen und sexistischen Ausfälle, nicht sein Wahnsinn, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko zu bauen, er stand nicht vordergründig deshalb unter Beschuss, weil er die Ansätze einer Bankenregulierung zurückgenommen oder erlaubt hat, Kultstätten der Sioux zu gefährden, sondern wegen seiner Äußerungen zu Russland. Seine Andeutung, dass die US-Politik gegenüber Russland verbesserungswürdig und es kein Skandal sei, die Sanktionen abzumildern oder zurückzunehmen, forderten das erste personelle Opfer seiner Regierung: Deren Nationaler Sicherheitsberater Michael Flynn, er galt als russlandfreundlich, musste wegen Kontakten zum russischen Botschafter in Sachen US-Sanktionen zurücktreten. Voll Skepzis warnte die politische Klasse, anders als früher, nicht vor Sprachlosigkeit zwischen Moskau und Washington, als eigentliche Gefahr erschienen vielmehr Gespräche von Donald Trump und Wladimir Putin. Die Furcht war, sie könnten zulasten der ­NATO­ gehen. Von allen Seiten war US-Vizepräsident Mike Pence genötigt worden, vor der Münchner Sicherheitskonferenz (17. bis 19. Februar 2017) eine Treueerklärung zur ­NATO­ abzugeben. Dem dringlichen Begehren ist er nachgekommen. »Heute versichere ich Ihnen im Namen von Präsident Trump: Die Vereinigten Staaten von Amerika stehen fest zur ­NATO­ und wir werden unerschütterlich unsere Verpflichtungen für unsere trans­atlantische Allianz erfüllen.«1 Die Kommentatoren sind sich einig: Diese Erklärung »entsprach den Erwartungen der europäischen ­NATO­-Mitglieder«2. Wo es bei Trump heißt, America First, heißt es bei Bundeskanzlerin Merkel, ­NATO­-Generalsekretär Stoltenberg, Kriegsministerin von der Leyen und ihrer Gefolgschaft: ­NATO­ First! Auf Deutschland bezogen, könnte das heißen: Deutschland über alles.

Dabei hatte alles so hoffnungsfroh angefangen. Mit und nach der deutschen Vereinigung sollte ein neues Kapitel in der Geschichte Europas aufgeschlagen werden. Am 21. November 1990 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs aller europäischen Länder, mit Ausnahme Albaniens, plus Kanada und den ­USA­ in der französischen Hauptstadt die Charta für ein neues Europa. Darin erklärten sie das Zeitalter der Konfrontation und Teilung des Kontinents für beendet und das Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit für eröffnet. Die Charta von Paris ist ein umfangreiches Versprechen auf ein ungeteiltes Europa der Demokratie, Menschenrechte, Abrüstung, friedlichen Konfliktlösung, freundschaftlichen Beziehungen, Sicherheit, Einheit, Kultur, wirtschaftlichen Zusammenarbeit, Sorge für die Umwelt. Weil die Liste der Signatarstaaten so eindrucksvoll ist, sei sie hier wiedergegeben: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Heiliger Stuhl, Irland, Island, Italien – Europäische Gemeinschaft, Jugoslawien, Kanada, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Monaco, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, San Marino, Schweden, Schweiz, Spanien, Tschechische und Slowakische Föderative Republik, Türkei, Ungarn, Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten von Amerika, Zypern.3

