Diablo - Der dunkle Pfad - Mel Odom - E-Book

Diablo - Der dunkle Pfad E-Book

Mel Odom

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Beschreibung

Seit Anbeginn der Zeit führen die geflügelten Streiter der himmlischen Sphären und die Dämonenhorden der Brennenden Höllen einen erbitterten Kampf um das Schicksal der Schöpfung. Dieser infernale Konflikt hat sich nun auf die Ebene der Sterblichen verlagert und weder Mensch noch Dämon noch Engel werden sich dieser Schlacht entziehen können ... DIABLO Darrick Lang ist Marineoffizier des Königs von Westmarch. Eine blutrünstige Piratenbande macht die Küsten des Landes unsicher und scheint immer genau zu wissen, wann und wo es die größten Schätze zu erbeuten gibt. Als die Piraten den Neffen des Königs kidnappen, erhält Darrick den Befehl, die Geisel zu befreien. Doch tief unter dem Schlupfloch der Seeräuber lauert das absolut Böse in Form des Dämonen Kabraxis, der nur darauf wartet, in die Welt der Sterblichen zu gelangen, um dort ein Königreich des Dunklen Pfads zu errichten. Willige Diener ebnen der Ausgeburt der Brennenden Höllen bereits den Weg. Als Darrick den Piraten eine vernichtende Niederlage beibringt, ahnt er noch nicht, dass sich die Pforten der Finsternis weit für ihn geöffnet haben ... DER DUNKLE PFAD Ein spannender Roman aus der Welt der Magie, der finsteren Mächte und der epischen Schlachten zwischen Gut und Böse! Basierend auf dem preisgekrönten Videogame-Bestseller von Blizzard Entertainment.

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AUSERDEM VON PANINI ERHÄLTLICH:

DIABLO: Das Vermächtnis des Blutes

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3896-3

DIABLO: Der Dunkle Pfad

Mel Odom, ISBN 978-3-8332-3897-0

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DIABLO: Der Mond der Spinne

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3947-2

THE ART OF DIABLO

Großformat im Hardcover, ISBN 978-3-8332-3835-2

Weitere Titel und Infos unter www.paninishop.de

Der dunkle Pfad

Mel Odom

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „DIABLO: The Black Road“ von Mel Odom, erschienen bei Simon and Schuster, Inc., 2002.

Copyright © 2020 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstraße 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Ralph Sander

Lektorat: Manfred Weinland

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDDITP002E

ISBN 978-3-7367-9900-4

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-3897-0

1. Auflage, April 2020

Findet uns im Netz:

www.paninibooks.de

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EINS

Darrick Lang zog am Ruder, während er die von der Nacht umhüllten Klippen absuchte, die den Fluss Dyre zu beiden Seiten säumten. Er hoffte, dass die Piraten sie noch nicht entdeckt hatten. Sicher würde er dies jedoch erst wissen, wenn ein Angriff der Freibeuter erfolgte – und diese waren berüchtigt dafür, wenig zimperlich mit Angehörigen der Marine von Westmarch umzuspringen. Vor allem mit solchen, die sie auf Befehl des Königs von Westmarch jagten. Der Gedanke, in ihre Gewalt zu geraten, war dementsprechend alles andere als erfreulich.

Obwohl sich die Barkasse gegen die sanfte Strömung bewegte, durchschnitt ihr Bug das Wasser so glatt, dass es kaum merklich gegen den niedrigen Rumpf schwappte. Die Wachtposten, die entlang der Klippen zu beiden Uferseiten positioniert waren, hätten sofort Alarm geschlagen, wenn sie die Barkasse bemerkt hätten. Dann wäre die Hölle losgebrochen. Sollte es dazu kommen, würde es – dessen war sich Darrick sicher – keiner von ihnen zurück zur Lonesome Star schaffen, die draußen im Golf von Westmarch ankerte. Kapitän Tollifer, Herr über das Schiff, war einer der fähigsten Strategen von ganz Westmarch und unmittelbar dem König unterstellt. Er würde in See stechen, auch wenn Darricks Trupp nicht, wie vereinbart, bis zum Morgengrauen zurückkehrte.

Darrick beugte sich nach vorn, um das Ruder aus dem Wasser zu ziehen. Dann sagte er leise: „Ruhig, Männer, ganz ruhig. Nur weiter so, dann schaffen wir es. Wir sind hier wieder weg, bevor die Piraten überhaupt begreifen, dass wir bei ihnen waren.“

„Ja, falls uns das Glück gewogen bleibt“, flüsterte Mat Hu-Ring.

„Ich vertraue darauf“, erwiderte Darrick. „Ich habe noch nie etwas gegen Glück einzuwenden gehabt, und so wie es aussieht, hast du davon mehr als genug für uns alle.“

„Du hast dich doch noch nie aufs Glück verlassen“, warf Mat ein.

„Nein, das stimmt – verlassen nicht“, stimmte Darrick ihm zu und fühlte sich trotz der Gefahr, die auf sie lauerte, angenehm verwegen. „Aber ich habe auch nichts dagegen es auszusetzen – und vergesse nie Freunde, denen es treu ist.“

„Hast du mich deswegen auf dieses ‚kleine Abenteuer‘ mitgenommen?“

„Aye. Aber wenn ich mich nicht irre, habe ich dir beim letzten Mal das Leben gerettet. Ich würde also sagen, ich habe bei dir noch etwas gut.“

Mat grinste. Trotz der Finsternis schimmerte das Weiß seiner Zähne. Genau wie Darrick hatte er sein Gesicht, das von Natur aus schon nussbraun war, rußgeschwärzt, um mit der Nacht zu verschmelzen. Darricks Haut war bronzefarben. Sein Haar war rötlich, das von Mat schwarz.

„Hm, aber heute Nacht willst du das Glück ernsthaft auf die Probe stellen, nicht wahr, alter Freund?“, fragte Mat.

„Der Nebel hält an.“ Darrick wies mit einer Kopfbewegung auf die wallenden Schwaden, die silbergrau über dem Fluss trieben. Wind und Wasser arbeiteten heute Nacht Hand in Hand, und der Nebel dräute langsam in Richtung Meer. Auf Grund dieses Nebels wirkte die Strecke, die sie zu überwinden hatten, noch gewaltiger. „Vielleicht können wir uns noch mehr auf das Wetter als auf dein Glück verlassen.“

„Und wenn ihr noch länger so weiterquasselt“, mischte sich Maldrin mit schroffer Stimme ein, „werden euch vielleicht die Wachen da oben hören, die nicht weggenickt sind. Und dann werden sie ein paar von den Abwehrschlägen eröffnen, die dieses verdammte Piratengesindel stets vorbereitet hält. Ihr wisst, dass euer Gequatsche über Wasser weiter getragen wird als an Land!“

„Aye“, pflichtete Darrick ihm bei. „Und ich weiß auch, dass unser ‚Gequatsche‘ nicht von hier unten bis nach oben zu den Klippen getragen wird. Die Wachen befinden sich gut und gerne vierzig Fuß über uns.“

„Dämlicher Outlander aus Hillsfar“, knurrte Maldrin. „Du bist noch viel zu rotznasig und zu feucht hinter den Ohren, um so einen Auftrag zu erledigen. Wenn du mich fragst, dann ist der alte Kapitän Tollifer nicht mehr ganz bei Trost!“

„Und genau das ist der Punkt, Schiffsmaat Maldrin“, sagte Darrick. „Niemand hat dich verdammt noch mal gefragt!“

Ein paar andere Männer an Bord der Barkasse lachten über den alten Maat. Auch wenn Maldrin den Ruf eines grimmigen Seemanns und Kriegers hatte, betrachteten die jüngeren Mitglieder der Besatzung ihn eher als Glucke und Schwarzmaler.

Der Erste Maat war ein kleiner Mann, doch seine Schultern waren fast so breit wie der Griff einer Axt lang war. Seinen grau melierten Bart hielt er immer kurz geschnitten. Zwar hatte er eine hufeisenförmige kahle Stelle auf dem Kopf, doch ansonsten war sein Haar so voll und lang, dass er es zu einem Zopf geflochten hatte. Nebelnässe glitzerte auf der mit Teer bestrichenen Hose und durchtränkte das dunkle Hemd.

Darrick und die anderen Männer auf der Barkasse waren ähnlich gekleidet. Sie alle hatten ihre Klingen in Fetzen aus Segeltuch gewickelt, so dass sie vor Wasser geschützt waren und der Mondschein nicht von ihnen reflektiert werden konnte. Der Dyre führte zwar Süßwasser und enthielt kein aggressives Salz, doch die Gewohnheit war den Angehörigen der Königlichen Marine in Fleisch und Blut übergegangen.

„Arroganter Jüngling“, murrte Maldrin.

„Ach ja, und genau deshalb liebst du mich, auch wenn du es nicht so richtig zeigen kannst, Maldrin“, spöttelte Darrick. „Wenn du glaubst, in übler Gesellschaft zu sein, dann überleg mal, wie es dir wohl erginge, wenn ich dich auf der Lonesome Star zurückgelassen hätte. Ich sage dir, Mann, ich halte dich für unfähig, eine Nacht lang Armdrücken mit der Mannschaft durchzustehen. Ist das nun der Dank, dass ich dir das erspart habe?“

„Die Sache hier wird nicht halb so einfach werden, wie du es dir offenbar vorstellst“, erwiderte Maldrin.

„Und worüber müssen wir uns Sorgen machen, Maldrin? Über ein paar Piraten?“ Darrick zog sein Ruder an sich. Dabei achtete er darauf, dass sämtliche Mitrudernde im gleichen Takt arbeiteten. Sein Blatt tauchte wieder in den Fluss ein, und er zog kraftvoll. Das Boot durchpflügte das Wasser und kam zügig voran. Vor einer Viertelmeile hatten sie das Lagerfeuer des ersten Wachpostens entdeckt. Der Hafen, den sie suchten, lag nun nicht mehr allzu weit entfernt.

„Das sind nicht nur einfache Piraten“, erwiderte Maldrin.

„Nein“, meinte Darrick. „Da muss ich dir zustimmen. Diese Piraten hier sind diejenigen, zu denen Kapitän Tollifer uns geschickt hat, um ihnen ein wenig Ärger zu machen. Nach diesem klaren Befehl wäre es mir regelrecht unangenehm, wenn du denkst, ich würde mich mit irgendwelchen Piraten zufrieden geben.“

„Mir auch“, warf Mat ein. „Ich bin inzwischen richtig wählerisch geworden, wenn es darum geht, gegen Piraten zu kämpfen.“

Einige der anderen Männer stimmten ebenfalls zu und lachten gedämpft.

Darrick fiel auf, dass niemand auch nur mit einem Wort den Jungen erwähnte, den die Piraten entführt hatten. Da dessen Leichnam am Schauplatz des letzten Angriffs nirgends gefunden worden war, waren sie zu der Überzeugung gelangt, dass man ihn verschleppt hatte, um ein fettes Lösegeld zu erpressen.

Der Gedanke an den Jungen wirkte ernüchternd.

Maldrin schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder aufs Rudern. „Oh, du bist ein verdammtes Ärgernis, Darrick Lang. Das schwöre ich bei allem, was aus Licht und heilig ist. Aber wenn es einen Mann auf Kapitän Tollifers Schiff gibt, der das hier durchziehen kann, dann wohl du.“

„Das klingt schon verteufelt besser. Ich würde meinen Hut vor dir ziehen, Maldrin, wenn ich einen hätte“, versetzte Darrick grinsend.

„Sieh einfach zu, dass du den Kopf auf den Schultern behältst“, brummte Maldrin.

„Allerdings“, gab Darrick zurück. „Das habe ich vor.“ Er veränderte ein wenig den Griff um sein Ruderholz. „Also Männer, ziehen! So lange der Fluss noch ruhig ist und der Nebel uns umgibt.“ Sein Blick wanderte hinauf zu den Bergen, und er wusste, dass sich ein wilder Teil seines Ichs auf den bevorstehenden Kampf freute.

Die Piraten würden den Jungen nicht kampflos herausgeben. Und außerdem verlangte Kapitän Tollifer einen Blutzoll – im Namen des Königs von Westmarch.

„Verdammte Nebelsuppe!“, fluchte Raithen aus vollem Herzen.

Die ungestüme Art des Piratenkapitäns riss Buyard Cholik aus seinen Gedanken. Der alte Priester zwinkerte ein paar Mal, um gegen die Müdigkeit anzukämpfen, die ihn fest im Griff hielt. Dann sah er hinüber zu dem stämmigen Mann, der vom Schein der Fackeln, die hier im Inneren des Gebäudes brannten, eingerahmt wurde. „Was ist los, Käpt’n?“

Raithen stand reglos wie ein Fels an der steinernen Balustrade des Bauwerks. Es überragte die Ruinen der kleinen Hafenstadt, in der sie sich seit Monaten einquartiert hatten. Der Kapitän zupfte an dem Ziegenbärtchen, der sein kantiges Kinn bedeckte, und strich gedankenverloren über die hässliche Narbe an seinem rechten Mundwinkel, die seiner Miene etwas permanent Gehässiges verlieh.

„Der Nebel. Man kann kaum den Fluss sehen.“ Der fahle Mondschein glitzerte schwach auf dem schwarzen Kettenhemd, das Raithen über einem grünen Hemd trug. Der Kapitän war immer makellos gekleidet, selbst zu dieser frühen Morgenstunde. Oder zur späten Nacht, berichtigte sich Cholik, der nicht wusste, welche Auslegungsart für den Anführer der Piraten eher zutraf.

Raithen hatte die schwarze Hose sorgfältig in seine Stulpenstiefel geschoben. „Und ich glaube auch immer noch, dass wir auf unserem letzten ‚Ausflug‘ nicht unbeobachtet davongekommen sind.“

„Der Nebel erschwert auch die Navigation auf dem Fluss“, gab Cholik zu bedenken.

„Für Euch vielleicht“, erwiderte Raithen. „Aber für einen Mann, der die Tücken der See gewohnt ist, stellt der Fluss eine harmlose Herausforderung dar.“ Er zupfte wieder an seinem Bart, während sein Blick hinaus aufs Meer wanderte. Dann nickte er. „Wenn ich es entscheiden müsste, würde ich heute Nacht einen Angriff auf uns wagen.“

„Ihr seid ein abergläubischer Mann“, sagte Cholik und konnte nicht umhin, eine gewisse Verachtung in seinen Worten mitklingen zu lassen. Er schlang seine Arme eng um sich. Anders als Raithen war Cholik so dünn, dass er schon ausgemergelt wirkte. Die unerwartet kühle Nachtluft, die das Nahen des Winters ankündigte, hatte ihn überrascht, und er hatte sich nicht entsprechend wappnen können. Er war auch nicht mehr so jung wie der Kapitän, um es mühelos wegzustecken. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Wind geradewegs durch den Stoff seiner schwarz und scharlachrot gefärbten Gewänder drang.

Raithen warf Cholik einen Blick zu. Seine Miene hatte sich ein wenig verfinstert, als stünde er im Begriff, die Feststellung als Beleidigung aufzufassen.

„Macht Euch nicht die Mühe, mit mir zu streiten“, wies Cholik ihn an. „Ich kenne Eure Neigung dazu. Glaubt mir, ich nehme sie Euch nicht übel. Aber ich habe mich entschieden, an die Dinge zu glauben, die mir stärkeren Trost schenken als purer Aberglaube.“

Raithen verzog missbilligend das Gesicht. Es war kein Geheimnis, dass es ihm nicht gefiel und ihn misstrauisch machte, was Choliks Messgehilfen in jener Region gefunden hatten, die unter der verlassenen Hafenstadt begraben lag. Die Stelle befand sich weit im Norden von Westmarch – und damit weit außer Reichweite des Königs. So verlassen, wie hier alles war, hatte Cholik eigentlich erwartet, dass dies den Piratenkapitän zufrieden stimmen würde. Doch der Priester hatte dabei nicht an die zahlreichen Annehmlichkeiten der Zivilisation gedacht, die den Piraten zur Verfügung standen, wenn sie in einen Hafen einliefen, wo man sie nicht kannte – oder einfach nicht kennen wollte, weil sie ihr Gold und Silber genauso schnell wie alle anderen verprassten. Die Trinkgelage und sonstigen Ausschweifungen blieben den Piraten hier jedoch verwehrt.

„Keine Eurer Wachen hat Alarm geschlagen“, fuhr Cholik fort. „Und ich nehme an, sie haben sich auch vollzählig gemeldet.“

„Ja, das haben sie“, bestätigte Raithen. „Dennoch bin ich mir sicher, dass ich die Segel eines anderen Schiffs in unserem Kielwasser gesehen habe, als wir heute Nachmittag den Fluss hinaufsegelten.“

„Ihr hättet der Sache sofort nachgehen müssen.“

„Das bin ich.“ Raithen kniff die Augen zusammen. „Das bin ich, aber ich habe nichts gefunden.“

„Na also. Seht Ihr? Es besteht kein Grund zur Sorge.“

Raithen warf Cholik einen wissenden Blick zu. „Ihr lohnt es mir mit Eurem Gold, dass ich mir Sorgen mache.“

„Richtig, aber Ihr sollt mich auch nicht beunruhigen.“

Trotz seiner finsteren Laune umspielte Raithens Lippen ein flüchtiges Lächeln. „Für einen Priester der Kirche von Zakarum, die von sich behauptet, dem Weg der Sanftmut zu folgen, habt Ihr eine erstaunlich schroffe Art, was die Wahl Eurer Worte angeht.“

„Nur, wenn diese Schroffheit auch verdient ist.“

Raithen verschränkte die Arme vor der breiten Brust, lehnte sich nach hinten gegen die Mauer und lachte leise. „Ihr fasziniert mich, Cholik. Als wir uns vor vielen Monaten kennen lernten und Ihr mir sagtet, was Ihr vorhabt, da habe ich Euch für einen Wahnsinnigen gehalten.“

„Die Legende einer Stadt, die unter einer anderen Stadt liegt, hat nichts mit Wahnsinn zu tun“, sagte Cholik. Die Dinge jedoch, die er hatte tun müssen, um in den Besitz der heiligen, fast vergessenen Texte von Dumal Lunnash zu gelangen – eines Vizjerei-Magiers, der vor Tausenden von Jahren Augenzeuge des Todes von Jere Harash geworden war –, hatten ihn nahezu in den Wahnsinn getrieben.

Vor Jahrtausenden war Jere Harash ein junger Altardiener der Vizjerei gewesen; er hatte die Macht entdeckt, um die Geister von Toten zu kontrollieren. Der Junge hatte behauptet, zu diesem Wissen in einem Traum gelangt zu sein, und es gab keinen Zweifel an den neuen Fähigkeiten, die Jere Harash von da an besaß. Seine Macht wurde legendär. Der Junge entwickelte die Gabe, Toten sämtliche Energie zu entziehen, zur Vollendung – was ihn mit einer Macht ausstattete wie kaum einen Sterblichen davor. Die Folge dieser Wissenserweiterung war, dass die Vizjerei – die vor Tausenden von Jahren einen der drei Hauptclans auf der Welt bildeten – fortan als der Clan der Geister bekannt wurden.