Zehn Jahre später schienen die zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa immer noch entspannt. Die Rede, die Wladimir Putin 2001 im Bundestag »in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant« hielt, löste Begeisterung bis Euphorie aus. Russland gehörte für ihn zur europäischen Integration, »so unterstützen wir nicht einfach nur diese Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung«4. Er sah auch Probleme: »Wir leben weiterhin im alten Wertesystem. Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen.« Nur eine »moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur« könne auf diesem Kontinent ein »Vertrauensklima« schaffen.5 In dieser Rede ist die Außenpolitik Russlands des kommenden Jahrzehnts skizziert: Sie ist nach Westen orientiert, und ihr Fundament soll eine Sicherheitsstruktur sein. Eine Struktur ist mehr als das eine oder andere Abkommen und das eine oder andere vertrauensvolle Gespräch. Sie ist ein verlässliches Gerüst von völkerrechtlich verbindlichen Verträgen, und sie stärkt Zusammenarbeit in politischen, wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen, kulturellen Bereichen; getragen von Regierungen und Parlamenten von lokal bis national, zahlreichen Verbänden, gesellschaftlichen Gruppen, außerparlamentarischen Initiativen und vielfältigen Einrichtungen von Kunst und Kultur, Bildung und Wissenschaft.

In der europäischen Entspannungspolitik hatte sich von Ende der sechziger Jahre an in einem schwierigen diplomatischen Prozess zwischen Ost und West die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (­KSZE­) herausgebildet. An ihr haben die sieben Staaten des östlichen Militärbündnisses Warschauer Vertrag, die fünfzehn ­NATO­-Staaten, das heißt einschließlich ­USA­ und Kanada, und fünfzehn neutrale europäische Staaten teilgenommen. Die 1973 unterzeichnete Schlussakte von Helsinki war der Beginn einer sich stetig vertiefenden Zusammenarbeit zwischen den Blöcken in allen Bereichen, von Sicherheit, Wirtschaft, Kultur bis Menschenrechten. Und die Zahl der Teilnehmerstaaten vergrößerte sich auf 34. Als es die Blöcke nicht mehr gab, hat sich die ­KSZE­ in eine neue Organisation umgewandelt, in die ­OSZE­, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa; in der Praxis führt sie eher ein Schattendasein als Beobachterin von Wahlen und von Konflikten. Das muss aber nicht so sein und vor allem nicht so bleiben.

Als Dmitri Medwedew, gerade zum neuen Präsidenten gewählt, 2008 nach Berlin kam, hatte sich die Sicherheitslage in Europa bereits spürbar verändert. Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei waren in die ­NATO­ aufgenommen worden, Kroatien, Albanien, die Ukra­ine und Georgien standen Füße scharrend vor der Tür, die US-Pläne für ein System der Raketenabwehr in Polen und Tschechien nahmen Gestalt an, während gleichzeitig Grabesstille herrschte zu Verträgen oder Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Vor diesem Hintergrund wurde Berlin einmal mehr der Ort für eine Grundsatzrede eines russischen Präsidenten. Dmitri Medwedew schlug vor, einen neuen Vertrag über die europäische Sicherheit ins Auge zu fassen. »Es könnte sich um einen regionalen Pakt handeln, der sich auf Prinzipien der ­UNO­-Charta gründen würde … Probleme der unteilbaren Sicherheit und der Rüstungskontrolle in Europa, über die alle so besorgt sind, würden in diesem Fall komplett gelöst.« Vielleicht weise, zumindest eigenwillig sein Vorschlag, die Arbeit an diesem Pakt mit einer Verschnaufpause zu beginnen »und sich umzusehen, wo wir gelandet sind, sei es das Kosovo oder die ­NATO­-Erweiterung oder die Raketenabwehr«. Und: Alle Staaten sollten einzeln, nicht als Mitglieder von Blöcken oder irgendwelcher anderer Gruppierungen teilnehmen, damit die Arbeit nicht »durch ideologische Motive entstellt« würde.6 Das widerspiegelte die Erfahrungen Russlands mit Politiken der Europäischen Union oder der ­NATO­. Wenn sie als Blöcke agierten, war ihre Gangart oft schärfer als bei Treffen mit Regierungen einzelner Staaten. Während sich die deutsche Bundeskanzlerin zu dem Vorschlag nicht äußerte, fand ihr französischer Kollege Nicolas Sarkozy die Idee gut und rief dazu auf, zu diesem Vorschlag einen ­OSZE­ Gipfel einzuberufen. 21 von 55 ­OSZE­-Mitglieder nahmen zu dem russischen Entwurf eines Vertragstextes Stellung. ­NATO­ und EU verweigerten sich aber der gemeinsamen Arbeit daran mit dem Hinweis, es gebe bereits mehr als genug solcher Dokumente.

2014 war Europa dann in den Konfrontationsmodus übergegangen. Die Lesart des Westens: Mit der »Einverleibung der Krim« und dem »Krieg in der Ukra­ine« habe sich Russland unverzeihlicher Vergehen schuldig gemacht, die mit Sanktionen, militärischer Präsenz an Russlands Grenzen und einer kalten Schulter gegenüber russländischen Interessen bestraft werden müssten. Das ist die Einheitsmeinung im politischen und medialen Establishment. Der Meinung folgten Taten. Die führenden Industriestaaten der G8 haben Russland ausgeschlossen, der Europarat hat der russländischen Delegation das Stimmrecht entzogen. Der ­NATO­-Russland-Rat kommt nach zweijähriger Unterbrechung zwar sporadisch wieder zusammen, aber das Vertrauen ist nachhaltig zerstört. Sprachlosigkeit, Drohungen und Aufrüstung haben eine kreuzgefährliche Situation geschaffen. Ein bewaffneter Konflikt ­NATO­-Russland, einschließlich einer nuklearen Eskalation, ist nicht mehr ausgeschlossen.

Viele erfahrene Entspannungspolitiker haben vor dieser konfrontativen Politik gewarnt. Doch ihre Ratschläge wurden in den Wind geschlagen. Altkanzler Helmut Schmidt ging in seinem Buch Außer Dienst mit der verfehlten Russland-Politik hart ins Gericht: Zusagen zur Abrüstung seien nicht eingehalten, schwere Fehler und Vertrauensbrüche begangen worden, deutsche Politiker verhielten sich überheblich und herablassend, einige mischten sich ständig in die russische Innenpolitik ein und schürten antirussische Ressentiments.

Wilfried Scharnagl, politischer Intimus von Franz Josef Strauß, wird konkret: »Man stelle sich vor, die Ukra­ine wird Mitglied der ­NATO­. Das bedeutet, dass die Krim – ein Herzstück russischer Geschichte und russischen Selbstverständnisses – plötzlich ­NATO­-Bereich wäre. In Sewastopol sitzt ein amerikanischer Admiral als Kommandeur einer ­NATO­-Flotte im Schwarzen Meer. Wenn man das ausspricht, dann weiß man, es konnte keine russische Regierung, kein Präsident, kein Ministerpräsident und selbstverständlich auch nicht Putin diesem Treiben tatenlos zusehen. Dies nicht gesehen zu haben, war ein Fehler des Westens. Der Westen hat in, wie ich meine, törichter Einseitigkeit die Ukra­ine, die in einer schwierigen Lage ist, verlockt und unterstützt, sich einseitig an die Europäische Union und vielleicht noch die ­NATO­ zu binden.«7

Der ehemalige ­SPD­-Vorsitzende und langjährige Ministerpräsident Brandenburgs, Matthias Platzeck, beschreibt sehr deutlich die doppelten Standards in der Sanktionspolitik: »Wir haben die Sanktionen verhängt wegen des Bruchs, des unterstellten Bruchs des Völkerrechts. Niemand hat, als die ­USA­ in den Irak einmarschiert sind – in der Folge hat diese Handlung zu Hunderttausenden Toten geführt, zur Destabilisierung einer gesamten Region, zu einer Flüchtlingswelle, die uns noch heute tagtäglich beschäftigt –, niemand hat damals nach Sanktionen gerufen.«8