Dumal Lunnash war Historiker gewesen – und einer der Männer, die Jere Harashs letzten Versuch, die Welt der Geister vollständig in seine Gewalt zu bringen, überlebt hatten. Nachdem der vermessene junge Mann die Trance erreicht hatte, die erforderlich war, um alle Konzentration in die Zauber zu legen, die er wirkte, hatte ein Geist Besitz von seinem Körper ergriffen und sich auf einen blutigen Feldzug begeben. Später waren die Vizjerei dahintergekommen, dass die Geister, die sie gerufen und ungewollt entfesselt hatten, in Wahrheit Dämonen waren, die den Brennenden Höllen entstammten.

Als ein Chronist des Wirkens der Vizjerei war Dumal Lunnash von den meisten verkannt worden, doch es waren seine Texte gewesen, die Cholik auf eine makabre und wirre Spur geführt hatten, die schließlich in der Einsamkeit der vergessenen Stadt am Dyre endete.

„Nein“, sagte Raithen. „Derartige Legenden finden sich überall. Ich selbst bin einigen nachgegangen, doch ich habe nie erlebt, dass sie sich auf einen greifbar wahren Kern zurückverfolgen ließen.“

„Dann verwundert es mich, dass Ihr überhaupt mitgekommen seid“, gab Cholik zurück. Dies war genau die Unterhaltung, die sie beide seit Monaten zu vermeiden versuchten. Umso überraschter war er, dass sie jetzt stattfand, wenn auch nur auf einem Umweg.

Anhand der in der vergangenen Woche entdeckten Zeichen – Raithen und seine Piraten hatten sich zu diesem Zeitpunkt anderswo aufgehalten, um zu plündern, zu brandschatzen oder was immer sie getan haben mochten – war Cholik klar geworden, dass sie kurz davor standen, das bedeutendste Geheimnis der toten Stadt zu enthüllen.

„Es war Euer Gold“, räumte Raithen ein, „das mich überzeugt hat. Und nun, da ich wieder zurück bin, sehe ich, welche Fortschritte Eure Leute gemacht haben.“

Ein bittersüßes Gefühl erfüllte Cholik. Obwohl er froh darüber war, den Piratenkapitän doch noch überzeugt zu haben, wusste der Priester zugleich auch, dass Raithen bereits darüber nachdachte, welche Möglichkeiten der erhoffte Schatz ihm eröffnen könnte. Vielleicht würden er oder seine Leute in ihrem ahnungslosen Eifer sogar das beschädigen, um dessentwillen Cholik und seine Untergebenen hierher gekommen waren.

„Was glaubt Ihr, wann Ihr finden werdet, wonach Ihr sucht?“, fragte Raithen.

„Bald“, erwiderte Cholik.

Der hünenhafte Pirat zuckte mit den Schultern. „Es könnte für mich hilfreich sein, eine ungefähre Vorstellung davon zu haben, was Ihr unter ‚bald‘ versteht. Wenn uns heute jemand gefolgt sein sollte …“

„Wenn Euch heute jemand gefolgt ist“, griff Cholik verärgert den Faden auf, „wäre das allein Euer Fehler!“

Raithen lächelte Cholik voller Gerissenheit an. „Wäre es das?“

„Ihr werdet von der Marine wegen Verbrechen gegen den König gesucht“, sagte Cholik. „Wenn man Euch findet und dingfest macht, wird man Euch im Diamantenviertel am Galgen aufknüpfen.“

„Wie einen gewöhnlichen Dieb?“ Raithen hob eine Augenbraue. „Aye, vielleicht werde ich wie ein loses Segel am Galgen baumeln. Aber glaubt Ihr nicht auch, dass der König sich eine besondere Bestrafung für einen Priester der Kirche von Zakarum ausdenken wird, der sein Vertrauen missbraucht und den Piraten verraten hat, auf welchen Schiffen sein Gold durch den Golf von Westmarch und über die Große See transportiert wird?“

Raithens Worte missfielen Cholik. Der Erzengel Yaerius hatte einen jungen Asketen namens Akarat dazu überredet, eine Religion zu gründen, die dem Licht gewidmet war. Eine Zeit lang war die Kirche von Zakarum genau das gewesen, doch über die Jahre hinweg und durch die Kriege hindurch hatte sie sich verändert. Nur wenige Sterbliche – ausgenommen solche, die zum innersten Zirkel der Kirche von Zakarum gehörten – wussten, dass die Kirche inzwischen von Dämonen unterwandert und ein Werkzeug des im Verborgenen wirkenden Bösen geworden war. Die Kirche von Zakarum hing auch eng mit Westmarch und Tristram zusammen, der Macht hinter der Macht der Könige. Indem Cholik verraten hatte, welche Schiffe Schätze an Bord hatten, waren die Piraten sogar in die Lage versetzt worden, die Kirche von Zakarum zu bestehlen, deren Priester noch rachsüchtiger waren als der König selbst.

Cholik wandte sich von dem größeren Mann ab und ging auf dem Balkon hin und her, um sich ein wenig aufzuwärmen. Ich wusste, dass es einmal so weit kommen würde, dachte er. Es war zu erwarten. Er atmete lange und bedächtig aus und ließ Raithen für den Moment glauben, dass dieser ihn in der Hand hatte. In seinen vielen Jahren als Priester war Cholik zu der Erkenntnis gekommen, dass manche Männer oft unglaubliche Fehler begingen, wenn man ihre Intelligenz und ihre Macht lobte.

Cholik wusste, was echte Macht war, und das war der Grund dafür, dass er nach Tauruk’s Port gekommen war und begonnen hatte, nach der vor langer Zeit begrabenen Stadt Ransim zu suchen. Sie war im Jahrhunderte dauernden Sündenkrieg untergegangen, während das Chaos mit Bedacht, aber auch mit großer Grausamkeit gegen das Licht gekämpft hatte. Dieser Krieg hatte sich vor langer Zeit im Osten abgespielt, lange bevor Westmarch zivilisiert worden war und an Macht gewonnen hatte. Viele Städte und Dörfer waren in dieser Zeit begraben worden, doch die meisten von ihnen hatte man zuvor noch geplündert. Ransim jedoch war größtenteils vom Sündenkrieg verschont geblieben. Die Bevölkerung wusste, bis auf die Tatsache, dass Schlachten stattgefunden hatten, nichts über den damaligen Krieg. Auf keinen Fall wusste sie, dass sich Chaos-Dämonen und Lichtmächte bekämpft hatten. Ransim war unbehelligt geblieben. Die Hafenstadt war ein Rätsel, das nicht hätte existieren dürfen. Doch einige Magier des Ostens hatten diesen Ort ausgewählt, um dort zu arbeiten und sich zu verstecken, und sie hatten ihre Geheimnisse zurückgelassen. Dumal Lunnashs Texte waren die einzige Quelle, in der Cholik etwas über die Lage von Ransim hatte finden können. Doch selbst diese Lektüre hatte zunächst die mühselige Aufgabe bedeutet, Informationen über den einstigen Standort zusammentragen zu müssen – Hinweise, die unter sorgfältig erdachten Lügen und Halbwahrheiten verborgen lagen.

„Was wollt Ihr wissen, Kapitän?“, fragte Cholik.

„Was Ihr hier sucht“, erwiderte Raithen ohne nachzudenken.

„Ihr meint, ob es sich um Gold und Edelsteine handelt?“

„Wenn ich an Schätze denke“, antwortete der Pirat, „sind das genau die Dinge, die ich damit verbinde.“

Cholik schüttelte den Kopf. Er war erstaunt, wie engstirnig sein Gegenüber sein konnte. Reichtum war eine so bedeutungslose Sache, viel bedeutungsloser als Macht – die wahre Belohnung, auf die es der Priester abgesehen hatte.

„Was ist?“, brauste Raithen. „Seid Ihr Euch zu fein, um auf Gold und Edelsteine zu hoffen? Für einen Mann, der die Schätze seines Königs verrät, habt ihr merkwürdige Vorstellungen.“

„Materieller Reichtum ist vergänglich“, sagte Cholik. „Er ist begrenzt. Und oft ist er schon wieder geschwunden, ehe man sich versieht.“

„Ich lege immer etwas für schlechtere Zeiten zurück.“

Cholik sah zum mit Sternen übersäten Himmel empor. „Die Menschen sind für den Himmel eine nutzlose Peinlichkeit, Kapitän Raithen. Ein unvollkommenes Werkzeug, das schon genauso unvollkommen geschaffen wurde. Wir spielen mit dem Gedanken, allmächtig zu sein, wir wissen, dass wir dieses Potential möglicherweise besitzen – dass es uns aber immer versagt bleiben wird.“

„Wir reden hier nicht über Gold und Geschmeide – ihr hofft etwas anderes zu finden, nicht wahr?“ Raithen klang fast so, als fühlte er sich verraten.