Egon Bahr endlich, der engste Vertraute Willy Brandts, stellt in der aktuellen »schwersten Krise seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes« eine Beziehung her zum ersten Versuch, mit der bundesdeutschen Ostpolitik »erstarrte Fronten aufzulösen«. Obwohl seitdem beide Großmächte schwächer geworden seien, sei auch heute ohne sie keine Regelung denkbar. Der erfahrene Pragmatiker der Machtpolitik prognostiziert, »damals wie heute werden sie offene Gewaltanwendung gegeneinander vermeiden. Die Erhaltung des Status quo hieß damals: Berlin, Deutschland und Europa wären keinen Krieg wert. Das gilt heute für die Ukra­ine und die Krim. In beiden Fällen sind die geostrategischen Fragen wichtiger, die ein politisches Zusammenwirken verlangen.«9

Dessen ist sich der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Staatspräsident der ­UdSSR­, Michail Gorbatschow, nicht so sicher. »Anstatt den Wandel in einer zunehmend globalisierten Welt zu gestalten, hat sich der Kontinent in einen Schauplatz politischer Unruhen, Konkurrenz um Einflusssphären und militärischer Konflikte entwickelt.«10 Nicht Russland, so Gorbatschow, sondern der Westen und der, wie er schreibt, »Weltpolizist ­NATO­« hätten diesen Konfrontationskurs eingeleitet: »Die Welt scheint sich an der Schwelle eines neuen Kalten Krieges zu befinden. Manche behaupten sogar, er habe bereits begonnen.«11 Der Westen, allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika, hätte sich zum Sieger erklärt, »Euphorie und Triumphalismus sind den westlichen Staats- und Regierungschefs zu Kopf gestiegen«.12 Jahre überbordend als Architekt der deutschen Einheit und Überwinder der europäischen Teilung in der Öffentlichkeit gefeiert, wird nach derartigen Äußerungen Michail Gorbatschow in der Presse wieder zum »ehemaligen Machthaber im Kreml«, »Parteichef im Kreml«. Mit den Begriffen aus dem Kalten Krieg ist das Denken jener Zeit zurückkehrt.

Im Bundestag ist ein nachdenklicher Umgang mit dem deprimierenden Zustand der deutsch-russischen Beziehungen selten geworden. Zudem haben die Sanktionen gemeinsame deutsch-russische Ausschusssitzungen oder Besuche russischer Abgeordneter erschwert beziehungsweise ganz verhindert. Als der Autor das im Auswärtigen Ausschuss kritisierte, meinte die Bundeskanzlerin: »Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Sie können doch jederzeit nach Moskau fahren.« Das wiederum erinnert sehr an die üblichen antikommunistischen Sprachfloskeln, wenn es in Westdeutschland um die ­DDR­ ging: »Geh doch rüber!«, wurde damals reflexartig allen entgegengeschmettert, die auch nur ansatzweise Kritik an der Bundesrepublik West übten.

Am 9. November 2012 war Wolfgang Gehrcke in einer Bundestagsdebatte zum Verhältnis Deutschland-Russland auch auf die Beziehung von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow und ihre »Strickjackenfreundschaft« eingegangen, die ihm nicht sonderlich sympathisch wäre. In seiner sachlichen und tiefgründigen Rede ging der ­CSU­-Abgeordnete Peter Gauweiler auf diesen Begriff ein und entgegnete: »Ich glaube, diese Freundschaft war eine große Sache. Strickjacke und Hausschuhe sind besser als Panzer und Stacheldraht. Das hat uns eigentlich alle gut vorangebracht.«13 Der so Kritisierte konnte nur Beifall klatschen.

Spätestens seit der Ukra­ine- und Krim-Krise hat sich die deutsche Regierungspolitik gegenüber Russland in eine sich beschleunigende Eskalationsspirale begeben. Die Konsultationen auf Regierungsebene sind nahezu zum Erliegen gekommen, der ­NATO­-Russland-Rat tagt zwar manchmal wieder, ist aber eher ein Ort der gegenseitigen Schuldzuweisungen denn von gegenseitiger Information und Offenheit in Fragen der Sicherheit.

Parallel aber gestalten immer noch Individuen und Menschengruppen die deutsch-russischen Beziehungen als »Verantwortungsgemeinschaft«, wie Egon Bahr sie einmal bezeichnet hatte. Die Auseinandersetzung über die deutsche Russland-Politik verläuft derzeit nicht vordergründig entlang von Parteigrenzen; eine grobe Linie trennt vielmehr den recht gleichförmigen politischen und medialen Mainstream auf der einen von jenen, die unabhängig mit Sachkenntnis oder zumindest gesundem Menschenverstand die Dinge beurteilen, auf der anderen Seite. In diesem eher bunten Spektrum agieren unterschiedliche friedensbewegte Gruppen, andere kümmern sich um humanitäre Projekte, wieder andere nehmen unter dem Dach der quasi offiziellen Beziehungen von Städtepartnerschaften, Jugend- oder Kulturaustausch diese Möglichkeiten widerständig wahr, in Wirtschaft oder Wissenschaft bewähren sich über lange Jahre gewachsene Kontakte, nicht zu vergessen, die bi- oder trilateralen Organisationen wie deutsch-russisches Forum, Petersburger Dialog oder Weimarer Dreieck, die sehr lebendig sind trotz aller Versuche, sie zu spalten und zu schwächen. Wichtige außerparlamentarische Initiativen für eine andere Russland-Politik haben Persönlichkeiten ergriffen, die noch vor einigen Jahren selbst in hohen Positionen Regierungsverantwortung trugen und oder aus der Tradition der sozialdemokratischen Entspannungspolitik kommen. Seitdem sie in der Friedens- und Russland-Frage derzeit eine andere Position als das Establishment vertreten, erleben sie hierbei ihr blaues Wunder.

Zum Amtsantritt von US-Präsident Obama 2009 setzten sich Egon Bahr, Alt-Kanzler Helmut Schmidt, Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker und der langjährige Außenminister Hans-Dietrich Genscher in einem Appell für eine atomwaffenfreie Welt ein: »Das Schlüsselwort unseres Jahrhunderts heißt Zusammenarbeit. Kein globales Problem ist durch Konfrontation oder durch den Einsatz militärischer Macht zu lösen.«14 Zur Jahrtausendwende war eine Welt ohne Atomwaffen ein großes Thema in der Öffentlichkeit. Der Deutsche Bundestag forderte im März 2010 in einem überwältigend angenommenen Antrag den »Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland«.15 Das ist heute kaum mehr vorstellbar. Die Rüstungsapologeten in den ­USA­, Deutschland oder Polen haben eine neue Kausalkette aufgemacht. Ihre These: Die ­USA­ unter Trump sei nicht mehr vorbehaltlos in die ­NATO­ eingebunden, so entstünde eine »Sicherheitslücke« generell und insbesondere für die osteuropäischen Staaten. Die Schlussfolgerung: Mehr Abschreckung! In Westeuropa und den ­USA­ ist die Wiederauferstehung der Abschreckungsdoktrin ein Werk des militärisch-industriellen Komplexes, in Deutschland innig liiert mit der ­CDU­/­CSU­. Um abzuschrecken, bedarf es angeblich mehr Atomwaffen in Europa. Die Abschreckungsdoktrinäre treten für eine Modernisierung der US-Atomwaffen in Deutschland ein, sie wollen französische und britische Atomwaffen in europäische Planungen einbinden. Nein zu Atomwaffen war seit Hiroshima und Nagasaki durchgängig ein tragender Gedanke der weltweiten Friedensbewegung. Mitte der fünfziger Jahre hatte der polnische Außenminister Adam Rapacki großen Zuspruch für seinen Vorschlag erhalten, Mitteleuropa zu einer atomwaffenfreien Zone zu machen. Der stärkste und am meisten ausstrahlende Gedanke aus der Ära Gorbatschow war die Vision von einer Welt ohne Massenvernichtungswaffen. All diese Impulse scheint die staatstragende Politik des Westens vergessen und begraben zu haben. Die Bundesregierung wird sich noch nicht einmal an internationalen Verhandlungen über einen Vertrag zur Ächtung und Abschaffung von Massenvernichtungswaffen beteiligen, die etwa 130 Staaten im März 2017 unter dem Dach der ­UNO­ aufnehmen. Zur Nichtteilnahme hatten die Vereinigten Staaten ihre Verbündeten in einem internen ­NATO­-Papier aufgerufen.16