„Die von Euch ersehnten Schätze könnten hier zu finden sein“, entgegnete Cholik. „Aber ihretwegen sind wir nicht hergekommen, das stimmt.“ Er drehte sich um und sah den Piratenkapitän an. „Ich bin dem Geruch der Macht gefolgt, Kapitän Raithen. Und ich habe den König von Westmarch und die Kirche von Zakarum hintergangen, um Euer Schiff für meine Zwecke einspannen zu können.“

„Macht?“ Raithen schüttelte ungläubig den Kopf. „Gebt mir eine Klinge aus rasiermesserscharfem Stahl, dann zeige ich Euch, was ich unter Macht verstehe.“

Cholik machte eine wütende Geste in Richtung des Piratenkapitäns. Der Priester sah Wellen aus schwach schimmernder Energie seiner ausgestreckten Hand entweichen und auf Raithen zu jagen. Die Wellen legten sich wie ein stählernes Band um den Hals des Hünen und schnürten ihm die Luft ab. Anschließend sorgte Cholik dafür, dass der Kapitän von den Beinen gerissen wurde und zu Boden ging. Kein Priester verfügte über solche Kräfte, und es war an der Zeit, dem Piraten klar zu machen, dass er es mit keinem einfachen Priester zu tun hatte. Das war er längst nicht mehr – und würde es nie mehr sein.

„Land!“, krächzte jemand vom Bug der Barkasse und achtete darauf, dass seine Stimme tief genug gesenkt war, um nicht allzu weit getragen zu werden.

„Ruder einholen, Männer!“, befahl Darrick und zog sein eigenes aus dem Wasser. Sein Puls schlug jetzt so heftig, dass er in den Schläfen pochte. Darrick richtete sich auf und betrachtete den Gebirgszug, der sich vor ihnen erstreckte.

Die Ruder wurden synchron hochgenommen und dann in der Mitte der Barkasse abgelegt.

„Heck!“, rief Darrick gedämpft, als er die schwachen Lichtkreise entdeckte, die von nahen Laternen oder Feuern rührten.

„Sir?“, erwiderte Fallan vom Heck der Barkasse aus.

Nun, da die Ruder eingeholt worden waren, glitt das Boot nicht länger durch das Wasser, sondern wurde von der Strömung erfasst, die es mit sich zu ziehen versuchte.

„Bring uns an Land“, wies Darrick Fallan an, „und dann wollen wir doch mal sehen, was es mit diesen verdammten Piraten auf sich hat, die sich das Gold des Königs unter den Nagel reißen. Lass uns an einer günstigen Stelle anlegen.“

„Aye, Sir.“ Fallan benutzte das Steuerruder und brachte die Barkasse in einen Winkel, der sie zum linken Flussufer bringen würde.

Die Strömung nahm das Boot ein Stück weit mit sich zurück, doch Darrick wusste, dass sie nur wenig abgetrieben würden. Was zählte, war eine Stelle zu finden, an der sie ihr Fahrzeug sicher vertäuen und so den Auftrag erledigen konnten, den ihnen Kapitän Tollifer mit auf den Weg gegeben hatte.

„Hier!“, rief Maldrin und zeigte zum Ufer. Trotz seines Alters hatte der alte Erste Maat noch mit die besten Augen an Bord der Lonesome Star. Selbst bei Nacht vermochte er scharf zu sehen.

Darrick spähte durch den Nebel und entdeckte nun auch das schroffe Ufer. Es wirkte regelrecht herausgebissen – als hätte eine gigantische Axt es aus den Klippen, die in die Hawk’s Beak Mountains übergingen, herausgeschlagen.

„Das nenne ich eine äußerst ungünstige Lage“, kommentierte Darrick.

„Nicht, wenn man eine Bergziege ist“, gab Mat zurück.

„Nicht mal eine verdammte Bergziege würde da hinaufklettern wollen“, konterte Darrick und betrachtete den steilen Aufstieg, der vor ihnen lag.

Maldrin begutachtete die Klippe mit zusammengekniffenen Augen. „Wenn wir da hoch wollen, steht uns eine beschwerliche Kletterpartie bevor.“

„Sir“, rief Fallan vom Heck, „was soll ich machen?“

„Lass uns dort anlegen, Fallan“, entschied Darrick. „Wir werden es mit dieser Route versuchen.“ Er lächelte. „So mühselig der Weg auch sein mag, können wir doch wenigstens davon ausgehen, dass die Piraten nicht damit rechnen, von dort aus angegriffen zu werden. Nach dem bisherigen Verlauf der Nacht vertraue ich darauf, dass wir auch weiterhin das Glück auf unserer Seite haben werden.“

Geschickt steuerte Fallan die Barkasse zum Ufer.

„Tomas“, entschied Darrick. „Wir müssen Anker werfen, und zwar schnell.“

Der muskulöse Matrose hob den Steinanker auf und wuchtete ihn an Land. Der immens schwere Stein schaffte es aber nicht ganz bis zum Ufer, sondern klatschte ins flache Wasser. Der Anker zog über den Grund des Flusses.

„Darunter ist Fels“, flüsterte Tomas, als das Seil in seinen Händen ruckte.

„Dann wollen wir hoffen, dass du irgendwo Halt findest“, erwiderte Darrick. Er trat in der Barkasse unruhig von einem Fuß auf den anderen, erpicht darauf, sich endlich der riskanten Anstrengung zu widmen, die erst noch vor ihnen lag. Je eher sie sie bewältigten, desto schneller konnten sie wieder zur Lonesome Star zurückkehren.

„Wir entfernen uns vom Ufer“, bemerkte Maldrin, als sie weiter flussabwärts getrieben wurden.

„Könnte sein, dass wir die Nacht mit einem kurzen Bad begrüßen müssen“, erwiderte Mat.

„In dem Wasser holt sich auch ein hartgesottener Mann den Kältetod“, schimpfte Maldrin.

„Vielleicht erledigen das spätestens die Piraten. Aber das hat auch eine gute Seite. So bleibt dir wenigstens erspart, dass du deine Koje vor Altersschwäche nicht mehr verlassen kannst“, grinste Mat. „Ich bin sicher, dass sie ihre Beute nicht einfach hergeben werden, selbst wenn wir noch so höflich darum bitten.“

Darrick spürte ein Ziehen in seiner Magengegend. Die „Beute“ der Piraten war der Hauptgrund, warum Kapitän Tollifer Darrick und die anderen flussaufwärts geschickt hatte, anstatt mit der Lonesome Star selbst vorzustoßen.

Die Piraten, die den königlichen Schiffen vor Westmarch auflauerten, hatten es sich seit langem zum Prinzip gemacht, kein Besatzungsmitglied am Leben zu lassen. Diesmal aber hatten sie einen Seidenhändler aus Lut Gholein verschont, der sich an ein aus dem Schiff herausgebrochenes Deckstück hatte klammern müssen, das gerade groß genug war, um als behelfsmäßiges Floß zu dienen. Dann war er angewiesen worden, dem König mitzuteilen, dass sie einen seiner Neffen in ihrer Gewalt hatten. Darrick wusste, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis die Lösegeldforderung folgte.

Es würde die erste Kontaktaufnahme der Piraten mit Westmarch sein. Obwohl sie seit Monaten immer wieder erfolgreiche Angriffe gegen Handelsschiffe unternahmen, wusste noch immer niemand, woher sie ihre genauen Informationen über Goldlieferungen hatten. Dass sie nur den Mann aus Lut Gholein hatten davonkommen lassen, legte den Schluss nahe, dass sie deshalb niemanden aus Westmarch entkommen ließen, weil sie von einem dort Lebenden hätten identifiziert werden können.

Der Anker kratzte weiter über den Grund des Flussbetts und ließ die Erfolgsaussichten Zoll für Zoll schwinden. Das Wasser und das Gurgeln der Strömung übertönten das damit verbundene Geräusch. Dann blieb der Anker doch noch hängen, und das Seil straffte sich in Tomas’ Händen, als er fest zupackte. Die Barkasse stoppte, auch wenn sie sich weiter in der Strömung bewegte.

Darrick blickte zum etwas mehr als sechs Fuß entfernten Ufer. „Nun, wir werden uns damit zufrieden geben müssen, Männer.“ Er sah Tomas an. „Wie tief ist das Wasser?“

Tomas überprüfte die Knoten des Seils, während die Barkasse unentwegt am Anker zerrte. „Wir sind jetzt bei achteinhalb Fuß.“

Darrick spähte erneut zum Ufer. „Das Flussbett muss am Rand der Klippen beträchtlich abfallen.“

„Gut, dass wir keine Rüstung tragen“, warf Mat ein. „Allerdings wünschte ich mir schon, ich hätte ein gutes Kettenhemd angelegt, um mich für das bevorstehende Spektakel zu wappnen.“

„Du würdest untergehen wie eine vom Blitz getroffene Kröte“, erwiderte Darrick trocken. „Es muss nicht zwangsläufig zu Kämpfen kommen. Vielleicht können wir uns ohne Aufsehen zu erregen an Bord des Piratenschiffs schleichen und den Jungen retten.“

„O ja“, murmelte Maldrin. „Aber wenn dir das gelänge, wäre es das erste Mal seit langer Zeit, dass ich es erleben dürfte.“

Darrick grinste breit, obwohl tief in seinem Innern Unruhe nagte. „Oha, deine Worte klingen ja fast nach einer Herausforderung, Maldrin.“

„Das kannst du auffassen, wie du willst“, brummte der Erste Maat. „Ich gebe meine Ratschläge mit den besten Absichten, doch ich sehe, dass sie nur selten so aufgenommen werden. Woher wollt ihr wissen, ob dieses Gesindel hier sich nicht mit Toten und dergleichen zusammengetan hat?“

Die Worte des Ersten Maats hatten eine ernüchternde Wirkung auf Darrick und erinnerten ihn daran, dass er den nächtlichen Ausflug zwar als ein Abenteuer betrachtete, es aber kein ungetrübtes Vergnügen bleiben würde, falls Maldrin recht behielt. So mancher Piratenkapitän beherrschte die Magie.