2014 spitzten sich die Spannungen im Zuge der Ukra­ine-Krise zu, und es bewegte sich auch wieder Protest auf den Straßen. Motor war eine sich als »neu« verstehende Friedensbewegung. Im Friedenswinter 2014/15 fanden Teile der »alten« und der »neuen« Friedensbewegung in Aktionen und einer eindrucksvollen Demonstration vor dem Bundespräsidialamt zusammen für »Friedenslogik statt Kriegsrhetorik«, so der Titel ihres Aufrufs.17 Er war breit angelegt, benannte geostrategische Interessen, die zu Kriegen führen, und ihre Folgen in Hunger, Armut und Flucht. Letztlich mobilisierend aber wirkte der Gedanke: »Der Weg der Konfrontation und der Gewalt, des Hasses und der Vernichtung muss überwunden werden – gerade als Lehre aus zwei Weltkriegen und Faschismus. (…) Kooperation statt Konfrontation! Wir treten ein für eine Politik der gemeinsamen Sicherheit, die auch Russland mit einbeziehen muss.«

Im Juni 2015 hatten sich namhafte Intellektuelle und Künstler vom Willy-Brandt-Kreis, unter ihnen Egon Bahr, Daniela Dahn, Dieter Klein, Rolf Reissig, Michael Schneider, Friedrich Schorlemmer oder Klaus Staeck, »Zum bedrohten Frieden – für einen neuen europäischen Umgang mit der Ukra­ine« zu Wort gemeldet18, und im Juni 2016 unterbreiteten sie in ihrer Erklärung »Der europäische Frieden ist in Gefahr« konkrete Schritte zur Deeskalation. Im Dezember 2016 erhoben Wissenschaftler, Künstler, Politikerinnen und Politiker aus Deutschland, Europa, den ­USA­ und anderen Ländern ihre Stimme, um der Forderung »Die Spirale der Gewalt beenden – für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik jetzt!« Gehör zu verschaffen.19 Aus Deutschland sind mit mehreren Tausend anderen dabei der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann, der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske, der Russland-Experte Christian Wipperfürth, der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, ehemalige Bundesminister wie Herta Däubler-Gmelin oder Björn Engholm sowie aktive und ehemalige Bundestagsabgeordnete aus den Parteien ­SPD­, ­LINKE­ und ­GRÜNE­. Diese Initiative ist auf Dauer und weltweite Vernetzung angelegt, aus den ­USA­ wird sie etwa unterstützt von den weltbekannten Intellektuellen Noam Chomsky, Stephen F. Cohen oder aus Schweden von dem Diplomaten Rolf Ekéus.

Das ist nur eine Auswahl der Appelle der letzten Jahre. Sie alle setzen eigene Akzente, zum Beispiel zur ­NATO­-Osterweiterung, sie haben unterschiedliche Schwerpunkte. Doch jeder einzelne und sie alle sind von der Überzeugung getragen, dass Differenzen mit Russland ausschließlich friedlich und mit diplomatischen Mitteln bearbeitet werden müssen und dass zugleich keines der europäischen Probleme ohne Russland gelöst werden könne. Wie im Einzelnen auch die Handlungen der russischen oder deutschen Regierung zu beurteilen sei, es müsse ein Ausstieg aus der Spirale von Eskalation und Gewalt gefunden werden; Zusammenarbeit statt Konfrontation, Vertrauensbildung, für eine europäische Sicherheitsordnung, Stärkung der internationalen Organisationen von ­UNO­ und ­OSZE­, Abrüstung.

Am meisten Aufmerksamkeit hat bislang wohl der Aufruf »Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!« gefunden, den der frühere Kanzlerberater Horst Teltschik (­CDU­), der ehemalige Verteidigungsstaatssekretär Walther Stützle (­SPD­) und die frühere Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (­GRÜNE­) im Dezember 2014 initiiert hatten. Seine gut 60 Erstunterzeichnerinnen und -unterzeichner repräsentieren ein breites Spektrum Prominenter wie Roman Herzog, der Alt-Bundespräsident von der ­CDU­, und Hans-Jochen Vogel, der alte Sozialdemokrat, Ex-Bischöfin Margot Käßmann, Benediktiner-Pater Anselm Grün und Alt-Kanzler Gerhard Schröder, Luitpold Prinz von Bayern, der Urenkel des letzten bayerischen Königs, und der Astronaut Sigmund Jähn, Schauspieler wie Mario Adorf und Klaus Maria Brandauer, Schriftsteller wie Christoph Hein, Regisseure wie Wim Wenders, ehemalige Innenminister wie Otto Schily von der ­SPD­ und Burkhard Hirsch von der ­FDP­. Gemeinsam richteten sie einen Appell an die Bundesregierung, Besonnenheit mit Russland walten zu lassen und eine neue Entspannungspolitik auf der Grundlage gleicher Sicherheit für alle einzuleiten; an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, aufmerksam »über die Friedenspflicht der Bundesregierung zu wachen«, und an die Medien, »ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher«.20

Diese mahnende Kritik mochten die sogenannten Leitmedien gar nicht, sie schlugen zurück.21 »Nicht der Westen bedroht Russland und den Frieden in Europa – Putin tut es«, meinte der damalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Ruprecht Polenz (­CDU­), in einem Gastbeitrag für Die Zeit klarstellen zu müssen.22 »Ein peinlicher Aufruf, der die Tatsachen auf den Kopf stellt«, belehrt in der Welt Karl Schlögel, Professor für osteuropäische Geschichte, die Greenhorns der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner.23 Der ­FAZ­-Redakteur Klaus-Dieter Frankenberger arbeitet sich an Gerhard Schröder ab und attestiert ihm »Gedächtnisschwund«24. In der Berliner Zeitung konstatiert Karl Doemens, Chefkorrespondent der DuMont Redaktionsgemeinschaft, mangelnde Gesprächsbemühungen könne man der Bundesregierung nun wirklich nicht vorwerfen. »Putins Antwort freilich bestand meist aus Waffen und Propaganda.«25 Dominic Johnson, Ressortleiter Ausland der taz, setzt am selben Tag noch einen drauf. Er spitzt das »meist« zu: Alles Ungemach hat seinen Ausgang in Russland. Es »hat sich ukrainisches Staatsgebiet einverleibt, unterstützt kriminelle Banden in der Ostukraine politisch und militärisch aktiv«. Dem Aufruf attestiert er abwechselnd einen »Bückling vor Putin« und einen »Kotau vor Putin«, allein für den schönen »Diener« hatte er keine Verwendung mehr.26 Die Süddeutsche Zeitung machte – damals noch – eine Ausnahme. Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion: »Der Aufruf ist ein Dokument der brennenden Sorge. Die Sorge ist berechtigt.«27

Dieses gesamte Spektrum an Positionen spiegelt sich auch im Bundestag. Die Kluft zwischen denjenigen, die ein gut nachbarschaftliches Verhältnis zu Russland anstreben, und den anderen, die es lieber feindlich mögen, ist mit der Dauer der Auseinandersetzung größer geworden.