„Wir sind hier, um Piraten aufzuspüren“, hielt Mat dem entgegen. „Einfach nur Piraten. Sterbliche Männer, deren Fleisch blutet, wenn man es aufschlitzt.“

„Aye“, bekräftigte Darrick. Er ignorierte das kurze Unbehagen, das Maldrins Worte bei ihm ausgelöst hatte. „Einfach nur sterbliche Menschen.“

Dennoch – sie waren erst vor ein paar Monaten während einer Patrouille auf ein Schiff voller Toter gestoßen. Der Kampf war brutal und erschreckend gewesen und hatte viele Kameraden das Leben gekostet. Doch schließlich hatten sie die Untoten und ihr Schiff auf den Meeresgrund bannen können.

Darrick blickte zu Tomas. „Wir liegen sicher vor Anker?“

Tomas nickte und zog ein paar Mal am Seil. „Aye – soweit ich das beurteilen kann.“

Darrick grinste. „Ich würde gern ein Boot vorfinden, wenn wir hierher zurückkehren, Tomas. Und Kapitän Tollifer kann sehr kleinlich sein, wenn die Besatzung etwas verliert, was zur Ausrüstung der Lonesome Star gehört. Wenn wir an Land gegangen sind, sichere die Barkasse bitte noch etwas besser.“

„Aye, das werde ich tun.“

Darrick griff nach seinem Entermesser, das ebenso gut verpackt wie die anderen Waffen im Rumpf der Barkasse ruhte. Darauf bedacht, das Boot nicht ins Wanken zu bringen, stand er auf den Planken und sah ein letztes Mal zu den Klippen empor. Der letzte Wachposten, den sie ausgemacht hatten, lag mindestens hundert Schritte hinter ihnen. Das von ihm entfachte Lagerfeuer war noch immer durch den Nebel zu erkennen.

Darrick spähte zu den anderen Lichtern, die in der Entfernung zu sehen waren. Das Geräusch von Schiffstakelagen, die gegen Masten schlugen, drang an seine Ohren.

„Sieht so aus, als hätten wir keine andere Wahl, Männer“, erklärte er. „Wir müssen ein Stück weit durch ziemlich kaltes Wasser schwimmen.“ Er sah, dass Mat bereits sein Schwert gezogen hatte, und dass Maldrin seinen Streithammer in der Hand hielt.

„Nach dir“, sagte Mat und zeigte auf den Fluss.

Ohne ein weiteres Wort ließ sich Darrick vom Boot in den Fluss gleiten. Das eisige Wasser schlug über seinem Kopf zusammen und raubte ihm für einen Moment den Atem. Dann schwamm er zügig gegen die Strömung Richtung Ufer.

ZWEI

Raithen schlug zuckend um sich. Er wand sich und versuchte dabei, das Band aus magischer Energie zu fassen zu bekommen, das ihm Cholik entgegengeschleudert hatte. Es hielt ihn fest im Würgegriff. Angst und Staunen verzerrten Raithens Gesicht. Ihm war abrupt klar geworden, dass er es in Wirklichkeit bei weitem nicht mit dem schwachen alten Priester zu tun hatte, für den er Cholik gehalten hatte und mit dem er so respektlos umgesprungen war. Der Pirat riss den Mund auf und versuchte, sich zu artikulieren – doch es kam kein Laut über seine Lippen. Mit einer weiteren Geste ließ Cholik Raithen über die Brüstung des Balkons schweben, so dass er über dem hundert Fuß tiefen Abgrund hing. Von den Gebäuden, die tief unten einmal Tauruk’s Port repräsentiert hatten, waren nur noch eingerissene Mauern zu sehen.

Der Piratenkapitän hörte erst auf zu strampeln, als sich das Entsetzen wie eine Maske über sein immer roter werdendes Gesicht legte.

„Die Macht ist es, die mich nach Tauruk’s Port geführt hat“, krächzte Cholik und hielt den magischen Griff aufrecht. Gleichzeitig spürte er die obszöne Lust, die ein solcher Zauber mit sich brachte. „Und nach Ransim, der Stadt, die darunter begraben liegt. Macht, wie Ihr sie noch nie besessen habt. Macht, die Euch auch nie gehören wird, da Ihr nicht versteht, wie Ihr sie einzusetzen hättet. Das Werkzeug dieser Macht muss geweiht sein – und ich beabsichtige, dieses Werkzeug zu werden. Das ist etwas, wozu Ihr niemals fähig wäret.“ Der Priester öffnete seine Hand.

Keuchend fiel Raithen auf die Steinplatten des Balkons, der den Fluss und die verlassene Stadt überragte. Er blieb auf dem kalten Boden liegen, schnappte nach Luft und hielt sich mit der linken Hand den geschundenen Hals. Seine Rechte tastete nach dem Heft des Schwerts, das er an der Seite trug.

„Wenn Ihr Eure Klinge zieht“, erklärte Cholik ruhig, „erwartet den Kommandanten Eures Schiffes eine Beförderung zum Kapitän. Oder Euren Ersten Maat. Ich könnte natürlich auch Euren Leichnam wieder zum Leben erwecken, obwohl ich bezweifle, dass Eure Besatzung darüber sehr glücklich wäre. Aber um ehrlich zu sein, es ist mir egal, was sie wünscht oder denkt.“

Raithen hielt in seiner Bewegung inne und starrte den Priester an. „Ihr … braucht mich“, krächzte er.

„Ja“, pflichtete Cholik ihm bei. „Darum habe ich Euch auch, so lange wir zusammenarbeiteten, am Leben gelassen. Es war mir weder ein Vergnügen, noch handelte ich aus einem Gefühl der Fairness heraus, wie es ein Schwächling vielleicht hegen würde.“ Er näherte sich dem großen Mann, der mit dem Rücken zum Geländer kauerte. Purpurfarbene Quetschungen zeichneten sich rings um Raithens dicken Hals ab.

„Ihr seid ein Werkzeug, Kapitän Raithen“, sagte Cholik. „Weiter nichts.“

Der Hüne warf ihm einen finsteren Blick zu, erwiderte aber nichts. Offenbar bereitete ihm schon das Schlucken Schmerzen.

„Aber bei dem, was ich anstrebe, seid Ihr ein wichtiges Werkzeug.“ Wieder begann er auf eindeutige Weise zu gestikulieren.

Raithen zuckte zusammen, als er begriff, dass der Priester erneut magische Zeichen in die Luft schrieb. Doch dann riss er überrascht die Augen auf.

Cholik wusste, dass der Pirat alles erwartete, nur nicht, von seinen Schmerzen befreit zu werden. Der Priester war mit Heilzaubern vertraut, doch die Magie, die verletzte, kam ihm seit einiger Zeit wesentlich häufiger über die Lippen. „Steht bitte auf, Kapitän Raithen. Wenn Ihr jemanden auf Eure Spur gebracht haben solltet, der vom Nebel geschützt wird, möchte ich, dass Ihr Euch seiner annehmt.“

Raithen war die Vorsicht in Person, als er langsam aufstand.

„Wir verstehen uns?“ Cholik sah dem Mann in die Augen und wusste, dass er sich einen Feind fürs Leben geschaffen hatte, was schade war. Eigentlich hatte er den Piratenkapitän noch eine ganze Weile an seiner Seite dulden wollen.

Aribar Raithen war in Marinekreisen vor allem unter dem Namen Kapitän Scarlet Waters bekannt. Nur sehr wenige Seefahrer waren, wenn sie ihm in die Hände fielen, mit dem Leben davongekommen. Die meisten endeten auf dem Grund der Großen See oder – besonders in jüngster Zeit – dem des Golfs von Westmarch.

„Aye“, knurrte Raithen, doch der Klang seiner Stimme war aufgrund seiner Heiserkeit nicht annähernd so bedrohlich, wie er es wohl wünschte. „Ich werde mich sofort darum kümmern.“

„Gut.“ Cholik stand da und blickte hinaus auf die zerstörten und geplünderten Gebäude, die von Tauruk’s Port übrig geblieben waren. Er gab vor, es nicht zu bemerken, als Raithen sich zurückzog. Auch gab er nicht zu erkennen, dass ihm das leichte Zögern des Piratenkapitäns aufgefallen war – offenbar hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, ihn hinterrücks niederzustechen.

Metall flüsterte kühl, wenn es über Leder glitt, und das jetzt gehörte Flüstern bedeutete, dass Raithen die Klinge ein Stück weit aus der Scheide, dann aber wieder in sie zurückgeschoben hatte.

Cholik blieb auf dem Balkon stehen und drückte die Knie gegeneinander, um nicht zu zittern – weder wegen der Kälte noch wegen der Anstrengung, die der Zauber ihn gekostet hatte. Hätte er noch mehr Energie aufwenden müssen, wäre er möglicherweise bewusstlos in sich zusammengesackt. Und damit wäre er Raithens Gnade ausgeliefert gewesen …

Beim Licht, wo ist die Zeit geblieben? Und wo ist meine Kraft hin? Cholik schaute hinauf zu den Sternen, die hell in der tiefschwarzen Nacht leuchteten. Er fühlte sich alt und schwach. Seine Hände zitterten nun. Die meiste Zeit über gelang es ihm, sie im Zaum zu halten, doch es gab Gelegenheiten, da dies eben nicht der Fall war. Wenn dem so war, verbarg er seine Hände in den weiten Falten seines Gewandes und hielt sich von anderen fern. Diese Zustände gingen stets vorüber, doch dauerten sie mit jedem Mal etwas länger an.