Norbert Röttgen (­CDU­), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, und Marieluise Beck, Obfrau der ­GRÜNEN­ in diesem Gremium, bilden in der Russland-Frage den rechten Rand des Parlaments. Zunächst zu den ­GRÜNEN­: Ihr Umfeld in der Grünen Osteuropa-Plattform, der Heinrich-Böll-Stiftung, der taz, im Deutschlandfunk, an Osteuropa-Instituten einiger Universitäten bis hinein in die ­FDP­-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung hat einen Konter gegen den Aufruf »Nicht in unserem Namen« versucht. Vorgestellt als »Osteuropa-Experten«, haben über hundert Personen eine Petition zu »Friedenssicherung statt Expansionsbelohnung« gestartet. Erstunterzeichnende waren unter anderem Grüne Speerspitzen gegen Russland wie Marieluise Beck (MdB), Rebecca Harms (MdEP), Markus Meckel, Gerd Poppe und Werner Schulz (alle drei Ex-MdB aus Bündnis 90), auch die Deutschlandfunkkorrespondentin, damals in Warschau, Sabine Adler, der ehemalige ­ARD­-Korrespondent in Moskau, Klaus Bednarz, oder Hans-Georg Wieck, Botschafter a. D. in Moskau, Indien, bei der ­NATO­, Chef des ­BND­, Vertreter der ­OSZE­ in Minsk. Mit nicht einmal 2.500 Unterschriften endete die Petition zwar als Rohrkrepierer, die Medien aber hatten sie freundlich aufgenommen, wiederholten sie doch das, was der Mainstream schon damals von sich gab und bis heute beibehält. Deshalb lohnt ein Blick auf diese Petition.

Zuerst bescheinigen die »Osteuropa-Experten« den Initiatoren des Appells der Prominenten »nur geringe Expertise zum postsowjetischen Raum, wenig relevante Rechercheerfahrung und offenbar keine Spezialkenntnisse zur Ukra­ine sowie den jüngsten Ereignissen dort«. Das ist ein Witz und noch nicht einmal ein besonders origineller. Denn Experten wie die hier versammelten »Osteuropa-Experten« kommen gern als Fachleute daher, wenn sie doch nur ihre sehr spezielle Meinung als allgemeingültige Wahrheit verkaufen. Ihre erste These: Im Ukra­ine-Krieg »gibt es einen eindeutigen Aggressor«: Russland. Wenn der »eindeutige Aggressor« ernstgemeint ist, dann ist Ex-General Harald Kujat vielleicht doch der bessere Experte für Militärisches. Er ist ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des ­NATO­-Militärausschusses. »Wenn Russland wollte, wäre der Konflikt im Osten der Ukra­ine binnen 48 Stunden beendet – in Putins Sinne«, so die Quintessenz seiner Analyse des militärischen Kräfteverhältnisses in Mitteleuropa.28

Danach richten die »Osteuropa-Experten« eine Warnung an die Politik: »Frühere Erfahrungen sollten Berlin vorsichtig machen: Im Sommer 2008 entstand im Kaukasus eine ähnlich ›verfahrene Situation‹ infolge Russlands faktischer Kündigung des EU-vermittelten russisch-georgischen Friedensabkommens.« Das sieht die seitens der EU initiierte »Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia« ganz anders. Ein Verstoß gegen internationales Recht sei vielmehr der georgische Angriff auf die in Südossetien stationierten Friedenstruppen gewesen. Die ­UNO­ hatte der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (­GUS­)den Auftrag erteilt, mit eigenen Truppen für Stabilität in diesem Raum zu sorgen. Der seinerzeitige georgische Präsident Saakaschwili hingegen hatte für diesen Kaukasus-Krieg Rückendeckung aus der Bush-Administration, vor allem von Vizepräsident Cheney. Als unverhältnismäßig bezeichnete die International Fact-Finding Mission allein, dass die ­GUS­-Truppen, sie bestanden überwiegend aus russischen Soldaten, bei der Abwehr des Angriffs über Südossetien hinaus auf georgisches Gebiet vordrangen, aus dem sie sich nach fünf Tagen wieder zurückgezogen hatten.