In Westmarch wäre es nur eine Frage von wenigen Jahren gewesen, ehe einer der jüngeren Priester auf seine zunehmende Gebrechlichkeit aufmerksam geworden wäre und den Oberpriester davon unterrichtet hätte. Wenn es dazu käme, würde Cholik aus der Kirche in ein Hospiz gebracht werden, wo er den Alten und Siechenden zur Seite stehen müsste, die dem Tod mit jedem Tag ein kleines Stück näher kamen. Er würde ihnen den Weg ins Grab erleichtern und dabei seinem eigenen mehr und mehr entgegengehen. Allein der Gedanke, seine letzten Tage auf diese Weise zu fristen, ließ ihn schaudern.

Tauruk’s Port mit der darunter begrabenen Stadt Ransim … die Informationen, die aus den heiligen Texten stammten … das waren die Rettungsanker, an die Cholik sich klammerte, um einem solchen Schicksal zu entgehen. Auch hier würde er auf die finsteren Mächte treffen, mit denen er sich seit Jahren so bereitwillig verbündete.

Er wandte den Blick von den Sternen ab und sah hinunter auf den nebelverhangenen Fluss. Die weißen, an Baumwolle erinnernden Schwaden schoben sich träge über das zerklüftete Land des Küstenstreifens. Weiter nördlich hätten Barbarenstämme ein Problem dargestellt und die Entdeckung gefährdet, doch hier in den Deadlands, weit im Norden von Westmarch und Tristram, waren sie sicher.

Jedenfalls, korrigierte sich Cholik, waren sie sicher, wenn Raithens jüngste Beutefahrt, mit der er eine aus Westmarch kommende Schiffsladung königliches Gold in seinen Besitz gebracht hatte, niemanden auf ihre Fährte geführt hatte.

Er spähte aufmerksam in den Nebel, konnte aber nur die hohen Masten der Piratenschiffe erkennen, die aus dem milchigen Dunst ragten.

Laternen an Bord dieser Schiffe erzeugten verwaschene gelbe und orangefarbene Flecken und wirkten aus der Entfernung wie der Schein von Glühwürmchen. Raue Männerstimmen – die der Piraten, nicht der ausgebildeten Altardiener, die Cholik über die Jahre hinweg persönlich ausgewählt hatte – waren zu hören. Sie unterhielten sich über Frauen und darüber, wie man das ganze Gold ausgeben würde, das man erbeutet hatte. Keiner der Männer ahnte etwas von der Macht, die unter der Stadt begraben lag.

Nur Raithen wurde immer neugieriger, wonach sie eigentlich suchten. Die anderen Piraten begnügten sich mit dem Gold, für das es ständig Nachschub gab.

Cholik verfluchte seine zitternden Hände und den kalten Wind, der von den Hawk’s Beak Mountains ostwärts wehte. Wäre er doch noch jünger gewesen und hätte er doch den heiligen Vizjerei-Text etwas früher entdeckt …

„Meister?“

Cholik wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen, hatte sich aber sofort wieder im Griff und drehte sich um. Er zog seine zitternden Hände weit in die Ärmel seines Gewandes. „Was gibt es, Nullat?“

„Verzeiht mir, dass ich Eure Ruhe störe, Meister Cholik.“ Nullat verbeugte sich tief. Er war Anfang zwanzig, hatte dunkles Haar und dunkle Augen. Sein Gewand war schmutzig. Sein sanftmütiges Gesicht und einer seiner Arme zeigten Schrammen, die auf die Folgen eines Unfalls zurückgingen, der vor ein paar Tagen zwei Messgehilfen das Leben gekostet hatte.

Cholik nickte. „Du weißt, dass du mich nur stören sollst, wenn etwas Wichtiges der Anlass ist.“

„Bruder Altharin bat mich, Euch zu verständigen.“

Cholik spürte, wie sein schwaches Herz in seiner Brust plötzlich schneller schlug. Dennoch wahrte er die Beherrschung. Alle Altardiener, die er für seine Zwecke geschult hatte, fürchteten ihn und seine Macht, und doch gierten sie nach den Geschenken, von denen sie glaubten, dass er sie ihnen verleihen würde. Er beabsichtigte nicht, daran etwas zu ändern. Schweigend wartete er, dass Nullat fortfuhr.

„Altharin glaubt, dass wir das letzte Tor entdeckt haben“, sagte Nullat.

„Und hat Altharin seine Arbeit unterbrochen?“, fragte Cholik.

„Selbstverständlich, Meister. Alles wurde so gemacht, wie Ihr es befohlen habt. Die Siegel wurden nicht gebrochen.“ Nullats Gesicht war die Sorge deutlich anzusehen.

„Stimmt etwas nicht?“

Nullat zögerte einen Augenblick lang mit seiner Antwort. Die Stimmen der Piraten sowie das Schlagen der Schiffstaue und der Takelage gegen Rahnocks und Masten klangen unablässig, wenn auch gedämpft, zu ihnen herauf.

„Altharin glaubt, er habe Stimmen von der anderen Seite des Tores gehört“, sagte Nullat schließlich und wandte seinen Blick von Choliks Augen ab.

„Stimmen?“, wiederholte Cholik mit wachsender Erregung. Ein Adrenalinausstoß ließ seine Hände noch heftiger zittern. „Was für Stimmen?“

„Böse Stimmen.“

Cholik starrte den jungen Altardiener an. „Hast du etwas anderes erwartet?“

„Ich weiß es nicht, Meister.“

„Der dunkle Pfad ist kein Weg, den jene finden und beschreiten können, die zögerlichen Herzens sind.“ Tatsächlich – so hieß es in dem heiligen Vizjerei-Text, den Cholik studiert hatte – bestanden die Pflastersteine aus den Gebeinen von Männern und Frauen, die in einem Dorf lebten, das lange Zeit vollkommen frei von allem Bösen, selbst von Streit gewesen war. Sie litten niemals Not – bis ihre Zahl groß genug geworden war, um den Ansprüchen der Dämonen zu genügen. „Was sagen diese Stimmen?“

Nullat schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, Meister. Ich vermag sie nicht zu verstehen.“

„Versteht Altharin sie?“

„Wenn, dann hat er es mich nicht wissen lassen, Meister. Er befahl mir nur, Euch zu holen.“

„Und wie sieht dieses letzte Tor aus?“, wollte Cholik wissen.

„So, wie Ihr es uns beschrieben hattet, Meister – gewaltig und Furcht einflößend.“ Nullat riss die Augen auf. „Derartiges habe ich noch niemals erblickt.“

Und seit Hunderten von Jahren auch kein anderer, dachte Cholik aufgewühlt. „Hol eine neue Fackel, Nullat. Wir werden uns ansehen, was Bruder Altharin da gefunden hat.“ Und wir werden beten, dass die heiligen Texte recht behalten. Sonst wird das Böse hinter diesem Tor uns alle töten – in dem Moment, da wir es freilassen.

Darrick Lang stand mit dem Rücken gegen die in Nebelschwaden gehüllte Klippenwand. Er hatte mit den Stiefelspitzen und den Fingern einer Hand sicheren Halt, während er mit der anderen nach der nächsten Stelle suchte, an der er sich festklammern konnte. Er spürte deutlich das Seil, das um Taille und Lenden geschlungen war. Festgemacht hatte er es an einem Eisendorn, der fünf Fuß unter ihm in den Fels getrieben war, so dass die anderen diesen Ankern nur folgen mussten. Wenn er abrutschte und alles nach Plan lief, würde das Seil ihn davor bewahren, in den Tod oder sechzig Fuß tief in den Fluss zu stürzen. Wenn etwas schief ging, konnte es allerdings passieren, dass er die beiden Männer, die ihn an der Klippe sicherten, mit sich nach unten riss. Der Nebel war so dicht, dass er die Barkasse längst nicht mehr ausmachen konnte.

Ich hätte Caron mitnehmen sollen, dachte Darrick, als er seine Finger in eine Aussparung im Fels führte, die vertrauenswürdig genug aussah, um sein Gewicht zu halten. Caron war noch ein Junge, und ihn auf ein Unternehmen wie dieses – mit unkalkulierbaren Risiken – mitzunehmen, wäre nicht zu verantworten gewesen. Nichtsdestotrotz war Caron an Bord der Lonesome Star der heimliche Herr über die Takelage. Selbst wenn er nicht hinaufgeschickt wurde, hielt der Junge sich häufig dort auf. Caron hatte eine natürliche Vorliebe für hoch gelegene Orte.

Als Darrick für einen Moment innehielt, spürte er das Zittern seiner Rücken- und Nackenmuskeln. Er stieß die Luft aus und atmete den muffigen Geruch von nassem Fels und feuchter Erde ein. Es roch nach einem frisch ausgehobenen Grab. Seine Kleidung war durchnässt, da er ein Stück hatte schwimmen müssen, und ihm war kalt. Umso überraschender war es für ihn, dass sein Körper trotz allem genügend Hitze entwickelte, um zu schwitzen.

„Du hast doch nicht vor, dein Lager da aufzuschlagen, oder?“, rief Mat nach oben. Er klang ziemlich gut gelaunt, doch wer ihn länger kannte, dem wäre die unterschwellige Anspannung in seiner Stimme aufgefallen.

„Ich genieße die Aussicht“, gab Darrick zurück. Es amüsierte ihn, dass sie so taten, als wären sie zum puren Spaß unterwegs und nicht in einer todernsten Angelegenheit. Doch so war es zwischen ihnen schon immer gewesen.

Sie waren beide 23 Jahre alt, Darrick war sieben Monate älter. Die meisten dieser Jahre waren sie als Freunde in Hillsfar aufgewachsen. Sie hatten beim Hügelvolk gelebt, Frachten im Flusshafen verladen und das Töten gelernt, als Barbarenstämme aus dem Norden gekommen waren, um zu plündern und zu brandschatzen. Als sie 15 Jahre alt wurden, reisten sie nach Westmarch und verpflichteten sich zum Dienst in der königlichen Marine. Darrick hatte es getan, um seinem Vater zu entkommen, während Mat eine gutherzige Familie und eine berufliche Zukunft in der häuslichen Mühle aufgab. Wäre Darrick nicht gegangen, hätte Mat es aus eigenem Antrieb vermutlich auch niemals geschafft. Es gab Tage, an denen Darrick deswegen Schuldgefühle hatte. Berichte von daheim brachten Mat regelmäßig dazu, darüber zu klagen, wie sehr er seine Familie vermisste.

Darrick konzentrierte sich wieder auf sich selbst und sah hinaus auf das zerklüftete Land nahe dem Hafen, der keine zweihundert Schritte entfernt war. Auf dem Weg dorthin war entlang der Klippe ein weiterer Beobachtungsposten der Piraten eingerichtet worden. Der dortige Wächter unterhielt ein kleines, gelbliches Feuer, das sie vom Fluss aus nicht bemerkt hatten.

Dahinter lagen in einem tellerförmigen, natürlichen Hafenbecken, das von den Ruinen der Stadt gesäumt wurde, drei Koggen – rundbäuchige Schiffe – vor Anker, die für Reisen auf Flüssen und entlang von Küsten geeignet waren, nicht aber für die hohe See. Auf den Karten von Kapitän Tollifer war diese Stadt als Tauruk’s Port verzeichnet, doch abgesehen davon, dass man sie vor vielen Jahren aufgegeben hatte, war über sie kaum etwas bekannt.

Auf den Schiffen wurden Laternen und Fackeln umhergetragen, doch auch in den Überresten der Stadt leuchtete es hie und da. Darrick war sicher, dass die Piraten dort ebenfalls unterwegs waren. Warum sie allerdings bereits so früh am Morgen so geschäftig waren, verstand er nicht. Auch wenn die Nebelschwaden die Sicht über weitere Strecken schwierig gestalteten, waren ihre Aktivitäten doch zu erkennen.

Mit Darrick war die Besatzung der Barkasse fünfzehn Mann stark. Er ging davon aus, dass die Piraten ihnen mindestens acht zu eins überlegen waren. Sich auf einen längeren Kampf einzulassen, wäre töricht gewesen, aber vielleicht ließ es sich einrichten, den Neffen des Königs zu befreien und wenigstens ein oder zwei Schiffe zu zerstören. Darrick hatte sich schon bei früheren Gelegenheiten freiwillig für solche Unternehmungen gemeldet und war bislang stets unbeschadet daraus hervorgegangen.

Bislang, dachte er mit finsterer Miene.

Auch wenn er nicht ohne Furcht war, begeisterte sich ein Teil von ihm doch an der Herausforderung. Er klammerte sich an die Felswand, fand mit der Stiefelspitze an einem höheren Punkt Halt und schob sich weiter. Der höchste Punkt der Klippe war keine zehn Fuß mehr entfernt. Es sah so aus, als würden sie ab dort sicheren Boden unter ihren Füßen haben und den Weg zu den Ruinen und dem versteckten Hafen bequemer fortsetzen können. Seine Finger und Zehen schmerzten von dem Aufstieg, doch er verdrängte es und schob sich weiter.

Als er die Klippe dann endlich bezwungen hatte, musste er einen triumphierenden Aufschrei unterdrücken. Er ballte die Hand zur Faust, drehte sich um und blickte zu Mat.

Selbst auf diese Entfernung konnte Darrick das Entsetzen in dessen Miene erkennen. „Pass auf!“

Obwohl ihn eine innere Stimme vor allzu abrupter Bewegung warnte, fuhr er herum. Stahl, auf dem Mondlicht reflektierte, kam auf ihn zugeschossen, und er konnte gerade noch den Kopf einziehen. Dabei ließ er los und suchte nach einer anderen Stelle, die ihm Halt bot.

Das Schwert fraß sich mit Wucht in den Fels und schlug Funken, während sich Darrick an dem kleinen Vorsprung festhielt, der ihm zuletzt Halt geboten hatte. Sein ganzer Körper prallte hart gegen die Felswand.

„Hab ich dir nicht gesagt, dass ich jemanden gesehen hab?“, knurrte der Mann, der Darrick angriff. Er zog das Schwert zurück und ging vorsichtig an der Felskante entlang. Seine mit Nägeln beschlagenen Stiefel schabten über den Stein.

„Hast du“, stimmte ein anderer zu und schloss sich der Suche nach Darrick an.

Dieser klammerte sich an die Klippenwand, drückte seine Stiefel gegen den Fels und versuchte vergeblich, einen geeigneten Ansatzpunkt zu finden, um sich nach oben zu schieben. Er dankte dem Licht, dass die Piraten auf diesem Geläuf keinen Vorteil geltend machen konnten. Seine Sohlen rutschten ab, während er versuchte, sich wieder nach oben zu ziehen.

„Hack ihm die Finger ab, Lon“, drängte der Mann im Hintergrund. Er war klein, hatte ein Gesicht wie ein Frettchen und einen dicken Bauch, der dem reichlichen Genuss von Ale zu verdanken war und über dem sich sein ausgefranstes Hemd spannte. In seinen Augen leuchtete ein irres Funkeln. „Hack ihm die Finger ab und sieh zu, wie er auf die anderen, die hinter ihm klettern, stürzt. Bevor sie es danach vielleicht doch noch bis nach oben schaffen, sind wir längst zur Feuerstelle gelaufen und haben Kapitän Raithen vor dem unerwünschten Besuch gewarnt.“

Darrick erkannte den Namen wieder. In seinen Jahren bei der Marine von Westmarch hatte er mehr als einmal von diesem Raithen gehört. Kapitän Tollifer hatte durchblicken lassen, dass der Captain’s Table – das vierteljährliche Treffen ausgewählter Kapitäne in Westmarch – Raithen als möglichen Drahtzieher der Piratenüberfälle in Erwägung zog. Es war bereits ein Erfolg, nun die Bestätigung für diesen Verdacht gefunden zu haben – doch würde es sich unter Umständen als schwierig erweisen, lange genug zu überleben, um die gewonnene Erkenntnis an die richtigen Stellen weiterzugeben.

„Bleib da hinten, Orphik“, fauchte Lon ihn an. „Wenn du weiter wie eine Biene um mich herumschwirrst, werde ich dich höchstpersönlich durchbohren.“

„Mach Platz, Lon, ich erledige das.“ Die Stimme des kleinen Mannes überschlug sich schier vor Begeisterung.

„Verdammt“, fluchte Lon. „Mach, dass du aus dem Weg gehst.“

Schnell wie ein Fuchs im Hühnerstall tauchte Orphik unter dem ausgestreckten Arm seines Gefährten hindurch und hieb mit Dolchen, deren Klingen so lang waren, dass sie fast wie Kurzschwerter wirkten, nach Darrick. „Ich hab ihn, Lon, ich hab ihn!“, lachte Orphik auf. „Setz dich einfach nur hin und schau’s dir an. Ich wette mit dir, dass er schreit, bis er unten angekommen ist.“

Darrick hielt sein Gewicht so gleichmäßig wie möglich verteilt und genoss die Kraft, die ein plötzlicher Adrenalinstoß durch seinen Körper pumpte. Gleichzeitig musste er immer wieder abwechselnd eine Hand in Sicherheit bringen, wenn einer von Orphiks Schlägen ihm zu nahe kam. Dennoch gelang es dem Piraten, ihm eine der Klingen über den Knöchel des kleinen Fingers an seiner Linken zu ziehen. Schmerz schoss durch Darricks Arm, doch was ihm weit mehr Sorge bereitete, war die Frage, ob das ausströmende Blut seine Hand nicht zu rutschig werden ließ.

„Verdammt!“, fluchte Orphik. Wieder stoben Funken. „Halt endlich still, damit du es hinter dir hast!“

Lon wich von dem kleineren Mann zurück. „Pass auf, Orphik! Einer von denen hat einen Bogen!“ Der Pirat hob seinen Arm und zeigte auf den Pfeil, der sich dort im Stoff verfangen hatte.

Von diesem Pfeil ebenso abgelenkt wie von der Erkenntnis, dass jeden Augenblick weitere Geschosse folgen konnten, machte Orphik einen Schritt nach hinten. Sogleich hob er aber einen Fuß an und trat mit seinem Stiefel nach dem Kopf seines Opfers.

Darrick wich zur Seite aus und griff mit der blutenden Hand nach dem Bein des Kleinwüchsigen. Dabei gab er jedoch mit der anderen nicht den sicheren Griff auf, mit dem er sich festhielt. Seine Finger krallten sich ins Beinkleid des Piraten. Obwohl es in den Stiefelschaft gestopft war, bot es genug Angriffsfläche. Mit der einen Hand sorgte Darrick dafür, dass er, immer noch an der Klippe hängend, nicht das Gleichgewicht verlor, mit der anderen zerrte er am Hosenbein seines Gegners.

„Verdammt! Lon, gib mir deine Hand, bevor mich diese Ratte von der Klippe zieht!“ Orphik streckte seine Hand nach dem Kumpan aus, der sie zu fassen bekam. Im gleichen Moment traf ein weiterer, von unten abgefeuerter Pfeil auf den Fels hinter ihnen, und sie duckten sich erschrocken.

Darrick wusste, dass sich ihm keine bessere Chance mehr bieten würde, und so nutzte er die Ablenkung. Er verlagerte sein Gewicht rasch schräg nach oben und hoffte, dass er sich auf diese Weise über den Rand der Klippe würde schwingen können. Falls es nicht gelang, würde er unweigerlich abstürzen. Vielleicht rettete ihn dann das Seil, das er um seine Lenden gebunden hatte. Aber ebenso gut war es möglich, dass Mat und die anderen zu spät reagierten und er schon zerschellt sein würde, bevor sie richtig zupackten.

Er wuchtete seinen Körper nach oben, dem Vorsprung entgegen, schlug aber hart auf. Er merkte, wie er zu fallen begann, stieß verzweifelt mit einem seiner Arme nach vorn – und betete, dass dies ausreichen würde, ihn zu retten. Einen nervenaufreibenden Moment lang kämpfte er über der Kante mit seinem Gleichgewicht, dann verlagerte sich sein Schwerpunkt schließlich doch noch zu seinen Gunsten. Bäuchlings, mit ausgebreiteten Armen und Beinen, landete er auf dem Vorsprung.

DREI

Buyard Cholik folgte Nullat durch die gewundenen Eingeweide von Tauruk’s Port in die Seuchennester, die von Ransim übrig geblieben waren. Von den Gesteins- und Erdschichten, die die Fundamente der jüngeren Stadt bildeten, schien der Hafen eine Million Meilen weit weg zu sein, doch die Kälte, die dem Nebel ins Tal gefolgt war, hatte den alten Priester immer noch fest im Griff. Leiden und Schmerzen, die er in seinen Gemächern durch Wärme hatte lindern können, machten sich jetzt umso unerbittlicher bemerkbar, als er neben Nullat durch die Stollen ging.

Der Altardiener trug eine Ölfackel, deren zuckende Flammen am Granitgestein der extrem niedrigen Höhlendecke sofort eine Rußspur hinterließen. Von Nervosität und Angst getrieben, sah Nullat unentwegt von rechts nach links und bewegte seinen Kopf wie ein eiliges Metronom.

Cholik ignorierte die Besorgnis des jungen Mannes. Als sie vor etlichen Monaten ernsthaft mit den Grabungen begonnen hatten, war Tauruk’s Port von Ratten überlaufen gewesen. Kapitän Raithen war der Meinung gewesen, dass sich die Ratten hier festgesetzt hatten, nachdem sie den Barbaren, die aus dem eisigen Norden stammten, von Lager zu Lager gefolgt waren. In besonders harten Wintern, so wie er letztes Jahr wieder einmal geherrscht hatte, zogen sich die Barbaren in ein wärmeres Klima weiter südlich zurück.

Doch es gab noch etwas anderes, an dem sich die Ratten gelabt hatten, nachdem sie in Tauruk’s Port angekommen waren. Erst nachdem die Ausgrabungen begonnen hatten, war sich Cholik dieser entsetzlichen Wahrheit bewusst geworden.

Während des Sündenkrieges, als Vheran das gewaltige Portal errichtet hatte und Kabraxis in die Welt der Menschen hatte zurückkehren können, waren über Tauruk’s Port zahlreiche Zauber gewirkt worden, um die Stadt zu beschützen und vor dem Krieg im Osten zu schützen. Vielleicht hatte die Stadt zu jener Zeit sogar noch den Namen Ransim getragen. Cholik hatte bislang keinen eindeutigen Hinweis darauf gefunden, welche der Städte nun wirklich verzaubert worden war.

Die Magie, mit der die Stadt belegt worden war, hatte die Toten aufgeweckt und sie mit einer Illusion von Leben erfüllt, damit sie die Befehle der Dämonen, die für ihre Auferstehung verantwortlich waren, ausführen konnten. Die Nekromantie war zwar den meisten Anwendern der Zauberkünste bekannt, aber nur wenige befassten sich mehr als nur oberflächlich mit ihr. Die meisten waren der Ansicht, dass Nekromantie ihre Benutzer mit Dämonen wie Diablo, Baal oder Mephisto in Verbindung brachte, die gemeinschaftlich oft als das Erzböse bezeichnet wurden. Doch die Nekromanten des Kultes Rathma in den östlichen Dschungeln kämpften für das Gleichgewicht zwischen dem Licht und den Brennenden Höllen. Sie waren Krieger von reinem Herzen, auch wenn sie von den meisten Menschen gefürchtet und gehasst wurden.

Die erste Gruppe von Ausgräbern, die in die untere Schicht von Tauruk’s Port vorgestoßen war, hatte die untoten Kreaturen entdeckt, die sich noch immer in den Ruinen der darunter liegenden Stadt aufhielten. Cholik vermutete, dass der Dämon, der Ransim vernichtet hatte, mit seinen Zaubern nachlässig gewesen war oder es eilig gehabt hatte. Ransim war einer Invasion zum Opfer gefallen – die niedergebrannten Gebäude und das angerichtete Blutbad waren dafür stumme Zeugen –, und alle Bewohner waren getötet worden. Dann war jemand mit bemerkenswerter Macht in die Stadt gekommen und hatte die Toten geweckt.

Zombies hatten sich dort erhoben, wo eben noch Getötete lagen, und selbst Skelette auf dem Friedhof hatten sich aus ihren Gräbern tief in der Erde befreit. Doch nicht allen war es gelungen, rechtzeitig genug ins Unleben zu wechseln, um dem Meister, der sie gerufen hatte, dienen zu können. Möglicherweise – war es Cholik hin und wieder durch den Kopf gegangen – hatte der Rest der Bevölkerung Jahre oder sogar Jahrzehnte benötigt, um sich zu erheben.

Doch bei den Toten, die auferstanden waren, war das Fleisch nicht ganz tot gewesen. Ihre Gliedmaßen waren verkümmert, doch ihre Hüllen waren lediglich vertrocknet, nicht zu Staub zerfallen. Als dann die Ratten kamen, hatten diese sich durch Risse und Spalten in Tauruk’s Port gekämpft, um in die Stadt darunter zu gelangen. Seit jenem Tag hatten die Ratten ein Festmahl feiern können, und ihre Zahl hatte unfassbare Dimensionen erreicht.

Als die Ratten dann mit einer Beute konfrontiert worden waren, die sich auch dann noch zur Wehr setzen konnte, wenn man ihr Teile ihrer Gliedmaßen abfraß, und als sie erkannt hatten, dass selbst ein starker Mensch zu Boden gehen und sterben konnte, wenn man ihm nur genügend Verletzungen zufügte, hatten sie beschlossen, den Ausgrabungstrupps nachzustellen. Eine Zeit lang waren die Verluste unter den Ausgräbern erschreckend hoch gewesen. Die Ratten hatten sich über viele Monate hinweg als widerstandsfähig und erfindungsreich erwiesen.

Kapitän Raithen war damit beschäftigt gewesen, Schiffe aus Westmarch zu überfallen und von Choliks Goldanteil Sklaven zu kaufen. Weiteres Gold war nötig gewesen, um die Söldner zu bezahlen, die für den Priester darauf achteten, dass die Sklaven ihre Arbeit verrichteten.

„Seid vorsichtig, Meister“, sagte Nullat und hielt die Fackel so, dass die gähnend schwarze Grube vor ihnen erkennbar wurde. „Hier ist ein Abgrund.“

„Da war schon ein Abgrund, als ich das letzte Mal hier entlang gegangen bin“, wies Cholik ihn zurecht.

„Selbstverständlich, Meister. Ich dachte nur, Ihr könntet es vergessen haben, weil es so lange her ist, seit Ihr das letzte Mal hier unten wart.“

Cholik verlieh seiner Stimme einen kalten, spröden Tonfall: „Ich vergesse nie etwas.“

Nullat wurde bleich, und er wandte seinen Blick von dem des Priesters ab. „Selbstverständlich vergesst Ihr nichts, Meister. Ich wollte nur …“

„Sei ruhig, Nullat. Deine Stimme hallt in diesen Kammern wider, und das ermüdet mich.“ Cholik ging weiter und beobachtete, wie Nullat zusammenzuckte, als plötzlich über die zerbrochenen Steinblöcke zu ihrer Linken eine Meute rotäugiger Ratten huschte.

Die Ratten, die so lang waren wie der Arm eines Mannes vom Ellbogen bis zu den Fingerspitzen, liefen über die Trümmerstücke und auch über ihresgleichen, um die beiden Eindringlinge besser sehen zu können. Sie gaben heisere Laute von sich und quiekten und erzeugten so einen allgegenwärtigen Lärm, der durch die gesamte Kammer schallte. Glattes schwarzes Fell überzog ihren Leib von den feuchten Nasen bis hin zu ihrem plumpen Hinterteil, allein ihre Schwänze waren unbehaart. Die zertrümmerten Steine, zerfallenen Steinmetzarbeiten und zersplitterten Überreste der Häuser waren mit alten Gebeinen und teilweise auch mit Knochen jüngeren Datums übersät.

Nullat blieb stehen und hielt der Rattenbande die Fackel entgegen. „Meister, vielleicht sollten wir besser umkehren. Ich habe seit Wochen nicht mehr eine so große Ansammlung von Ratten gesehen. Es sind genug, um uns beide niederzuringen.“

„Bewahre die Ruhe“, wies Cholik ihn an. „Gib mir deine Fackel.“ Das Letzte, was er wollte, war, sich Nullats Gejammer anzuhören; er würde unweigerlich auf ein böses Omen zu sprechen kommen. Aber Gerede dieser Art hatte es schon mehr als genug gegeben.

Nullat zögerte einen Moment. Offenbar fürchtete er, Cholik könnte ihm die Fackel abnehmen und ihn allein in der Dunkelheit zurücklassen. Dann endlich hielt er sie ihm hin.